Bornholmer Falle - Katharina Peters - E-Book
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Katharina Peters

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Beschreibung

Letzte Spur: Bornholm.

Sarah Pirohl, ehemalige Polizistin in Rostock, möchte sich auf Bornholm einrichten, als sie der Hilferuf des BKA erreicht. Timo, der achtzehnjährige Stiefsohn eines renommierten Berliner Arztes, ist verschwunden. Zuletzt ist er gesehen worden, als er die Fähre von Bornholm nach Sassnitz bestieg. Sarah Pirohl beginnt sich umzuhören. Doch sie findet lediglich heraus, dass Sohn und Stiefvater vor Passanten auf der Insel in heftigen Streit gerieten. Dann jedoch erfährt sie, dass auf einem Musikfestival in Deutschland ein Junge umgebracht worden ist: ein Freund von Timo, der zuvor auf Bornholm gewesen ist ...

Hochspannend und mit einer sympathischen Ermittlerin – der neue Roman der Bestsellerautorin von „Schiffsmord“ und „Todeswall“.

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Über das Buch

Letzte Spur: Bornholm.

Sarah Pirohl, ehemalige Polizistin in Rostock, möchte sich auf Bornholm einrichten, als sie der Hilferuf des BKA erreicht. Timo, der achtzehnjährige Stiefsohn eines renommierten Berliner Arztes, ist verschwunden. Zuletzt ist er gesehen worden, als er die Fähre von Bornholm nach Sassnitz bestieg. Sarah Pirohl beginnt sich umzuhören. Doch sie findet lediglich heraus, dass Sohn und Stiefvater vor Passanten auf der Insel in heftigen Streit gerieten. Dann jedoch erfährt sie, dass auf einem Musikfestival in Deutschland ein Junge umgebracht worden ist: ein Freund von Timo, der zuvor auf Bornholm gewesen ist.

Hochspannend und mit einer sympathischen Ermittlerin – der neue Roman der Bestsellerautorin von »Schiffsmord« und »Todeswall«

Über Katharina Peters

Katharina Peters, Jahrgang 1960, schloss ein Studium in Germanistik und Kunstgeschichte ab. Sie ist passionierte Marathonläuferin, begeistert sich für japanische Kampfkunst und lebt am Rande von Berlin. An die Ostsee fährt sie, um zu recherchieren, zu schreiben – und gelegentlich auch zu entspannen.

Aus der Rügen-Serie mit Romy Beccare sind »Hafenmord«, »Dünenmord«, »Klippenmord«, »Bernsteinmord«, »Leuchtturmmord«, »Deichmord«, »Strandmord«, »Fischermord« und »Schiffsmord« lieferbar.

Mit der Kriminalpsychologin Hannah Jakob als Hauptfigur sind »Herztod«, »Wachkoma«, »Vergeltung«, »Abrechnung«, »Toteneis« und »Abgrund« lieferbar.

Aus der Ostsee-Serie sind »Todesstrand«, »Todeshaff«, »Todeswoge« und »Todesklippe« lieferbar. 

Zuletzt erschien von ihr: »Bornholmer Schatten«.

Mehr zur Autorin unter www.katharinapeters.com

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Katharina Peters

Bornholmer Falle

Kriminalroman

Inhaltsübersicht

Informationen zum Buch

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Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Impressum

Für Irina

Prolog

Der Mann stach aus der üblichen Schar der Festivalbesucher hervor. Er war groß gewachsen, trug einen dichten Bart und wirkte auf lässige Art gepflegt – teure Armbanduhr, Lederjacke, Edeljeans. Er lächelte freundlich und prostete ihm zu. Der Barkeeper lächelte zurück und schenkte ihm nach – Wodka Tonic auf Eis.

»Bist du neu hier?«, fragte der gepflegte Mann, und die sonore Stimme passte hervorragend zu seinem Outfit.

»Ja. Ich komme aus Berlin und jobbe in diesem Sommer auf verschiedenen Festivals. Diesmal habe ich Rostock erwischt. Mal was anderes.«

»Verstehe. Du tourst also.«

»Kann man sagen. Aber viel kriege ich nicht mit. Hinter der Theke sieht es fast überall gleich aus, und tagsüber bleibt nicht viel Zeit, sich die Gegend anzusehen.«

Der Gepflegte nickte nachdenklich und tippte mit einem Finger an sein Glas, bevor er den Blick wieder hob. »Aber sicher kennst du dich auf dem Festival ganz gut aus?«

»Kommt drauf an … Möchtest du eine Musikempfehlung?«

Dezentes Kopfschütteln. Er rieb sich das Kinn und beugte sich vor. »Ich hätte gerne etwas zum Auflockern und Muntermachen«, erklärte er schließlich leise. »Und damit meine ich keinen Alkohol, der macht oft nur träge. Wenn du verstehst.« Er zwinkerte.

»So in etwa.«

»Ich habe gehört, dass einer der Barkeeper über entsprechende Connections verfügt.«

»Aha.«

»Könnte mir vorstellen, dass du das bist.«

»Warum?«

»Einfach so – ein Gefühl aus dem Bauch. Und das lässt mich selten im Stich.«

Der Barkeeper überlegte nur einen Moment. Der Typ war gut informiert, roch förmlich nach Geld, war sympathisch und wusste sich zu benehmen. Es sprach nichts dagegen, ihm ein paar Pillen zu verkaufen, auch wenn sie sich nicht kannten. »Ich könnte was organisieren, dauert aber ein paar Minuten.«

Breites Lächeln. »Kein Problem.«

Der Barkeeper beschrieb ihm den Weg zu seiner Pension. »Ich habe demnächst Feierabend – wir treffen uns in einer guten halben Stunde am Hintereingang.«

»Alles klar.«

Der Mann bezahlte mit einem üppigen Trinkgeld. Der Barkeeper sah ihm nach und machte eine Viertelstunde später Schluss. Er verließ das Gelände mit eiligen Schritten und schlug den Weg zur Pension am Petridamm ein, zwischen Unterwarnow und Riekdahler Wiese im östlichen Teil der Hansestadt gelegen. Die frische Luft tat nach den vielen Stunden hinterm Tresen gut. Er nestelte den Schlüssel aus der Hosentasche und wunderte sich, dass sich die Beleuchtung am Hintereingang nicht einschaltete, als er näher trat. Es blieb stockdunkel und sehr still. Selbst auf der Rövershäger Chaussee war um diese Zeit wenig los – Musikfestival hin oder her. Er fluchte leise und wollte gerade die Taschenlampe in seinem Smartphone aktivieren, als er ein Geräusch hinter sich hörte. Schritte, Knacken, ein tiefes Durchatmen – etwas in der Art. Der gepflegte Mann hat es aber eilig, sich aufzulockern und in Schwung zu kommen, dachte er. Im nächsten Augenblick legte sich von hinten ein Arm um seinen Hals und schnürte ihm die Luft ab. Die zweite Hand griff von der anderen Seite nach seinem Gesicht, so dass sein Kopf nun wie in einem Schraubstock gefangen war. »Was …«

Schreck und Verblüffung zuckten nur für Sekundenbruchteile in ihm auf – an ihre Stelle trat Todesangst. Nur einen Augenblick später spürte er einen krampfartigen Schmerz im Nacken, und das Letzte, was er hörte, war das hässliche Geräusch, als sein Genick brach.

1

Die Wohnung befand sich in einem Apartmenthaus mit mehreren kleinen Dienstwohnungen am Haslevej im Norden von Rønne. Sie war klein und nur mit dem Nötigsten ausgestattet, dafür skandinavisch bunt und gemütlich eingerichtet. Der Kollege Mikkel Bentsen von der örtlichen Polizeibehörde hatte nicht übertrieben – die traumhafte Lage an Bornholms Westküste war ein zusätzliches Geschenk. Bis zum Strand waren es gerade einmal fünfhundert Meter quer durch einen zauberhaften Waldabschnitt, die Küste hoch bis Hasle erstreckten sich kilometerweit auf der einen Seite die Ostsee und der Strand, auf der anderen Wald und künstlich angelegte Seen sowie weiter Richtung Norden die zerklüftete Felsküste, die immer wieder spektakuläre Ausblicke bot. Dazu die wunderbare Stille – selbst in der Hochsaison mitten im Sommer, wenn man ein paar Schritte abseits machte – und das geheimnisvoll und warm schimmernde Licht der Insel, die Sarah so sehr liebte.

