Böser Mann - Franz Xaver Roth - E-Book

Böser Mann E-Book

Franz Xaver Roth

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  • Herausgeber: Knaus
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Mord in Leuterding. Der Wirt vom Hammer-Eck ermittelt

Samstagabend im »Hammer-Eck«, wie immer sind alle da: die trinkfesten Gäste, der wortkarge Wirt Luginger, die schnippische Bedienung Moni und Sammy, der schwarze Koch. Alles scheint in bester Ordnung. Aber drei Tote, ein defekter Pickup, dubiose Baupläne und seine renitente alte Mutter bringen Luginger ins Schwitzen, Sammy unter verschärften Mordverdacht und einige Bewohner des Münchner Vororts um den Schlaf.

Leuterding liegt idyllisch irgendwo im Speckgürtel von München, dort, wo die Welt noch in Ordnung ist und alles seinen festen Platz hat. Bis zu der Freitagnacht, in der ein Lehrer des örtlichen Gymnasiums überfahren wird. Unfall oder Mord? Jedenfalls taucht anderntags Kommissarin Clara Weibel im »Hammer-Eck« auf und fragt nach dem Alibi von Sammy, dem schwarzen Koch. Der soll ein Verhältnis mit der Frau des Toten gehabt haben. Nicht nur Luginger wittert da Rassismus und legt für Sammy die Hand ins verdammt heiße Feuer. Doch als in derselben Woche zwei weitere Tote gefunden werden und jedes Mal Sammy zur Tatzeit in der Nähe war, bleibt dem Wirt keine Wahl: Er muss tief im Leuterdinger Dreck wühlen. Dabei hätte er nur besser auf seine alte Mutter hören sollen.

Franz Xaver Roth gelingt mit dem Roman rund um den Wirt Luginger, Ermittler wider Willen, und seiner Entourage mit Sammy, der Bedienung Moni, dem Zahnarzt Faulhuber und dem schrägen Tequila-Joe ein bayrischer Heimatkrimi, wie man ihn sich skurriler kaum vorstellen kann.

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Seitenzahl: 320

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Inhaltsverzeichnis

SamstagSonntagMontagDienstagMittwochDonnerstagFreitagSamstagDankCopyright

Der Autor will sich nicht mit fremden Federn schmücken; die Fußballrätsel in diesem Krimi stammen aus folgendem Buch: Arnd Zeigler, Keiner verliert ungern. Neue Sprüche und Weisheitender Fußballstars, Humboldt (Hannover) 2010.

Und damit das klar ist: Alles ist erfunden, nichts ist wirklich. Namen, Orte und Begebenheiten entspringen der blühenden Phantasie des Autors.

Hass gehört nicht ins Stadion. Solche Gefühle soll man gemeinsam mit seiner Frau daheim im Wohnzimmer ausleben.

Berti Vogts

Samstag

Luginger saß vor seiner Kneipe auf einer Holzbank und drehte sich eine Zigarette. Aus einer Laune heraus hatte er nach dem Mittagessen seine langen blonden Haare mit einem Haarband zu einem Zopf zusammengebunden, der bis über seine Schultern reichte und locker auf dem schwarzen T-Shirt auflag. Über seinem kräftigen Brustkorb prangte in weißer Schrift Highway to Hell, darunter sprang Angus Young mit Gitarre ins Nichts.

Bayern null, Bremen null. Lugingers Gäste saßen gespannt vor einer großen Leinwand und warteten auf das erste Tor. Samstag, zehn vor sieben, Bundesliga live. Wie so oft war das Lokal gut besucht, wenn die Bayern spielten. Durstige Männer und weniger durstige Frauen trafen sich hier, seit das Bezahlfernsehen mit seinem lang gezogenen Wochenendspielplan der Sportschau die wahren Fans abspenstig gemacht hatte.

