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Katharina Peters

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Beschreibung

Mörderisches Rügen.

Eine Tote am Strand von Göhren, deren Identität die Kommissarin Romy Beccare schnell geklärt hat. Die ermordete Monika Sänger hatte Papiere und Handy bei sich. Doch andere Umstände geben Rätsel auf. Offensichtlich ist Monika Sänger nach einer heftigen Auseinandersetzung ins Wasser geschleift worden und ertrunken. Die Tote war verheiratet und leitete einen Kindergarten in Bergen. Bei den ersten Ermittlungen in ihrem Umfeld stößt Romy auf Fassungslosigkeit. Niemand kann sich erklären, wer einen Grund gehabt haben könnte, die Frau derart brutal zuzurichten und zu töten. Doch dann stößt Romy Beccare auf etwas, das sie stutzig macht. Monika Sänger hat sich zuletzt intensiv mit der Geschichte des Seebades Prora beschäftigt, jenen gigantischen Komplex, den die Nazis erbaut hatten. Dort ist ihr Bruder als Bausoldat unter ungeklärten Umständen ums Leben gekommen ...

Katharina Peters zweiter Fall für Kommissarin Romy Beccare nach ihrem Bestseller "Hafenmord" – ein Kriminalroman voller Spannung und Inselflair.

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Leseprobe

Katharina Peters

DÜNEN-MORD

Ein Rügen-Krimi

Impressum

ISBN 978-3-8412-0576-6

Aufbau Taschenbuch ist eine Marke der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

1. Auflage 2013

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin 2013

Umschlaggestaltung capa design, Anke Fesel unter Verwendung eines Fotos von Chris Keller/bobsairport

www.aufbau-verlag.de

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Impressum

Inhaltsübersicht

PROLOG

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EPILOG

Für Marianne

PROLOG

Der Wind stach mit tausend Nadelspitzen auf ihn ein. David kniff die Augen zusammen und lachte mit weit geöffnetem Mund, aber man hörte nichts – eine Böe entriss ihm das Lachen und schleuderte es übers Meer. Jeder Atemzug tat weh. Er zog die Mütze tief ins Gesicht und stapfte hinunter zum Strand. Der Schnee leuchtete in der Dunkelheit, und David war froh, sich heimlich auf den Weg gemacht zu haben. Hätte er gefragt, hätte seine Mutter ihm den Ausflug verboten oder darauf bestanden, ihn auf einen anderen Abend zu verschieben, um ihn dann begleiten zu können. Und nun hatte er alles für sich: die winterliche Ostsee, das Zischen der Wellen, hin und wieder inmitten der vorbeihetzenden Wolken auch den freien Blick zu den Sternen und den vereisten Strand, auf dem sich im Sommer die Urlauber und Kurgäste in der Sonne und im Wasser vergnügten. Und manchmal auch er – etwas abseits oder zu späterer Stunde, wenn es nicht mehr so voll war.

Er lief in Richtung Göhren und lauschte dem Spiel des Wassers. Weit würde er nicht kommen bei der Kälte, dabei hätte er sich so gerne die Luise angesehen, den Küstenmotorsegler, der schon seit Ewigkeiten an Land lag und um den sich in den Ferienmonaten die Leute scharten, um etwas über die Fischerei zu erfahren und sich die Zeit zu vertreiben. Manchmal war jemand vom Museum da und erklärte den Leuten die Seezeichen und die Utensilien, die ein Fischer benötigte, und alle lauschten gebannt oder begutachteten mit Kennermiene die aufgespannten Netze, als wüssten sie sehr genau, worauf es beim Fischen ankam. Die Luise war 19,41 Meter lang, referierte David in Gedanken und lachte erneut. Das konnte er sich gut merken und vieles andere auch.

Er pustete in die Hände und wollte sich gerade umdrehen und den Rückweg antreten, als er die beiden Gestalten sah. Schwarzgraue Schatten, an denen der Wind riss wie an den mageren Bäumen, die sich mit letzter Kraft an die Steilküsten klammerten. David konnte nicht sagen, ob sie bereits länger dort standen und er sie erst jetzt wahrnahm, weil er ganz und gar in seine Gedanken versunken gewesen war – das passierte ihm häufig –, oder ob sie gerade aufgetaucht waren, um wie er den winterlichen Strand von Göhren zu genießen. Aber es sah nicht danach aus, als würden sie etwas genießen.

Einzelne Stimmfetzen drangen zu ihm herüber, doch David verstand kein Wort, weil der Wind sie durcheinander wirbelte. Besser so, dachte er. Mama sagte immer: Halt dich im Hintergrund und misch dich nicht ungefragt ein. Er machte sich klein und hockte sich auf den Boden. Ein Zittern durchfuhr ihn. Er mochte nicht, wenn Menschen stritten – mehr noch, es machte ihm Angst –, und die beiden taten genau das, da war er sicher. Ihre Gesten wirkten zornig.

Plötzlich rangen sie miteinander, und David wimmerte leise. Hört doch auf, flehte er stumm und biss in seine zusammengeballte Hand. Sein Herzpochen klang wie der Rasende Roland, wenn er es besonders eilig hatte. David liebte den Rasenden Roland und seinen schönen Namen. Keine Zeit für schöne Gedanken. Eine der beiden Gestalten stürzte zu Boden, und dann geschah etwas, was David noch mehr verstörte. Die andere Person sah einen Moment auf die gestürzte Gestalt herab und begann dann jäh, auf sie einzutreten. Mit ganzer Kraft und böser Wucht. Schreie wurden laut, die wie Möwen klangen, die um Fischreste stritten, ein Splittern – als würde sich eine Eisscholle an der anderen reiben.

David riss den Kopf herum, verschluckte sein Wimmern, dass der Hals eng wurde, und kniff die Augen zusammen. Manchmal half das gegen böse Geräusche, gegen Schärfe und Wut. Er bebte am ganzen Körper. Vielleicht ist es nur ein böser Traum, dachte er. Und ich träume einen bösen Traum, weil ich nicht auf Mama gehört habe. Ein Mongo hat nun mal keine eigenen Wege zu gehen – so hatte Manfred vor einiger Zeit zu seiner Mutter gesagt, Manfred mit den harten Händen, und dann hatten sie auch gestritten, aber David hatte kein Wort verstanden, weil er sich schnell die Ohren zugehalten hatte.

Zwischen einem Windstoß und dem nächsten blieb es für einen Moment so still, dass David seinen eigenen Atem hörte. Er konnte nicht einschätzen, wie viel Zeit vergangen war, vielleicht so viel, dass die gespenstische Szene vorbei war oder sich in Luft aufgelöst hatte oder in Wind und Wellen. Leise Zuversicht durchströmte ihn, er wagte es, die Augen wieder zu öffnen und sich langsam aufzurichten.

Für den Bruchteil einer Sekunde hatte er das Gefühl, dass gar keine Zeit vergangen war oder aber sehr viel, zu viel. Mit dem nächsten Windstoß und im Schutz des dunklen Mondes setzte er sich in Bewegung und rannte davon, ohne auch nur noch einen einzigen Blick zurückzuwerfen.

