Böhmische Elegie - Andreas Hoffmann - E-Book

Böhmische Elegie E-Book

Andreas Hoffmann

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.

Mehr erfahren.
Beschreibung

Während Eduard Ringel mit Ehefrau Bärbel sonntags am Frühstückstisch sitzt, passiert etwas Unerwartetes. Eduard wird still, starrt regungslos vor sich hin, faselt in diesem Augenblick die Strophe eines Gedichtes. Er kann sich das Ganze nicht erklären. Schließlich interessieren ihn Gedichte nicht. Vier Wochen später wiederholt sich die Szene: Die nächste Gedichtstrophe folgt. Eduard plant den befreundeten Deutsch- lehrer Alexander Burger zu befragen. Dieser knüpft Kontakt zu Literaturprofessor Werzel, welcher herausfindet, dass die Strophen zu einer Elegie der böhmischen Dichterin Anna Peterka gehören. Diese, in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts verfasste Elegie ist, bis auf die Anfangsstrophen, verschollen. Die Verfasserin wurde damals ermordet. Für Professor Werzel ist nicht vorstellbar, wie Eduard Ringel jene Zeilen kennen kann. Von nun an wird dieser immer wieder mit unerklärlichen Ereignissen konfrontiert. Lässt sich das Rätsel um jene Strophe lösen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 541

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Andreas Hoffmann

BÖHMISCHE ELEGIE

Böhmische Elegie

© Andreas Hoffmann 2019

Alle Rechte vorbehalten.

Cover und Satz von Anna Hoffmann

Verlag und Druck tredition GmbH,

Halenreie 40 – 44

22359 Hamburg

Ich danke meinen FreundenMartina und Thomas von typodruck Rudolstadtfür Ihre Unterstützung

1 Im silbernen Toaster von Ehepaar Ringel hört man den späten Herbstwind singen. Er singt einen Choral, denn es ist Sonntagmorgen.

Vom Frühstückstisch aus lässt er das fertig getoastete Brot meterweit durch den Raum schwirren. So ist das im Oktober bei besonders preiswerten Geräten. Schnäppchenpreise sorgen jetzt für genügend Schwungkraft. Und Konkurrenz belebt das Geschäft: Wessen Schnittchen fliegen weiter? „Wir sollten uns ein besseres Gerät leisten“, seufzt Bärbel Ringel und sammelt die beiden fertigen Scheiben wieder vom Fußboden auf. „Weißt du, Eduard, Schmückrings haben einen guten Toaster!“ „Der ist mir zu grün! Quietschgrün!“ urteilt Eduard Ringel. Aber seine Frau kämpft um den Fortschritt: „Dort wo Preis und Leistung stimmen, macht man sich einen korrekten Beamten zu Diensten.“ Er runzelt die Stirn, zieht seine kräftigen Augenbrauen hoch: „Ja, wenn die Werbung es will, spricht das Brot mit dir. Schiebt den gebräunten Oberkörper aus der Versenkung und sagt: Mein Name ist Jonny und ich bin fertig.“ „Du willst dich nur nicht von diesem Billigteil trennen!“ Bärbel tröstet sich mit Sauerkirschmarmelade. Sauerkirschmarmelade ist nicht so sentimental wie jene fette Nougatcreme, bei deren Anblick Eduard Ringel behauptet: „Immer muss diese braune Masse mit auf dem Tisch stehen. Es ist zum Heulen! Die Tischdecke bekommt davon nur Flecken.“ Doch eine richtige Tischdecke zählt ihre Flecken, deutet damit die eigene Wertigkeit und brüstet sich später in der Waschtrommel gegenüber den Bettlaken. Manchmal gibt es auch Verlierer unter den Tischdecken. Nicht so Eduard Ringel, auch wenn er erst beim dritten Schlag mit dem blauen Plastiklöffel die Schale seines gekochten Frühstückeis zum Reißen bringt. Kein Handwerk für Sanftmütige! Freundliches Eierlöffelschwingen reicht bei solchen Dickschädeln leider nicht aus. Alois, ihren gelbgrünen Singsittich, scheint dieses Ritual zu nerven: Kaum fängt sein Herrchen mit Eierlöffelschwingen an, startet er eine hochfrequentierte, lautstarke Schimpfkanonade. Er benötigt auch keine zweieinhalb Tassen Kaffee mit wenig Milch und viel Zucker, sondern schüttelt sich zufrieden über trüb abgestandenem, im Glücksfall nur zwei Tage altem Wasser. „Es geht nichts über Weichkäse mit grünem Pfeffer“, meint Eduard genüsslich. Bärbel stört das nicht, denn die ganze Welt des kernlosen Glücks findet sie in ihrer Sauerkirschmarmelade. Nur heute ist etwas anders: Es gibt keine wirkliche Begründung für Eduards plötzlich auftretenden Schwindelanfall. Der Kaffee ist nicht zu stark, das Frühstücksei besiegt, die gemeinsamen Gespräche fließen noch geruhsam. Da bekommt die Muskulatur seines Mundes ein zitterndes Eigenleben, provoziert unangenehm starken Speichelfluss. Bärbel schüttelt den Kopf: „Nun lass dich nicht gehen. Wie dein Vater?“ Doch nicht genug: Hinter seinen plötzlich angeschwollenen Lippen wird ein Ausbruch vorbereitet. Schon besetzen erste Vorboten der Rebellion jede seiner Bewegungen im Gesicht. Aber was wird passieren? Schnell ist es Bärbel klar. Aus irgendwelchen Rachen-, Mund-, Gehirnhöhlen steigen Worte, ausgemergelte Gestalten, welche ohne Rücksicht jedes Hindernis überwinden und auf die weiße Feiertagstischdecke stürzen. Dabei formieren sie sich pfeilschnell zu ganzen Zeilen, Strophen, zeigen so ihre Stärke. Der Sonntagmorgen bleibt irritiert. Eduard, vom Verlust seines Bewusstseins überzeugt, wird zum Medium ihrer Revolte. Er muss, mit geschlossenen Augen, die ans Tageslicht gerückten Zeilenaussprechen. Eine einzige verzweifelte Rezitation:

„Sie jagen die Gerechtigkeit

Über die alten, treuen Wege ins Gebirge,

streifen ihr die Haut über den Kopf,

verbrennen das letzte Versteck im Schnee –

auch alle Jacken, Hosen, Röcke und den Lebensmut

ziehen sie uns aus - werfen ihn mit den Strümpfen ins Feuer.–

Bluthunde lecken die Verzweiflung unserer Tage auf, lästern,

zahlen Gold für jede giftige Schlange.“

Fertig! Er ist fertig! Auftrag erfüllt! Die Worte wurden in die Welt gesendet. Zuerst allerdings beschränkt auf die Wohnküche von Ehepaar Ringel.

Bärbel schaut ihn zu Recht besorgt an: „Hast du schlecht geträumt?“

„Ich habe gar nicht geträumt.“ Es regt ihn auf, jetzt nach einer Rechtfertigung zu suchen. Vielleicht hatte sich ein emotional schon länger in seinem Unterbewusstsein hängen gebliebenes Gedicht eben erbrochen. „Ach so“, lenkt sie versöhnlich ein, „du brauchst mehr Ruhe. Schalte doch wenigstens heute einmal ab. Es ist unser Tag: Zeit für dich und mich.“ Diese fette Nougatcreme, denkt er es muss einem ja dabei komisch werden. Einen Erklärungsversuch für das spontan aufgesagte Gedicht gibt es noch: Sein guter alter Literaturlehrer Klebe, dieser beeindruckende Mensch mit der Märchenerzählerstimme – er ist schuld. Hat ihm einst, in schulischer Vorzeit, lyrische Werke von Eichendorff, Storm, Mörike, Uhland, aber auch Goethe und Schiller, und Rilke, mit Hilfe pädagogischer Zwangsmaßnahmen ins Gedächtnis eingebrannt. Rilke ist schuld- und natürlich Klebe. Ich bin das literarische Opfer, werde nach Jahrzehnten wieder gequält von lebensfernen Gedichten. Eduard Ringels Gesundheit leidet darunter, die Nerven, das Gedächtnis: Gedichte machen nachdenklich und einsam!

Was ihm auffällt, ist die plötzlich eingetretene, unglaubliche Stille im Raum. Selbst das nächste Toastbrot kann nicht zum Sprung aus dem angeschaltenen Toaster ansetzen. Die Wanduhr vergisst das Luftholen, bleibt in ihrem Lauf stehen: Und Alois, der nervende Singsittich, gibt keinen Ton von sich, nicht einmal einen quietschenden!

Bärbel stellt keine Fragen mehr, der Kaffee ist getrunken, das Frühstück damit beendet.

Ob man die Strophe wiederholen kann?

Eduard Ringel murmelt die Worte ganz leise noch einmal, wartet allerdings, bis Bärbel den Raum verlassen hat. Die Worte kommen wieder, der Text sitzt. Gelernt ist eben gelernt. Aber ich habe ihn nie gelernt, seufzt Eduard. Ist so ein starkes Langzeitgedächtnis nicht wie ein Geschenk, Grund zur grenzenlosen Dankbarkeit? Eduard grübelt in sich hinein: Wann habe ich denn von dieser Strophe überhaupt gehört? Mir ist es nicht bekannt!

Was hilft das Jammern! Nach dieser morgendlichen Stunde hat ihn das Schicksal auserkoren, mit einer tragischen Strophe im Kopf zu leben. Klassische Gedichte können bis zum Tod bereichern. Aber nicht Zeilen wie: „Sie jagen die Gerechtigkeit über die alten, treuen Wege ins Gebirge, streifen ihr die Haut über den Kopf …“ Eduard spürt eine tiefe Veränderung, glaubt fast dem plötzlichen Anfall von Schüttelfrost ausgeliefert zu sein.

Eben ist noch Oktober! Und im November prüft er manchmal, etwas ängstlich, die weitere Anwesenheit der Worte. Sie sind da, klettern aus ihrem Versteck, klar und eindeutig.

Bärbel scheint die Situation vergessen zu haben, spricht nicht mehr von seinem literarischen Überraschungsangriff. Da sie als Krankenschwester zur Schichtarbeit verpflichtet ist, bleibt wenig Zeit für das gemeinsame Sonntagmorgenfrühstück.

Eduards Zoohandlung fordert geregelte Zeiten, das heißt von 9 Uhr bis 18.30 Uhr. Zum Glück! Denn wer will schon abends um 22 Uhr Nymphensittiche oder Farbmäuse kaufen. Natürlich bleibt er oft länger im Geschäft, betreibt gewissenhaft Inventur, schreibt Bestelllisten, überprüft vorhandene Bestände, widersteht jeder Form von Müdigkeit.