Kommissarin Sarah Pirohl kannte Bornholm seit ihrer Kindheit aus zahlreichen Urlauben mit den Eltern. Im letzten Spätherbst hatte sie sich auf die Insel zurückgezogen, um im Ferienhaus von Freunden mitten im skandinavischen Winter Abstand zu gewinnen und eine neue Perspektive zu entwickeln. Zwei grausame Mordfälle in Rostock hatten sie an ihre Grenzen geführt – und weit darüber hinaus. Sie war als junge leitende Ermittlerin in ihrem ersten eigenen Fall sensationell gescheitert und hatte alles hinter sich lassen wollen. Was ihr nicht gelungen war – um genau zu sein, hatten sich die Ereignisse wenig später förmlich überschlagen. Sarah hatte in der Folge nicht nur erkennen müssen, dass sie nicht einfach weglaufen konnte, wenn es richtig brenzlig wurde, ihr war auch in aller Schärfe und Dramatik bewusst geworden, dass die Geschehnisse auf vielschichtige Weise mit ihrer Familie beziehungsweise den brandgefährlichen Umtrieben der Berliner Wirtschaftskanzlei ihres Vaters zusammenhingen und ihren ganzen Einsatz forderten.

Nach Abschluss der aktiven Mordermittlungen hatte sie die Staatsanwaltschaft bis vor wenigen Wochen monatelang bei der Aufarbeitung in der Kanzlei unterstützt; auch ihre Mutter hatte, völlig unvermutet, ihre passive Haltung aufgegeben und ihren Beitrag geleistet. Ihr Vater, sein Partner Hagen Dietrich sowie einige Mitglieder einer rechtsextremistischen Terrorgruppe saßen in U-Haft. Doch bei der weiteren Fahndung nach den Hintermännern und Geldgebern, den überaus raffiniert verschobenen Millionenbeträgen von angeblich seriösen Geschäftsleuten, Stiftungen und Vereinen im weitverzweigten rechtsextremen Netzwerk, das bereits ihr Großvater aufgebaut hatte und das für eine Vielzahl von schwerwiegenden Straftaten verantwortlich war, stellte sich bald heraus, dass die Hoffnung auf eine lückenlose Aufklärung wenig realistisch war – eher eine Illusion. Hohe Geldbeträge waren bereits auf unbekannten Wegen versickert, Verdächtige hatten sich abgesetzt, Inhaftierte schwiegen beharrlich, Zeugen verweigerten die Aussage oder tauchten unter, und ein ganzer Schwarm von Anwälten blockierte die Verfahren, wo immer sich Spielraum bot – bei einem notorisch überforderten Justizapparat war dafür nicht einmal großes juristisches Können nötig, lediglich Geduld, Zielstrebigkeit, das nötige Kleingeld und die Einflussnahme an wichtigen neuralgischen Punkten in den Behörden.

Sarahs Vater war bislang zu keiner einzigen Aussage bereit gewesen, abgesehen davon, dass er ihr bei einem Vieraugengespräch in neutralem Tonfall mitgeteilt hatte, dass sie mit Konsequenzen für ihren »Verrat« rechnen müsse – irgendwann, irgendwo, irgendwie. Sarah hatte sich bemüht, mit keiner Wimper zu zucken. Es war eine Sache, das Bild vom eigenen Vater vollständig revidieren und ihn in eine Reihe mit politisch Verirrten und rechtsextremen Kriminellen stellen zu müssen, der nicht einmal davor zurückgeschreckt war, seiner eigenen kranken Mutter Furcht einzujagen, aber eine gänzlich andere, eine derartige Drohung aus seinem Mund hören zu müssen. Nüchtern betrachtet lag er allerdings mit seiner Einschätzung sehr wahrscheinlich völlig richtig, und Sarah sollte sie als Warnung auffassen, was das Ganze nicht unbedingt vereinfachte, aber auf den Punkt brachte: Die Leute, deren Pläne sie vorerst zumindest durchkreuzt hatten und die sie und ihre Kollegen aus Rønne, Rostock und Berlin in einer gemeinsamen Sonderkommission nach aufreibenden Ermittlungen schließlich festgenommen und schwerwiegender Verbrechen überführt hatten, dürften weiterhin in der Lage sein, ihre Verbindungen zu nutzen – ganz zu schweigen von den Hintermännern und Drahtziehern, die untergetaucht, unangreifbar oder bislang gar nicht erst in den Fokus der Ermittlungen geraten waren. Dass ausgerechnet Sarah geholfen hatte, wichtige Vorhaben der Gruppe zu durchkreuzen, dürfte ihnen ein besonderer Dorn im Auge sein.

Etwas Ähnliches galt wohl für Frederik Thomsen, einen dänischen Journalisten, den Sarah auf Bornholm kennengelernt hatte. Dass er die Kanzlei seit Jahren gemeinsam mit einer kleinen Gruppe Gleichgesinnter im Auge behielt und dabei ein persönliches und familiäres Interesse verfolgt hatte, die rechtsextremen Umtriebe aufzudecken, stellte sich wenig später heraus. Sein bereits verstorbener Vater, ein deutscher Jurist, und Sarahs Großvater hatten zusammen studiert und einige Zeit in einem Anwaltsbüro gearbeitet, bevor Pirohl eine eigene Kanzlei gegründet hatte – mit ganz besonderem Schwerpunkt. Sarah und Frederik waren ein Paar geworden, das sich einer gemeinsamen Aufgabe verschworen hatte und daran gewachsen war.

Sarah überlegte kurz, mit ihrer Mutter zu telefonieren. Dann entschied sie sich dagegen; dafür war in den nächsten Tagen noch Zeit. Ihre Mutter hatte sich erstaunlich gut geschlagen in den letzten Monaten, aber vielleicht war der Schock noch gar nicht endgültig eingetreten. Sarah war dennoch sicher, dass sie auf ihre Art mit den Geschehnissen fertigwerden würde – und sich schnell verzeihen würde, dass sie erst in dem Augenblick eine aktive Rolle übernommen hatte, als ihr kaum etwas anderes übrigblieb. Sarah hielt einen Moment inne, schob die Gedanken dann beiseite, während sie die Fenster im Wohnzimmer öffnete. Es wurde Zeit, nach vorne zu blicken. Sie entschloss sich spontan, ihre Reiseutensilien und Taschen später auszuräumen und zunächst zum Strand zu gehen.

Spätes Sonnenlicht lag über dem Wasser. Touristen brachen in ihre Unterkünfte auf. Sie streifte die Sandalen ab, setzte sich ans Wasser und blickte die Küste entlang nach Norden. Frederik arbeitete in der Regel für eine Zeitungsredaktion in Kopenhagen, war allerdings immer wieder in ganz Dänemark und Deutschland unterwegs und wohnte in einem kleinen Ferienhaus in Hasle, wenn er auf der Insel war. In einigen Tagen erwartete Sarah ihn zurück. Er war glücklich, dass sie das Angebot des BKA angenommen hatte, als Verbindungsbeamtin der Behörde in Dänemark zu fungieren. Sie würde eng mit Berlin und Wiesbaden sowie ihrer alten Dienststelle in Rostock und Behörden im Bereich der Ostseeküste bei länderübergreifenden Fällen und Präventionsmaßnahmen zusammenarbeiten. Frederik war davon überzeugt, dass sie auf Bornholm sicherer war als in Deutschland, und Sarah hoffte, dass er mit dieser Einschätzung richtiglag. In nächster Zeit würde sie ihre dänischen Sprachkenntnisse erweitern, Kollegen aus Kopenhagen kennenlernen, sich mit bürokratischen Abläufen vertraut machen, die für ihre neue Aufgabe bedeutsam waren, und – natürlich – den Sommer auf Bornholm genießen. Das zumindest hatte sie sich fest vorgenommen.

Sie blickte auf ihr Smartphone, das mit leisem Vibrieren den Eingang einer Nachricht signalisierte. Bist du gut angekommen? Sarah zögerte einen Moment. Dann schrieb sie ihrer Mutter zurück, dass alles okay war. Minuten später auf dem Weg zurück in ihr neues Zuhause fuhr ihr durch den Kopf, dass diese Antwort eigentlich eine Lüge war. In dieser Familie würde nie wieder alles okay sein. Sei nicht so spitzfindig, ermahnte sie sich selbst.