1

Die Schneewolken hingen bedrohlich tief, und der Wind war ein einziges frostiges Versprechen. Kommissarin Ramona Beccare, genannt Romy, war heilfroh, ihren geliebten Motorroller gegen den kleinen, robusten Jeep eingetauscht zu haben, als sie vor einigen Tagen aus dem verlängerten Weihnachtsurlaub aus München zurückgekehrt war. Manche Rüganer behaupteten, es würde wieder einen von diesen späten, aber heftigen Wintern geben, die die Insel alle paar Jahre heimsuchten, um sie dann mit wochenlangen Schneefällen und arktischen Temperaturen in Schach zu halten, bei denen sich Eisschollen und Schneeberge zu futuristisch anmutenden Gebilden am Strand auftürmten. Andere winkten mit der landestypischen Gelassenheit ab. Alles halb so wild. Viel schlimmer war, dass man das kleine Mädchen nicht gefunden hatte, das Weihnachten bei einem Abbruch der Steilküste am Kap Arkona verschüttet worden war, und die Suche nach zwei Wochen eingestellt werden musste.

Romy war nach Kasper Schneiders Anruf am frühen Morgen mit gemischten Gefühlen von ihrer Wohnung in Binz nach Göhren aufgebrochen, und das lag nicht nur daran, dass am Südstrand eine Leiche gefunden worden war. Die Halbinsel Mönchgut, der Südosten von Rügen mit seiner ursprünglichen Schönheit, den sanften Wiesenhügeln und seinem ganz eigenen Charakter lag ihr besonders am Herzen. In der gotischen Backsteinkirche von Groß Zicker hatten Moritz und sie heiraten wollen. Romy konnte sich schmerzhaft intensiv daran erinnern, wie Moritz sie lachend darauf hingewiesen hatte, dass es sich um eine evangelische Kirche handelte und Romys Eltern katholisch waren – was sonst, musste man hinzufügen, denn Romys Vater war gebürtiger Neapolitaner und überzeugter Katholik. Er würde selbstverständlich niemals eine evangelische Kirche betreten, auch nicht, um seine Tochter zum Traualtar zu geleiten.

Dass Romy nach Zwischenstationen in Köln, Schwerin und Rostock als leitende Kommissarin in Bergen auf Rügen gelandet war, statt nach Moritz’ Tod im Sommer vor zwei Jahren in den Schoß der Familie oder zumindest in den Süden des Landes zurückzukehren, würde er wohl nie akzeptieren. Er machte nicht einmal den Versuch, seine Tochter zu verstehen, sondern spielte ständig den beleidigten Patriarchen; das hatte sich in den letzten Wochen wieder in aller Deutlichkeit gezeigt, während Romys Mutter stets händeringend nach einer Möglichkeit suchte, den Familienfrieden wenigstens über die Feiertage aufrechtzuerhalten. Manchmal wusste Romy nicht, was sie mehr nervte: die jähzornige Selbstherrlichkeit ihres Vaters oder die wehleidige Heuchelei ihrer Mutter.

Ihr könnt mich alle mal, dachte sie schließlich, während sie behutsam abbremste und kurz vor der Reha-Klinik am Südstrand hinter Kasper Schneiders Wagen und mehreren Polizeifahrzeugen anhielt. Diese ganze Familensoße geht mir dermaßen auf die Nerven; nächstes Jahr bleibe ich hier, und ihr dürft euch unterm Weihnachtsbaum dafür gegenseitig die Schuld in die Schuhe schieben, während ich mich von Kasper bekochen lasse oder in Middelhagen Heringe essen gehe! Damit schob sie das unerfreuliche Thema beiseite und öffnete die Wagentür.

Ein eisiger Windstoß fegte über ihr Gesicht, als sie über einen schmalen Dünenpfad, vorbei an einer niedrigen, schneebedeckten Fischerhütte, zum Strand hinunterging. Es herrschte mäßiger Wellengang. Schaumkronen aus Schnee und Eis züngelten über den Strand. Kommissar Kasper Schneider kam ihr entgegen.

Der Kollege war gut über sechzig, auf Rügen geboren und aufgewachsen und ein ebenso erfahrener wie besonnener Ermittler, der schon viel gesehen hatte und es in den Jahren vor seinem Ruhestand, hätte man ihn gefragt, gerne etwas ruhiger angehen lassen würde.

»Moin.« Er zog sich die Wollmütze tief über die Ohren. »Eine Frau«, erklärte er gewohnt knapp. »Monika Sänger aus Bergen, Mitte fünfzig. Hatte Papiere, Handy und Schlüssel bei sich, ihr Auto steht oben an der Straße. Ist gestern Abend vom Ehemann vermisst gemeldet worden.«

»Weiß man schon Genaueres über die Todesumstände?«

»Ja – die waren unerfreulich.«

»Kein Unfall oder natürlicher Tod?«

»Nö.« Kasper schüttelte den Kopf. »Und kein schöner Anblick«, fügte er noch hinzu, während sie auf den abgesperrten Bereich zugingen, in dem Kriminaltechniker unter der Leitung von Marko Buhl Spuren sicherten und fotografierten.

Buhl kniete neben der toten Frau, die bereits in einen Leichensack gebettet worden war, und hob kurz den Kopf, als er Romy bemerkte. Er winkte sie heran, während er den Reißverschluss ungefähr bis Hüfthöhe herunterzog.

Bei ihrem ersten großen Fall auf Rügen im letzten Frühjahr, bei dem der ermordete Geschäftsmann Kai Richardt als Serientäter entlarvt werden konnte, hatte Romy einige Anlaufschwierigkeiten gehabt, bis sie mit dem hageren Cheftechniker und seiner unwirschen, manchmal zynischen Art klargekommen war. Um genau zu sein, hatte er sie mehrmals fast bis zur Weißglut getrieben. Aber zum einen war es nicht ganz so schwer, Romys südländisches Temperament zum Kochen zu bringen, auch wenn sie es in den letzten Jahren im hohen Norden zu zügeln gelernt hatte. Zum anderen hatte Kasper letztlich mit seiner unerschütterlichen Ansicht, dass Marko ein guter Mann in seinem Fach sei, unbedingt Recht behalten. Und umgekehrt dürfte Buhl inzwischen davon überzeugt sein, dass »die Italienerin« eine ganz passable Ermittlerin war, wenn auch ein bisschen hitzköpfig und ungeduldig.

Romy hatte normalerweise keine Berührungsängste, wenn es darum ging, eine Leiche in Augenschein zu nehmen. Sie konzentrierte sich stets auf den Fall und die Untersuchung der Besonderheiten, die diesen Menschen das Leben gekostet hatten – sie ließ das Grauen und Leiden, das dem Tod vorausgegangen war, emotional so wenig wie möglich an sich heran. Ohne die innere Distanzierung hätte sie ihren Job nicht machen können. Doch diese Leiche war durchaus etwas Besonderes.

»Sie hat mit dem Gesicht im Wasser gelegen«, erläuterte Buhl, während Romy den vereisten Oberkörper der toten Frau betrachtete und kurz den Atem anhielt, als ihr Blick das entstellte Antlitz erfasste. Stirn, Nase und Augenpartie wiesen großflächige Verletzungen auf, die umso schockierender wirkten, als sie von bizarr schönen Eiskristallen übersät waren. Der Unterkiefer war verzogen, das Jochbein des rechten Auges sah zertrümmert aus.

