Borderline: Das Selbsthilfebuch - Andreas Knuf - E-Book

Borderline: Das Selbsthilfebuch E-Book

Andreas Knuf

4,8

Beschreibung

Selbsthilfe ist eine sehr wichtige Ergänzung zur Therapie, die bisher zu wenig gewürdigt wurde. Dieses Buch belegt: Alle Borderline-Betroffenen können durch Selbsthilfe in ihrem Leben vieles verändern und sich dadurch selbst stabilisieren. Das Buch bietet Menschen mit Borderline Anregungen und Empfehlungen, mit zentralen Problembereichen ihrer Störung angemessen umzugehen. Ob es um selbstverletzendes Verhalten, das Empfinden der inneren Leere oder um die Bewältigung traumatischer Erfahrungen geht - immer gibt es Möglichkeiten, nicht im Borderline-Erleben zu versinken. Christiane Tilly und Andreas Knuf haben die Erfahrungen zahlreicher Borderliner ausgewertet und zeigen auf, wie man sein Potenzial zur Selbsthilfe entdecken und nutzen kann. Erprobte Krisenbegleiter wie der »Notfallkoffer« und viele weitere konkrete Tipps machen dieses Buch zur Fundgrube für alle, die unabhängiger werden und mit oder ohne therapeutische Unterstützung klarkommen wollen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 233

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
4,8 (48 Bewertungen)
38
10
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das eigene Selbsthilfepotenzial entdecken

»Borderline ist eine behandelbare Krankheit, häufig ist sie sogar gut behandelbar. Da Borderline Teil einer Person ist, verschwindet es allerdings nicht plötzlich, auch nicht durch eine Therapie. Es wird aber möglich, die Symptomatik besser zu kontrollieren und sich ihr nicht mehr so ausgeliefert zu fühlen.«

Andreas Knuf und Christiane Tilly

Borderline: Das Selbsthilfebuch

BALANCE ratgeber

Andreas Knuf und Christiane Tilly

Borderline: Das Selbsthilfebuch

8., korrigierte und überarbeitete Auflage 2018

ISBN-Print: 978-3-86739-132-0

ISBN-PDF: 978-3-86739-179-5

ISBN-ePub: 978-3-86739-932-6

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© BALANCE buch + medien verlag, Köln 2007, 2014, 2018

Der Balance buch + medien verlag ist ein Imprint

der Psychiatrie Verlag GmbH, Köln.

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne die Zustimmung des Verlags vervielfältigt oder verbreitet werden.

Originalausgabe: Psychiatrie Verlag, Bonn 2004

Umschlagkonzeption: GRAFIKSCHMITZ, Köln

Umschlagabbildung: Barbara Rüesch, Zürich

Typografiekonzeption und Satz: Iga Bielejec, Nierstein

Druck und Bindung: AZ Druck und Datentechnik, Kempten

Herzlichen Dank an:

Andrea, Angelika, Angelinblack, Anja, Bärbel, Beate, Benny, Bigi, Birgit, Björn, Blanca, BlaueGräfin, Britta, Cali, Carina, Corina, Danny, Daniela, Doris, Elke, Elvira, Epilogue, Eveline, Fairies, Felicity, Felidae, Fetzachmoos, Franziska, Gina, Heike Marie, Jenny, Jenny & Co, Joel, Jörg, Jule, Julia, Kai Anja, Karen, Karin, Karina, Katharina, Katrin, Kerstin, Kurtline, Lady in Darkness, Lauscher, Lazypunk, Linda, Lisa, Luci, Mäxx, Maja, Manu, Marc, Markus, Martina, Mistyriousgirl, Monica, Monique, Nadshe, Nancy, Nearlyhoney, Neo, Nicky, Nicole, Nicoleta, Nina, Nuala, Pascal, Petra, Regine, Rollia, Sabine, Sandra, Schlaflos, Sharkira, Sienchen, Silva, Slave, Smartie, Spokko, Stefan, Stefanie, Steffi, Sue, Tanja, Tatjus, Teerose, Thekla, Thomas, Tigga, Tina, Titanic, Udellely, Ulla, Uwe, Wanischa, Wildazwip, Wilhelmine, Wolf und alle anderen, die nicht genannt werden möchten.

Inhalt

Einleitung

Was ist Borderline?

Borderline besser verstehen

Die stabile Seite stärken

Mit schwierigen Gefühlen und Stress besser umgehen

Notfallkoffer

Absprachen treffen

Mit den Folgen der Erkrankung besser zurechtkommen

Selbsthilfe in Gruppen

Gute professionelle Fremdhilfe finden

Traumaerfahrungen: sich selbst besser verstehen

Schluss: Nicht mehr auf den Schoß wollen

Literaturtipps

Empfehlenswerte Internetseiten

Folgende Materialien sind im Internet herunterzuladen: Durchführung von Selbsthilfegruppen

Verhaltensanalyse-Bogen

Anregungen für die persönliche Selbsthilfe

Krisenpass

https://www.balance-verlag.de/de/buecher/detail/book-detail/borderline-das-selbsthilfebuch.html