Kriminalpsychologin und Kommissarin Hannah Jakob, Spezialistin für Vermisstenfälle beim BKA in Berlin, machte sich nach einem ermüdend langen Vortrag auf den Weg zum Hinterausgang, um eine Runde mit Kotti zu drehen. Ihr ständiger vierbeiniger Begleiter hatte sich noch mehr gelangweilt als sie und sich beim Gähnen fast die Kiefer ausgerenkt, und Hannah konnte es ihm nicht verdenken. Das Referat zu Cyberkriminalität hätte auch für IT-Laien durchaus fesselnd sein können, doch so gut sich der Kollege in seinem Fachgebiet auskannte, so wenig verstand er es, Inhalte nachvollziehbar darzustellen, geschweige denn mit rhetorischer Finesse oder schwungvollem Vortrag zu punkten. Hannah hielt es für vorstellbar, dass eine siebzehnjährige Schülerin mitreißender referiert hätte. Ein Blick in die Gesichter der Kollegen aus anderen Abteilungen und vom LKA hatte genügt, um festzustellen, dass sie mit dieser Meinung nicht alleine dastand.

Das Gros der Zuhörer und Zuhörerinnen würde die meisten Aspekte innerhalb von wenigen Stunden wieder vergessen haben. Hannah war mit ihrem besonderen Gedächtnis für Gespräche und Monologe, die sie zitatgenau wiedergeben konnte, in diesem Punkt klar im Vorteil. Dabei spielte es allerdings keine Rolle, ob sie das Thema brennend interessierte, kaum berührte oder sogar unendlich anödete. Nach einem Sportunfall vor etlichen Jahren hatte sich diese besondere Begabung erstmals gezeigt; seitdem blieben Worte in ihr haften und waren jederzeit abrufbar – ob sie wollte oder nicht.

Hannah beobachtete, wie Kotti fröhlich wedelnd in die nächste Grünanlage sprintete, als sie hinter sich ein leises Räuspern hörte. Sie wandte den Kopf und erkannte eine Kollegin vom Landeskriminalamt, die sich gerade eine Zigarette ansteckte. Sie verdrehte die Augen, als Hannahs Blick sie traf. »Wir haben es überstanden«, stöhnte sie leise. »Kaum zu glauben, oder?«

Hannah lächelte. »Haben wir. Sie sind vom LKA, wenn ich mich recht erinnere?«

»Ja.« Die Kollegin – eine mittelgroße kräftige Frau Ende dreißig – streckte die Hand aus. »Luise Koch, Dezernat FAM.«

Hannah runzelte die Stirn. Das Kürzel sagte ihr nichts.

»Für alles Mögliche«, schob die Beamtin nach. »Betrug, Diebstahl, kleinere Drogen- und Gewaltdelikte und was sonst noch so anfällt – nicht die ganz großen Fälle, dafür haben wir damit täglich rund um die Uhr mehr als genug zu tun.«

»Verstehe. Werde ich mir merken.«

Koch inhalierte tief und schnippte die Asche weg. »Und Sie sind die Spezialistin für Vermisstenfälle.«

»Das ist zutreffend. Um ganz genau zu sein, lag mein Schwerpunkt mal ursprünglich bei Kindern und Frauen, aber die Abgrenzung hat sich dann doch nicht als praktikabel erwiesen.«

»Und Sie waren darüber hinaus in den vergangenen Jahren bei einigen großen Ermittlungen dabei.«

»Auch richtig.« Die letzte lag erst einige Monate zurück. Ein großer mieser Fall mit erschreckend weitreichenden Dimensionen und tiefen Abgründen vor dem Hintergrund rechtsextremistischer Gewalttaten. Stichwort Bornholm. »Manchmal führt eins zum anderen, ob man will oder nicht«, fuhr sie nachdenklich fort.

Die Beamtin sah sie fragend an.

»Ich reiße mich nicht um die spektakulären Fälle«, fügte Hannah hinzu. Für einen Augenblick flammte das Antlitz einer Kollegin in ihr auf, die vor einigen Jahren inmitten einer hochkomplexen Fallbearbeitung ermordet worden war. Danach hatte Hannah sich von der aktiven Ermittlungsarbeit komplett zurückziehen wollen, ohne den Vorsatz dann konsequent verwirklichen zu können. »Erst recht nicht, wenn es allzu persönlich wird.«

Sie räusperte sich, brach ab und hielt kurz nach Kotti Ausschau, der die dürren Äste eines Busches hingebungsvoll beschnüffelte. Viele Fälle waren ihr früher oder später sehr nahegegangen, zu nahe, insbesondere für eine Kriminalpsychologin. Die Sache mit dem emotionalen Abstand – das Balancieren auf dem schmalen Grat zwischen hochprofessionellem Engagement angesichts einer schrecklichen Tat und persönlicher Betroffenheit schien ihr zunehmend schwerer zu fallen.

Luise Koch verlagerte das Gewicht von einem Bein aufs andere. »Vielleicht haben Sie ja mal wieder Lust auf einen stinknormalen Vermisstenfall, wenn Sie mir die saloppe Formulierung erlauben.«

Hannah blickte sie abwartend an.

Koch zuckte mit den Achseln. »Um genau zu sein, ist es gar kein Fall, zumindest im Moment nicht, aber ich könnte wenigstens einen Rat gebrauchen.«

»Natürlich. Warum geht es?«

»Ein Junge aus Berlin – Timo Burnau, achtzehn Jahre, hat gerade das Abitur gemacht und ist nach einem Urlaub mit seiner Familie in Dänemark verschwunden. Vater, Mutter, drei Kinder, er ist der Älteste. Was bisher vorliegt, ist schnell zusammengefasst: Timo kehrt vorzeitig nach Berlin zurück, weil er einen Job antreten will, bevor im Herbst das Studium beginnt. Als die Familie nach Hause kommt, gibt es keine Spur von dem Jungen. Niemand hat ihn gesehen oder etwas von ihm gehört. Den Job hat er nicht angetreten. Fest steht, dass er die Rückreise gebucht hatte – Fähre und Bus. Hinweise auf eine Straftat bewegen sich gegen null, und damit gibt es keinen Spielraum für Ermittlungen, wie ich wohl kaum zu betonen brauche.«

»Nein. Ein volljähriger junger Mann kann machen, was er will, ohne seine Eltern zu informieren.«

Luise Koch nickte. »Es ist seine Entscheidung. Wir wissen nicht, was ihn bewegt. Wer weiß das schon bei Achtzehnjährigen?« Sie warf Hannah ein Lächeln zu.

»Und doch sind Sie beunruhigt, sonst würden Sie mich nicht ansprechen.«

»Stimmt.« Die Kollegin drückte ihre Zigarette aus. »Die Mutter ist davon überzeugt, dass etwas passiert ist. Keine ungewöhnliche Reaktion. Sie ist so verzweifelt, dass sie sich nicht damit zufriedengibt, eine Vermisstenanzeige aufzugeben, sondern sich ans LKA wendet, wo sie bei mir vorstellig wird – weil ich gerade Dienst habe, aber das nur so nebenbei. Gut möglich, dass die Burnaus einen Privatdetektiv beauftragen. So klang es an. Über das nötige Kleingeld scheinen sie zu verfügen.« Koch hob kurz die Hände. »Das Ganze hört sich für mich nicht so an, als wolle der Junge einfach mal sein eigenes Ding machen, ohne Mami und Papi zu fragen. Das ist jedoch nur meine ganz persönliche Einschätzung, und falls ich mich täusche, dürfte mich das nicht allzu sehr wundern. Ich bin weder Expertin für Jugendliche noch für Vermisstenfälle.«

»Ist in der Familie schon mal etwas vorgefallen?«

Kopfschütteln. »Nicht das Geringste.«

»Wo genau hat die Familie Urlaub gemacht?«

»Auf Bornholm.«

Hannah hob eine Braue. »Das sehe ich mir mal genauer an. Schicken Sie mir die Hintergrunddaten. Wir haben seit Kurzem eine Verbindungsbeamtin auf der Insel, die ich persönlich kenne. Es kann ja nicht schaden, einen zusätzlichen Blick auf die Sache zu werfen und ein paar Fragen zu stellen.«

Luise Koch lächelte. »Ich hatte gehofft, dass Sie so reagieren würden. Der kleine Dienstweg ist oft der schnellste. Danke. Ich schicke Ihnen eine Mail, sobald ich zurück bin.«

Einige Minuten später machte Hannah sich auf den Weg in ihr Büro. Sie schrieb Sarah eine kurze Nachricht und ließ die Ereignisse ihrer gemeinsamen Arbeit für einen Moment Revue passieren. Die junge Kommissarin, die in Potsdam und Berlin zu Hause gewesen war und in Rostock ihre erste Dienststelle angetreten hatte, hatte sie beeindruckt. Sie hatte nach einem tiefen Absturz nicht nur eine persönliche Krise überwunden, sondern war schließlich bereit gewesen, sich auch den Dämonen zu stellen, die in der eigenen Familie auf sie warteten. Hannah wusste aus eigener Erfahrung, wie tief die Verletzungen waren, wenn das familiäre Umfeld betroffen war. Sie hatte vor vielen Jahren ihre Schwester verloren, und der Fall hatte seinerzeit zu einem dramatischen Bruch mit ihren Eltern geführt. Sarah hatte sogar den eigenen Vater überführt und es gewagt, ein Minenfeld zu betreten, auf dem so manche Sprengladung noch nicht entschärft war.