»Ein paar Grad weniger heute Nacht, und wir hätten sie aus dem Eis schlagen müssen.« Buhl blickte kurz hoch. »Dürfte bald soweit sein, schätze ich mal.«

Schaurige Vorstellung, eine Leiche der zugefrorenen Ostsee entreißen oder aus Schneebergen freischaufeln zu müssen, dachte Romy. »Sie ist also tot geprügelt worden«, stellte sie dann in leisem Ton fest.

»Im Augenblick schwer zu sagen«, entgegnete Buhl. »Fest steht, dass sie heftig geschlagen wurde, bis zur Bewusstlosigkeit, denke ich, wahrscheinlich auch getreten – das wird Möller später genauer sagen können, wenn er sie auf dem Tisch hat. Eine Tatwaffe haben wir bislang jedenfalls nicht gefunden. Die Verletzungen sind übel, und falls sie zu Schädelbruch und Hirntraumata geführt haben, dürften sie todesursächlich gewesen sein. Das ist aber im Moment rein hypothetisch, zumal sie im Wasser lag und unter Umständen ertrunken ist.«

Dr. Ulrich Möller war der zuständige Rechtsmediziner vom Greifswalder Institut, und wie Romy ihn kannte, würde er sich sehr schnell mit einer ersten Einschätzung melden.

»Weitere offenkundige Verletzungen am Körper?«

»Das nicht, aber ihre Hände sehen genauso scheußlich aus«, erläuterte der Techniker weiter und öffnete den Leichensack um ein weiteres Stück. »Da hat sich jemand ähnlich ausgetobt wie im Gesicht.«

»Hände und Gesicht«, murmelte Romy nachdenklich, während sie die malträtierten Finger der Frau begutachtete. »Vielleicht wollte der Täter ganz sichergehen und hat sie nach der Prügelattacke ins Wasser gezogen und liegengelassen, damit sie ertrinkt.«

»Gut möglich«, stimmte Buhl zu. »Es hat in der zweiten Nachthälfte zwar ein bisschen geschneit, aber wir haben trotzdem einige Schleifspuren sichern können, die ihre Stiefelabsätze hinterlassen haben dürften. Dort gibt es auch Blutspuren.« Er machte eine unbestimmte Handbewegung in Richtung Dünen. »Wir haben das natürlich dokumentiert. Kriegen Sie so schnell wie möglich auf den Schreibtisch.«

»Könnte es sein, dass sie bereits verletzt an den Strand gebracht wurde?«

»Die bisherige Spurenlage gibt das zwar nicht her, aber unter Umständen kann ich mehr dazu sagen, wenn wir uns ihren Wagen genauer angesehen haben«, antwortete Buhl.

»Tipp, was den Todeszeitpunkt betrifft?«

»Bei der Kälte ist viel möglich, hab ich Kasper auch schon gesagt – gestern Abend, irgendwann heute Nacht, ganz früh morgens … Das macht es nicht einfacher für euch, ist mir klar, aber mehr kann ich im Moment nicht sagen. Ihr müsst Euch gedulden und auf Möllers Einschätzung warten.«

Romy erhob sich wieder. »Verstehe, danke.« Seine Erläuterungen waren vergleichsweise ausführlich gewesen. »Ach, bevor ich es vergesse – die Frau muss identifiziert werden. Dazu brauche ich erst mal ein Foto …«

»Hat Kasper schon gemacht, mit dem Handy.« Buhl wies beiläufig in Schneiders Richtung, der einige Schritte hinter ihr stehengeblieben war – offenbar alles andere als erpicht darauf, die tote Frau ein zweites Mal genauer in Augenschein zu nehmen. »Besser, man sieht nicht ganz so viel.«

»Wo Sie recht haben, haben Sie recht.«

Dazu sagte Buhl nichts mehr, sondern wandte sich wieder der Leiche zu. Romy trat neben Kasper. »Wer hat sie eigentlich gefunden?«

»Ein junger Mann aus der Rehaklinik. Er hat heute früh einen Spaziergang am Strand gemacht.«

»Was ist mit ihrem Handy?«

»Hat sich ausgestellt. Einer der Techniker meinte, dass der Akku leer ist – das geht bei den eisigen Temperaturen ziemlich flott. Max könnte sich nachher gleich mal mit dem Teil beschäftigen und versuchen, die Daten auszulesen.«

»Gute Idee«, stimmte Romy zu.

Maximilian Breder war im Kai-Richardt-Fall als Verstärkung aus Stralsund zu ihnen gestoßen und gehörte seitdem zum Team. Der junge, adrette Kommissar mit dem seidigen langen Haar war ein Recherchespezialist, der sich für Datenbanken und jegliche computergestützte Ermittlungen begeistern konnte wie kein anderer, er musste jedoch für den Außendienst als völlig untauglich eingestuft werden – und das war noch schmeichelhaft ausgedrückt.

Max konnte weder mit Verdächtigen noch mit Zeugen sinnvoll kommunizieren, geschweige denn geschickt verhören. Riskante Situationen irritierten ihn, und spontan intuitives Handeln gehörte auch nicht zu seinen Eigenschaften. Er war glücklich, wenn sein Schreibtisch unter Akten und Papieren, Anfragen und Tabellen begraben war, um ihn herum Computer und Laptops summten, wenn Telefone schrillten und kein Mensch auf die Idee kam, ihn zu einem Einsatz mitzunehmen. In der Regel kümmerte er sich gemeinsam mit Fine Rohlbart, die seit einem Vierteljahrhundert die Geschicke der Berger Polizei entscheidend mitprägte und stets eine schützende Hand über ihn hielt, um das sinnvolle Zusammenspiel von Außen- und Innendienst sowie Kriminaltechnik und den zügigen Kontakt zur Staatsanwaltschaft in Stralsund. Zudem war er gerne bereit, seine speziellen Kenntnisse und Nachforschungen im Kollegenkreis in für Rüganer ungewohnt ausschweifender Art und Weise darzulegen.

Romy fröstelte. »Wie geht es weiter? Hast du schon was in die Wege geleitet?« Das war eher eine rhetorische Frage. Kasper war der perfekte Organisator, noch dazu einer, der sich eines hervorragenden Gedächtnisses rühmen dürfte.

»Ich habe ein paar Leute losgeschickt, um in den anliegenden Häusern und auch in der Rehaklinik nachzufragen, ob jemand gestern Abend oder in der Nacht etwas bemerkt hat – Streit, Motorengeräusche, Türschlagen und so weiter.«

»Wie es aussieht, hat sie ihr Auto oben abgestellt und ist zum Strand hinuntergegangen«, überlegte Romy. »Einer der Techniker sieht ihn sich gleich genauer an, auch um abzuklären, ob die Frau vielleicht in ihrem eigenen Fahrzeug verletzt transportiert wurde.«

»Kann man nicht ausschließen.«

»Haben wir schon ihre Adresse?«

Kasper tippte auf sein Handy. »Hat Max mir eben per SMS geschickt. Östliches Bergen stadtauswärts, Putbuser Chaussee.«

»Gut.« Romy warf einen langen Blick auf das ungewohnte Treiben am Strand. Der langgezogene Schrei einer Möwe, die sich vom milchig schimmernden Himmel herabstürzte, ließ sie zusammenzucken. »Lass uns gemeinsam fahren, um mit dem Witwer zu reden«, schob sie schließlich hinterher. Sie machte keinen Hehl daraus, dass die Überbringung der Todesnachricht nicht zu ihren Lieblingsaufgaben zählte. Außerdem kam Kasper mit seiner umsichtigen Art häufig besser bei den Leuten an als Romy.