Es ist Ende November, Sonntag und Frühstückszeit. Bärbel hat frei. So können sie das morgendliche Ritual wieder gemeinsam pflegen. Mit dem dritten Schlag des blauen Eierlöffels ist die Schale des Fünf-Minuten-Frühstückseies gerissen. Warum gelingt das Bärbel beim ersten Mal – und dann noch unspektakulär auf der Tischkante. Mit Kaffee, dazu viel Milch und Zucker, kann er den aufkommenden Neid wegspülen. In dem Moment, in dem Eduard zu schwingen beginnt, startet Alois, der Singsittich, seinen nervenden Singsang.

Die ersten zwei Scheiben Weißbrot springen aus dem Toaster. Es ist wie immer. Erneut steht Sauerkirschmarmelade auf dem Tisch, diesmal gleich neben einem neuen Trockenblumengesteck. Nougatcreme, die alte Bekannte, leuchtet selbstbewusst und fett. Wenn doch nur ihr Glas endlich leer würde! In diesem Moment verspürt Eduard ein starkes Hungergefühl. Wieder bilden sich unerwartet Schweißperlen auf der Stirn, reagiert das Gesicht schlagartig mit blassen Zuckungen. Besonders die Mundpartie ist betroffen. „Geht es los, Eduard? Trink etwas! Schnell! Bring den Anfall hinter dich!“ Nein, er sieht nicht mehr, wie Bärbel ihm ein Glas Wasser reicht. Es ist gerade jener Augenblick, wo das Bewusstsein, vielleicht nur achtelsekundenlang, aussetzt.

Die Ruhe im Glas zittert! Zerbricht dieser Moment? Tief durchatmen! Der Hunger bleibt, das unsägliche Schwindelgefühl auch! Kein Ende in Sicht!

In diesen Augenblick hinein öffnet sich sein Mund. Kein Schrei! Schwere klebrige Worte eines Gedichtes überfluten seine Gedanken. Alles wie vor einem Monat:

„Dickbäuchig sind die Tage und laut,

oft treten ihre Adern hervor, geschwollen vom Weg,

den wir mühsam gehen.

Bewegt mich das Halbdunkel der Räume zum Tun?

Wasche täglich den gläsernen Körper meiner Pflicht und fülle ihn mit Sinn, nur zerbrechen manche zu früh, bleiben tausend Splitter auf einem eisigen Boden zurück.

Schon nach den Stunden sind sie vergessen.

Das ist Ordnung!“

Eduard tupft sich den Speichel aus den Mundwinkeln, ringt um Rechtfertigung: Es findet nichts: „Werde ich jetzt verrückt?“

Dieses sorgenvolle Gesicht von Bärbel! „Eduard, irgendetwas belastet dich. Wenn ich nur dahinter käme.“ Sie schweigt eine Weile, überlegt, möchte ihm etwas Gutes bieten: „Wir sollten Urlaub machen. Vielleicht wäre Südtirol richtig, Bergtouren blasen den Kopf frei. Oder doch lieber auf die Kanarischen Inseln?“ Ihr Mund nähert sich seiner Stirn, um sie liebevoll zu küssen. Jetzt bin ich wirklich krank, denkt er. Alles zu spät. Hinlegen, Puls und Blutdruck messen. Vielleicht ruft Bärbel den Notarzt, möglicherweise gleich den Psychiater? Eduard ringt um eine Alternative, findet sie und übergibt die Idee, wie eine Patientenverfügung, an Bärbel, ehe ihn das Bewusstsein endgültig verlässt. „Ich werde Alexander anrufen! Er kennt sich als Deutschlehrer mit Lyrik aus. Der Mann muss es wissen! Noch heute Nachmittag setze ich mich mit Alexander in Verbindung. Dann finden sich bestimmt Zusammenhänge.“ Ein Glück, dass ihm der Freund aus alten Tagen einfiel, dieser Meister schwieriger Dramen kennt das Versmaß, die Metrik und überhaupt jeden literarischen Schleier, der das Gemüt verdunkeln könnte. Auch Bärbel ist beruhigt: Noch eine Scheibe Toastbrot mit Sauerkirschkonfitüre wird sie mit ruhigem Gewissen essen können.

An diesem Sonntag ruft er Alexander nicht an. Dafür meldet sich ihre aufgeregte Tochter Franziska: „Könntet ihr denn, am Wochenende, auf eure lieben Enkel Dora und Paul aufpassen? Sie haben bei euch so viel Spaß! Haben mir auch versprochen, ganz lieb zu sein.“ Dann folgt, ohne große Pause, ihre Begründung: „Ich habe einen ganz tollen Mann kennengelernt, Falco. Ja sie nennen ihn alle Falco! Er sieht aus wie Falco, singt wie dieser, heißt aber Friedrich und ist wirklich toll.“ „Und du willst das Wochenende mit diesem Friedrich verbringen?“ „Ja wir zwei fahren irgendwohin.“ Ach wie süß! Eduard muss schmunzeln: Das kann er nun wirklich nicht verhindern. Franziska räuspert sich, erklärt etwas beleidigt: „Du bist blöd! Falco fährt einen tollen Cabriolet.“ Falco und Franziska im Cabriolet, er natürlich Sonnenbrille, sportlich, sizilianischer Haarschnitt, kantig, männliche Gesichtszüge – alles im Griff, ob Lenkrad oder Tochter. Sie glücklich daneben, einen langen, flauschigen, hellen Schal um den Hals. Zu viel Glück oder Schal, denn dieser verwickelt sich nach einiger Zeit im Rad des gelb-mediterranen Fahrzeuges, so stark, dass Franziska erst Panik, dann keine Luft mehr bekommt - schließlich durch die gar nicht mehr flauschige Zugkraft hinausgezogen wird: Keine Möglichkeit, Hilfe zu rufen. Er unbeeindruckt am Steuer, immer noch alles im Griff: „Rock me Amadeus“ auf den Lippen … Nein, Eduard stellt sich die Szene jetzt nicht weiter vor. Zu schrecklich! Wieder die zirpende Stimme Franziskas an seinem Ohr: „Also könnte ich Freitagabend die Kinder bringen?“ Soll er der Tochter sagen, dass ihn momentan ein Nervenproblem plagt und sein Gehirn sich nur auf dramatische Gedichte konzentrieren kann? „Nun sag doch schon mal was, Papa.“

Klick! War das jetzt das ausschlaggebende Zauberwort: Ganze Heerscharen an vertrauten, kindlich-liebevollen Bildern tauchen auf. „Ja, Franziska, bringe die Kinder und wir werden schon was Schönes unternehmen. Vergiss ihre Zahnbürsten nicht.“ „Nein, nein“, beschwichtigt sie, „ich pack in ihre Taschen ausreichend Kleidung, Zahnpasta und Seife.“ Die hörbar erleichterte Tochter atmet soeben vernehmbar durch! „Die Kinder müssen auf ihre Sachen aufpassen. Nichts ins Feuer werfen.“ „Wie, ins Feuer werfen?“, fragt Franziska irritiert nach. Er relativiert seinen Ausrutscher: „Ich meine, sie sollen keine Dummheiten machen. Das war jetzt nur so ein Spruch.“

Sicher hätte sie jetzt noch gern einen Gruß an ihren Falco gehört: Nein, den gibt es nicht. Wer Luxusfahrten unternimmt und nicht auf ihre Tochter aufpasst! Da gibt es keinen Gruß. Außerdem existierte real, seit der Trennung von Schwiegersohn Rainer, bereits ein phantastischer Fred und auch jener praktische Alfons. Bärbel und Eduard pflegen immer noch guten Kontakt zu Rainer. Sie weiß das. Erst mal warten, wie alles weitergeht.

Dora und Paul jedenfalls sind die reinste Freude! Bärbel sagt:„Da kommt wieder Stimmung ins Haus. Ein Wochenende Enkelbesuch lenkt ab.“ „Mehr muss allerdings nicht sein“, bremst er: Gern geben wir danach die temperamentvollen Sprösslinge in Franziskas Obhut zurück.

Alles ist besprochen. Alles bleibt geregelt. Die beiden Enkel, den Kopf voller Ideen, treten pünktlich ihren Besuch bei Oma und Opa an. So startet der Alltag durch.

„Sie jagen die Gerechtigkeit über die alten treuen Wege ins Gebirge …“Diese Zeilen sind so nervend, liegen, Tage später, zentnerschwer im Kopf und lassen sich jederzeit wiederholen. Auch wenn Eduard Ringel gerade lebendes Futter für seine Zoohandlung entgegennimmt: Da winden sich im Glaskasten winzige graue Maden, eingesperrte Plagen, ahnungslos hoffend, gleich die ganze Welt auffressen zu können. Doch sie werden zum Fraße vorgeworfen, genauso wie jene dunkelgrünen Heupferdchen und die Mehlwürmer. Weiter denkt er: „…streifen ihr die Haut über den Kopf, verbrennen das letzte Versteck im Schnee…“ – bietet währenddessen Ergänzungsfutter für Hunde an: schmackhafte Knabbersnacks aus rein natürlichen Zutaten, zum Beispiel Truthahn oder Lamm, dazu Reis. Eduard reicht, ganz nach Wunsch der Kundschaft, Schnurries mit Lachs, diesmal Ergänzungsfutter für Katzen aus dem Regal, rezitiert still die nächsten Zeilen: „…auch alle Jacken, Hosen, Röcke und den Lebensmut ziehen sie uns aus– werfen ihn mit den Strümpfen ins Feuer!“ Zwänge, denkt er: Zwänge lassen kein Gras wachsen. Auch beim Verkauf von diversen Kratzbäumen quälen sie mit ihren scharfen Krallen sein Gedächtnis: „…Bluthunde lecken die Verzweiflung unserer Tage auf, lästern, zahlen Gold für jede giftige Schlange …“ Schlangen führe ich nicht im Angebot, könnte sie jederzeit bestellen: Länge, Farbe, Giftmenge wie gewünscht. Der Kunde ist König!