Hannah atmete tief durch. Dann dachte sie an Henrik – ein ehemaliger Rostocker Kollege von Sarah, der inzwischen beim BKA in Berlin für die Identifizierungskommission arbeitete, die sich weltweit um unbekannte Todesopfer nach Unglücken kümmerte. Mit ihm hatte für Hannah in diesem Fall alles begonnen. Er hatte Ende letzten Jahres vor ihrer Tür gestanden und die Ermittlungen im Zusammenhang mit einer vermissten Schülerin ins Rollen gebracht. Hannah drehte den Stuhl zur Seite, so dass sie aus dem Fenster sehen konnte. Sie lächelte leise. Er hatte noch einiges mehr ins Rollen gebracht.

Ein leises Pling signalisierte den Eingang einer Mail. Hannah wandte sich zum Schreibtisch um, öffnete die Nachricht der Kollegin Koch und brauchte kaum zwei Minuten, bis sie die Daten überflogen hatte.

Das Ehepaar Burnau war Anfang vierzig und seit sechs Jahren verheiratet – ihr gemeinsamer Sohn Samuel war vier Jahre alt. Askold Burnau arbeitete als leitender Mediziner im Labor der Charité, seine Frau Julia war in der Klinikverwaltung angestellt. Timo und seine vierzehnjährige Schwester Greta stammten aus der ersten Ehe ihrer Mutter. Ihr Vater, ein vermögender Bauunternehmer, war vor zehn Jahren verstorben und hatte Frau und Kinder finanziell gut versorgt zurückgelassen. Die Familie lebte in einem Haus in Schmargendorf. Askold Burnau war der Sohn eines Arztehepaares aus Neumünster. Er hatte zunächst Krankenpfleger gelernt und war vor zwanzig Jahren zum Medizinstudium nach Berlin gekommen.

Hannah lehnte sich zurück. Eine gut situierte Familie ohne jegliche polizeilich vermerkte Auffälligkeiten. Gemeinsame Ferien an der Bornholmer Nordküste in einem Häuschen in Gudhjem, einem beliebten Ferienort. Timo macht sich auf den Heimweg in die Hauptstadt und ist nicht mehr erreichbar – genauer gesagt stellen die Eltern erst eine Woche später bei ihrer Rückkehr fest, dass es keine Spur von Timo gibt.

Zum jetzigen Zeitpunkt konnte alles Mögliche dahinterstecken, wie bei vielen Vermisstenfällen, bei denen eindeutige und zeitnahe Hinweise fehlten – ein Verbrechen, ein Unfall, der vertuscht worden war, oder auch die simple Entscheidung eines sorglosen Jugendlichen, seine Ferienreise ohne Rücksprache fortzusetzen, wobei er womöglich in Schwierigkeiten war. Spurlos verschwunden, hieß es dann meistens. Doch es gab immer Spuren. Hinweise. Andeutungen, die sich erst im Nachhinein als Anhaltspunkte herauskristallisierten.

Hannah notierte die Reisedaten, ergänzte den Bericht der Kollegin und schickte Sarah die Unterlagen, bevor sie Julia Burnau anrief und einen Gesprächstermin vereinbarte.

2

Gudhjem an der Nordküste war für viele Dänen und Urlauber Bornholms heimliche Hauptstadt. Das kleine Städtchen – übersetzt: Götterheim – war in der kühlen Jahreszeit still und verträumt, im Sommer pulsierte in den engen Gassen und Straßen das Leben. Die Menschen strömten auf den Aussichtspunkt Bokul, einem Felsen am Hang von Gudhjem, dessen Kuppe sich knapp fünfzig Meter über der Ostsee erhob und ein wundervolles Panorama bot. Die roten Ziegeldächer glühten in der Sonne, Gärten standen in voller Blüte, am Hafen tummelten sich Einheimische und Besucher, und viele unternahmen einen Abstecher in Bornholms älteste Räucherei, bekannt insbesondere für seine Heringsspezialität »Sol over Gudhjem« – bestehend aus geräuchertem Hering, Radieschen, Frühlingszwiebeln, dunklem Roggenbrot, einem Eigelb, grobem Salz und Schnittlauch.

Sarah hätte nicht sagen können, wie oft sie dieses traditionelle Essen bereits genossen hatte. Ihr lief wie immer das Wasser im Mund zusammen, als sie sich in die Schlange einreihte und ihre Bestellung aufgab. Sie ließ sich die Mahlzeit einpacken und machte sich auf den Weg zum Nordhafen, der auch in der Hochsaison beschaulich und ruhig wirkte. Sie setzte sich auf eine Bank im Schatten und begann genüsslich zu essen, während ihr Blick hoch zu den Klippen wanderte. An der Steilküste stürzten die Felsen über zwanzig Meter tief in die Ostsee. Sarah hatte häufig dort oben gestanden, und beim Blick in die Tiefe war ihr oftmals schwindelig geworden.

Die Burnaus hatten von hier aus eine lange Wanderung in Richtung der Helligdomsklippen unternommen – neben dem Hammerplateau und den Felsen an Bornholms Westküste bei Hammershus stellten sie eine der eindrucksvollsten Felsformationen der gesamten Insel dar. Zahlreiche Videos und Fotos waren dabei entstanden – wie bei anderen größeren Ausflügen mit dem Rad oder dem Boot zu den sogenannten Erbseninseln. Dazu gehörten Christiansø, Frederiksø, Græsholm und kleinere Felsen einer Schären-Inselgruppe achtzehn Kilometer nordöstlich von Bornholm.

Hannah hatte Sarah das Material am Vortag geschickt, das die ersten Informationen zur Familie und ihrem Urlaub um Persönliches ergänzte. Darüber hinaus hatte die Kollegin veranlasst, dass eine Suchmeldung veröffentlicht wurde, und ihr Gespräch mit Julia Burnau aufgezeichnet. Sarah hatte es sich bereits zweimal angehört und ein drittes Mal, bevor sie am Morgen das gebuchte Ferienhaus und die Umgebung in Augenschein genommen hatte. Natürlich war die Unterkunft längst wieder belegt, für benachbarte Häuser galt das Gleiche. Die meisten Touristen blieben lediglich für zwei Wochen, und so lange wurde der Teenager bereits vermisst. Falls jemand Auffälligkeiten im Umfeld der Familie, welcher Art auch immer, mitbekommen hatte, dürfte er sie längst wieder vergessen haben. Timos Vater – genauer gesagt: der Stiefvater – hatte ihn zur Fähre gebracht, das Busticket war gebucht. Danach hatte niemand mehr etwas von Timo gehört. Rein theoretisch könnte er sogar über Bord gegangen sein.

»Er hat sich nicht gemeldet, als er in Berlin eingetroffen war?«, hatte Hannah bei ihrem Gespräch mit Julia Burnau nachgehakt. Eine Frage, die Sarah auch sofort durch den Kopf geschossen war.

»Nein. Timo ist ausgesprochen selbstständig, reist häufig und legt Wert darauf, dass er selbst bestimmt, wann und wie oft er sich mit uns in Verbindung setzt. Außerdem war uns bewusst, dass er nachts arbeitet und tagsüber schläft.«

»Ich verstehe, aber eine WhatsApp nach seiner Ankunft …«

»Nein.«

Sarah war davon überzeugt, dass Julia Burnau inzwischen zutiefst bereute, in diesem Fall nicht früher versucht zu haben, ihren Sohn zu erreichen beziehungsweise vorher darauf zu bestehen, dass er sich kurz meldete.

»Und der Freund, der ihm den Job …«

»Den kenne ich gar nicht.« Julia Burnaus Stimme klang energisch und eine Spur zu scharf, dachte Sarah. Die Fragen verstörten sie, weil sie sich angegriffen fühlte.