Einleitung

Als wir dieses Buchprojekt vor rund 15 Jahren begannen, waren Selbsthilfemöglichkeiten für Menschen mit Borderline etwas, was gerade erst in den Blick geraten war. Geraume Zeit hielt sich die Fehleinschätzung, die Betroffenen hätten keine Hilfemöglichkeiten jenseits der Psychotherapie, seien auch nicht an Selbsthilfe interessiert oder diese sei sogar schädlich für sie. Nach über zweijähriger Arbeit an diesem Buchwissen war uns damals klar: Alle Borderline-Betroffenen können durch Selbsthilfe in ihrem Leben so manches verändern und sich persönlich stabilisieren. Wir jedenfalls haben bisher niemanden kennengelernt, der nicht durch eigenes Verhalten Einfluss auf seine Symptome und deren Konsequenzen nehmen kann. Niemand ist Borderline hilflos ausgeliefert!

Wir wenden uns entsprechend mit diesem Buch in erster Linie an Betroffene. Ihnen hilft es, sich ihrer eigenen Einflussmöglichkeiten bewusst zu werden und sie gezielt einzusetzen. Außerdem liefert das Buch Ideen und konkrete Anregungen. Diese Ideen und Empfehlungen basieren auf den Erfahrungen vieler direkt betroffener Menschen sowie auf dem professionellen Wissen erfahrener Borderline-Therapeuten. Die hier zusammengetragenen Anregungen zur Selbsthilfe sind nach unserer Erfahrung sowohl für Betroffene hilfreich, die sich erst seit kurzem mit ihrer Erkrankung intensiver auseinander setzen, als auch für Menschen, die schon seit vielen Jahren oder gar Jahrzehnten nach zusätzlichen Wegen suchen, um ihre Borderline-Probleme besser in den Griff zu bekommen.

Um Borderline besser zu verstehen, ist es uns wichtig, dialogisch zu arbeiten. Das Besondere an diesem Buch ist, dass wir es als Borderline-Betroffene und als Psychologe gemeinsam geschrieben haben. Diese Zusammenarbeit war für uns beide ein großes Experiment und nicht immer einfach. Es gab gegenseitige Vorbehalte, Vorurteile, Unverständnis und Sprachverwirrung. Aber es gab auch viel Bemühen, den anderen und seine »Rolle« besser zu verstehen und einander zuzuhören. Dieses Buch zu schreiben erforderte nicht nur auf der Inhaltsebene ein hohes Maß an Klärungsarbeit, sondern auch auf der Ebene unserer Arbeitsbeziehung. Mit jeder Auseinandersetzung wurde uns klarer, dass nicht alles, was in der Kommunikation schieflief, mit Borderline zu tun hatte, aber wir beide schnell bereit waren, das so zu sehen.

Schon relativ früh während unserer Arbeit am Buch stellten wir fest, dass in all den vielen Dutzend Borderline-Büchern die Sicht der Betroffenen zu kurz kam. Deshalb suchten wir nach einem Weg, um von den Erfahrungen möglichst vieler zu profitieren. So entstand das, was wir später »unser Support-Team« nannten: Über das Internet suchten wir Betroffene, die bereit waren, uns von ihren eigenen Selbsthilfemöglichkeiten zu berichten und unsere Fragen zu allen möglichen Aspekten zu beantworten. Während der Arbeit an diesem Buch haben wir uns immer wieder an diese Gruppe gewandt. Ihr Wissen und ihre Erfahrungen finden sich in jedem Abschnitt dieses Buches. Mitglieder des Support-Teams kommen an sehr vielen Stellen zu Wort. Die meisten Betroffenen haben Pseudonyme gewählt, um sich selbst zu schützen, denn noch immer ist Borderline eine sehr stigmatisierende Erkrankung. Sich mit dieser Erfahrung »zu outen« ist entsprechend schwierig und oft folgenreich. Dies galt vor 15 Jahren und gilt leider in ähnlichem Maße auch heute noch.

Die Mitglieder unseres Support-Teams haben wir auch gefragt, ob sie als Anrede in diesem Buch »du« oder »Sie« angemessen fänden. Das Ergebnis war ziemlich genau 50 : 50. Wir haben uns dann nach längeren Überlegungen entschieden, unsere Leserinnen und Leser in diesem Buch direkt mit dem Du anzusprechen. Wir tun das, weil wir über sehr persönliche Themen schreiben und uns das Du als die offenste und direkteste Anrede erscheint.

Die ersten beiden Kapitel beschreiben das Borderline-Erleben und unser Verständnis der Borderline-Problematik. In den folgenden sechs Kapiteln finden sich konkrete Selbsthilfemöglichkeiten. Im daran anschließenden Kapitel werden Wege vorgestellt, wie sich wirklich hilfreiche Fremdhilfe organisieren lässt, und im letzten Kapitel schließlich finden sich wichtige Informationen über Traumaerfahrung. Am Ende dieses Buches veröffentlichen wir ein Gespräch, das wir beide miteinander geführt haben und das Schritte der Gesundung von Borderline beschreibt.