Moni macht das schon, dachte er, während er mit der Zunge über das Papierchen fuhr, um danach mit einer geübten Bewegung seiner Finger die Zigarette zu schließen. Moni zapft, Moni bedient, Moni kassiert. Seit Urzeiten stand sie hinterm Tresen. Bier, selten Cola oder Wasser, noch seltener Kaffee, mehr oder weniger war’s das schon. Seine Gäste mochten, was alle mochten, wenn sie die Luft anhielten, auf die Tische schlugen, mit den Armen ruderten oder lauthals fluchten, weil Klose den Ball mal wieder in aussichtsreicher Position versemmelt hatte.

Entspannt zog er Rauch durch die Lungen. Sonnenstrahlen fielen auf den Kneipeneingang mit dem Zigarettenautomaten und dem hässlichen Mülleimer, den Sammy schon lange hätte abschrauben sollen. Er rutschte ein Stück nach rechts. Sonne mochte er nicht, Sonne war für die anderen, für die, die Bräune liebten und sich monatelang die Klamotten vom Leib rissen, um schöner zu werden.

Luginger sah sommers wie winters gleich aus. Blass, schwarzes T-Shirt, schwarze Jeans, braune Quastenslipper, lange Haare, blaue Augen, kräftiges Kinn, schmale Nase und volle Lippen um einen Mund, den er hauptsächlich zum Rauchen brauchte. Luginger redete nicht viel. Wenn er redete, dann nur, um andere bei Laune zu halten. Er schaute, schwieg und dirigierte Personal und Gäste mit wenigen knappen Bewegungen seines kräftigen Körpers.

Entsetzte Schreie. Dann Murren und Klagelaute.

Müller, dachte Luginger. Junger Bursche, braucht zu viel Zeit, um seine Gräten zu sortieren.

Josef und Edi kamen mit ihren Bieren nach draußen.

»Wie immer«, sagte Luginger und lächelte.

Beide nickten.

»Wird schon«, sagte Luginger.

Edi blinzelte wie blöd. Josef wischte sich Schaum vom Mund, und Luginger drückte seine Zigarette aus.

Josef öffnete einen Knopf an seinem kurzärmeligen Hemd. »Warm heute. Im September abends noch 20 Grad wird’s nimmer oft geben.«

Luginger und Edi schwiegen.

Josef betrachtete seinen Bauch. »Da spannt alles. Müsst mit dem Saufen aufhören.«

Edi grinste.

Moni brachte Luginger ein Weißbier.

»Hör mal, Moni, der Josef kriegt heute nix mehr, verstehst.«

»Selbst wenn er noch so bettelt«, ergänzte Edi.

»Selbst wenn der Müller dreimal trifft«, setzte Luginger hinzu.

Josef stöhnte. »Moni, machst mir noch eins.«

»Geht doch«, brummte Edi und klopfe Josef anerkennend auf die Schulter.

Erneut füllte kollektives Stöhnen Lugingers Hammer-Eck.

»Chancen über Chancen«, hörte Luginger Sammy rufen.

»Muss halt rein, die Kugel«, sagte Edi, hob sein Glas und trank einen großen Schluck.

Luginger ging hinein zum Tresen und sah, wie Sammy aus der Küchentür lugte, Faulhuber paffte und Gernots Knie rhythmisch auf und nieder wippte. Während Erika am Bund ihrer engen Jeans herumzupfe, sortierte Heider Kleingeld.

»Sammy, machst mir eine Schnitzelsemmel?«, fragte Heider.

Ein Freistoß der Bremer segelte gefährlich vors Bayerntor. Sammy starrte auf die Leinwand.

»Hey, Bimbo, Heider Hunger, Heider Schnitzelsemmel.«

Faulhuber drehte sich um und knurrte feixend: »Bei Fuß, Heider, bei Fuß. Und sitz.«

Luginger schüttelte den Kopf. Heider grinste. Dann versuchte er es erneut: »Sammy, da passiert nix. Ich hab seit dem Frühstück nix mehr gegessen.«

Sammy war Lugingers Koch. Er kam aus Ghana wie seinerzeit Sammy Kuffour, unter Hitzfeld und Effenberg Innenverteidiger bei den Bayern mit legendären Aussetzern auf dem Platz und unvergessenen Gesangseinlagen nach großen Siegen. Sammy hieß Sammy, weil es so am einfachsten war. Jeder andere Name hätte Lugingers Gäste überfordert.

Ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden, ging Sammy auf Heider zu. »Mit oder ohne Knochen?«

Faulhuber klopfe sich auf die Schenkel und gackerte: »Gut gebrüllt, Löwe.«

Heider schaute dämlich. »Mach einfach hin, ja.«

Während Sammy in der Küche verschwand, trug Luginger leere Gläser zur Spüle. Dann nahm er Faulhubers Kippe vom Aschenbecher, drückte sie aus und sagte: »Bernie, kannst auch rausgehen zum Rauchen.«

Niemand außer Luginger nannte Faulhuber Bernie. Sie kannten sich von Kindheit an. Schule, Tischtennis, Fußball, Discos, erste Joints, nach der Bundeswehr hatten sich ihre Wege schließlich getrennt. Bernie ging nach Heidelberg und studierte, Luginger blieb zu Hause. Der eine wurde Zahnarzt, machte Kohle, heiratete eine schicke Braut aus Garmisch und zeugte bildschöne Töchter, der andere übernahm Vaters Kneipe, war meistens pleite, heiratete nie und war froh, dass er seine Kondome direkt aus dem Automaten neben dem Pinkelbecken ziehen konnte. Bernie war 52, Luginger ein Jahr jünger. Bernies Eltern hatte die Apotheke gegenüber dem Rathaus gehört, Lugingers Vater war Metzger gewesen, ehe er das Wirtshaus vom alten Garchinger übernommen hatte. Und seit Bernies Frau aus Gründen, die Luginger bis heute nicht kannte, ausgezogen war, war er Stammgast im Hammer-Eck.

Halbzeit. Gebrummel und Stühlerücken. Die einen nach draußen, die andern zum Klo.

»Gutes Spiel«, bemerkte Faulhuber.

»Stimmt«, sagte Luginger.

»Magst nicht mal die alten Flaschen da oben wegräumen? Southern Comfort trinkt doch kein Mensch mehr.«

»Moni«, rief Luginger, »magst den Southern Comfort mitnehmen? Der Bernie trinkt den nicht mehr.«

Während Moni Gläser füllte, lachte sie Richtung Zapfhahn. »Alles bleibt, wie es ist«, sagte sie. »Es gibt immer Flaschen, die brauchst nur zur Deko. Gell, Heider.«

Erika griff Heider von hinten in seine Dieter-Bohlen-Gedächtnis-Frisur. »Hat ein loses Mundwerk, die Moni«, flötete sie, während Heider ungerührt auf seinem Hocker saß und in seine Schnitzelsemmel biss.

»Beleidigen kann ich mich selbst«, zischelte er kauend.

»Tapfer«, frotzelte Faulhuber.

»Stehvermögen«, ergänzte Luginger.

»Fräulein«, hörte Luginger, »Fräulein, bitte drei Russn und drei Neger.«

Luginger sah ein Pickelgesicht mit Gel im Haar.

»Kennst den?«, fragte Moni.

Luginger schüttelte den Kopf.

»Der Neue bei der Sparkasse«, sagte Moni mehr zu sich als zu Luginger.

»Woher kennst denn den?«, fragte Erika überrascht.

»Darf ich den denn nicht kennen?«

Heider, Faulhuber und Gernot blickten abwechselnd auf Monis schnelle Hände beim Zapfen und in ihr Gesicht.

»Schaut nicht so blöd. Mit eurer Riester-Scheiße kommt ihr nicht weit.«

»Sitzt der bei den Bartsch-Zwillingen?«, fragte Luginger. »Da hinten an dem Ecktisch, da hängt doch die ganze Korona.«

»Riester-Scheiße«, knurrte Heider.