»Klar doch.« Kaspers rieb sich das Kinn. »Was hat sie da unten gewollt – gestern Abend oder heute Nacht? Mitten im Winter. Touristen sind ja manchmal so verrückt, aber …« Er brach ab.

Romy wäre jede Wette eingegangen, dass er an das kleine Mädchen dachte und die so häufig unterschätzte Gefahr, die an den Steilküsten herrschte. »Wenn wir das in Erfahrung gebracht haben, dürften wir ein ganzes Stück vorangekommen sein«, meinte sie.

Das Ehepaar Sänger wohnte in einem Einfamilienhaus in schönster Ortsrandlage, abseits der L 301, mit freiem Blick über Felder und Wiesen, die in frostiger Stille verharrten. Michael Sänger war ein großer, massiger Mann Ende fünfzig, dessen volles Haar stark ergraut war. Unter anderen Umständen hätte er wohl ein freundliches Begrüßungslächeln parat gehabt. Nun aber streifte sein fragender Blick Romy nur flüchtig und blieb an Kasper hängen, bevor er die beiden Beamten hereinbat und ins Wohnzimmer führte. Er erwartete keine guten Nachrichten – jedenfalls nichts, was man an der Haustür besprach.

Romy hatte während der Fahrt nach Bergen mit Max telefoniert, der ihr auf die Schnelle ein paar allgemeine Informationen durchgegeben hatte. Monika Sänger hatte eine Kindertagesstätte geleitet, ihr Mann war Lehrer am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium in Bergen. Nicht auszuschließen, dass Kasper, dessen Ex-Frau auch dort unterrichtet hatte, und er sich kannten oder zumindest mal über den Weg gelaufen waren. Für beide Sängers war es die zweite Ehe. Michael hatte mit seiner ersten Frau, die früh verstorben war, eine Tochter, Lotte, zweiundzwanzig Jahre alt.

Michael Sänger war mitten im Raum stehen geblieben und breitete kurz die Arme aus. »Möchten Sie sich setzen?« Erneut traf Romy lediglich ein Seitenblick.

»Ja, gerne«, ergriff sie das Wort.

Er wies auf eine Essecke, hinter der eine offene Durchreiche zur Küche zu sehen war. Auf dem Tisch stand eine Kanne Kaffee, im offenen Kaminofen am anderen Ende des Raumes züngelte ein Feuer, Scheite knackten. Es hätte gemütlich sein können.

Kasper räusperte sich umständlich, als er Platz genommen hatte. »Sie haben Ihre Frau gestern Abend vermisst gemeldet, Herr Sänger.«

»Ja, habe ich. Sie wollte eigentlich gegen acht, spätestens neun zu Hause sein. Ich habe mir erst nichts dabei gedacht, aber als sie um zehn nicht zurück war und ich sie über ihr Handy auch nicht erreichen konnte, fing ich an, mir Sorgen zu machen. Bei dem Wetter hätte sie einen Unfall haben können.« Er legte die Hände auf den Tisch – klobige Hände, die den massigen Eindruck des Mannes unterstrichen. Die Fingerspitzen zitterten. Er verschränkte sie, als er Romys Blick bemerkte. »Haben Sie Neuigkeiten?« Die Frage quälte sich aus seinem Mund.

Kasper nickte. »Wir sind ziemlich sicher, dass wir Ihre Frau gefunden haben«, erwiderte er leise.

»Ziemlich sicher«, wiederholte Sänger leise. »Sie ist tot, nicht wahr?«

Kasper zog sein Handy aus der Jackentasche, und Romy hoffte inständig, dass die Aufnahme so wenig wie möglich von den grausamen Verletzungen zeigte. »Ich kann Ihnen das nicht ersparen – würden Sie sich bitte diese Bilder ansehen?«

Sänger atmete tief ein und beugte sich übers Display. Seine Frau war im Dreiviertelprofil erfasst, das ihre linke Gesichtshälfte, die weniger stark betroffen war, in den Vordergrund rückte. Es war keine Nahaufnahme, wie Romy augenblicklich erleichtert feststellte, außerdem wies sie Unschärfen auf. Die dunkelroten Locken fielen am deutlichsten ins Auge. Romy registrierte sie erst jetzt bewusst. Weitere Fotos zeigten aus noch größerem Abstand die Gestalt der Frau, ihre Kleidung und Schuhe sowie das Auto. Kasper war es gelungen, beim Fotografieren das brutale Geschehen weitestgehend in den Hintergrund zu drängen.

Michael Sänger starrte einen Moment stumm aufs Handy. »Das ist sie«, sagte er plötzlich. »Ja, natürlich ist sie das! Es gibt keinen Zweifel. Die Jacke, die Stiefel – sie hat sie noch morgens eingewachst, auch meine und die von Lotte, sogar unsere Handschuhe«, fuhr er eilig fort. »Wenn erst mal Feuchtigkeit ins Material eingedrungen ist, halten das die teuersten Stiefel nicht aus, hat sie immer gesagt, und der Winter fängt ja gerade erst an. Und damit hat sie recht, nicht wahr?« Sänger starrte erneut aufs Display, atmete schwer. »Was ist passiert?«, flüsterte er plötzlich.

»Wir wissen es noch nicht genau …«

Der Witwer sprang abrupt auf. Er stellte sich hinter seinen Stuhl, stützte sich mit beiden Händen an der Rückenlehne ab und beugte den Kopf zum Fußboden. Als würde er sich für einen langen Lauf die Achillessehne dehnen wollen, schoss es Romy absurderweise durch den Kopf. Sängers Schultern bebten, und er stöhnte auf wie ein verletztes Tier. So habe ich auch gestöhnt, dachte Romy. Bei Kilometer sechsunddreißig. Moritz war Marathonläufer gewesen und aus dem Nichts heraus tot zusammengebrochen. Das Bild seines auf dem Asphalt aufschlagenden Kopfes hatte sich für den Rest ihres Lebens in ihr eingebrannt, davon war sie überzeugt.

Kasper warf Romy einen fragenden Blick zu. Sie nickte. Monika Sänger war alles andere als aus dem Nichts heraus zusammengebrochen und gestorben. Sie war brutal niedergeschlagen und ermordet worden – diesen Schluss ließen jedenfalls die bisherigen Ermittlungen zu.

»Herr Sänger, es mag herzlos wirken, aber wir müssen Ihnen einige Fragen stellen«, sagte Romy ruhig, aber bestimmt.

Er hob ruckartig den Kopf. »Warum?«

»Ihre Frau ist keines natürlichen Todes gestorben, und sie hatte auch keinen Unfall.«

»Wie? Wovon reden Sie? Und hören Sie auf, um den heißen Brei herumzureden!«

»Die Einzelheiten kennen wir noch nicht, aber …«

»Ich will wissen, was passiert ist!«, brüllte Sänger sie jäh an.