»Frau Burnau, ich muss Ihnen diese Fragen stellen, wenn ich mir ein vollständiges Bild von der Situation machen möchte«, hatte Hannah in ruhigem Ton erwidert. »Anders funktioniert es nicht. Ihr Sohn ist achtzehn, hat die Schule beendet und nabelt sich ab oder hat das längst getan. Natürlich kennen Sie nicht alle Details seines Lebens – welche Mutter von halbwüchsigen Kindern kann das schon von sich behaupten? Ich übrigens auch nicht, und ich hielte es sogar für bedenklich, wenn es so wäre. Aber was Sie wissen, müssen wir auf der Suche nach Anhaltspunkten zusammentragen. Sonst kann ich nicht helfen. Und falls Sie vorhaben, einen Detektiv einzuschalten, wird er garantiert ähnliche Fragen stellen.«

»Ja, schon gut, tut mir leid. Ich bin … Egal, also: Timo hatte Handy und Laptop bei sich. Da lässt sich also nichts überprüfen, außerdem kenne ich sein Passwort gar nicht. Mit einigen Freunden, die ich aus der Schulzeit kannte, habe ich gesprochen. Von denen, die ich erreichen konnte – viele sind im Urlaub oder auf dem Weg in eine andere Stadt –, wusste niemand von diesem Job. Eine aktuelle Freundin gab es meines Wissens nach nicht.«

»Hat Timo zum ersten Mal als Barkeeper gearbeitet?«

Pause. »Ich weiß es nicht. Er hat manchmal in den Ferien in irgendwelchen Clubs gejobbt, und da fiel dann wohl alles Mögliche an.« Und kurze Zeit später: »Aber all das können Sie doch herausfinden! Sie haben sicher die Möglichkeiten dazu, auch was seine Mobilfunkdaten angeht.« Verzweiflung hatte sich in ihrer Stimme eingenistet.

»Frau Burnau, im Moment gibt es keinen hinreichenden Grund für weitreichende Ermittlungsaktivitäten.«

»Aber …«

»Ihr Sohn ist achtzehn Jahre alt. Er ist nicht verpflichtet, sich bei Ihnen zu melden. Und Sie haben selbst betont, dass er …«

»Aber es gibt keinen Grund, uns auszuschließen! Das hat er noch nie getan. Wir hatten eine vertrauensvolle Beziehung zu ihm. Er hat sich auf den Urlaub mit uns gefreut. Welcher Achtzehnjährige fährt gerne mit der Familie in die Ferien? Ich bin davon überzeugt, dass ihm etwas zugestoßen ist.«

»Ich glaube Ihnen. Und darum werden wir auch Erkundigungen einziehen. Sollte sich der Verdacht erhärten, dass eine Straftat vorliegen könnte, werden wir weitreichendere Ermittlungen anschieben, aber erst dann. Uns sind an dieser Stelle bis dahin die Hände gebunden.«

»Vielleicht ist es dann zu spät.«

Darauf hatte Hannah nicht mehr geantwortet. In dem kurzen nachfolgenden Bericht erwähnte sie, dass sie weitere Gespräche mit Askold Burnau und sowie Timos Schwester vereinbaren würde.

Sarah war sicher, dass Hannah darüber hinaus stillschweigend und unterhalb jeden Radars weitere Erkundigungen einziehen würde, zum Beispiel darüber, wann Timo sein Handy zum letzten Mal benutzt hatte. Eine verantwortungsvolle Entscheidung, ab wann in einem Vermisstenfall polizeiliche Aktivitäten angemessen waren, die über einen oberflächlichen Check hinausgingen, war gerade bei Teenagern nicht einfach zu treffen.

Sarah sah sich die Aufnahmen von der Wanderung an der Steilküste erneut an. Sie stammten aus den ersten Urlaubstagen. Die Familie wirkte fröhlich und unbeschwert. Askold war ein groß gewachsener, kraftvoller und attraktiver Mann, der gerne und häufig in die Kamera lächelte, wenn seine Frau oder Greta filmten. Timo ging meist an der Spitze, manchmal schloss der kleine Halbbruder zu ihm auf und griff nach seiner Hand.

Andere Fotos am Ende einer Radtour zeigten die Familie beim Besuch einer Eisdiele in Gudhjem eine gute Woche später. Sarah war sicher, dass nach ihrer üppigen Fischmahlzeit kein Platz mehr für einen Nachtisch geblieben war, änderte aber ihre Meinung, als sie wenige Minuten später die Eisdiele betrat. Softeis konnte man eigentlich immer essen, erst recht das dänische.

Zwei Verkäufer standen hinter dem Tresen. Sarah bestellte eine kleine Portion und sah sich einen Augenblick um. Der erste Mittagsansturm schien abgeflaut zu sein. Sie warf dem blonden Hünen hinter dem Tresen ein freundliches Lächeln zu. »Kann ich Ihnen vielleicht ein, zwei Fragen stellen?«

»Aelvfølgelig – natürlich«, antwortete er sofort. »Aber wir können auch deutsch sprechen.«

Sarah seufzte. »Hört man es so deutlich?«

Er grinste. »Ein bisschen.«

»Okay, das muss ich wohl so hinnehmen.«

»Macht doch nichts.« Er zwinkerte.

Sie zog ihren Ausweis aus der Tasche und erläuterte kurz den Vermisstenfall sowie ihren Status als deutsche Polizeibeamtin auf Bornholm.

»Und wie kann ich helfen?«

»Die Familie hat in Gudhjem gewohnt und Ihre Eisdiele besucht …«

»Das tun viele, glücklicherweise.«

»Wenn sie schlau sind.« Sarah lächelte. Sie öffnete die Fotoapp. »Würden Sie sich ein paar Bilder ansehen?«

Zu ihrer Verblüffung erkannte der Mann die Burnaus wieder. »Ja, die waren sogar mehrfach hier.« Er runzelte die Stirn. »Und der Älteste ist verschwunden?«

»Ja. Wir wissen aber nicht genau, wann, und wir kennen die Umstände noch nicht. Haben Sie vielleicht etwas beobachtet oder mitbekommen?«

»Vater und Sohn hatten mal Krach.«

»Ach?«

Der Eisverkäufer zuckte mit den Achseln. »Keine Ahnung, worum es ging, aber ich erinnere mich, dass die beiden ganz schön laut geworden sind.«

Sarah hob eine Braue. »Sie haben sich hier mitten in der Eisdiele so gestritten, dass es alle gehört haben?«

»Nein, nein. Der Junge ist hinten rausgegangen und hat eine geraucht. Das Fenster zum Hof stand offen, so dass ich das mitbekommen habe. Sein Vater kam wenig später hinterher – vielleicht hat er ihm einen Vortrag über das Rauchen gehalten …« Der Mann hob beide Hände. »Hat mein Vater auch gerne gemacht.«

Möglich, dachte Sarah. Als Mediziner hatte er sicherlich die allerbesten Argumente. »Aber Sie sind nicht sicher, dass es darum ging?«

»Nein, nein – das war nur so eine Idee von mir. Ich habe nicht verstanden, worüber sie stritten. Ging mich ja auch nichts an.« Der Mann schüttelte den Kopf. »Die waren auf jeden Fall nicht gut aufeinander zu sprechen. Das konnte man an der Gestik und an ihren Gesichtern erkennen. Aber so was kommt in den besten Familien vor. Manchmal muss man es ein bisschen krachen lassen, oder?« Er lächelte.

In den besten Familien kommen noch ganz andere Sachen vor, dachte Sarah. »Ja, wahrscheinlich. Danke für Ihre Hilfe.« Sie reichte ihm eine Visitenkarte. »Falls Ihnen doch noch etwas einfällt, würden Sie mich bitte anrufen?«

»Aelvfølgelig.« Er lächelte. »Möchten Sie noch ein Eis mitnehmen?«

»Nein, danke. Ich bin pappsatt.«

»Pappsatt?«

»Maven er fuld – der Magen ist voll.«

»Ach so.«

Sarah schickte Hannah ein Update und machte sich wenig später auf den Weg nach Rønne. Am Morgen hatte sie den leitenden Beamten Mikkel Bentsen nicht erreicht. Korrekterweise hätte sie ihn zunächst vollumfänglich ins Bild setzen und sich mit ihm absprechen müssen, bevor sie im Alleingang nach Zeugen suchte und Leute befragte, aber sie war ziemlich sicher, dass er sich nicht grob übergangen fühlte. Ein paar Fragen im Rahmen der Suche nach einem Teenager aus Berlin, der Urlaub auf Bornholm gemacht hatte, waren kaum erwähnenswerter Kleinkram im Gegensatz zu den Ermittlungen im Winter.