Eduard wird Alexander auch die nächsten Tage nicht anrufen. Er nennt es Blockade. Ein Besuch bei ihm erfordert Zeit. Alexander raucht Pfeife, schaut viel aus dem Fenster, braucht Stunden zum Überlegen. Aber wer hat im Dezember schon Zeit? Da gibt es traditionsgemäß genügend Arbeit. Eduard Ringel wägt ab: Alexander kann ich auch nach den Feiertagen fragen. Dagegen kommt ihm ein anderer Gedanke. Durch den Besuch der Enkel, sah er Franziska wieder. Lange Zeiten umgibt sich die Tochter mit Schweigen. Doch plötzlich überschlägt sich ihr Bedürfnis nach Kontakten. Und doch, haben Ringels sich immer gut mit ihrer Tochter verstanden. Daher ist sich Eduard sicher, mit Franziska über die Gedichte sprechen zu können. Nein, den Autor wird sie nicht kennen. Aber er bekommt eine Möglichkeit zur Aussprache. Und vielleicht ist der nächste Mittwoch eine gute, zeitnahe Gelegenheit für ein Gespräch. Die Entscheidung steht!

Temperaturmäßig werden tagsüber zweistellige Pluswerte erreicht – das gab es seit Jahrzehnten nicht mehr. Überhaupt scheint heutzutage jede Jahreszeit, ob Winter oder Sommer, irgendwie einmalig. Es ist inzwischen üblich, dass Eduard immer mittwochs, ab 13 Uhr, in seiner Zoohandlung entbehrlich ist. Dann übernimmt Frau Klimpel, mit dem richtigen Blick für Hundefutter und Katzenkratzbäume, die Verantwortung. Die kleine, energiegeladene Frau arbeitet zwanzig Stunden die Woche, schafft unermüdlich, dekoriert, ordnet, berät mit einem spielerischen Gespür für Verkauf. Eduard kommt so in den Genuss zeitlicher Unabhängigkeit. Nach einer kurzen, vertrauten Geschäftsübergabe fährt er los. Es sind immerhin fünfzig Kilometer bis zu ihrem Wohnort, an dem sie eine Änderungsschneiderei mit angeschlossenem Kostümverleih betreibt. Bärbel meint: Hat Franziska die Möglichkeit zum Verkleiden, geht es mit ihr durch. Das war als Kind bereits so! In einer Laienspielgruppe engagiert, ging sie tagelang auf Tournee. Eduard und Bärbel vertrauten ihr, wussten um ihr Glück. Schon immer verkleidete Franziska gern andere Menschen, bezieht diese gnadenlos in ein improvisiertes Spiel ein. Für all diese Möglichkeiten hat sie Räume im alten Gründerzeitfabrikgebäude angemietet. Eduard steht begeistert vor diesem rötlichen Klinkerbau, liebt dessen Architektur, spürt seine Anziehungskraft und freut sich über die gelungene Vermischung eines solide gebauten Fossils mit zeitgemäßen Bedürfnissen. Immer noch strahlen Ornamentik und Stein unnachahmliche Würde aus. Eduard spricht von Wellness für das Auge. Heute bevölkern Fahrschule, Anwaltskanzlei, Schuldnerberatung, Kochstudio, ein Parteibüro, einer Praxis für Logopädie und eben Franziskas Änderungsschneiderei das Haus.

Er verspürt eine Art Lampenfieber, läuft hin und her, hält herzklopfend inne, überlegt, schließt die Augen, geht weiter: Dann erst ist es ihm möglich einzutreten, sich von dem großen, herrschaftlichen Flur begrüßen zu lassen. Dessen alter praktischer Geist ist von Jugendstil und Dämmerlicht verkleidet.

Er kommt, klopft nicht an, tritt ein: Franziska bügelt eben eine dunkle Anzughose, summt dazu leise: Springt auf ihn zu, federnd, ganz der groß gewordene Gummiball, drückt ihren Vater, Ping, Pong, links, rechts. Sie ist ein Temperamentsbündel, stellt Eduard fest.

„Schön, dass du mich besuchst, Papa.“ „Es wurde mal wieder Zeit“, bemerkt er dazu selbstkritisch. Sie lacht: „Das stimmt, fühle mich ganz schön vernachlässigt! Dabei haben wir uns doch so viel zu erzählen. Lass mich nur die Hose zu Ende bügeln. “Spricht´s, hüpft zurück zum Bügelbrett: Es riecht nach Stoff. Eduard betrachtet die vielen Filmplakate an den Wänden: Daniel Craig als James Bond und Dustin Hoffman in „Tootsie“. Dann wieder diese Urfilme mit dem melancholischen Charme alter Bonbongläser: Miss Marple, der Schwarze Abt, Charlies Tante, schließlich„Die fabelhafte Welt der Amelie“, „Die zwei Leben der Veronika“, „Zweiohrhase“, „Ein Chinese zum Mitnehmen“. Das Bügeleisen dampft nicht mehr, dafür jene zwei Tassen Kaffee, mit denen Franziska hereinkommt. „Das sind alles Lieblingsfilme von mir, tolle Streifen, die man einfach gesehen haben muss.“ Er schaut sie von der Seite an: „Du wärst selbst gern Schauspielerin?“ Sie stellt die zwei Tassen auf einem kleinen runden Tisch ab, wirft sich in eine selbstbewusste Pose:

„Bin ich, bin ganz und gar Komödiantin. Werde dir gleich Einblick in meinen Kostümfundus gewähren. Und du musst dann unbedingt mitspielen.“ Eduard antwortet leicht abwinkend:„Eigentlich möchte ich dich heute verwöhnen und in ein gemütliches Kaffee einladen.“ Bei dieser Gelegenheit wollte er der Tochter von den Gedichtstrophen erzählen. Franziska kontert mit einem Gegenvorschlag: „Wir spielen Theater und später geht’s mit Dora und Paul zum Pizzaessen. Einverstanden? “Das Pizzaessen ist in Ordnung – nur Theaterspielen muss nicht sein. „Franziska, du weißt doch, ich habe kein Talent für die Bühne: Einmal, in meiner Jugendzeit, hat man mich, den schlanken Jungen, als Müller Mehlsack ausgestopft. Die vielen Kissen um meinen Bauch halfen aber nicht über die mittelmäßige Leistung hinweg, Text vergessen, falsche Betonung. Es war ein Jammer, damals.“ Franziska schüttelt den Kopf: „Dir suche ich das perfekte Kostüm und du wirst begeistert in meinem Rampenlicht stehen.“ Wieder hüpft sie vor ihm her, eben der kleine Gummiball, führt Eduard mitten in ihre farbig-flimmernde Verkleidungswelt. Der Geruch von Stoff ist hier schwerer, fast süßlich, so als betritt man eine Confiserie. Durch die großen Fenster fällt ausreichend Licht gegen Altersflecken, Motten und Missverständnisse. Sie zeigt ihrem Vater, mit quirliger Begeisterung, die zuckersüße Welt unterschiedlichster Kleider, Röcke, Hosen, Herrenwesten, Hauben, Zylinder, Fächer, Körbe, aber auch Perücken und Glasaugen: alles korrekt unterteilt in Damen-, Herren- und Kinderverkleidung. Franziska fordert ihn gerade auf, ein Kostüm auszusuchen, da verspürt Eduard plötzliche Schwindelgefühle. „Warte, ich muss mich setzen“ Die Tochter schaut ihn überrascht an: „Was ist los? Du siehst auch plötzlich blass aus.“ Eduard währt mit der Hand ab. Ihm ist die Situation peinlich. Aber verhindern kann er nun nichts mehr. Nicht, dass ihm glänzender Schweiß auf die Stirn tritt, seine Muskulatur versagt, der Speichel die Grenzen des Mundes überschreitet. Eduard weiß was jetzt folgt. Aber die Tochter kann er nicht mehr vorwarnen. Sein ganzes Gesicht ist gefühlt taub, angeschwollen als überkommen ihn schlimme Zahnschmerzen. Nur fern sieht er noch die besorgte Tochter. Dann ist Schluss. Ohnmacht. Nur der Mund bewegt sich. Und die Worte sind klar gesprochen:

Ordnung der alten Zeit!

Aber Zeit verwandelt, bleibt nur

ihr Nachruf auf die Tage leichtfüßiger Spiele.

Barfuß. Sonntags mit weißen Strümpfen.

Überall wuchsen gelbe, rote, blaue Pünktchen.

Ließen sich so selbstverständlich fangen,

diese lachenden Ideen,

die nun vergessen sind.

Selbst das kinderleichte Gold einstiger Überraschungen,

fällt aus seiner Inschrift.

Die Worte sind zu schwer geworden.

Franziska hat sich neben ihren Vater gesetzt. Sie nimmt seine Hand, sieht wie er langsam die Augen wieder öffnet. Eduard muss sich neu orientieren. Die Erinnerung kehrt zurück. Es ist Mittwochnachmittag und er befindet sich in der Werkstatt von Franziska. Wollte sie besuchen, um über seine Gedichte zu reden. Nun hat die Tochter es erlebt. Eduard schiebt ihre besorgte Hand zurück: „Danke Franziska, es ist wieder gut. Ich erzähle dir alles.“ Mit einem Tuch fährt er sich übers Gesicht und den Mund, bringt so die Welt neu in Ordnung. Die Tochter kann ihre Besorgtheit noch nicht fallen lassen. „Was war das, Vater?“ Er richtet sich auf, fragt nach einem Glas Wasser und beginnt dann zu erzählen. „Wegen dieser Gedichte wollte ich mit dir reden. Mich überkommen seit einiger Zeit, vielleicht so sechs Wochen, Zustände, in denen ich nicht mehr Herr über meine Sinne bin. Das Bewusstsein tritt einfach ab. Fort! Ich schwitze, mir läuft der Speichel aus dem Mund und man könnte annehmen, Herr Ringel bekommt einen epileptischen Anfall. Aber es ist ja nicht so. Stattdessen, rezitiere ich irgendwelche Gedichtstrophen. Und das Besondere! Ich kenne die Gedichte nicht! Keine Erinnerung! Außerdem interessieren Gedichte mich nicht!“

Franziska überlegt. „Hast du nicht deinen alten Schulfreund, Alexander? Mit ihm könntest du doch darüber sprechen.“ Eduard nickt: „Das habe ich vor. Doch zuerst wollte ich mit dir sprechen. Vielleicht über die psychologische Seite.“ Die Tochter zuckt mit den Schultern, blickt trotzdem nachdenklich: „Was soll ich dazu sagen? Ich finde keinen Zusammenhang zwischen deinen Gedichten und persönlichen Problemen. Wenn du graue Haare bekämest, oder Verdauungsprobleme …, dann könnte ich mir Sorgen machen. Aber Gedichte? Und dann noch aus deinem literarisch völlig unbegabten Mund vorgetragen! Da kann ich mir keinen Reim drauf mache Die nachdenkliche Situation wird unterbrochen, durch das plötzliche Eintreffen von Kundschaft. Ausgerechnet Ehepaar Schmückring! „Stören wir vielleicht! Ausgeschriebene Öffnungszeiten muss man ja heutzutage nicht ernst nehmen. Manche verdienen ihr Geld im Spiel.“ Eduard könnte diesem Zyniker Schmückring an die Kehle springen! Franziska dagegen, meistert die Situation professionell, kann ihren Ärger perfekt überspielen: alles Rollenspiel. „Wie schön, dass Sie heute kommen. Herr Schmückring, eben habe ich Ihre Anzughose fertig geändert. Sie können diese gleich anprobieren. Meinem Vater musste ich nur gerade, für seinen Vereinsfasching, ein passendes Kostüm empfehlen. Er kann sich immer so schwer entscheiden.“ Sie lacht und ihre Scheinheiligkeit leuchtet wie eine auffällige Zahnlücke. Welcher Vereinsfasching, denkt Eduard.