Romy zuckte mit keiner Wimper. »Die Einzelheiten kennen wir noch nicht«, wiederholte sie. »Aber sie ist am Strand von Göhren überfallen worden, soviel steht fest.«

Der Witwer schluckte und wischte sich über den Mund, bevor er sich wieder auf seinen Stuhl fallen ließ. »Verzeihen Sie, aber …«

Die Kommissarin winkte ab. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es wäre jedoch sehr hilfreich, wenn Sie uns einige Fragen beantworten würden, damit wir so schnell wie möglich mit den Ermittlungen beginnen können.«

Er schloss für einen Moment die Augen. »Ich werde mir Mühe geben. Sie ist überfallen worden, sagten Sie? Aber warum? Sie hatte nichts Besonderes bei sich, ich meine …« Er fasste Kasper ins Auge. »Oder hat man sie …?«

»Wir gehen nicht von einer Vergewaltigung oder einem Raubüberfall aus, Herr Sänger.«

»Wie darf ich das verstehen?«

»Es wurde nichts gestohlen. Jemand hatte es auf Ihre Frau abgesehen«, ergriff Romy wieder das Wort.

»Das ist nicht Ihr Ernst!«

»Doch. Die bisher festgestellten Umstände sprechen dafür, dass jemand Ihre Frau niedergeschlagen und so im Wasser abgelegt hat, dass sie ertrank.« Das war eine sehr geschönte Umschreibung, doch deutlichere Worte hielt sie zum jetzigen Zeitpunkt für völlig unangemessen.

Sänger sagte sekundenlang kein Wort. Sein Blick wanderte mehrfach zwischen Kasper und Romy hin und her. »Sie meinen, dass meine Frau das Opfer irgendeines irren Gewalttäters geworden ist?«

»Das ist vorstellbar. Haben Sie eine Ahnung, was sie gestern Abend in Göhren vorhatte?«

Der Witwer schüttelte den Kopf. »Nein, nicht die geringste. Wir haben dort weder Freunde noch Verwandte … Am Strand von Göhren, mitten im Winter? Es ist mir vollkommen schleierhaft, was sie da wollte.«

»Könnte sie verabredet gewesen sein?«, schob Romy behutsam nach.

»Ich weiß nichts von einer Verabredung am späteren Abend«, entgegnete Sänger ein wenig brüsk. »Sie hatte bis zum frühen Nachmittag in der Kita zu tun. Danach wollte sie nach Binz fahren, zu einer Besprechung in die Prora, die bis ungefähr acht Uhr dauern würde – so schätzte sie, als wir am Morgen darüber sprachen.«

Der Koloss von Rügen, fuhr es Romy durch den Kopf, Mahnmal und Schandmal zugleich – das kilometerlange Monstrum, mit dem die Nazis das »KdF-Seebad Rügen« hatten erschaffen wollen – Urlaub und Spaß für zwanzigtausend Menschen, gleichzeitig, versteht sich. Architekt war Clemens Klotz gewesen. Selten hatten Name und Programm so gut zusammengepasst. Wenn Romy es richtig in Erinnerung hatte, waren neben Rügen noch vier weitere KdF-Seebäder in Planung gewesen. Doch mit Beginn des Zweiten Weltkrieges hatte sich die Idee mit dem Urlaub für die Massen erledigt, und der Prora-Bau blieb unvollendet. In den folgenden Jahrzehnten war er weitgehend militärisch genutzt worden, manche Teile waren in stummer Anklage verfallen.

»Worum ging es bei der Besprechung?«, wollte Kasper wissen.

2

Der junge uniformierte Polizist war einer von mehreren Beamten, die aus Baabe und Putbus hinzugezogen worden waren, um die Umgebung abzuklappern und Leute zu befragen. Er wartete am Eingang der Rehaklinik auf Kasper. Die roten Flecken auf seinen Wangen konnten von der Kälte stammen oder waren Zeichen seiner Aufregung. Kasper tippte auf Letzteres, als der Mann ihm beflissen entgegeneilte. Seine Aufgaben beschränkten sich wohl normalerweise auf Verkehrs-, allenfalls Einbruchsdelikte oder Streitereien unter Touristen. Bei einer Mordermittlung war er garantiert noch nie dabei gewesen.

»Ich habe als Erstes mit dem Hausmeister gesprochen«, erklärte Florian Schäfer in deutlich hektischem Ton, nachdem er sich vorgestellt hatte. »Und der meinte, wir sollten uns mal mit Anna Corhardt unterhalten. Sie arbeitet hier in der Klinik als Krankengymnastin.«

»Und warum könnte ein solches Gespräch sinnvoll sein?«

Schäfer verzog den Mund. »Der Mann meinte, dass die Corhardt einen Sohn hat, der … ungewöhnlich ist.«

Kasper runzelte die Stirn. »Das bin ich auch – geht das etwas genauer?«

Schäfers Wangen färbten sich um zwei weitere Nuancen und nahmen nun ein fröhliches Flammenrot an. »Das ist es ja – mehr wollte er nicht sagen. Ich habe aber gleich mal nachgefragt, wo Frau Corhardt anzutreffen ist. Sie hat gerade Mittagspause. Die verbringt sie immer in ihrer Wohnung, die sich hier auf dem Gelände befindet.«

»Wie praktisch, dann gehen wir doch gleich mal dahin.«

Schäfer nickte und eilte voran. Durch das Hauptgebäude gelangten sie über einen Innenhof auf das weitläufige Klinikgelände, auf dem sich mehrere Gebäudekomplexe in einer gepflegten Parkanlage verteilten und dessen Wege sorgsam von Eis und Schnee befreit worden waren. Mittlerweile stahl sich die Sonne hervor. Einige Spaziergänger waren dick eingemummelt unterwegs und sahen ihnen neugierig hinterher, manche tuschelten miteinander. Polizei dürfte hier selten zu Besuch sein, aber das Geschehen am Strand und die Ermittlungen, in die auch die Klinik einbezogen wurde, hatten sich natürlich längst herumgesprochen.

»Ganz hinten auf dem Gelände befindet sich ein Haus mit mehreren Wohnungen für Klinikmitarbeiter«, erläuterte der Polizist und stiefelte schweigend weiter, als Kasper nicht antwortete, sondern sein Handy hervorzog, um ein weiteres Mal die SMS zu lesen, die Max ihm neben einem Foto von Monika Sänger von der Homepage der Kindertagesstätte weitergeleitet hatte.

Sie wissen wo, wiederholte er stumm. Ganz offensichtlich hatte sich Monika Sänger mit ihrem Mörder verabredet, und wenn alles glatt lief, dürften die Techniker bald herausgefunden haben, wer die Nachricht verschickt hatte. Kasper seufzte unterdrückt. Aber seit wann lief alles glatt? Wer anonym einen Prepaidtarif buchen wollte, dem gelang das auch. Kasper wischte alle weiterführenden Gedanken beiseite, die zum jetzigen Zeitpunkt ohnehin nichts als Spekulationen darstellten, und trat neben Schäfer, der vor einem Mehrfamilienhaus in kräftigem Ockerton stehengeblieben war und den Klingelknopf über einem bunten Namensschild im Erdgeschoss drückte.

Eine schlanke, dunkelhaarige Frau um die fünfzig öffnete die Tür. Sie hatte sich ein Geschirrtuch über die Schulter geworfen; ihr blasses grobporiges Gesicht drückte Eile aus. Im Hintergrund war Musik zu hören. Sie runzelte die Stirn, während ihr Blick Schäfers Uniform streifte.