Bentsen telefonierte gerade mit Kopenhagen, als sie vor seiner Bürotür stand, winkte ihr aber zu und bedeutete ihr, Platz zu nehmen. Soweit Sarah es mitbekam, ging es um ein neues Softwareprogramm. Wenig später beendete er das Telefonat, stützte die Unterarme auf den Tisch und sah sie an. »Gibt es etwa Arbeit?«

»Vielleicht.«

Er nickte ihr zu, und sie setzte sich und erstattete Bericht – in aller Ruhe und ausführlich. Nur keine Hektik, das gehörte zur Lebensdevise der Bornholmer. Sarah war davon überzeugt, dass die Inselbewohner prozentual deutlich weniger an Bluthochdruck litten als andere Europäer.

»Und was gibt es deiner Ansicht nach jetzt noch zu tun?«, fragte Bentsen schließlich.

»Eine allgemeine polizeiliche Abfrage zum fraglichen Zeitraum.«

»Okay. Was noch?«

»Es würde mich interessieren, ob der Junge überhaupt an Bord gegangen ist.«

Bentsen zog eine Braue hoch.

»Stichwort Überwachungsvideos und Befragung des Personals auf dem Fährschiff.«

Stirnrunzeln.

»Nur der Vollständigkeit halber. Ich weiß, dass wir keinerlei Ermittlungsbefugnis haben.«

»Immerhin.« Er lächelte. »Na schön. Ich kümmere mich darum. Dann kann sich die deutsch-dänische Zusammenarbeit gleich ein weiteres Mal bewähren.«

Sarah lächelte zurück.

»Aber mach dir keine großen Hoffnungen – die Aufzeichnungen der Überwachungsvideos dürften nach gut zwei Wochen längst gelöscht sein, und ob es ein Backup gibt, das so weit zurückreicht, wage ich zu bezweifeln.«

Bentsen hatte natürlich richtiggelegen. Zum fraglichen Zeitpunkt waren die Videos längst gelöscht, und es gab keine Sicherheitskopie, wie sich am nächsten Tag herausstellte. Die Befragung des Fährpersonals brachte sie auch nicht weiter. Niemand konnte sich an Timo erinnern oder hatte Auffälligkeiten beobachtet. Ähnlich ergebnislos blieben die Erkundigungen im Fährhafen von Sassnitz und beim Betreiber der Buslinie zwischen Rügen und Berlin. Es kam immer mal wieder vor, dass ein Ticket nicht genutzt wurde oder kurzfristig ein anderer Passagier zustieg, doch eindeutig nachvollziehbar waren solche Vorgänge nach längerer Zeit nicht mehr. Bentsen hatte darüber hinaus die dänischen Mobilfunkdaten abgerufen – Timo war das letzte Mal am Morgen seiner Abreise in Rønne eingeloggt gewesen, kurz nachdem die Fähre abgelegt hatte. Danach hatte er sein Smartphone nicht mehr benutzt; eine Ortung war nicht möglich, was bedeutete, dass es ausgeschaltet oder zerstört war.

Hannah hatte inzwischen das Netz nach Aktivitäten des Schülers durchforsten lassen – ohne auf Besorgniserregendes zu stoßen. »Da gibt es nichts, was im Moment einen Zusammenhang erklären oder interessante Fragen aufwerfen könnte«, berichtete sie bei einem abendlichen Telefonat mit Sarah. »Timo interessiert sich für Musik und Kunst, besuchte Festivals, wollte Design studieren – und will es hoffentlich immer noch. Die ehemaligen Mitschüler und Freunde – mit einigen habe ich persönlich gesprochen – sind genauso ratlos wie seine Eltern, allerdings ist der Kontakt zu ihnen nach dem Abitur deutlich abgeflaut.«

»Wie äußert sich der Vater?«, wollte Sarah wissen.

»Er ist wesentlich entspannter. Seiner Einschätzung nach will Timo sich völlig neu orientieren und braucht Zeit für sich selbst. Interessanterweise hält er es nicht für ausgeschlossen, dass Timo sich insbesondere von seiner Mutter abgrenzen will.«

»Das hat er so gesagt?«

»Ja.«

»Er ist mit der Familie in den Urlaub gefahren, und plötzlich reicht es ihm?«, fragte Sarah. »Er geht auf die Fähre, stellt sein Handy aus und ist nicht mehr erreichbar?«

»So etwas können wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht ausschließen. Vielleicht war die Sache mit dem Job auch nur vorgeschoben, weil er sich nicht erklären und rechtfertigen wollte. Womöglich hat es Zoff gegeben, den die Eltern, insbesondere seine Mutter, anders bewerten. Oder Timo hatte Probleme, von denen niemand etwas wusste.«

»Was sagt die Schwester dazu?«

»Sie ist verstört und kann sich das Ganze nicht erklären. Aber sie erwähnt auch, dass Timo sich in letzter Zeit häufig zurückgezogen hat.«

»Hast du nachgehakt, worüber Timo und sein Vater sich im Hof der Eisdiele gestritten haben?«

»Habe ich«, entgegnete Hannah. »Er meinte, dass es belanglos gewesen sei.«

»Und weiter?«

»So belanglos, dass er sich nicht mehr erinnern konnte, worum es gegangen war. Sie hätten sich gut verstanden.«

Einen Moment schwiegen sie. »Klingt fast zu schön, um wahr zu sein«, meinte Sarah schließlich. Sie war skeptisch. Im Zusammenhang mit Timos Verschwinden war nichts belanglos, das dürfte Burnau klar sein.

»Nun, solange wir auf nichts Gegenteiliges stoßen, müssen wir das so hinnehmen.«

»Ja, schon klar. Und wie geht es jetzt weiter?«

»Wir halten nach wie vor Augen und Ohren offen – mehr können wir im Moment nicht tun«, entgegnete Hannah. »Es würde mich nicht wundern, wenn der Junge in ein, zwei Wochen wieder auftaucht – braun gebrannt und fröhlich – und erklärt, dass er schlicht keine Lust mehr auf Familie hatte. So etwas kommt immer wieder vor. Ich hoffe, ehrlich gesagt, dass es so ist.«

Ich auch, dachte Sarah.

Mitten in der Nacht wachte sie vom Vibrieren ihres Handys auf. Frederiks Konterfei strahlte ihr vom Display entgegen: kurzes dunkelblondes Haar, moosgrüne neugierige Augen, kantiges Kinn mit einem winzigen Grübchen, an dem sie sich kaum sattsehen konnte und das sich beim Lächeln vertiefte, ein Hauch von Bartschatten. Sie stellte die Verbindung her.

»Hast du schon geschlafen?«

Es war ein Uhr nachts. »Ja«, flüsterte Sarah. Ihr Herz klopfte.

»Tut mir leid. Aber ich vermisse dich.«

»Ich dich auch. Wann sehen wir uns?«

»Bald«, erwiderte Frederik.

»Wie bald?«

»Ich arbeite an einer Reportage – sehr aufwendige Sache. Ich war den ganzen Abend unterwegs. Es dauert länger als geplant, aber ich denke, es wird eine schöne runde Sache.«

»Hm.« Sarah schloss die Augen und stellte sich vor, wie seine Hände ihren Körper erkundeten. Das wäre in ihren Augen eine runde Sache. Ihr Puls beschleunigte. »Das hört sich gut an. Worum genau geht es?«, flüsterte sie.

Er lachte leise. »Ach komm, das interessiert dich im Moment doch eher gar nicht, oder?«

»Nun …«

»Gib dir keine Mühe!«

»Na schön.«

»Ich bin bald zurück, und dann holen wir alles nach.«

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Sarah konnte anschließend lange nicht einschlafen. Manchmal war sie verblüfft, wie sehr sie einander von der ersten Begegnung an vertraut und begehrt hatten, obwohl sie sich unter widrigsten Umständen kennengelernt hatten. Umstände, in denen Vertrauen zur falschen Zeit am falschen Ort tödlich enden konnte. Eines Tages würde er über all das schreiben – über seinen Vater Siegfried Kolmer, der zeitweise mit ihrem Großvater Friedhelm Pirohl zusammengearbeitet hatte, einem hochintelligenten Juristen und Wirtschaftsfachmann mit ebenso starken wie zwielichtigen Verbindungen und Kontakten. Kolmer hatte nichts damit zu tun haben wollen und sogar versucht, Sarahs Großmutter davon zu überzeugen, ihren Mann zu verlassen und einen anderen Lebensweg einzuschlagen. Jahrzehnte später hatte Frederik mit seinen Freunden Pirohls Kanzlei auszuspionieren versucht, und einer von ihnen hatte dabei sein Leben verloren: Florian Schütter. Der Mord an ihm konnte zehn Jahre später aufgeklärt werden, auch die Hintergründe erschlossen sich, weil Sarahs Mutter endlich ihr Schweigen gebrochen hatte. Einer der Täter: Sarahs Vater, Bernd Pirohl.