Die Kapitel müssen nicht der Reihe nach gelesen werden, da sie in sich abgeschlossen sind. Es ist also auch möglich, in diesem Buch »herumzustöbern« und zu schauen, von welchen Themen man gerade besonders angesprochen ist. Es kann sehr hilfreich sein, einzelne Abschnitte oder Kapitel häufiger zu lesen, um so den Inhalt Schritt für Schritt tiefer zu verstehen. Dazu können auch die Selbsthilfebögen dienen, die auf der Webseite des Buches heruntergeladen und also zu unterschiedlichen Zeitpunkten wiederholt genutzt werden können (https://www.balance-verlag.de/de/buecher/detail/book-detail/borderline-das-selbsthilfebuch.html).

Ganz besonders wichtig ist uns, dass die Leserinnen und Leser dieses Buches während des Lesens achtsam mit sich umgehen. Es ist keine gute Idee, dieses Buch in einer Nacht durchzulesen und am nächsten Morgen fix und fertig zu sein. Es ist wichtig, das Buch zur Seite zu legen, wenn einem die Inhalte zu nahe gehen, die eigenen Gefühle wahrzunehmen und sich erst wieder mit den Themen zu beschäftigen, wenn es einem besser geht.

Selbsthilfe ist kein Therapieersatz und soll auch keine Fremdhilfe ersetzen. Beides sind verschiedene, wenn auch sich ergänzende Hilfen bei psychischen Problemen. Gesundung hat vor allem mit Beziehung zu tun. Borderline-Betroffene brauchen Beziehungen zu anderen Menschen und brauchen zur Lösung ihrer Probleme in den meisten Fällen auch therapeutische Unterstützung. Selbsthilfe ist aber eine sehr wichtige Ergänzung, die noch viel zu wenig gewürdigt wird. Das eigene Selbsthilfepotenzial zu entdecken und zu nutzen bedeutet unabhängiger von der Hilfe anderer zu werden und auch ohne therapeutische Unterstützung besser zurechtzukommen.

1. In diesem Buch ist nicht nur von Selbsthilfe die Rede, sondern es soll konkrete Anregungen zur Nutzung der eigenen Selbsthilfemöglichkeiten bieten. Aus diesem Grunde finden sich in allen Kapiteln unsere »Selbsthilfe-Hilfen«:

Jeweils am Ende eines Kapitels stehen Fragen, die dazu anregen sollen, sich über eigene Selbsthilfemöglichkeiten etwas genauer Gedanken zu machen. Die Fragen beziehen sich auf die Inhalte des Kapitels. Es ist sehr hilfreich, die eigenen Gedanken zu den Fragen aufzuschreiben. Deshalb sind am Ende des Buches alle Anregungen zusammengetragen, dort findet sich auch genügend Platz, um die eigenen Gedanken zu den Anregungen direkt zu notieren.

2. Im Text gibt es immer wieder nützliche Hinweise auf weiterführende Bücher, Adressen usw.

3. Im Text findet sich häufiger ein Pausenzeichen: . Wir haben die Erfahrung gemacht, dass viele Betroffene Texte über Borderline sehr schnell lesen, förmlich »verschlingen«. Das erschwert jedoch die Auseinandersetzung mit den Inhalten. Das Pausenzeichen soll daher dazu anregen, innezuhalten, durchzuatmen und sich über das gerade Gelesene nochmals Gedanken zu machen.

Die Veränderungen in der vorliegenden Ausgabe betreffen vor allem Aktualisierungen der Fachinformationen, die beispielsweise sozialrechtliche oder diagnostische Aspekte betreffen. Hinzugekommen sind Informationen über den Borderline-Trialog, bei dem Fachleute, Betroffene und Angehörige versuchen, die Perspektive der anderen besser zu verstehen und entsprechend neue Wege des Umgangs miteinander zu finden. Auch die Auseinandersetzung mit dem Thema Arbeit wurde vertieft.

Die Basis des Buches bleibt das Erfahrungswissen Betroffener, das unverändert dieses Buch prägt, weil uns die Bedeutung dieser Texte immer wieder zurückgespiegelt wurde. Unser besonderer Dank gilt daher nach wie vor den über hundert Borderline-Betroffenen – unserem »Support-Team« –, die auf unsere Fragen geantwortet und ihre Erfahrungen mit uns geteilt haben. Herzlich bedanken möchten wir uns bei Fiona Behrend, Anke Gartelmann und Hans Gunia, die das Buchprojekt in der Schlussphase kritisch begleitet, durchgesehen und durch viele Anregungen ergänzt haben. Und ganz herzlich danken wir all unseren Leserinnen und Lesern, die das Buch mit ihren Rückmeldungen lebendig halten und weitertragen.

Christiane Tilly und Andreas Knuf

Was ist Borderline?

Wie können sich Borderliner ihrer Umwelt gegenüber erklären? Wie mach’ ich mich und meine Schwierigkeiten verständlich und hab’ dadurch eine Chance, als »normal« angesehen und behandelt zu werden?