Schmückrings sind beschäftigt, damit abgelenkt, und Eduard kann schnell seine Rolle als Chefdirigent verlassen. Flink springt er aus den Sachen, bevor sich noch irgendwelche Luftprobleme einstellen. Nachdem Herrn Schmückrings dunkle Anzughose, gut gebügelt, wirklich passt, macht Eduard den Vorschlag:„Franziska, gönne dir heute eine Stunde früher Feierabend. Dann holen wir die Kinder ab und fahren Pizzaessen.“ Sie ist sofort damit einverstanden. Es reicht. Schnell schließt sie die Fenster, prüft alle Geräte auf Standby und hängt ein Schild an die Tür: „Heute ab 17 Uhr geschlossen“. Unterwegs redet er über sein Thema: „Franziska, ich werde mit Alexander reden. Und dann sehen wir weiter.“ Sie ist damit einverstanden, fügt aber noch hinzu: „Ein Gedanke kommt mir! Vielleicht ist ein dicker Brocken in deinem Unterbewusstsein hängen geblieben. Eventuell heißt er Frank. “Beim Nennen dieses Namens senkt er den Kopf, schnauft ärgerlich vor sich hin. Ja, möglich wäre es. „Vielleicht hast du Recht, meine liebe Tochter. Vielleicht. Der letzte Besuch bei Frank lief nicht gut. Ich werde es wiederholen.“ Franziska triumphiert: „Wichtig ist eine Aussprache zwischen euch beiden.“ „Warum? Warum hat er den Kontakt zu uns abgebrochen, damals? Weißt du, wie Bärbel darunter gelitten hat!“ Franziska wechselt die Stimmungslage, fängt an zu singen: „Waren sie denn schon einmal in Sansibar, wenn ja, wenn ja, wie fanden sie´s denn da…“. Wo hat sie nun dieses Lied wieder aufgestöbert? Dora und Paul, die wir aus ihrer sie rundum beschäftigenden Ganztagsschule abholen, sind von der Idee mit der Pizza begeistert. „Wenn Opa mitkommt, machen wir immer etwas Besonderes.“ „Was soll denn das jetzt wieder bedeuten“, reagiert Franziska gekränkt, „wir unternehmen doch ständig etwas!“ Paul, der so stolz auf den Besuch seiner ersten Klasse ist, drückt die Mutter schnell und tröstet sie damit. Und während sie später Pizza essen, kann er alles aus der Schule erzählen. Natürlich nur, wenn ihn seine vier Jahre ältere Schwester lässt. Doch Pizzaessen ist demokratisch. Da kommt jeder zum Zug.

2 Tage später ist die erste Blockade überwunden und Eduard besucht den Sohn, Mittwochvormittag, in dessen Geschäft.

„Was treibt dich zu mir, Vater?“ Wenn da nicht sein provokativer Unterton wäre! Dabei macht der Sohn im weißen Verkaufsstellenleiterkittel eine wirklich vertrauenswürdige Figur. Steht hinter der großen Glasauslage, die Welt des gut sortierten Fisches bewachend. Er ist ein richtiger Chef! Gibt es Probleme, zappeln die Furchen auf seiner Stirn wie Heringsschwänze. Unter dem dichten schwarzen Haar existiert ein großes Fanggebiet für Stimmungen aller Art. Bereits als Kind bildeten sich schnell auf der kindlichen Stirn Falten als Unwetterboten. Fisch, schon gar nicht diese säuerliche Version, hat er damals in trotziger Regelmäßigkeit abgelehnt. Ob Fischstäbchen, Filet oder entgrätete Forelle, sie alle versetzten seinen Magen in einen unverträglichen Ausnahmezustand. Paradox! Inzwischen leitet er selbstverständlich und routiniert diesen Speisefischladen. Hier sollte man das Jahresende riechen. Schließlich ist Karpfenzeit. Doch Eduard setzt sich irgendwie der Geruch von gebrannten Mandeln, Popcorn und Zuckerwatte in die Nase. Das typische, raffiniert abgestimmte Jahrmarktduftgemisch! Woher kommt im gut sortierten Fachfischgeschäft, diese Zucker- oder Schokoladenspur? Schon beginnt die Täuschung der Sinne. Er muss jetzt etwas Väterliches sagen: „Was spricht der kluge Karpfen? Schlamm drüber! Also lass dich von meinem Besuch nicht durcheinanderbringen. Einfach weitermachen und zuschauen lassen.“ Frank zieht genervt die dunklen Augenbrauen hoch: „Was soll das jetzt?“ Eduard blickt in die Auslagen: Da liegt der frische Fisch, aufgebahrt auf vielen Eiswürfeln, neben dem ebenfalls toten geräucherten. Dann folgen marinierte Produkte, Spieße und schließlich ein reichhaltiges Imbissangebot. Sein Sohn legt eben Wert auf die gut sortierte Auswahl. Er könnte vermutlich von allen Filetstücken sofort die Herkunft nennen, den Stammbäume herunterrasseln, zu jeder einzelnen Gräte und Schwanzflosse eine passende Geschichte erzählen. Hilft nichts, Eduard tun diese tierischen Fragmente trotzdem leid. Sämtliche vorhandenen Fischaugen, die der Forellen, Welse und des Rotbarsches schauen hoffnungslos ins Leere. Für sie ist hier, gut gekühlt, Schluss: Keine Rettung oder Verheißung. Und der Sohn zuckt nur mit seinen, unter einem weißen, fleckenlosen Kittel versteckten Achseln.

„Möchtest du etwas probieren, Vater? Kann dir nach Wunsch ein gutes Frühstück servieren.“

Eduard schaut auf die ganze gefrorene Filetlandschaft herab, Eiswürfel, dazu ansprechend verteilte Zwiebelringe, Küchenkräuter und Preisschilder. „Es ist doch selbstverständlich, dass der Mensch Fisch isst!“ Eduard appelliert an die Erinnerung des Sohnes: „Früher hast du nicht so gedacht, da löste jede Schwanzflosse bei dir Ekel aus.“ „Früher, ja früher“, antwortet der trotzig. So kommen sie nicht überein. Vielleicht sollte er dem Sohn jetzt doch von den Gedichten erzählen. Oder doch lieber nach dem neugeborenen, sechs Monate alten Albert fragen? Hier im Fischladen? Nein! Räucherfilet und Babycreme passen nicht zusammen. An den letzten Tagen des Jahres glaubt Eduard regelmäßig abergläubig zu werden. „Besucht uns doch irgendwann um die Feiertage – dann braucht ihr nicht kochen. Mutter würde sich auch über ein Wiedersehen freuen.“ Frank prüft seinen Vater, fragt: „Und Klara, darf sie mitkommen?“ Dieser zuckt mit den Achseln: „Natürlich darf Klara mitkommen. Ihr seid als Familie eingeladen.“

Der Sohn scheint mit der Antwort zufrieden. Er kreiert seinem Vater das klassische Bismarckheringsbrötchen. Eduard bleibt misstrauisch. Frank fragt weiter:„Erzähl von dir. Ich weiß sehr wenig.“ Eduard greift sich das Brötchen und meint, bevor er hineinbeißt: „Von was soll ich erzählen? Von artgerechter Haltung empfindlicher Regenbogenfische, dem Frühwarnsystem der Zwergkaninchen, über Altersdepression bei Schildkröten oder Atemübungen kurzlebiger Hamster?“

Kundschaft betritt in diesem Moment den Laden. Stilvoll empfiehlt Frank sofort eine Beratung. „Ich weiß schon, was ich will“, antwortet die ältere Dame mit lila Hut. „Einen Karpfen. Sind die aus der Region?“ „Natürlich“, bestätigt Frank souverän. Gerade bei Karpfen ist regionale Nähe ein Verkaufshit. Für seinen Vater sind Silvesterkarpfen der Gipfel geplanter Tierquälerei. Da ist ein völlig überfülltes, riesiges, weiß gefliestes Becken, in dem sich diese dicken, dunklen, traurigen Jahresenddelikatessen vergeblich versuchen zu drehen. Nichts ist hier im Fluss! Gewollt! Von seinem Sohn Frank, der früher so einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hatte! „Haben diese Lebewesen nicht auch Anspruch auf genügend Schwimmfläche, frischen Sauerstoff, einen leckeren Wurm?“ Mit der Zeit verschwindet einer nach dem anderen aus der Enge. Nur den Letzten ist gegönnt, eine größere Abschiedsrunde zu drehen. Doch irgendwann sind auch diese Burschen verkauft, das Becken leer.

„Und?“ fragt Eduard. „Was und!“, schüttelt Frank unverständlich den Kopf. Die ältere Dame meint eben: „Aber bitte nicht sofort schlachten!“ Dabei beobachtet sie zu gleichen Teilen selbstbewusst, dazu misstrauisch, wie Frank sich eine grüne Schürze umbindet und mit einem kleinen Netz versucht, den von ihr gewünschten Karpfen zu fangen. Es gelingt sofort, der Auserkorene ist in dieser Enge zu phlegmatisch geworden. „Bitte nicht schlachten“, wiederholt die Dame noch einmal und beäugt das zappelnde Tier. „Ich will ihn nicht schlachten. Ich hau ihm nur eins über den Kopf“, versichert er. Das war es dann für den Karpfen. Hinter einem Vorhang in der Fischabteilung bekommt er einen harten Schlag auf den Kopf und landet in einer Plastiktüte mit Wasser. „Er bewegt noch das Maul“, denkt Eduard und verfolgt stumm die ganze, grausige Szene. Die Frau ist zufrieden, bezahlt, verschwindet, damit der nächste wartende Kunde seinen Wunsch äußern kann: „Einen schönen, großen Karpfen, aber geschlachtet.“ Das dauert länger. Eduard will nicht wieder Zeuge sein, nicht warten, verabschiedet sich rasch: „Ihr kommt die Feiertage mal vorbei? Versprochen!“ Frank kann jetzt nicht anders, seine gnadenlosen Fanghände im Becken, den freundlichen Blick auf die Kundschaft gerichtet: „Wir melden uns wieder bei euch, ich spreche alles mit Klara ab. Ohne sie passiert nichts.“ Eduard verlässt den Laden, in der Hoffnung auf ihren längst fälligen Besuch. Annäherung nach Jahren. Beim Hinausgehen fällt ihm ein Herr mit großen, glasigen, ziemlich nach außen gewölbten Augen auf: Hässlich! So sieht man aus, wenn zu viel Karpfen auf dem Speisezettel steht.