3

Der Junge hieß Christoph Luberg, war neunzehn Jahre alt geworden und gebürtiger Berliner. Er hatte aushilfsweise beim Rostocker Musikfestival als Barkeeper gearbeitet. Jemand hatte ihm das Genick gebrochen, ihn anschließend in ein Gebüsch hinter der Pension geschleift, in der er wohnte, und das Zimmer durchwühlt. Wie es aussah, fehlten sein Handy und Bargeld. Spuren und Hinweise auf den Täter: Fehlanzeige.

Piet Meinhold, Leiter der Kriminalpolizeiinspektion Rostock, starrte einen Moment ins Leere, während die Beamten um ihn herum ihrer Arbeit nachgingen; zwei Kollegen bemühten sich, die Schaulustigen zurückzudrängen und Platz für den Wagen der Rechtsmedizin zu schaffen.

Ein junger Kommissar versuchte, Zeugen aufzutreiben, eine Beamtin war unterwegs zur Bar, in der der Junge gejobbt hatte. Neunzehn Jahre. Ein Kollege von der Spurensicherung trat zu Piet und zeigte ihm mit hochgezogener Braue eine Schachtel mit Pillen und eine Tüte voller Gras.

»Hatte er im Bad versteckt. Das ist deutlich mehr als Eigenbedarf«, meinte er. »Wahrscheinlich hat er den Kram unter den Festivalbesuchern vertickt. Die Pillen müssen erst ins Labor. Kann alles Mögliche sein.«

»Was du nicht sagst.« Piets Laune war auf dem Tiefpunkt, wie so häufig. Er gab sich keine Mühe, darüber hinwegzutäuschen, und seine Leute waren an seine oft unwirsche Art längst gewöhnt. »Was gibt’s noch?«

»Anscheinend fehlt sein Laptop.«

»Anscheinend?«

»Wir haben nur ein Ladekabel gefunden.«

»Wie lange hat er hier schon gewohnt?«

Der Kollege hob die Schultern. »Da bin ich überfragt.«

»Mal was ganz Neues. Weiter.«

»Chef, wir haben gerade erst angefangen und …«

»Ja, ja. Beeilt euch.«

Etliche Stunden nachdem Piet ins Kommissariat zurückgekehrt war und den geschätzt fünften Kaffee getrunken hatte, trudelten Hintergrundinformationen ein. Christoph Luberg hatte im letzten Jahr Abitur gemacht, seitdem tourte er durchs Land, hin und wieder auch europaweit, jobbte auf Musikfestivals und verdiente sehr wahrscheinlich zusätzlich durch den Verkauf seiner Pillen. So lautete jedenfalls die naheliegende Vermutung, denn aktenkundig war er bislang nicht geworden. In Berlin lebte er in einer Wohngemeinschaft, war aber nur selten zu Hause, wie ein Mitbewohner erklärt hatte. Fragen zu Drogen war er ausgewichen. Die Eltern reisten zurzeit durch Nordamerika und waren nicht erreichbar.

Piet schnaufte und wollte gerade sein Büro verlassen, als die neue Kommissarin aus der Internen Recherche, deren Namen er immer wieder vergaß, mit dem Tablet in der Hand eintrat – das war ihr Markenzeichen. Piet hatte sie noch nie ohne dieses Teil gesehen. Er vermutete, dass sie es auch auf dem Klo dabeihatte. Bei Gelegenheit würde er sie danach fragen.

»Ich habe was im Netz entdeckt.«

»Nicht doch. Lass mich raten, der Typ hat zig Fotos und Videos von Partys, Musikveranstaltungen und seinem Essen gepostet?«

»So ähnlich«, gab sie gleichmütig zurück. »Aber damit würde ich dich kaum belästigen.«

Er warf ihr einen schrägen Blick zu. »Und womit genau willst du mich belästigen?«

»Bei der Recherche taucht ein Name auf, der andere Dienststellen interessieren dürfte.« Sie reichte ihm das Tablet und wies auf eine Fotoserie über ein Festival am Wannsee. Sie tippte auf einen Namen und vergrößerte das Bild dazu.

»Aha. Und?«

»Das ist Timo Burnau.«

Piet hob den Blick und sah sie schweigend an.

»Er wird seit einigen Wochen vermisst. Der Hintergrund ist unklar, aber die Berliner haben ihn in der Datenbank aufgenommen und ziehen Erkundigungen ein. Als ich die Namen checkte …«

»Schon klar.« Piet kniff die Augen zusammen. »Wer bearbeitet das in der Hauptstadt?«

»Hannah Jakob, eine Kriminalpsychologin und …«

»Ich weiß, ich hatte bereits das Vergnügen, und das darfst du sogar wörtlich nehmen.«

Die Kollegin zog verdutzt eine Braue hoch, und Piet gönnte sich ein dünnes Lächeln. Die Fälle waren schlimm gewesen, aber die Kommissarin hatte was. Vor allen Dingen war es ihr gelungen, ihn aus der Reserve zu locken und in beeindruckend kurzer Zeit auf ihre Seite zu ziehen. Mit seiner miesen Laune hatte er sie kaum abgeschreckt, und das sollte etwas heißen. Nicht mal ihr dürrer Köter hatte sich beeindrucken lassen.

»Da ist noch mehr, Chef.«

»Ich höre.«

»Burnau war mit seiner Familie auf Bornholm und verschwand auf der Rückreise nach Berlin – vorzeitig, weil er angeblich einen Job hatte, übrigens als Barkeeper oder Kneipenhilfe.«

Bornholm. Piet atmete tief ein. »Dann dürfte die Kollegin Sarah Pirohl auch mit von der Partie sein.«

»Richtig.«

Piet verschränkte die Hände hinterm Nacken. »Gibt es Hinweise, ob die beiden Jungs in letzter Zeit Kontakt hatten?«

»Ja. Luberg war sehr wahrscheinlich auch auf Bornholm – lediglich für zwei Tage, aber im selben Zeitraum, in dem Burnau dort Ferien machte.«

»Woher hast du diese Information?«

»Ich habe gerade mit einem WG-Bewohner gesprochen, und der hat sich auf meinen Wunsch in Lubergs Zimmer umgesehen und ein paar Fotos gemacht …«

»Hinweise zu Drogen?«

»Bisher nichts, aber das werden sich die Berliner sicher noch genauer ansehen. An seiner Pinnwand hängt ein Zettel mit Fährverbindungen und Ortsdaten. Die haben sich da getroffen. Warum auch immer.«

Piet runzelte die Stirn. »Hast du Berlin und Bornholm informiert?«

»Noch nicht. Ich wollte erst mit dir sprechen.«

»Gut. Stell mir alle Infos zusammen. Ich rufe die Kolleginnen selbst an und leite die Akte weiter.«

»Alles klar.«

Die Kollegin wandte sich zur Tür.

»Sag mal, wie war gleich noch mal …«

»Chef, ich heiße Tabea, Tabea Kisch.«

Eigentlich nicht so schwer zu behalten, dachte Piet. »Okay, Kollegin, das versuche ich mir zu merken.« Er grinste. »Gute Arbeit, und so was sage ich selten.« Dann griff er zum Telefon.

»Dachte ich mir.«

Christoph Luberg war ein kleines Licht im Drogenmilieu gewesen – bedeutungslos, keine einzige Festnahme, und es existierte auch keine gesonderte Akte über ihn. Man hielt ihn für einen Freizeitkonsumenten und kleinen Dealer im Umfeld von Veranstaltungen sowie einschlägig bekannten Clubs und Bars – ohne je direkt in den Fokus geraten zu sein. So viel hatten die Kollegen vom Drogendezernat Hannah relativ zügig mitteilen können.

Lone Geising – Recherchespezialistin beim LKA – hatte inzwischen ihre Fühler ausgestreckt, Nachforschungen zu Luberg angestellt und nach Überschneidungen mit Burnau gesucht, während ein kleines Team von Kollegen der Mordermittlung Zeugen befragten, Bars und Clubs abklapperten sowie im Abgleich mit den Ergebnissen der Rostocker den Hintergrund der Tat zu beleuchten versuchten.