Elke

Wenn wir uns vorstellen, dass Gefühle Pferde sind, dann sitzen »normale« Menschen auf einem alten Ackergaul. Menschen mit einer BPS hingegen sitzen auf einem Araberhengst. Er geht leicht durch, hat ein starkes Temperament und ist nur schwer wieder zu bändigen. Daher müssen »Bordis« einfach besser reiten können. Mir gefällt dieses Beispiel deshalb besonders gut, weil ein Araberhengst nicht das Schlechteste ist, wenn man gut reiten kann.

Karen

Beim Versuch, die Borderline-Störung zu beschreiben, stelle ich immer wieder fest, wie unerklärbar diese Krankheit eigentlich ist. Ich wirke zu »normal«, um in das Klischee »verrückt« zu passen, auch wenn es in mir vermutlich »verrückter« aussieht als in den »Normalen«. Wenn ich nach außen auffälliger, richtig »verrückt« wirken würde, komische Dinge täte, wäre es für die anderen vielleicht leichter zu verstehen, warum ich Probleme habe, den Alltag zu bewältigen. Doch auf den ersten Blick bin ich einfach nur unauffällig, eben »normal«.

Christiane

Die unbeschreibbare Krankheit?

Was ist eigentlich »Borderline«? Diese Frage lässt sich nicht in zwei Sätzen beantworten und selbst mit deutlich mehr Worten ist das recht schwierig. Viel von dem, was Borderline-Betroffene erleben, lässt sich kaum beschreiben. Zwar gibt es Symptome, wie beispielsweise Selbstverletzungen, die für die Umgebung sichtbar sind und einen Hinweis auf Borderline geben können. Es wäre jedoch falsch, Borderline immer mit selbstverletzendem Verhalten gleichzusetzen. Hinter den sichtbaren Verhaltensweisen findet sich bei vielen betroffenen Menschen ein »Gefühl absoluter Einsamkeit« oder einer »Angst vor allem«. Wir versuchen hier, sowohl die sichtbaren und gut beschreibbaren Verhaltensweisen darzustellen als auch die Gefühle dahinter, die sich so schwer fassen lassen und für Außenstehende schwer nachvollziehbar sind.

Borderline lässt sich auch deshalb so schwer beschreiben, weil der Ausdruck selbst auf den ersten Blick wenig zum Verständnis beiträgt. Seit den dreißiger Jahren des letzten Jahrhunderts wurde der Begriff Borderline (= Grenzlinie) für ein psychisches Erleben benutzt, das Psychiater und Psychologen nicht einordnen konnten. Einige der Erlebnisweisen ähneln psychischen Schwierigkeiten, die als Neurosen bezeichnet werden, andere erinnern an das Erleben in einer Psychose. Da sich die Betroffenen diesen beiden Patientengruppen nicht eindeutig zuordnen ließen, wurde der Begriff »Borderline« geprägt. Er sollte beschreiben, dass die psychischen Schwierigkeiten der Betroffenen auf der Grenze zwischen Neurosen und Psychosen einzuordnen sind. Mittlerweile meint Borderline eine ganz eigenständige psychische Erkrankung, bei der es zu sehr verschiedenen Symptomen kommen kann. Der Begriff hat also seine ursprüngliche Bedeutung verloren, greift aber von der Wortbedeutung her ein für die Betroffenen ganz typisches Thema auf: das Leben auf der Grenze. Die Betroffenen erleben sich häufig als Grenzgänger – zwischen himmelhoch jauchzend und zu Tode betrübt, zwischen gesund und krank, zwischen Nähe und Distanz zu anderen Menschen und immer wieder auch zwischen Leben und Tod.

Grenzen nicht setzen zu können und die Schwierigkeit, die eigenen Grenzen wahrzunehmen und sie zu akzeptieren, sind ebenfalls ganz typische Borderline-Probleme. Viele Menschen mit Borderline sind »grenzverletzt«, weil ihre Grenzen von anderen missachtet wurden. Der Begriff spiegelt also durchaus Erfahrungen von Betroffenen wider und ist dadurch heute in einem anderen Sinne als bei der Entstehung des Ausdrucks zutreffend. Viele Fachleute verwenden statt der Diagnose »Borderline« heute den Begriff »Emotional instabile Persönlichkeitsstörung«, der jedoch von vielen Betroffenen als unzutreffende Beschreibung der eigenen Problematik empfunden wird.

Wir haben Betroffene gefragt, wie sie Borderline in einem Satz beschreiben würden. Dass es doch Worte für die vermeintliche Unerklärbarkeit von Borderline gibt, wird an den Beschreibungen deutlich. Nimmt man alle diese Blitzlichter zusammen, bekommt man einen guten Eindruck von den vielen Facetten, die die Borderline-Erkrankung beinhaltet: Borderline ...