Draußen auf der Straße, in der eisigen Kälte dieses Dezembers, denkt er an die fünf Jahre Funkstille in ihrer Beziehung. Noch letzten Oktober hatte Frank behauptet, vier Jahre in Österreich studiert zu haben. Nein, sie haben nachgezählt, es waren wirklich fünf Jahre. Oder doch nicht?

Am 29. Dezember ist die Zoohandlung letztmalig im alten Jahr geöffnet. Es Samstag und gegen Mittag schickt Eduard Filomena nach Hause, nicht ohne ihr den obligatorischen ´Guten Rutsch´ zu wünschen. Er selbst lässt das Geschäft noch zwei Stunden geöffnet um nicht verkaufte Tiere zu füttern und Inventur zu betreiben. Mit Kundenansturm rechnet er jetzt nicht mehr groß. Schließlich gibt es bei ihm keine Silvesterkarpfen. Anders bei Frank. Der wird sogar am 31., zumindest bis Mittag geöffnet haben.

Eduard ist über sein größtes Aquarium gebeugt. Hier haben die mittelgroßen Zierfische ein Übergangsdomizil. Verkauft hat er die letzten Tage wenig. Daher kennt er fast jedes einzelne Tier, weiß um ihre bevorzugten Verstecke. Mit leicht melancholischen Blick, es ist eben Jahresende, verfolgt er ihr ewiges Spiel, diese, nach uralten Gesetzen ablaufenden Bewegungsabläufe. Plötzlich glaubt er jemanden hinter sich. Bevor Eduard etwas tun kann, spürt er zwei Hände an seinem Hals. Sie klammern sich fest, drücken zu. Stärker. Eduard wundert es noch, warum er nicht mehr Gegenwehr leistet. Zu spät! Die Hände drücken fester. Es schmerzt und nimmt ihm die Luft. Jetzt hat der Fremde Gewalt über ihn, drückt seinen Kopf ins Wasser des Aquariums. Der gefühlte Schmerz wird größer. Auch die Ohnmacht nichts mehr dagegen tun zu können. Sein verzweifeltes, schwaches Aufbegehren verfängt sich in den phosphoreszierenden Wasserpflanzen. Ist das so, wenn man stirbt? Eduard sieht die Welt größer wie sie ist. Kleine Zierfische sehen aus wie Karpfen, glotzen ihn provozierend an. Ihre Mäuler bewegen sich, machen vor, wie man zu Luft kommt. Sie wenden sich ab, schwimmen davon. Eduard ist ein hoffnungsloser Fall. Der kommt nie wieder zu Luft. Weiß nicht wie man unter Wasser atmet. Der Schmerz den die ganze Würgerei auslöst wird unerträglich. Ich will jetzt sterben, denkt Eduard Ringel. Aber er stirbt nicht.

Stattdessen ruft Bärbel nach ihm: „Kannst du nicht mal von deiner Couch aufstehen, wenn es geklingelt hat? Frank ist mit seiner Familie zu Besuch gekommen.“

Eduard springt hoch, reibt sich die Augen: Er lebt, befindet sich nicht im Laden, sondern liegt zu Hause auf der Couch. Haben sie ihn gefunden? Bewusstlos? Die Gedanken rasen durcheinander. Zusammenreißen Eduard, sagt er sich und verschwindet im Bad. Kaltes Wasser war zur Wiederbelebung schon immer geeignet. Ein letzter Blick an den Hals. Nirgends sind Folgen des Würgegriffs zu erkennen. Also gut, sagt er sich noch einmal: Eduard, du hast geträumt. Kehr zurück ins normale Leben. Mit diesem Entschluss im Kopf, begibt er sich zu Bärbel und den Gästen.

„Das ist ja wirklich ein süßer Fratz“, schwärmt seine Frau gerade lautstark vom eben ängstlich schauenden Enkelkind Albert.

Alle begrüßen nun Eduard, welcher langsam die Wohnstube betritt. Bestimmt sind sie froh dass er lebt. Eigentlich ist er froh, dass Frank lebt und eine Familie gegründet hat. Nach vielen Jahren ist Ordnung in sein Leben gekommen.

Bärbel fragt gerade nach: “Wollt ihr was zu trinken. Da wären Limonade, Wasser, Apfelsaft und natürlich Bier für Frank! Und Albert?“ Klara gibt keine Antwort, hat sich zögerlich neben Frank auf die Couch gesetzt. Er nimmt ihr, mit sicherem Griff, den neugierig strampelnden Sohn ab. Dieser zupft und blubbert! Frank entscheidet: Wasser. „Bier trinke ich um diese Zeit nicht!“ Außerdem gibt es sowieso gleich Kaffee, denn Bärbel verschwindet in die Küche, lässt Eduard mit den Gästen allein. „Wir haben dieses Jahr Stollen selbst gebacken“, hat sie schnell noch gerufen. Eduard schmunzelt und ergänzt: „Wir sind inzwischen in dem Alter, wo man die einfache Handarbeit, das Selbstgemachte wiederentdeckt. Und das ist schön!“ Es klappt kurz mit der Lockerheit beim Reden! „Dafür haben wir keine Zeit“, hält Frank mit bleiernen Worten dagegen, „der Laden fordert seinen Preis.“ Schaut auf Albert, erklärt: „Und er braucht uns auch.“ Klara lässt ihren stummen Blick nicht vom Sohn. Das zappelnde Bündel will gerade zu seinem Vater zurück. Dessen schwarzes Hemd ist gar nicht so streng, wie es aussieht, dient vielen drehbaren Knöpfen als Versteck.

Frank verzieht missmutig sein Gesicht, meint kühl: „Es riecht bei euch immer noch nach künstlichen Blumen.“ Albert hat einen seiner Knöpfe erwischt, bedient sich neugierig daran. Eduard reagiert: „Es liegt an den vielen Knöpfen. Jeder steht für einen anderen Geruch. Du, lieber Frank, drehst manchmal an den Falschen.“ Darauf weiß der Sohn keine Antwort, reagiert mit unwilligem Kopfschütteln.

Eduard macht eine Pause, lässt sich Zeit für das Gespräch. Er versucht das Thema zu wechseln und fragt: „Gibt es auch schöne Erinnerungen?“ Frank muss jetzt nicht lange überlegen, lächelt: „Die Zuckerdose, diese alte bauchige Zuckerdose, wo man auch kleine Bonbons hinein tun konnte. Besitzt ihr sie noch?“ Eduard vermutet, welche er meint, geht zum Schrank, findet in der hinteren Reihe diesen porzellanweißen Hauch von Nostalgie. „Wirklich“, ruft Frank sofort begeistert, „goldfarbener Knopfdeckel und pastellfarben der Zierrand – das ist sie. Wunderbar!“ Er strahlt, und ein frischer Luftzug weht durch den Raum. Albert dreht mit seinen wurstdicken Händchen am zweiten Knopf. Vielleicht deswegen! Es gibt noch Wunder zwischen Himmel und Erde. Man braucht nur am richtigen Knopf zu drehen.

Momentan wird der Abstand für Alberts kleine Finger zu den begehrten Knöpfen größer, gewollt unerreichbar. Das besagt: jetzt nicht. Albert akzeptiert die Botschaft keineswegs, leistet Widerstand, fängt sofort an zu schluchzen. Geduldig greift sich die Mutter das strampelnde Bündel, reicht einen großen künstlichen Schnuller, an dem er beleidigt lutscht. Frank dreht weiterhin die Zuckerdose in seinen Händen. „Wie habe ich sie geliebt! Ihr hattet euch einmal gestritten, Mutter und du: Ich brachte sie in Sicherheit, sollte nicht dem Ärger der Eltern geopfert werden.“ Er lacht dazu: „Mir hatte es erst geschmeckt, wenn sie mit auf dem Tisch stand, diese kleine Gottheit meiner Kindheit!“

„Aber Fisch hattest du damals trotzdem nicht gegessen“, beeilt Eduard schnell zu bemerken. Das Thema! Seine Antwort: „Ihr hattet eben keine passende Porzellandose für Fisch!“

In diesem Moment trägt Bärbel auf einem Tablett den Kaffee und viel Stollen herein. „Der Kaffee ist fertig“, intoniert sie eine bekannte Melodie zum Pausenzeichen. Ja, wir machen Pause.

Frank stellt die Zuckerdose nur zögernd zurück. Seine Kindheitsliebe!