»Riester-Scheiße«, grummelte Faulhuber.

»Machst wirklich drei Neger, Moni?«, fragte Heider.

»Sammy«, rief Faulhuber Richtung Küche, »darf die Moni drei Neger machen?«

Keine Antwort. Moni lächelte und füllte Weißbier in ein Glas mit Cola.

Dann sagte sie: »Sammy wird’s verkraften.«

Luginger nickte und beobachtete, wie die meisten Gäste zu ihren Stühlen zurückkehrten.

»Moni, Moni«, stöhnte Heider.

Sammy brachte Fleischpflanzerl aus der Küche.

»Sehen gut aus«, bemerkte Faulhuber.

Sammy zog die Schultern hoch, verschränkte die Arme und blickte zur Leinwand. Ribéry passte auf Kroos, Direktabnahme mit rechts, schöne Flugbahn, technisch einwandfei, doch wieder knapp vorbei. Sammy krümmte sich, Faulhuber schlug beide Hände vors Gesicht, und Gernots Knie zappelte hektisch unterm Barhocker.

Luginger lief an seinen Tischen vorbei und nahm Bestellungen entgegen. Ganz vorne saßen Herbert und Uschi vom Getränkemarkt, daneben der kleine Rolf mit seinem Bruder Mike. Rolf und Mike kamen immer nur zum Fußballschauen, kannten den Knast von innen und schlugen sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Uschi half aus, wenn Moni alles zu viel wurde oder Sammy für ein paar Tage verschwunden war. Seit oben an der Hauptstraße Orterer eine Filiale aufgemacht hatte, lief ihr Getränkemarkt beschissen. Herbert war Privatier. Als seine Mutter im letzten Winter gestorben war, hatte er den elterlichen Hof am Ortsrand von Leuterding verkauft, seinen Job bei Siemens geschmissen und war mit seiner 850er Guzzi quer durch Europa gebrettert. Jetzt machte er nur noch Musik und hielt Uschi bei Laune.

»Füße vom Stuhl«, sagte Luginger zu Mike. »Mein Pick-up ist im Arsch, könntest dich mal drum kümmern?«

Mike nickte.

»Dein Tipp?«, fragte Luginger.

»Eins stolpern die noch rein.«

»So wird’s kommen«, sagte der kleine Rolf.

Herbert bestellte zwei Helle und zwei Kaffee. Dann sagte er zu Luginger: »Wär schön, wenn du nächsten Sonntag runter nach Taglaching kommen könntest. Wir spielen da abends um sechs. Im Wirtshaus, das kennst ja.«

Mit wir meinte er die Rockband Panzermadonna. Gitarre, Bass, Schlagzeug, Gesang. Drei Jungs Mitte 40 und Uschi als Frontfrau.

»Sommerausklang«, sagte Luginger, und Herbert nickte.

»Hast auch einen Wunsch frei«, sagte Uschi.

»Proud Mary«, antwortete Luginger sofort.

Herbert lachte. »Lange oder kurze Fassung?«

»Drei Minuten und sieben Sekunden, genau wie sich’s gehört. «

Pfiffe im Stadion, Pfiffe im Hammer-Eck. Müller am Boden, Geschubse am Mittelkreis. Schweinsteigers Zeigefinger bedrohte das Nasenloch des Schiedsrichters.

»Nicht ganz fein, nicht ganz fair«, ulkte Rolf halblaut. Rolf war immer für die anderen. Rolf war Sechziger-Fan.

Uschis Finger trafen seine Rippen. »Mach halblang, Kleiner.« Dann verzog sie ihre Mundwinkel zu einem Grinsen, das seit jeher alle schwach machte.

Luginger schüttete einen Rest Bier in die Yucca, die auf dem Sims vor dem Fenster neben einem uralten Harley-Davidson-Kalender stand. Darauf lächelte eine Bikinischönheit aus den Sechzigern Richtung Glasscheibe, die so blind war, dass niemand auf die Idee gekommen wäre rauszuschauen.