... ist, den ganzen Farbkasten des Lebens in seiner Intensität gleichzeitig zu leben – von Tiefschwarz bis Grellpink –, Lieben und Leiden in einem Augenblick, ohne dass auch nur eine kleine Nuance des »kreativen Chaos« verloren geht;

... bedeutet für mich, dass ich mich nie auf mich verlassen kann;

... bedeutet, dass ich die, die ich liebe, verletzen muss;

... bedeutet für mich, hinter die Kulissen zu blicken, auch wenn ich gar nicht will;

... ist wie ein Leben ohne feste Wurzeln;

... bedeutet, ein Kind im Körper eines Erwachsenen zu sein, das verzweifelt nach seiner Mutter sucht;

... ist wie eine Reise in einem rasenden Zug, dessen Notbremse defekt ist;

... bedeutet, kilometerweit zu wandern und trotzdem immer am selben Abgrund anzukommen;

... bedeutet für mich ein irrsinniges Gefühlschaos zwischen Liebe und Hass, Idealisierung und Abwertung, in einer schwarz-weißen Welt ohne Grenzen zu leben.

Zum Verständnis von Borderline können uns jene Kriterien helfen, anhand derer Fachleute eine Borderline-Erkrankung diagnostizieren. Gängig sind heute die Kriterien, die von der amerikanischen Psychiatervereinigung aufgestellt wurden und die im so genannten Diagnostischen und Statistischen Manual psychischer Störungen (abgekürzt: DSM) beschrieben werden. Nach mehreren Überarbeitungen des Diagnosemanuals liegt heute das DSM-5 vor. Die beschriebenen Kriterien sind gegenüber der Vorgängerversion im Wesentlichen gleich geblieben. Insgesamt fünf der neun dort aufgeführten Kriterien müssen vorhanden sein, um die Diagnose Borderline-Störung stellen zu dürfen. Es kann also sein, dass zwei Betroffene nur ein einziges dieser Kriterien gemeinsam haben und trotzdem dieselbe Diagnose erhalten. Dies zeigt, wie individuell verschieden Borderline sein kann. Fast alle Verhaltens- und Erlebnisweisen, die in diesen Kriterien beschrieben werden, findet man auch bei Menschen ohne Borderline, nur sind sie da weniger stark ausgeprägt – so gesehen sind sie ganz »normal«. Daher eignen sich diese Kriterien nicht, um sich selbst eine Diagnose zu stellen. Wer sich über seine Diagnose unsicher ist, sollte sich mit einem Psychologen oder Psychiater beraten, am besten mit jemandem, der ihn gut kennt und der Erfahrung mit der Borderline-Störung hat.

Im Folgenden beschreiben wir die neun Kriterien, wie sie Fachleute heute für die Diagnose verwenden. Wir haben sie in die Bereiche Verhalten, Gefühle, Wahrnehmung und Identität unterteilt. Während sich Borderline-Verhaltensweisen zumeist noch relativ gut mitteilen lassen, sind die Veränderungen in den Gefühlen und den Wahrnehmungen schon schwerer zu vermitteln. Besonders schwierig ist es nach unserer Erfahrung, die Veränderungen der Identität zu beschreiben. Doch sie sind es letztlich, die der Borderline-Persönlichkeit eigentlich zu Grunde liegen und die Verhaltens- und Gefühlsveränderungen bewirken, da Borderline eine tiefgreifende, bis an die Wurzeln des Ichs reichende Verunsicherung darüber ist, was diese Identität eigentlich ist.

Verhalten

Vermeidung von Alleinsein

Die Vermeidung von Alleinsein und die Angst vor Leere und Langeweile stehen für viele Betroffene in engem Zusammenhang. Um nicht in eine innere Leere zu stürzen, suchen sie Orte auf, an denen reges Treiben herrscht. Letztlich finden sie aber auch dort wenig Halt, sind allein unter vielen, in einer anonymen Menschenmenge, ohne wirklichen Kontakt zu den anderen. Viele Betroffene wagen es nicht, anderen von ihrer Angst vor dem Alleinsein zu berichten; sie befürchten, missverstanden oder nicht ernst genommen zu werden. Eine Betroffene erzählt, dass sie auf die geäußerte Befürchtung, die nächste Nacht nicht allein überstehen zu können, zu hören bekam, dass sie nun doch langsam aus dem Alter heraus sein müsse, sich allein zu Hause zu fürchten. Aber es ist nicht die Angst vor dem »Kellergeist«, wie sie es beschreibt, sondern die Angst, sich in sich selbst zu verlieren. Daher trifft der Begriff »Alleinsein« das Gefühl vieler Betroffener nur teilweise. Für sie geht es um die Vermeidung von Einsamkeits- und Verlassenheitsgefühlen. Die innere Einsamkeit kann zu einer so existenziellen Bedrohung werden, dass alles andere unwesentlich wird. Eine Betroffene berichtet, vor ihren Suizidversuchen immer tiefer in das Gefühl der Einsamkeit gerutscht zu sein. Jedes Mittel sei dann recht gewesen, um diesen Zustand zu beenden. Eine andere Borderline-Betroffene beschreibt das Gefühl dieser Einsamkeit als Widerhall sämtlicher Situationen des Alleinseins in der Vergangenheit.