Nach Kaffee und Kuchen folgt die Bescherung. Es ist eben Weihnachten. Mit gönnerhafter Geste steht der Sohn von der Couch auf, holt eine völlig ins Abseits gestellte rote Geschenktüte. Eduards Nase betrügt nicht: Da ist Fisch drin. „Ja, wir dachten, wir schenken euch eine Auswahl Fisch. Alles Ware aus meinem Laden, gesund und regional.“ „Zum Beispiel der Heilbutt kommt direkt aus dem Kuhlebach“, witzelt Bärbel und ergänzt fast entschuldigend für den spontanen Spaß, „das ist ganz lieb von euch.“

Klara versucht Albert inzwischen mit „Hoppe, hoppe Reiter“ zu versöhnen. Zumindest spuckt er den Nuckel freiwillig aus. „Noch Kaffee?“ Bärbel wartet die Antwort nicht ab, sondern gießt mit verschwenderischer Fürsorge die Tasse randvoll. „…wenn er fällt, dann schreit er …“ „Es kommt neuerlich Bewegung in die Welt. Alle Medien schreiben viel. Und wenn sie jemanden fallen lassen wollen, dann lassen sie ihn eben fallen. So ist das.“ Die Männer müssen sich immer über Politik unterhalten, denkt Bärbel. Am liebsten würde sie mit Klara sprechen, doch die reagiert nicht, lässt den kleinen Albert hüpfen, singt immer wieder „…fällt er in den Graben, fressen ihn die Raben…“. Nicht dass ihm noch schlecht wird! „Die alten Spiele kennt heute kaum noch jemand“, versucht Bärbel den Gesprächsfaden dünn zu knüpfen. Klara schaut sie nicht einmal an. „…fällt er in den Sumpf, dann macht der Reiter – na was macht er – plumps.“

Zeit für das abschließende Wort durch Bärbel: „Schön, dass ihr da wart!“ Sie freut sich wirklich. Ihr Junge! Redet ihm nicht ins Gewissen. Und irgendwann wird auch mit Klara ein Gespräch möglich sein. Hauptsache die Verbindung wird nicht wieder unterbrochen, weil Österreich dazwischen lag. Albert wehrt sich, strampelt gegen die Wagenwand. Widerspenstig wie sein Vater es früher war, denkt Eduard. Gibt eine Vorschau auf den Januar:

„Ich komme wieder in den Laden.“ Frank nickt: „Dann nimmst du aber etwas Fisch für euch mit.“ Schmunzeln auf beiden Seiten. Eduard versucht den Abschlussspaß:„Auf deine Gefrierstrecke ist sicher Verlass! Den Karpfen bitte nicht schlachten, den essen wir immer lebendig. Wenn sein Schwanz beim Schlucken noch zappelt und die Luftblase pumpt, ein Genuss.“ Frank grinst, das ist Humor, den er liebt. Schnell ergänzt er: „Stell dir vor, wie er in deine Speiseröhre glotzt, sieht genau, wo es hingeht, nämlich abwärts! Doch Spaß beiseite: Lieber frisch geschlachteten Fisch, als welchen, der bereits mehrmals die lauwarmen Temperaturen der Tiefkühltruhen großer Einkaufsmärkte gewechselt hat.“

Zum Glück wird Klein-Albert nicht zwischen frische Eiswürfel gepackt, sondern unter eine karierte Decke, welche von Klara aufgeschüttelt wird. Eines muss Frank noch sagen:„Nächstes Jahr bekomme ich wieder einige besondere Fische ins Angebot. Da kann ich euch viel empfehlen, zum Beispiel Meerbarben oder Rotzungen.“ „Wie bitte?“, unterbricht Eduard misstrauisch. „Lasst euch überraschen!“ Frank drückt Bärbel die Hand, kneift die Augen hintersinnig zusammen, verabschiedet sich artig mit dem obligatorischen: „Guten Rutsch. Alles andere später.“ Eduard mustert noch einmal den zurückgekehrten Sohn. Seine dunklen Haare sind doch weniger geworden. Und Klara? In einer der Schichten ihres Gesichtes lächelt sie bestimmt.

Der Januar schleicht diesmal als alter, müder Mann dahin. Mit jedem neu erwachten Tag verspürt Eduard eine dumpfe, tief sitzende Angst. Als erwarte ihn eine unkalkulierbare Rechnung, welche die Gefahr persönlicher Insolvenz birgt. Hoffentlich hat sich Franziska, ihre prophezeiende Tochter, nicht geirrt! Immerhin schafft er es ohne neue Strophe bis zum 20. Januar.

An diesem Tag kommen wenige Kunden zu erwarten. Warum auch immer! Filomena Klimpel behauptet es. „Fahren Sie doch zu ihrem Sohn. Ein Glück, dass ihr wieder miteinander redet.“ Was Filomena Klimpel empfiehlt, sollte man ernst nehmen. Eduard nimmt es ernst und fährt.

Frank trägt heute den üblichen, weißen Kaufmannskittel. Seine dunklen Haare zeigen sich auffallend steif und unbeweglich. Die Lücken sind mit Gel zugespachtelt. Eine andere Generation! Der Sohn konzentriert sich auf das Sortieren der Ware, besitzt den siebenten Sinn eines guten Verkäufers: „Guten Morgen, Vater, und ein gesundes neues Jahr mit vielen guten Geschäften.“ Der Angesprochene lacht: „Wünsche ich dir auch. Leider wollen die Leute einfach keine warmen Wollkleidchen für frierende Möpse kaufen. Und Schildkröten sind im Winter auch nicht der Verkaufsschlager!“ Plötzlich liegt diese penetrante Geruchsmischung aus kandierten Äpfeln und gebrannten Mandeln wieder in der Luft. Nein, er sagt Frank nichts von seiner seltsamen Wahrnehmung. Sonst ist der Ärger vorprogrammiert.

„Du hast einen guten Zeitpunkt gewählt, Vater, Käufer von Fisch kommen meist gegen Mittag. Vielleicht passt zu Morgenkaffee und Marmeladenbrötchen kein Rotbarsch.“ Eduard widerspricht: „Kenne genug Leute, die auch zum Frühstück Fisch essen.“ „Die kaufen dann aber nicht bei mir“, hält Frank freundlich dagegen. Bevor sie nun weiter über die Gewohnheiten von Fischliebhabern streiten, betritt eine jüngere, hoch gewachsene Frau den Laden und verlangt selbstbewusst: „Gelbstreifendoraden.“ Wie bitte, denkt Eduard, sind das nicht ungenießbare kleine Süßwasserfische? Während Frank, mit geschickten Handgriffen, das Gewünschte, was gar nicht so klein und wenig aussieht, einpackt, beobachtet der Vater, von seinem Seitenplatz, bemüht unauffällig das ganze Geschehen. Nachdem die Frau wieder verschwunden ist, erklärt der Sohn: „Ein sehr guter Speisefisch, mit festem Fleisch und wenig Gräten. Schmeckt vorzüglich. Am besten allerdings im Spätsommer. Richtig angerichtet ist er auch für den Januar eine Köstlichkeit.“ Eduards Allgemeinwissen vergrößert sich soeben! „Und ich dachte, es handelt sich um die berauschende Wirkung von hellem Zierfischfleisch.“ „Als Betreiber einer Zoohandlung solltest du dich schon auskennen!“ Der kluge Sohn schüttelt den Kopf, fragt weiter: „Überhaupt, wieso bist du nicht in deinem Laden? Werden Hamster auch erst gegen Mittag gekauft, weil sie sich nicht mit Pflaumenmus vertragen?“ Eduard reagiert prompt: „Lieber Frank, besuche mich und du lernst das Filetieren von Hamstern! Pflaumenmus ist dann die Krönung des tierischen Witzes.

„Vater, ich würde dir gern einige Schwanzflossen zur Versöhnung reichen! Im Januar sind besonders charakterstarke, schmackhafte Fische im Angebot. Ich packe euch ein Medley zusammen und ihr probiert aus.“ Nicht dass Eduard jetzt begeistert wäre, nur dem kaufmännischen Eifer seines Sohnes kann schwer widersprochen werden. Die Situation wäre erneut verloren. Zaghaft kommt die letzte väterliche Bemerkung „Du weißt, dass wir nicht ganz so experimentierfreudig sind in Sachen Fisch. Wir lieben die gewohnten Sorten.“ „Ja, ich weiß, dass sich euer Geschmack am Angebot eines alten Kolonialwarenladen orientiert: Hering aus dem Fass, die deftige Zwiebelmakrele oder der beleibte Rollmops, natürlich mit Gurke. Dann ist fast schon Schluss.“ Auch hier kann Eduard nur mitspielen. „Lieber Sohn, Kolonialwarenläden kamen in meinem Leben nicht mehr vor! Bin etwas später geboren!“ „Dann seid ausnahmsweise mal mutig und entdeckt die ganze globale Welt der Speisefische.“ Eduards Gedanken schwimmen in das ausgelegte Netz des Sohnes. Global gemischtes Fischfutter für Zierfische kennt er bereits, nun kommen die Macken der Essbaren hinzu. Gräten aller Länder vereinigt euch! Frank kann Fisch wunderbar verpacken, benutzt dazu einen mit Eiswürfeln randvoll gefüllten Behälter. Es macht ihm sichtlich Freude, seinem Vater das ganze Angebot vorzuführen. Das ist eben die charmante Auswahl des Fachgeschäftes. Er hat die dankbare Kundschaft verdient.

Inzwischen betritt eine ältere Dame den Laden, wirft ihren gepflegten Kennerblick zwischen die Eiswürfel hinter der Theke. Man sieht, die schnelle Entscheidung ist nicht ihre Sache. Schon folgt ein jüngeres Pärchen, das den Wunsch nach einem Imbiss äußert: „Bitte zwei Bratfischbrötchen.“ Nachdem noch zwei Herren mittleren Alters wissen, was sie wollen, ist klar: Der Kundenansturm hat begonnen.

Zum Glück macht Frank das Geschenkpaket gerade fertig. Eduard reicht ihm dafür einen größeren Geldschein über die Theke. Frank wehrt ab: „Das ist zu viel.“ „Nimm, kauft was für Albert.“ Der Sohn überlegt kurz: „Okay.“

Hätte Eduard, während Frank sich geduldig der älteren Dame zuwendet, den Ort schnell verlassen, wäre alles gut gegangen. So trifft er die verhängnisvolle Entscheidung, noch einen Moment jene Szene zu beobachten. Er steht direkt neben dem Karpfenbecken, wo jetzt sichtlich weniger los ist als vor Weihnachten. Verwöhnt werden die Tiere immer noch nicht mit Schwimmfläche. Doch mehr Sauerstoff pro Quadratzentimeter Wasser ist garantiert. Unter den Flossen vermutet Eduard Schweißflecken. Die Tiere sind großzügige Bewegungen nicht mehr gewöhnt. Plötzlich färbt sich das Wasser dunkel. Aufgewühlter Schlamm! Eduard spürt diesen Karpfenschlamm auch im Bauch. Ihm wird übel! Gerade noch kann seine zitternde Hand den Beckenrand finden. Vorwarnen geht nicht mehr! Diese dunkelbraunen aufgewühlten Wellen im Fischbecken. Und mittendrin schwimmt der Vormittag als andächtiger Eiswürfel, schmilzt, sobald Eduard seinen Mund aufmacht. Alles wird anders! Ich muss doch sprechen, anfangen zu schreien:

Und du? In welchem Leder steckt deine Wahrheit?

Wirfst sie wie einen narbigen Stock

den hetzenden Hunden vor ihr lüsternes Maul.

Dein Ruf bleibt zurück als splitternder Schmerz:

Da, fass! Fass!

Aus den Enden des weißen Tuches tropft Speichel,

blutrot. Zerrissen die Sprache.

Zu Ende geht das Leben!

Und ihr Herren, ihr Mächtigen ruft in dieses Spiel:

Brav! Gut so!

Ist das euer tröstendes Wort?