»Guten Tag, Frau Corhardt«, ergriff Kasper sofort das Wort und stellte sich und den Kollegen vor. »Sie haben sicherlich davon gehört, dass heute Morgen unten am Strand eine Leiche gefunden wurde.«

»Natürlich. Es war das einzige Gesprächsthema beim Frühstück«, entgegnete sie.

»Wir haben in dem Zusammenhang einige Fragen.«

»An mich? Warum?«

Kasper lächelte höflich. »Wir versuchen mit allen zu reden, die Tag und Nacht auf dem Gelände der Klinik sind und theoretisch etwas vom Geschehen am Strand mitbekommen haben könnten.«

»Ach? Dann haben Sie aber einiges zu tun – wenn Sie alle Patienten befragen wollen.«

Schäfer kratzte sich am Hinterkopf.

»Dürfen wir hereinkommen, Frau Corhardt?«, fragte Kasper.

Sie zögerte einen Moment, bevor sie die Tür freigab. »Na gut, bitte, treten Sie ein. Ich koche gerade eine Kleinigkeit. Wenn es Sie nicht stört …«

Kasper spürte einen zarten Stich in der Herzgegend. Er hatte gerne zugesehen, wenn seine Frau in der Küche gewerkelt hatte, obwohl er immer der bessere Koch gewesen war. Dafür war ihre Sanddornmarmelade unschlagbar gewesen, und bei Kuchen und Gebäck hatte er ihr nicht das Wasser reichen können. Seine Exfrau hieß auch Anna, und zwischen ihr und der Corhardt gab es darüber hinaus tatsächlich einige Ähnlichkeiten – der prüfende Blick, die schlanke Figur, der dunkle Teint –, aber das war noch lange keine Grund für Sentimentalitäten, schalt er sich lautlos und folgte der Hausherrin in die Küche.

Seit er die sechzig überschritten hatte, wurde er häufiger sentimental, als ihm lieb war. Dabei hatte er angenommen, dass im sechsten Lebensjahrzehnt die Weisheit des Alters die Regie übernehmen würde, zumindest, wenn es um berufliche Belange ging. Anna war vor zwölf Jahren gegangen, weil ihr alles zu eintönig geworden war: das Leben auf der Insel, die Ehe, der beschauliche Alltag, in dem zwei prächtige Kinder groß geworden waren und der sie verlässlich wie die See im Wechsel vor große und kleine Aufgaben gestellt hatte, die sie ganz passabel gemeistert hatten, wie er fand. Kasper verstand es immer noch nicht. Der lodernde Schmerz gehörte der Vergangenheit an, natürlich, aber die Wunde würde nie ganz verheilen. Und er vermisste sie immer noch.

»Nehmen Sie Platz«, sagte Anna Corhardt und wandte sich zum Herd um, auf dem ein Eintopf köchelte – Schmorkohl mit Speck und Knackwürsten, wenn Kasper nicht alles täuschte. Eines seiner Leibgerichte. Die Musik war plötzlich nur noch gedämpft zu hören, als sei die Lautstärke herabgedreht oder eine Tür geschlossen worden.

An dem kleinen Esstisch hatten vier Leute Platz, auch wenn es dann eng wurde – im Moment lagen zwei Sets mit Segelschiff-Motiven bereit, wie sie in der Regel von Urlaubern gekauft wurden. Eine tiefhängende Lampe verströmte warmes Licht.

Anna Corhardt drehte sich um, blieb aber stehen. »Stellen Sie Ihre Fragen«, sagte sie und blickte Kasper an. Plötzlich flog ein Lächeln über ihr Gesicht. »Falls ich ein Alibi benötigen sollte – ich hatte gestern Spätdienst. Den letzten Patienten habe ich gegen acht verabschiedet. Eine Viertelstunde später war ich zu Hause, vielleicht auch zwanzig Minuten. Eine Stunde darauf bin ich vor dem Fernseher eingeschlafen, wie häufig nach langen anstrengenden Arbeitstagen.«

»Geht mir oft ganz genauso.« Kasper erwiderte das Lächeln, dann sah er auf die beiden Tischsets. »Und Ihr Sohn, wo war der?«

Sie zuckte zusammen und verschränkte die Arme vor der Brust. Ihr Blick wanderte zum Fenster und wieder zurück zu Kasper. »Hätte ich es mir doch denken können«, meinte sie leise und schüttelte den Kopf. »Wer hat Sie zu mir geschickt?«

Kasper war verblüfft.

»Nun sagen Sie schon!«

»Ich verstehe Ihre Reaktion nicht«, erwiderte Kasper irritiert. »Wir wissen nur, dass Sie …«

Anna Corhardt wandte sich abrupt zur Tür um und stieß sie auf. »David? Kommst du bitte mal?«

Keine Antwort.

»David!«

Schließlich war das zaghafte Geräusch leiser Schritte zu hören. Ein Junge trat ein: groß, kräftig, dunkles Haar, ungefähr zwölf-, dreizehn Jahre alt, vielleicht auch schon vierzehn. Ein Kind mit Down-Syndrom.

»Hallo, ich bin David«, sagte er mit deutlich nuschelnder Stimme und streckte die Hand aus. Er lächelte nicht und war sehr blass.

Kasper ergriff sie. »Mein Name ist Kasper Schneider, ich bin Polizeibeamter.«

»Ohne Uniform«, stellte der Junge fest und wandte den Blick kurz zu Schäfer. »Er hat aber eine.«

»So ist es.«

Ein ungewöhnlicher Junge, hatte der Hausmeister gesagt, erinnerte Kasper sich an Schäfers Schilderung. Vielleicht war das ein schlichter, neutraler Hinweis gewesen, doch Kasper glaubte nicht daran.

»David lag schon im Bett, als ich vom Dienst kam«, hob seine Mutter plötzlich an. »Oder hat irgendjemand etwas anderes behauptet?« Die Schärfe in ihrer Stimme war unüberhörbar. Ihr Sohn kniff die Augen zusammen.

»Nein«, entgegnete Kasper schlicht. »Haben Sie etwas dagegen, wenn ich ihn frage, ob er etwas Ungewöhnliches bemerkt hat?«

»Bitte, fragen Sie. Deswegen sind Sie ja hier, oder?«

»Weiß er, was …«

»Ja, so ungefähr.«

Kasper wandte sich an David, der neben ihm Platz nahm. »Gestern Abend ist unten am Strand ein Verbrechen geschehen.«

David nickte. »Eine Frau ist tot.«

»Ja. Ich will herausfinden, wer das war und was genau passiert ist. Darum frage ich alle möglichen Leute, ob sie etwas bemerkt haben.«

»Und mich auch?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Ich darf doch abends gar nicht mehr an den Strand runter – im Dunklen. Man fällt leicht hin, es ist rutschig, sagt Mama … Aber der Schnee schimmert so schön, und der Wind braust ganz laut.« Er lachte fröhlich.