Viele Betroffene haben in ihrer Kindheit beängstigende Situationen erlebt, in denen keiner für sie da war und sie hilflos auf sich gestellt waren, in denen sie mit ihrer Angst allein gelassen wurden. Für andere ist die Erinnerung an Trennungen oder an Verlassenwerden in einer Partnerschaft in einem solchen Augenblick wieder präsent, wenn auch vielleicht nur als unklares, bedrohliches Gefühl. Durch Schwierigkeiten im zwischenmenschlichen Verhalten oder in Partnerschaften sind viele Betroffene auch als Erwachsene relativ viel allein, was das Problem aufrechterhält. Vor allem wenn Job und Familienleben nur unzureichend gelingen, sind sie mit massiver Einsamkeit konfrontiert.

Kriterium 1 Verzweifeltes Bemühen, tatsächliches oder vermutetes Verlassenwerden zu vermeiden. (Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)

Selbstverletzungen und Suizidverhalten

Borderline-Betroffene verletzen sich aus unterschiedlichen Gründen selbst. Manche schneiden sich mit einem Messer, einer Rasierklinge oder Ähnlichem an verschiedenen Stellen des Körpers, meist um sich selbst überhaupt wieder spüren zu können, wie sie sagen, oder um den inneren Schmerz sichtbar zu machen oder als Druckentlastung bei hoher Anspannung. Neben dieser Form der Selbstverletzung gibt es viele andere Formen wie Wundkratzen oder Aufkratzen verheilender Wunden, Brennen der Haut, beispielsweise mit Zigaretten, Schlucken von giftigen Substanzen und gefährlichen Gegenständen oder Schlagen bestimmter Körperstellen gegen Wände oder harte Gegenstände. Oft »passieren« den Betroffenen immer wieder Unfälle. Dann fällt es zunächst nicht auf, dass es sich um selbstverletzendes Verhalten handelt, sondern es scheint so, als sei derjenige ein »Pechvogel« und eben ein bisschen ungeschickt.

Viele Betroffene sehen keine Möglichkeit mehr, so weiterzuleben wie bisher. So findet sich in vielen Krankengeschichten gleich eine ganze Reihe von Suizidversuchen. Oft sind die Betroffenen gedanklich nur noch mit dem Thema Suizid beschäftigt und teilen dies durchaus auch ihrer Umgebung mit. Viele von ihnen berichten, dass sie der Gedanke an den Suizid oft jahrelang im Alltag begleitet und die Funktion einer Druckentlastung hat. Die Fachleute sprechen dann von »chronischer Suizidalität«. Häufig nimmt die Umgebung diese Suizidgedanken oder -versuche irgendwann nicht mehr ernst und fühlt sich erpresst oder bedroht. Das ist einerseits sicher nachvollziehbar, denn bei suizidalem Verhalten kann es für die Betroffenen auch darum gehen, Beziehungen unbewusst auf ihre Tragfähigkeit zu testen, was für die Umgebung sehr anstrengend ist. Andererseits ist es aber sehr gefährlich bzw. fahrlässig, die Problematik nicht ernst zu nehmen, denn es kommt immer wieder zu vollendeten Suiziden. Insofern ist Borderline auch eine »lebensgefährliche Erkrankung«, wie es eine Betroffene einmal ausdrückte.

Kriterium 5 Wiederholte suizidale Handlungen, Suizidandeutungen oder -drohungen oder Selbstverletzungsverhalten.

Selbstschädigendes Verhalten

Selbstschädigendes Verhalten fängt lange vor offenkundiger Selbstverletzung und Suizidalität an. Was oft aus einer momentanen Stimmung heraus geschieht, kann weit reichende Auswirkungen haben. Verspielen von Geld oder unüberlegte Käufe führen zur Verschuldung. Unter Umständen kann dies Folgen für die gesamte Lebensplanung haben. Viele Betroffene kennen Verhaltensweisen, durch die sie sich in einen Zustand bringen, der für sie sehr negativ ist. Eine Betroffene beschreibt, wie sie sich ins Auto setzt, »finstere Musik« hört und durch einsame dunkle Gegenden fährt, obwohl sie weiß, dass sie sich dann noch einsamer fühlen wird und suizidal zu werden droht. Eine andere beschreibt, wie sie immer wieder Kontakte zu Personen herstellt, die ihr eigentlich schaden. Einige Borderline-Betroffene nehmen Drogen oder versuchen ihre Gefühle mit Alkohol zu betäuben, andere »kämpfen« mehrmals täglich mit Essanfällen (essen und erbrechen) oder Hungern, manche nehmen massenweise Abführmittel.

Sie alle bringen sich durch diese Verhaltensweisen an den Rand der körperlichen und seelischen Belastbarkeit. Es gibt Personen, die versuchen ihre Anspannung durch rücksichtsloses Autofahren zu verringern. Auch das sexuelle Verhalten, das eigentlich Lust und Freude bereiten sollte, kann zur Selbstschädigung werden, etwa bei Sexualität mit Partnern, die man eigentlich nicht mag, bei sehr häufigem Wechsel von Sexualpartnern, bei rücksichtslosen Sexualpraktiken oder bei ungeschütztem Geschlechtsverkehr.