Jetzt ist das Schiff doch untergegangen! Die wenigen Karpfen im Wasserbecken scheint das nicht zu beeindrucken. Aber die vielen Käufer schauen entsetzt. Eben noch schienen sie fest zu wissen, was sie kaufen möchten, den Fisch bereits in der Tasche, das Filet auf der Zunge. Nun bleibt unklar, ob man hier noch Vertrauen in die Verkaufsseriosität haben kann. Ein Verrückter im Laden! Ihre Blicke sind entsetzt, irritiert, mitleidig, manche auch angeekelt abgestoßen. Die ältere Dame drückt ihr Missfallen über die Situation so aus, dass sie Kopf schüttelnd umkehrt und den Laden verlässt. Ebenso das junge Pärchen. Schadenfrohes Gelächter folgt: „Hier ist was los!“ Und Frank steht fassungslos hinter der Theke: Er, der Kapitän auf diesem Schiff, spricht zu seinem erbärmlichsten Matrosen: „Geh, verlass augenblicklich den Laden, Vater!“ Wieder hat er diese schmerzende Entschiedenheit in seiner Stimme. Eduard Ringel könnte verzweifeln.

Aus welchen vergangenen Lebensschichten steigen diese Strophen empor? Eine wiederentdeckte Art, von der nicht klar ist: Sind es Pflanzen- oder Fleischfresser? Wie soll er verlangen, dass Frank die Situation versteht? Der Sohn kann nur sagen: Mach dich endlich ans Abfischen, Vater, komm der Sache auf den Grund.

Die Wirklichkeit ist anders: „Verschwinde Vater und komme nicht wieder.“ Das Schlimmste, was jetzt aber passiert, ist, dass er den eben erhaltenen Geldschein zurück auf den Boden seines Ladens wirft. Pure Erniedrigung. Der verbliebene Rest Kundschaft tritt zur Seite, beobachtet die Situation: Was passiert jetzt? „Frank, wir sprechen uns später.“ Mit diesen Worten, den Geldschein auf dem Fußboden liegen lassend, verlässt Eduard Ringel das Fischspezialitätengeschäft von Frank Ringel. Draußen wird ihm wieder schwindlig. Dazu bahnen sich Tränen einen mitleidvollen Weg. Was ist das nur für eine Dichtkunst? Wie ein Richterschwert schlägt jede Zeile zu. Sie weiß etwas, missachtet jedoch scheinbar die Gefühle der Betroffenen.

Nun wird er seinen alten Freund Alexander doch schnell anrufen und einen Besuch vereinbaren. Es ist beschlossen! Alexander bleibt der Fachmann. Seine Recherche braucht erfahrungsgemäß wieder viel Zeit, genügend Tabakdampf, damit die Sache rasch in Gang kommt, denn Alexander ist Pfeifenraucher.

3 Ende Januar macht sich Eduard endlich auf den Weg zu Alexander. Wie lange hatte er den Besuch vor sich hingeschoben! Das Problem hat sich ausgeweitet. Nun muss es sein! Es sind genau 135 Kilometer. Die Fahrt beginnt.

Eduard klickt auf den Knopf seines Autoradios. Rockmusik schnauft rhythmisch aus den Lautsprechern. Er kann während der Fahrt keine Klassik hören. Bärbel versteht das nicht. Sitzt sie neben ihm, diskutiert sie mit ihm genervt über um Hörgewohnheiten, allerdings ohne Sieger.

Alexander, das ist der elegante, aber nicht diskrete Tabakgeruch! Der Freund ist Pfeifenraucher! Er pflegt bürgerliche Gewohnheiten: den Stolz auf wertvolle Uhren, seine Frau Lena und die zwei Töchter. Stilvoll hat er sie alle in angrenzende Räume rund um sein Arbeitszimmer verteilt. Alexander, der Monarch. Vielleicht ist das nur so, wenn Eduard seinen Besuch anmeldet. Der Freund arbeitet als Deutschlehrer, vermag ausschweifend von Pädagogik zu erzählen:„Lasset die Kindlein zu ihm kommen.“ Alexanders Leben hat das Temperament eines Abreißkalenders: Das Leben wird dünner. Doch schöpft es jeden Tag neu Kraft aus alten Weisheiten oder flotten Aphorismen.

Sein Lieblingsthema ist klassische Literatur: Was sind dann Raum und Zeit, die ausführliche Erläuterung von Biografien, im Gegensatz zur Geduld seiner Zuhörer. Er hat viel gelesen: Darstellung von Inhalten bedeutet immer die Invasion der Worte unter seiner mächtigen Führung. Grenzen der Ausdauer werden überschritten. Eduard denkt heute: Auf in die Schlacht! Lass dann mal die Worte angreifen. Vielleicht folgt im Kampfgetümmel die Erkenntnis: Zum Beispiel: „Dieses Gedicht stammt von Rilke und du hast es in der neunten Klasse gelernt.“ Am Telefon galt noch: „Für mich ist es nicht erstaunlich, dass du dich mit fünfzig daran erinnerst. Aber wir kommen ja alle ins Rilke-Alter!“

Eduard ist beruhigt, noch ganze vierzig Kilometer muss er fahren. Vielleicht wartet Alexander bereits – er, der den Fensterrahmen füllende Literaturmüller, jener gute Geist aller Prosawerke. Schaut in rosiger Ruhe dem Tagwerk der lesenden Bauern zu, die ihre schweißgetränkten Getreidesäcke, mit einem fröhlichen Gedicht auf den Lippen, vor der klappernden Mühle abstellen. Auch Eduard bringt sein Scherflein.

Die Begrüßung fällt herzlich aus: „Nur herein, alter Junge. Ein halbes Jahr oder länger hast du dich nicht blicken lassen.“ Schon steht der Freund zufrieden brummend im Flur. Seine Frau grüßt als flüchtige Erscheinung, zieht sich, wie erwartet, schnell zurück. Eduard hätte gern noch ein Wort mit ihr gesprochen: Lena wirkt jugendlich, zugleich sportlich. Ganz bestimmt fährt sie viel Rad oder joggt. Jeder, der sportlich oder jünger wirkt, joggt stundenlang oder fährt Rad.

Eine ältere Tochter wohnt nicht mehr zu Hause, die jüngere geräuscharm nebenan. Alexanders Reich hat viele Räume, und er ist der Landesvater. Es bleibt der geheimnisvolle Schleier, das unbekannte Dahinter, welches Eduard auch nie erkunden will. Schließlich glaubt er an dort lauernde Giftpfeile oder aufschäumende Seeungeheuer. Im Arbeitszimmer schließlich, diesem Mekka der Buchregale, trifft ihre Männerfreundschaft aufeinander. Der Freund mit einer Buchempfehlung in der Hand: „Weißt du, wo ich das Exemplar gekauft habe?“ Eduard muss es nicht wissen, denn die Antwort folgt prompt: „In eurer sonderbaren Kleistl-Buchhandlung. Da hast du mich doch früher öfters mit hingenommen. Der, wenn ich mich erinnere, ziemlich alte Buchhändler führte uns regelmäßig an eines der fünf Regale, wo er auf die mindestens einen Meter lange „Bibliothek des Sieges“ aufmerksam machte. Wir konnten diesem Mann nicht wirklich trauen: Wusste er doch genau um deine pazifistische Einstellung. Und Pazifisten lagerten bei ihm unter dem Ladentisch: Böll, Grass, Bachmann: Aber bitte sehr, wir sollten immer und immer wieder jene dubiose Bibliothek der U-Boot- und Panzerschlachten beachten!“

„Ach ja“, ein Genuss sich zu erinnern, denkt Eduard, „diese Kleistl-Buchhandlung überdauerte unseren kleinstädtischen Sozialismus als einzige private. Er verkaufte, in seiner hölzernen Ladeneinrichtung, welche scheinbar aus Zeiten des Siebenjährigen Krieges stammte, Bücher über russische Erfolge des Zweiten Weltkrieges. Krieg ist Krieg! Es kam auf die eigene Haltung an! Kleistl hatte bei mir kein Glück! Dafür waren der dreibändige Rilke und die Ingeborg-Bachmann-Ausgabe schnell vergriffen, sicherlich während eines U-Boot-Kampfes unter dem Ladentisch versenkt worden.“

„Natürlich erschienen Bestseller immer in kleinen Auflagen“, wirft Alexander ein und zündelt schon wieder an seiner Tabakspfeife herum.

„Rilke habe ich später doch erstanden, sogar in unserer Volksbuchhandlung.“ Eigentlich wollte Eduard mit dem Namen dieses Dichters eine Brücke zum Thema schlagen. Doch Alexander geht nicht darauf ein. Er verzieht gerade das Gesicht knurrig: Diesen stark aromatisierten Tabak will er nicht rauchen, sondern die neue Sorte. Aber wo ist sie? Er kratzt sich etwas unsicher am Kopf, klimpert weinerlich mit der Stimme: „In letzter Zeit suche ich viel. Stets ist etwas verschwunden.“ Eduard hat kein Mitleid, denn ewig lange, wiederkehrende Suchaktionen nerven ihn. Gegen Zerstreutheit muss man etwas tun. Mit Lena joggen und Rad fahren. Doch Alexander sitzt mit Lenau in der Hand und pafft kratzigen Tabakqualm in die Luft. Dabei liebt er die Beständigkeit: So diese dunkelblaue Breitbandcordhose und den seit Jahren verdächtig gleichbleibend weißen Pullover!

„Die Dinge verschwinden in letzter Zeit häufiger als früher“, behauptet der Regent und schaut unsicher auf seine längst nicht mehr geordnete Hierarchie herab. Eduard schmunzelt. „Du bist eben nicht mehr der Jüngste. Willst aber über ein bibliophiles Königreich herrschen.“ Alexander sucht mit seinen Augen Schutz bei den Buchregalen. „Königreich ist gut: Ich erlebe aber gerade eine Intrige, mein Gedächtnis, die Nerven meutern. Vielleicht sind irgendwelche Grenzen überflüssig geworden. Sie lehnen sich auf! Ganz sicher!“ Er hat immer noch keinen neuen Tabak gefunden. Entscheidet schließlich, auf die alte Sorte zurückzugreifen. Tolle Diskussion, denkt Eduard, kann noch dauern bis in alle Ewigkeit. Plötzlich wechselt Alexander überraschend das Thema: „Ich mache uns Kaffee“, schlägt er vor, „und dann unterhalten wir uns über August Kühn.“ „Über wen?“, fragt Eduard etwas überfordert nach. Alexander klatscht triumphierend in seine Hände: „Kennst du nicht, habe ich mir schon gedacht. Das ist einer der Autoren, welche mit der Zeit zu Unrecht vergessen wurden.“ „Wie du deinen neuen Tabak …“ Sprachlosigkeit. Alexander begnügt sich dann mit einem lapidaren, dem Zeitgeist hörigen: „Okay.“

Er verschwindet und Eduard studiert Buchrücken. Bei jedem Besuch prüft er Buchrücken. Das literarische Leder, in seinen nachdenklichen Farben, bedeutet Inspiration: Böll, blau– Uhland, grün– Jean Paul, braun.