»Du magst den Winter?«

»Ja.« Ein verschmitztes Lächeln. »Aber abends darf ich nicht mehr alleine raus, auch nicht im Sommer. Nicht herumstromern – hat Manfred auch immer gesagt. Stromern ist ein komisches Wort. Aber Manfred ist nicht mehr da.«

Anna Corhardt atmete hörbar ein. »Manfred ist mein Exfreund«, erklärte sie eilig.

»Und die Luise mag ich«, ergänzte David.

»Luise?«

»Der Küstenmotorsegler – sie liegt oben am Strand und ist wie ein Museum. Die Touristen kommen und gucken und lernen was übers Fischen. Luise ist neunzehn Komma einundvierzig Meter lang.« David nickte eifrig. »Im Sommer will ich Boot fahren und fischen. Mir wird nicht schlecht auf dem Wasser.«

»Wenn du da draußen am Strand etwas gesehen hättest, würdest du es mir sagen, oder?«, fragte Kasper leise. Anna Corhardts scharfer Blick wunderte ihn nicht im Mindesten, aber er musste diese Frage stellen. Romy hätte sie längst gestellt.

»Im Dunklen kann man doch gar nicht viel sehen«, entgegnete David. »Nur Schatten.«

»Hast du Schatten gesehen?«

David runzelte die Stirn, dann blickte er zu seiner Mutter hoch.

»Er war gestern Abend nicht unten am Strand«, warf Corhardt ein. »Aber wenn Sie noch lange auf ihn einreden, weiß er selbst nicht mehr, was gestern oder vorgestern war und ob er nicht doch etwas gesehen hat. Sie dürfen ihm keine Worte in den Mund legen. Das verunsichert ihn nur und bringt Ihre Ermittlungen auch nicht voran.«

»Verstehe.« Kasper erhob sich so abrupt, dass Schäfer zusammenzuckte. »Trotzdem, danke für Ihre Hilfe.« Er fasste David noch mal ins Auge und zwinkerte ihm zu, bevor er die Küche verließ.

»Was erwarten Sie eigentlich von der Aussage eines Down-Syndrom-Kindes?«, fragte Anna Corhardt mit leiser Stimme, als sie aus der Wohnung traten.

»Nicht mehr oder weniger als von jeder anderen Aussage auch«, erwiderte Kasper. »Hinweise, denen ich dann nachgehen, die ich prüfen kann.«

»David hat sehr viel Fantasie.«

»Wie andere Kinder auch. Wenn er da unten herumgestromert ist, bevor Sie nach Hause kamen, und irgendwelche Schatten gesehen hat, über die ich ihm etwas entlocken könnte, wäre das unter Umständen ein interessanter Hinweis bezüglich des Todeszeitpunktes des Opfers.«

Davids Mutter schwieg.

»Vielleicht fragen Sie ihn noch mal, ob er nicht doch etwas beobachtet hat«, setzte Kasper nach. »Sie können jederzeit auf dem Kommissariat in Bergen anrufen. Ach, noch was – der Frau ist übel mitgespielt worden.« Damit verabschiedete er sich.

Schäfer lief stumm neben ihm her. Als sie den Haupteingang erreicht hatten, sah er Kasper an. »Möchten Sie auch noch mit dem Hausmeister sprechen?«

»Ja, möchte ich.«

Romy hatte gut zwanzig Minuten auf das Gespräch mit dem stellvertretenden Kindertagesstättenleiter Reiner Mickel warten müssen, der in einer wichtigen Besprechung mit einem Stadtvertreter saß, als sie eintraf. Eine Unterredung, die er trotz des tragischen Ereignisses nicht hatte absagen können, wie ihr die Sekretärin versicherte. Da die junge Frau erst seit wenigen Tagen in der Kita beschäftigt war, verzichtete Romy auf ihre Befragung und tröstete sich mit einem Kaffee, während sie der Geräuschkulisse spielender Kinder lauschte.

Schließlich bat Mickel sie herein. Der Mann ging auf die vierzig zu, schätzte Romy, wobei das schüttere Haar und seine kleine, rundliche Statur ihn älter wirken ließ. »Tut mir leid, dass Sie warten mussten – ich hätte den Termin liebend gern verschoben, aber …«

»Keine Ursache.«

Er bot ihr einen Platz an einem runden Besprechungstisch an, nachdem er Tassen und Notizzettel weggeräumt hatte. Auf dem Fensterbrett schlängelte sich eine vergessene Lichterkette. Die Nachricht von Monika Sängers Tod hatte ihn sichtlich erschüttert.

»Seit wann wissen Sie davon?«, fragte Romy und legte ihren Notizblock bereit.

»Wir haben bei ihr zu Hause angerufen, als sie um neun Uhr nicht hier war – sonst sitzt sie meist schon vor acht an ihrem Schreibtisch. Ihr Mann sagte uns, dass sie seit dem Vorabend verschwunden war … Später informierte er uns dann über das schreckliche Geschehen.« Mickel brach ab und knetete seine Hände. »Ich kann das kaum begreifen – wer tut denn so was?«

Romy ließ ihm einen Moment Zeit, seine Fassung zurückzugewinnen. »Herr Mickel, Sie können sich wahrscheinlich gut vorstellen, dass es für unsere Ermittlungen sehr wichtig ist, uns so schnell und umfassend wie möglich ein Bild über Monika Sänger zu machen«, begann sie. »Wie war sie als Leiterin der Einrichtung? Gab es Probleme oder Konflikte? Ist Ihnen in den letzten Tagen etwas Besonderes aufgefallen?« Drei Fragen sind zwei zuviel, dachte Romy, als der Mann sie irritiert ansah – noch dazu bei einem Menschen, der emotional verstört war.

»Mir ist nichts bekannt von Problemen oder Ärger. Sie wirkte höchstens etwas angespannt in letzter Zeit«, meinte Mickel schließlich.

»Können Sie das genauer beschreiben?«

»Na ja, etwas überarbeitet würde ich sagen, zu viele Termine vielleicht, konkreter kann ich es nicht formulieren. Ansonsten ist sie … war sie eine faire Vorgesetzte, engagiert in ihrem Beruf und bei allem, was sie so anpackte. Privat weiß ich nicht viel von ihr«, er zuckte die Achseln und starrte einen Moment ins Leere. »Ich kenne sie allerdings auch noch nicht lange, da ich erst seit zwei Jahren in Bergen bin.«

»War sie mit jemandem aus dem Kollegium enger befreundet?«

Er schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Als Leiterin hat sie sich privat immer zurückgehalten. Man kann nicht dick befreundet und gleichzeitig Vorgesetzte sein – zumindest ist das ziemlich schwierig, weil man ja auch mal unpopuläre Entscheidungen treffen muss.«

»Wann war denn die letzte unpopuläre Entscheidung zu treffen?«

Mickel winkte ab. »Na ja, das war jetzt mehr eine allgemeine Beschreibung.«

»Ach so.«

»Seitdem Monika sich in der Prora engagiert, vertrete ich sie häufiger mal und weiß, dass es gar nicht so einfach ist, alle Seiten zu berücksichtigen und die richtige Entscheidung zu treffen«, fügte er hinzu.

Romy schlug ein Bein über das andere. »Sind Sie eigentlich genauer darüber im Bilde, wie Monikas Engagement dort zustande gekommen ist?«

»Soweit ich weiß, wurde das Thema aktuell, als es mit dem Bau der Jugendherberge losging – und das ist ja eine richtig große Sache geworden, die schon im Vorfeld viele Diskussionen und Fragen ausgelöst hat«, erklärte Mickel und wirkte nun gefasster.