Kriterium 4 Impulsivität in mindestens zwei potenziell selbstschädigenden Bereichen wie Geldausgeben, Sexualität, Substanzmissbrauch, rücksichtsloses Fahren, »Fressanfälle«. (Hier werden keine suizidalen oder selbstverletzenden Handlungen berücksichtigt, die in Kriterium 5 enthalten sind.)

Gefühle und zwischenmenschliche Beziehungen

Borderline-Betroffene haben oft Probleme, menschliches Verhalten auch in Zwischentönen wahrzunehmen, für viele sind Menschen in ihrer Umgebung entweder nur »gut« oder nur »böse«. Um eine Orientierung im inneren Gefühlschaos zu finden, versuchen viele die Menschen um sie herum einzuordnen in diejenigen, die sie unterstützen, und jene, die ihnen »feindlich« gesinnt zu sein scheinen. Es ist für sie schwer einfühlbar, wenn Menschen sich plötzlich anders verhalten als sonst. Wenn ein Freund ärgerlich wird und schimpft, vielleicht weil man eine gemeinsame Verabredung vergessen hat, ist es für manche Betroffene nicht möglich zu verstehen, dass dieser Freund nur das Verhalten, nicht aber die ganze Person kritisiert und sie trotzdem weiterhin schätzt. Ist ihnen eine Person wichtig geworden, können Borderline-Betroffene ihre gesamte soziale Energie auf diesen Menschen richten. So beschreibt eine Frau ihre Therapeutin als den wichtigsten Menschen für sich und glaubt, ohne diese therapeutische Beziehung nicht mehr weiterleben zu können. Eine andere Betroffene schildert, dass eine Steigerung der Tiefe der Beziehung schon bald nicht mehr möglich sei und sie den Kontakt enttäuscht und verletzt abbricht. Ein Therapeut hat die Art, sich auf Beziehungen einzulassen, einmal mit der Intensität einer Liebesbeziehung verglichen, bei der die Gedanken auch nur noch um die geliebte Person kreisen. Ein solcher Zustand ist allerdings nur eine begrenzte Zeit aufrechtzuerhalten.

Wenn sich eine als unterstützend wahrgenommene und positiv besetzte Person einmal nicht so verhält, wie es dem idealisierten Bild entspricht, kann es zu tiefster Verzweiflung und sogar zu Suizidgedanken kommen. Um diese Situationen aushalten zu können, werten viele Betroffene die vorher noch positiv gesehene Person massiv ab und sehen keinerlei gute Seiten mehr an ihr. Viele Betroffene verschwinden aus einer Beziehung, noch bevor es zum »großen Knall« kommen kann, etwa nach dem Motto: Bevor der mich verlässt, haue ich lieber selbst ab, denn ich würde es nicht aushalten, verlassen zu werden. Für Außenstehende wirkt das wie Flucht, für die Betroffenen ist es die einzige Möglichkeit, die Kontrolle über die Situation zu behalten. Viele haben deshalb irgendwann nur noch sehr oberflächliche Beziehungen zu ihren Mitmenschen, oft weil ihre unerfüllbare Sehnsucht nach »guten und liebevollen Eltern« oder nach Partnerschaft und Nähe in der Vergangenheit immer wieder in einem Desaster aus Chaos und manchmal sogar Gewalt endete. Manche Betroffene halten sich daher von jeglichen tieferen Beziehungen fern und haben nur noch »lockere« Kontakte. Sie sind also recht einsam, auch wenn sie scheinbar viele Sozialkontakte haben.

Kriterium 2 Ein Muster instabiler, aber intensiver zwischenmenschlicher Beziehungen, das durch einen Wechsel zwischen den Extremen der Idealisierung und der Entwertung gekennzeichnet ist.

Stimmungsschwankungen

Viele Borderline-Betroffene kennen abrupte, extreme Gefühlsänderungen. Dies führt im Alltag oft zu Problemen. Betroffenen wird immer wieder unterstellt, ihr Erleben sei nicht »echt«, sondern nur gespielt. Es ist für Freunde oder Kollegen nur schwer vorstellbar, wie die Stimmung bei Borderline-Betroffenen innerhalb weniger Minuten völlig kippen kann. Vielen von ihnen wird beispielsweise vorgeworfen, sich kindisch zu benehmen. Sie sind es dann leid, sich ständig wegen ihrer rasanten Stimmungsumschwünge erklären zu müssen, und oft ist es für sie auch vollkommen unmöglich, eine plausible Erklärung zu finden.

Schnelle Stimmungswechsel erleben die meisten Erwachsenen eher selten, bei einem Kind hingegen wundert sich keiner, wenn es kurz nach einem heftigen Wutanfall wieder freudestrahlend lächelt. Bei einem Erwachsenen scheint das Gleiche jedoch nicht nachvollziehbar. Doch auch Erwachsene erleben manchmal, dass die Stimmung von totaler Ausgelassenheit in bittere Ernsthaftigkeit oder von Wut in Verzweiflung umschlägt. Das sind dann jedoch Ausnahmesituationen und nicht struktureller Bestandteil des Alltagserlebens. Borderline-Betroffene durchleben genau solche Wechsel scheinbar aus heiterem Himmel und sogar mehrmals täglich, wenn auch nach außen hin nicht immer sichtbar. Viele Betroffene berichten, dass ihre Stimmungen eine Reaktion auf Impulse der Umgebung seien. Die Reaktionen der Mitmenschen beeinflussen die Stimmung von Borderline-Betroffenen in wesentlich höherem Maße als bei anderen Menschen, sie liefern den Maßstab für das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit. Die anderen Personen geben, ohne es zu wissen, die Impulse für Aktivität. Das geschieht, weil viele Borderline-Betroffene der eigenen Wahrnehmung nicht trauen und sie immer wieder an den Reaktionen der Umgebung überprüfen.