Zwischen den vielen schweren Klassikern liegen bestimmt jede Menge verrückter Strophen wie glitzernde Steine, verstecken sich die Worte als kostbare Buchstützen. Im Geist ruft Eduard: „Kommt, zeigt euch, ihr Gedichte!“

Alexander kehrt zurück, trägt eine silberne Kanne mit zwei Tassen herein: „Du trinkst ihn immer noch mit Zucker?“ Alexander wartet keine Antwort ab: „Wenn ich ihn nur finden würde.“ Eduard sucht Asyl in der Nähe der vier blauen Einbände von Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“. Der Freund verschwindet erneut in der Küche. Jetzt muss Eduard eingreifen, ruft hinterher: „Du, lass mal: Mir schmeckt er auch ohne.“ Ob ihn das tröstet? Jedenfalls verhindert dieser Ruf sein völliges Verschwinden. Alexander kehrt zurück, kann sich setzen, Kaffee eingießen, rührt sichtlich unglücklich in der Tasse, als befände sich Zucker darin. Kommt dann auf das angekündigte Vergessen von Literatur zurück. Voraussetzung ist, dass Alexander sich mit dem alten Tabak arrangieren kann. Er kann! Und es wird ihm möglich, mit kissenweicher Geste über August Kühn zu sinnieren. Ein Autor, der wirklich nicht mehr gelesen wird.

Wer kennt schon seinen Roman „Die Vorstadt“. Alexander bastelt die Handlung, filigran, mit viel Zeit, wie ein mechanisches Uhrenwerk zusammen.

Und dann, unerwartet Themenwechsel: „Lieber Eduard, ich will dir von einem komischen Traum erzählen. Dazu muss gesagt werden, meine Träume spielen meist im Herbst. So stehe ich vor dem Grab von Gustav Leutelt, lese in dessen Erzählungen aus dem Isergebirge. Kommt doch ein starker Wind auf, bläst mir die losen Seiten aus der Hand. Ich versuche sie natürlich gleich wieder einzusammeln, schnell aufheben und weiterlesen– es gelingt nicht. Der Wind bläst stärker und mir fährt so etwas wie ein Hexenschuss durch den Rücken. Die Folge ist, dass ich mich nicht mehr aufrichten kann. Meine Schmerzen werden unerträglich, auch Rufen nützt nichts, denn es ist niemand weiter auf dem Friedhof: So lassen sich die handgeschriebenen Seiten seiner Erzählungen nicht mehr retten. Dann endet der Traum.

„Nun“, Alexander gießt sich neu eine Tasse Kaffee ein, „was sagst du dazu?“ Eduard muss natürlich nicht lange überlegen, denn alles passt gut zur momentanen Situation. Seine Empfehlung: „Geh zur Gymnastik oder ins Fitnessstudio, beweg dich im ungewohnten Terrain.“ Da lacht Alexander lautstark auf, verschüttet fast seinen nicht getrunkenen Kaffee und die Antwort dröhnt in Eduards Ohren. „Seniorengymnastik, ja, soll ich vielleicht zum Sitz- oder Bauchtanz, vielleicht auch Tai Shu, lieber Bogenschießen. Mein Freund, es gibt viele Möglichkeiten, sich lächerlich zu machen.“ Das war jetzt eine voluminöse Explosion. So kommen wir nicht weiter! Besser ist, gerade zu schweigen oder einfach das Thema wechseln. Nachdem er ziemlich nervös wiederum in der Küche verschwindet, dann doch zurückkehrt, sich geräuschstark auf der Couch niederlässt, Eduard wechselt neuerlich das Thema: Es gelingt. Er kann von seinen lyrischen Offenbarungen in drei Teilen erzählen. „Na dann trage mir mal die Strophen vor“, verlangt Alexander. Eduard rezitiert mühelos. Anschließend Stille.

Der Freund zieht an seiner Tabakspfeife, aus der weiterhin in disziplinierter Mäßigkeit dunkler Rauch aufsteigt. Vielleicht wäre weißer Rauch jetzt günstiger, denkt Eduard. Dann kommt die Frage aller Fragen: „Kannst du mir sagen, um welche Gedichte es sich handelt?“ Alexander überlegt nicht lange: „Völlig unbekannt. Vom Ton her, schwer zu sagen: Nein, Rilke ist es nicht. Manche Methapern erinnern mich an Trakl. Aber auch der kommt nicht in Frage.“ Der Freund schaut etwas hilfesuchend in Richtung seiner Bücher: „Wahrscheinlich musst du mir Zeit lassen. Zeit zum Suchen.“ Dann wühlt er mit der linken Hand in seinem trotz vieler grauer Sprösslinge immer noch braunen Haarschopf, erklärt etwas unsicher: „Auf alle Fälle klingt es sehr elegisch!“ Alexander, der Lehrer!

„Das Ganze hat sogar etwas Religiöses, versetzt dich in einen ekstatischen Zustand. Du bist der Empfänger, sollst die Worte sozusagen unter Schmerzen gebären.“ „Dankeschön“, meint Eduard etwas abfällig, „ich will aber nicht unter Schmerzen gebären! Außerdem lehne ich dieses Auserwähltsein ab. Mein Gebiet ist der Verkauf von Kleintieren und dazu passendem Futter.“

Alexander klopft sich auf den Bauch: „Ja, was machen wir nun mit dir? Lass mich noch einige Tage nachdenken und suchen. Vielleicht lässt sich etwas Brauchbares finden.“ Fügt flüsternd hinzu: „Wenn ich wenigstens meinen Tabak dabei wiederfinde!“ Eduards Oberkörper verliert gerade seine Stützkraft, sackt in sich zusammen, spiegelt die ganze Hilflosigkeit der Situation. „Du musst sensibel für diese Momente werden“, ergänzt Alexander, „die Sätze lagerten verborgen und kehren bewusst in diesen Monaten zurück. Noch erkennst du den Sinn nicht. Noch nicht!“ Alle sprechen vom Unterbewusstsein. Auch der kluge Freund ist ja so ein prophetischer Überflieger: Fast bereut Eduard, ihn gefragt zu haben. Diese wichtigen Hinweise helfen nicht. „Machen wir noch einen Spaziergang“, lenkt er ein. Alexander ist gegenüber seinem Vorschlag nicht abgeneigt. Er will in den nächsten Tagen anrufen und für Aufklärung sorgen. Versprochen!

Zu Hause erzählt Bärbel von ihrem Besuch bei Frank und Klara. Sie hatte ganz kurzfristig, nachdem Eduard am Morgen losgefahren war, die Entscheidung dazu getroffen. Eine günstige Zugverbindung Richtung L., wo Frank mit seiner Familie wohnt, war schnell gefunden. Nein, sie wollte sich nicht anmelden, nicht das Argument für eine Absage liefern. Schließlich war Samstag und am Nachmittag sind vielleicht alle zu Hause. Auf dem Weg kamen doch Zweifel auf: Ist das jetzt richtig?

Dann klingeln. Die Tür öffnete sich. Da stand Klara, geheimnisvoll lächelnd vor ihr: „Schön, dass du gekommen bist.“ Bärbel beschreibt ihre Überraschung. „Lass die Schuhe an“, hätte Klara gesagt, und bat sie, mit schlichter Gestik, in die Wohnstube. Der Raum wäre hell, groß, ganz im Zeitgeist stilvoll gestaltet. Frank konnte sie nicht entdecken: Wahrscheinlich registrierte Klara ihren suchenden Blick: „Frank bereitet unseren Urlaub vor: Wir wollen nach Mecklenburg: Dort sind viele Seen und er angelt doch so gern.“ Sie ergänzte schmunzelnd: „Schließlich braucht er frische Ware, denn auf seinen Ladentisch kommen nur Fische seines Vertrauens.“ Klara war so gastfreundlich! Später bringt sie auch noch Kaffee und selbstgebackenen Kuchen. Vorher allerdings wurde Albert munter und auf den Arm genommen. Er tastete wieder mit seinen wurstigen Händchen alle erreichbaren Körperteile seiner Mutter ab. Am liebsten war ihm jedoch die Silberkette um ihren Hals.

„Über das eigentliche Problem konnte ich doch nicht sprechen.“ Bärbel macht eine Pause.

„Hast du gewusst, dass Klara Silberschmied ist? Fertigt ganz tolle Sachen.“ Dann erkundigt sie sich: „Gibt es im Fall deiner Gedichtstrophen eine Erkenntnis? Konnte Alexander helfen?“ Eduard findet seine Sprache wieder: „Alexander waren die Zeilen auch fremd. Vom Stil wäre es eine Elegie, also so eine Art Klagegedicht, es stammt aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Hat versprochen weiter zu suchen. Wir müssen eben seinen Anruf in den nächsten Tagen abwarten. Welches Gedicht kennt Alexander nicht!“

4 In den nächsten Tagen hat eine Art Winterfliege wieder eiskalt zugestochen. Irgendwo, vielleicht direkt vor Eduard Ringels Wohnung, ihre glänzend weißen Eier abgelegt. Die Infizierung mit diesem Virus zeigt sich an blau gefrorenen Händen. Das Gesicht, der ganze Körper in Thermo gewickelt, auf jeden Fall hilft Creme als Panzer für die empfindliche Haut. Es ist bereits Februar. Auch Bärbel meint: „Du musst dir die aufgesprungenen Lippen etwas eincremen. Prüfend tastet Eduard die angesprochene Mundpartie mit der Zunge ab. „Bärbel, diesen Nivea-Cremegeschmack will ich nicht“, rechtfertigt er sich, „lieber kleine Risse auf der Haut. Nichts ist perfekt. Sprödigkeit des Materials gehört zum Alter, bin auch schon über fünfzig. “Warm anziehen heißt seine Devise: Und jenes winzig kleine Insekt finden, welches für diese Extremkälte die Schuld trägt. Vielleicht versteckt es sich hinter dem Thermostat des Heizkörpers, verhindert dessen geregelte Funktion, lacht hämisch auf unsere mit furchtsamer Winterkleidung bepackten Tage herab. Eduard wird nervös, fühlt sich verpflichtet zu handeln. „Solche Kälte ist kein Spaß“, sagt er.