Ein Zusammenhang mit dem Verschwinden von Timo Burnau lag für Hannah auf der Hand. Beide waren Schüler am selben Gymnasium gewesen, sie tauchten immer wieder gemeinsam auf Events auf, und es sprach viel dafür, dass es Luberg gewesen war, der Burnau den Job vermittelt hatte. Demnach war es mehr als eine vage Vermutung, dass beide in Drogengeschäfte verwickelt gewesen waren – und sich womöglich Feinde gemacht hatten. Eine erste Analyse der Pillen, die in Rostock gefunden worden waren, ließ den Schluss zu, dass Luberg eigene Kreationen entwickelt hatte.

»Der hat den Kram selbst produziert – oder produzieren lassen. Darauf weist zumindest die Rezeptur hin. Die Zusammensetzung weicht in manchen Details deutlich von vergleichbaren Pillen ab. Die Nachfrage wird gestiegen sein, er ist gierig geworden und hat sich auf fremdes Terrain begeben. Das ist ihm nicht bekommen«, hatte der Kollege vom Drogenteam erklärt.

»Er ist neunzehn.«

»Und? Es gibt Vierzehnjährige, die Ecstasy herstellen können. Soll nicht besonders schwer sein, wenn man den Dreh erst mal raushat.«

»Dann hätte er doch irgendwann mal auf eurem Radar auftauchen müssen.«

»Nicht unbedingt. Er war vorsichtig, zumindest bis vor einigen Tagen. Und wer weiß, wer da noch mit drinhängt und das Organisatorische erledigt. Im Milieu tut sich eine Menge, von dem wir nichts wissen oder viel zu spät erfahren. Das ist nichts Neues, leider.«

Mit der Erklärung war Hannah nur teilweise zufrieden. Falls es einen Zusammenhang mit Burnaus Verschwinden gab, hatte die Konkurrenz längst Verdacht geschöpft. Und den Plan gefasst, die beiden zu ermorden beziehungsweise verschwinden zu lassen? Ein ziemlich großer Aufwand für zwei Teenager, die ein bisschen experimentiert und sich – vielleicht mit Unterstützung eines neuen Drogenbarons, der auf den Markt drängte – zusätzlich ein paar Euro mit gut laufenden Partydrogen verdient hatten. Hinweise auf größere Geldbewegungen hatten die Ermittler bisher allerdings nicht feststellen können. Hinzu kam, dass der Täter in Rostock das Zimmer von Luberg durchsucht, Handy und Laptop mitgenommen, doch die Drogen zurückgelassen hatte, so dass die Tat sofort dem Drogenmilieu zugeordnet werden konnte. Das Versteck war nicht schlecht gewesen, aber ein Täter aus der Szene hätte es sicher entdeckt.

Das muss alles gar nichts heißen, wir stehen ja erst ganz am Anfang, überlegte Hannah. Es war nicht auszuschließen, dass die beiden ihren Verdienst in Bitcoin angelegt hatten – und bis dazu verlässliche Ergebnisse vorlagen, dürfte noch eine Weile vergehen. Sie schickte Sarah und Piet Meinhold ein Update und machte sich auf den Weg nach Schmargendorf. Das bevorstehende Gespräch mit Timos Eltern dürfte schwierig werden. Hannah hatte eigentlich vorgehabt, Kotti im Auto zurückzulassen, doch sein Blick hatte mal wieder Steine zum Erweichen gebracht.

Julia Burnau öffnete ihr die Haustür, noch bevor Hannah geklingelt hatte, sah ihr mit starren Augen entgegen und warf Kotti lediglich einen beiläufig erstaunten Blick zu. Ihre Gesichtsfarbe verdiente diese Bezeichnung nicht: Timos Mutter war erschreckend bleich. Sie erwartet das Schlimmste, dachte Hannah – verständlicherweise.

»Stört es Sie, wenn ich meinen Hund …«

»Nein. Kommen Sie.«

Askold Burnau wartete im Wohnzimmer und erhob sich, als Hannah eintrat. Sein Händedruck war fest, seine Miene angespannt.

»Nehmen Sie Platz«, sagte er mit gepresster Stimme und wies in Richtung des Esstisches. »Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten?«

Hannah schüttelte den Kopf.

»Braucht der Hund Wasser?«

Kotti wedelte dezent.

»Wenn es Ihnen nichts ausmacht.«

»Natürlich nicht.«

Kotti begleitete Burnau in die Küche. Hannah war immer wieder verblüfft, wie anpassungsfähig und pragmatisch ihr vierbeiniger Begleiter war.

Es war still im Haus. Greta dürfte in der Schule sein, der Vierjährige besuchte einen Kindergarten. Hannah blickte einen Moment zum Garten hinaus, der sich üppig blühend hinter der Glasfront und der Terrasse ausbreitete. Dichte Blumenbeete, ein tiefgrüner saftig glänzender Rasen, der wahrscheinlich zweimal am Tag gewässert werden musste, im Hintergrund spendete eine Linde Schatten. Darunter befand sich ein Spielplatz mit Schaukel und Sandkasten. Idylle. Kotti kehrte mit flotten Schritten an ihre Seite zurück, und Askold Burnau setzte sich zu ihnen.

»Danke«, sagte Hannah.

»Keine Ursache.«

»Was ist passiert?«, ergriff Julia Burnau das Wort. »Sie sprachen am Telefon davon, dass ein Freund von Timo tot in Rostock aufgefunden wurde. Das heißt, dass er ermordet wurde?«

»Ja.«

Stille.

»Und wie kommen Sie darauf, dass die beiden sich kannten oder sogar Freunde waren? Ich habe den Namen jedenfalls noch nie gehört. Und ich weiß nicht, was das mit Timo zu tun haben soll.«

Hannah öffnete ihre Fotoapp und rief ein Profilbild von Luberg auf. Timos Mutter schüttelte sofort den Kopf.

»Nehmen Sie sich bitte einen Augenblick Zeit«, bat Hannah sie.

»Ich kann mir das Foto noch eine Stunde lang ansehen – den Jungen habe ich nie gesehen.«

Hannah wandte sich um und sah ihren Mann an. Der runzelte die Stirn, während er das Foto eingehend betrachtete, und schüttelte dann den Kopf. »Sagt mir nichts.«

»Christoph und Timo haben dieselbe Schule besucht und tauchten immer wieder gemeinsam auf Festivals und auch bei anderen Veranstaltungen auf – das haben unsere ersten Nachforschungen ergeben«, erklärte Hannah.

»Aber das allein besagt ja nichts«, betonte Julia. »Er könnte irgendein Bekannter sein, der Rest ist Zufall. Jeder Mensch hat Dutzende von Bekannten, ständig wird fotografiert, und auf diesen Events vergnügen sich Tausende von Schülern.« Ihr Tonfall klang nervös, angespannt. Die ganze Frau strahlte Anspannung und Abwehr pur aus.

Luberg ist ermordet worden, Timo spurlos verschwunden, wollte Hannah einwenden, aber sie sparte sich den Hinweis. Den Eheleuten war längst klar, welche Befürchtung im Raum stand, und die Mutter ging damit anders um als ihr Mann. »Völlig richtig, doch im Fall einer Straftat müssen wir jedes Detail überprüfen, jeden auch weiter entfernten Bekannten befragen, sofern eine Überschneidung vorliegt«, betonte Hannah in ruhigem Ton.

So sollte es zumindest im Idealfall ablaufen, dachte sie. Im Polizeialltag gelang das nicht immer hundertprozentig, aber die meisten Ermittler waren bestrebt, Hintergrundinformationen so vollständig wie möglich zusammenzutragen.

Julia Burnau ließ sie nicht aus den Augen. »Na schön. Und weiter?«

»Christoph Luberg hat mit Drogen gehandelt.«

Timos Mutter atmete scharf ein. Sie öffnete den Mund und schloss ihn wieder, als ihr Mann über den Tisch nach ihrer Hand griff.

»Wir sind darüber hinaus sicher, dass Christoph für einige Tage auf Bornholm war und er und Timo sich getroffen haben«, fuhr Hannah fort.

»Unsinn. Das kann nicht sein.« Julia schüttelte vehement den Kopf. »Das hätten wir doch mitbekommen.«

»Ihr Sohn wird sicher mal einige Stunden ohne Sie verbracht haben. Er war ein selbstständiger Teenager …«

»Selbst wenn es so war. Er hätte uns davon erzählt, wenn er einen Freund oder Bekannten aus Berlin getroffen hätte, oder?« Julia atmete tief ein und sah ihren Mann an. »Nicht wahr?« Ihre Stimme klang zunehmend erregter.