Menschen mit Borderline sind in hohem Maße empfänglich für Stimmungen ihrer Mitmenschen. Eine Betroffene beschreibt, dass sie manchmal das Gefühl habe, ihr sei die Haut abgezogen und sie sei allen Stimmungen, die ihr begegnen, schutzlos ausgeliefert. Ein kritischer Blick kann dann »schwerste Verletzungen« auslösen; ein nettes Wort hingegen kann »Balsam« sein. Zu den Stimmungen der Mitmenschen kommen vielfach auch die nicht einzuordnenden eigenen Stimmungen. Warum man eben noch fröhlich und zufrieden mit Leuten in der Kantine gesessen hat und eine halbe Stunde später zu Hause nur noch in Angst und Depression versinkt, ist nicht nur für Außenstehende, sondern auch für Betroffene selbst schwer zu begreifen.

Kriterium 6 Affektive Instabilität infolge einer ausgeprägten Reaktivität der Stimmung (zum Beispiel hochgradige episodische Dysphorie, Reizbarkeit oder Angst, wobei diese Verstimmungen gewöhnlich einige Stunden und nur selten mehr als einige Tage andauern).

Umgang mit Wut

Dass die Wut »stärker als jede Vernunft« sein kann, trifft für viele Borderline-Betroffene in besonderem Maße zu. Sie sind häufig so wütend, dass sie ihr Verhalten nicht mehr kontrollieren können. Die Wut kann sich gegen Gegenstände, aber auch gegen Menschen oder gegen die eigene Person richten. Ein Unterscheidung zwischen männlicher und weiblicher Wut kann nur insofern vorgenommen werden, als Männer und Frauen in unserer Gesellschaft unterschiedlich gelernt haben mit Wut umzugehen. So richten Männer vielfach ihre Aggressionen nach außen und sind daher häufiger gewalttätig gegen die Umgebung. So mancher ist deshalb eher im Gefängnis als in einer Klinik anzutreffen. Frauen richten ihre Aggressionen häufig gegen sich selbst. Diese Form des Umgangs mit Aggressionen fällt daher nicht sofort auf.

Aber nicht alle Menschen mit Borderline leben ihre Wut wirklich aus. Es gibt viele, die keinerlei Ärger oder Wut verspüren. Manche haben zu viel Angst davor, dass sich andere Menschen zurückziehen, wenn sie ihren Ärger rauslassen. Eine Betroffene beschreibt, dass sie jeden Wutausdruck unterdrückt, weil sie befürchtet, sich sonst nicht mehr im Griff zu haben und völlig die Kontrolle über sich und was sie tut zu verlieren. Wut und Ärger überhaupt spüren zu dürfen ist für viele Borderline-Betroffene mit einem Verbot belegt. Würden sie mit diesen Gefühlen in Berührung kommen, täte sich vielleicht ein Abgrund von Verrat, Loyalitätsbruch und Vernichtungsangst auf. Hinter der Wut kann große Angst, Traurigkeit oder Verzweiflung stehen. Wut kann also ein starkes Gefühl sein, das andere Gefühle verdeckt – die irgendwann in einem riesigen Wutanfall explodieren können. Erst wenn dann »die Luft raus ist«, haben diese Betroffenen wieder Zugang zu ihren Gefühlen und sind in der Lage, die verdeckten Gefühle zu spüren. Die meisten Betroffenen leiden unter ihrer Wut und schämen sich dafür, dieses extreme Verhalten nicht kontrollieren zu können.

Kriterium 8 Unangemessene, heftige Wut oder Schwierigkeiten, die Wut zu kontrollieren (zum Beispiel häufige Wutausbrüche, andauernde Wut, wiederholte körperliche Auseinandersetzungen).

Veränderte Wahrnehmungen

Viele Betroffene kennen eine phasenweise Veränderung der Wahrnehmung. Es kann ein Geräusch oder Geruch sein, der (unbewusste) Erinnerungen an lange zurückliegende Erfahrungen auslöst, Angst erzeugt und dazu führt, dass die Realität »wegrutscht«, weil plötzlich die Erinnerung viel echter wirkt als das, was gerade passiert. Oder Erschöpfung, beispielsweise durch Schlafstörungen oder Stress verursacht, führt dazu, dass die Betroffenen Veränderungen in der Wahrnehmung bemerken. Viele kennen die Angst, auseinander zu fallen, zu erstarren, sich aufzulösen, neben sich zu stehen, sich zuzuschauen, oder das Gefühl, unwirklich zu sein.