»Zum Beispiel?«

»Zum Beispiel ist diskutiert worden, ob es so schlau ist, die Idee des billigen Massentourismus neu zu beleben, die die KdF-Planer ja seinerzeit auch im Blick hatten …«

Romy spitzte die Lippen.

Mickel nickte eifrig. »Monika erwähnte mal, dass rechte Gruppierungen kurz vor der Eröffnung im letzten Sommer diesen Aspekt im Internet lobend erwähnt hätten. Das müssen Sie sich mal vorstellen!«

»Ach du Scheiße.«

»Ja, genau. Wie dem auch sei – Monika fand das alles ziemlich spannend und hat darüber Kontakt zum Dokumentationszentrum bekommen. Seitdem war sie regelmäßig dort, interessierte sich für die Ausstellungen, Pläne und Projekte und in diesem Zusammenhang natürlich auch für die Kinder- und Jugendarbeit. Es gibt Leute, die die Prora und ihre lange Geschichte aufregend finden, andere verabscheuen sowohl die Anlage als auch das ständige Erinnern und Rückbesinnen. Irgendwann muss mal Schluss sein, sagen sie.« Er hob die Hände. »Als touristische Attraktion taugt das Ganze allemal.«

Wenige Minuten später ließ Romy die Befragung ausklingen. Auf ihre Bitte händigte Mickel ihr Monika Sängers Terminkalender aus, während die Sekretärin Kopien des Mailverkehrs der letzten Wochen auf einem Stick speicherte. Max wird sich freuen, dachte Romy und entschloss sich spontan, nicht auf Kasper zu warten, sondern gleich noch einmal bei den Sängers vorbeizufahren. Ihr Handy klingelte, als sie im Auto saß und sich gerade angeschnallt hatte.

Dr. Möller verbreitete wie immer schon bei der Begrüßung gute Laune, und die schien noch besser zu werden, als Romy ihr Erstaunen darüber bekundete, wie rasend schnell er mal wieder mit seinem Vorab-Bericht zur Stelle war.

»Man tut, was man kann«, entgegnete er fröhlich. »Soviel ist klar: Sie hatte Wasser in der Lunge«, kam er sofort zur Sache. »Nicht viel, aber nachweisbar.«

»Was bedeutet, dass sie ertrunken ist.«

»So ist es.«

»Können Sie schon was zu den Verletzungen sagen?«

»Ich bin noch auf der Suche nach Faserspuren. Im Moment schätze ich, dass die Frau zusammengetreten wurde, was zu massiven Verletzungen führte – auch im Hirnbereich. Aber gestorben wäre sie daran wahrscheinlich nicht, hätte man sie rechtzeitig ins Krankenhaus gebracht.«

Romy schluckte. Blinde Zerstörungswut, unbändiger Hass. »Hatte sie noch andere Verletzungen außer im Gesicht und an den Händen?«

»Nein.«

»Merkwürdig, finden Sie nicht?«, fragte Romy.

»Durchaus ein bemerkenswerter Aspekt, der bei Ihrer Motivsuche wohl eine Rolle spielen dürfte. Den Todeszeitpunkt würde ich übrigens zwischen neunzehn und zwanzig Uhr eingrenzen, wobei die Annahme noch nicht hundertprozentig sicher ist. Die Beschaffenheit ihrer Haut im aufgetauten Zustand und die Entwicklung der Todesflecken lassen diese erste Einschätzung aber zu. Alles Weitere braucht noch ein bisschen Zeit.«

»Ich danke Ihnen erst mal, Doktor.«

»Keine Ursache. Ich schicke gleich noch eine Mail mit den ersten vorläufigen Ergebnissen nach Bergen.«

»Sehr schön. Bis die Tage.« Romy unterbrach die Verbindung und wählte anschließend sofort Kaspers Nummer. Der Kollege meldete sich nach dem zweiten Klingeln. »Störe ich?«, fragte sie.

»Nein. Ich komme gerade aus der Rehaklinik und will noch mal runter zu Buhls Leuten.«

»Was Besonderes?«

»Wie man’s nimmt – ein Junge könnte etwas beobachtet haben«, berichtete Kasper. »Die Mutter arbeitet und wohnt in der Klinik beziehungsweise auf dem Klinikgelände, und sie behauptet zwar, dass ihr Sohn zu Hause war, als sie um kurz nach acht vom Dienst kam, aber …«

»Kurz nach acht klingt interessant. Möller hat mich gerade informiert, dass der Todeszeitpunkt sehr wahrscheinlich zwischen sieben und acht Uhr abends war«, unterbrach Romy ihn.

»Ist das hundertprozentig?«

»›Sehr wahrscheinlich‹ würde ich bei Möller mit achtundneunzigprozentig einstufen. Was ist mit diesem Jungen?«

»Na ja, ich könnte mir vorstellen, dass er doch am Strand war«, meinte Kasper. »Verbotenerweise. Der Hausmeister der Klinik, mit dem ich auch gerade noch gesprochen habe, meinte, der Junge sei häufig unten am Wasser, bei Wind und Wetter. Außerdem sei er ein Träumer und Herumstreuner, worüber seine Mutter alles andere als glücklich ist.«

»Vielleicht sollten wir ihn noch mal in Bergen befragen.«

»Ja, vielleicht.«

»Warum zögerst du?«

»Der Junge hat das Down-Syndrom. Seine Aussagen sind so oder so mit Vorsicht zu genießen«, erklärte Kasper. »Zu einer Vernehmung können wir ihn nicht ohne weiteres verdonnern, wenn die Mutter nicht mitspielt – und die versteckt ihren Sohn ganz gern.«

»Verstehe, aber die Uhrzeit ist natürlich interessant. Wir sollten da auf jeden Fall noch mal nachhaken.«

»Tun wir. Lass den beiden ein paar Stunden Zeit«, wandte Kasper ein. »Ich könnte mir vorstellen, dass das mehr bringt.«

»Okay«, schloss Romy sich kurzerhand Kaspers Einschätzung an. »Ich mache mich noch mal auf den Weg zu den Sängers. Wir sehen uns dann später im Kommissariat und tragen die Ergebnisse zusammen.«

Es begann zu schneien, als sie den Motor startete. Sie hatte während ihrer Polizeiarbeit noch nie mit einem Menschen zu tun gehabt, der mit dem Down-Syndrom zur Welt gekommen war. Aus dem Biologieunterricht erinnerte sie sich noch an die Bezeichnung Trisomie 21, und sie wusste, dass die geistige Entwicklung der Betroffenen eingeschränkt war. Und es gab dieses Schimpfwort: Mongo.

3

Erst der Junge und nun Monika. Dazwischen lagen viele Jahre, Jahrzehnte, aber das machte es nicht einfacher. Konrad Arnolt wusste nicht, wie lange er bereits aus dem Fenster starrte, ohne etwas wahrzunehmen. Er hörte im Hintergrund Schritte und die leise Stimme des Arztes, der sich um seine Frau kümmerte, nachdem der Schwiegersohn angerufen hatte. Die Geräusche verdichteten sich zu einem entfernten Rauschen, und Konrad war dankbar dafür.