Uschi busserlte Herbert, und Luginger sagte zu Mike: »Am Montag um elf.«

Gegen halb neun war das Hammer-Eck deutlich leerer. Hüben wie drüben kein Tor, null zu null, und Luginger nahm’s genauso gelassen wie seine Gäste.

Während Moni Gläser ins Regal stellte, trotteten Sammy, Gernot, Faulhuber und Erika zum Kicker. Faulhuber durfte verteidigen, Sammy übernahm den Angriff. 8:2, 7:3, 9:1. Freudestrahlend beglückwünschten sich die Sieger.

Luginger servierte Persiko, Erika sortierte ihre blonde Mähne, und Gernot stopfe Bierdeckel unter Kickerbeine.

Persiko gab es nur bei Luginger. Der dunkelrote Likör mit seinem zuckrigen Kirschgeschmack, zu Zeiten internationaler Großtaten des FC Bayern in den Siebzigern ein Muss auf allen Partys, war Monis Geheimwaffe, um echte von unechten Stammgästen zu unterscheiden. Nur wer ein, zwei Persiko ohne Murren überstand, widerfuhr die Ehre, in ihr goldenes Buch aufgenommen zu werden. Dort standen all die, die Schulden hatten, weil sie Schulden haben durften. Vorneweg Heider, dann Gernot, gefolgt von zehn bis 15 weiteren Namen, die fette Deckel hatten, ohne dass Moni sich sorgte, sie könnten eines Tages auf Nimmerwiedersehen verschwinden.

Luginger beobachtete, wie Faulhuber sich die Lippen leckte.

»Grandios«, sagte Erika.

»Eine echte Belastungsprobe«, sagte Gernot und schlug auf sein Knie, das postwendend zu zittern aufhörte.

Alle lachten.

Als Sammy auf Wunsch Faulhubers eine Supertramp-CD in den Player schob, war es schon stockdunkel. Luginger klappte draußen Tische und Bierbänke zusammen, stellte alles an die Hauswand und nahm einen Besen, um die Kippen vor seinem Eingang zusammenzufegen. Dann schaute er auf die Straße und die Nachbarhäuser. Klappe zu, Affe tot, dachte er. Leuterding am Abend. Ruhig, ruhiger, aus die Maus.

Langsam bog ein nagelneuer BMW in die Einfahrt. Geräuschlos senkte sich ein Seitenfenster nach unten.

»Guten Abend«, hörte er eine Frauenstimme sagen. »Sind Sie Herr Luginger?«

Luginger nickte.

»Schön. Kann ich hier stehen bleiben?«

Luginger lächelte.

»Fährt da noch jemand raus heute Abend?«

Luginger hob seinen Zeigefinger und wedelte ein Nein in die Abendstimmung.

Mit einem leisen Klick schloss die Frau ihren Wagen ab. Sommermantel, Handtasche, graue Kurzhaarfrisur.

»Mein Name ist Clara Weibel. Ich bin Polizistin.«

Die Frau zeigte ihren Ausweis.

Luginger nickte.

»Arbeitet bei Ihnen ein Mann namens Sammy?«

Luginger zeigte zur Tür.

»Guten Abend«, sagte Frau Weibel und stellte ihre Handtasche schwungvoll auf einem Hocker neben dem Tresen ab.

»Ich möchte mit Sammy sprechen. So viel ich weiß, arbeitet der Mann hier.«

»Die Frau ist von der Polizei«, sagte Luginger.

»Polizei«, brummte Gernot.

»Könnten Sie Sammy Bescheid sagen?«, bat Frau Weibel.

»Sammy!«, rief Luginger Richtung Küche.

»Moment«, kam es zurück.

Frau Weibels Finger tippten gegen einen Aschenbecher.

»Darf man bei Ihnen rauchen?«

»Nein«, entgegnete Faulhuber bestimmt. »Nur ich. Dann krieg ich geschimpft, und alles ist wieder gut.«

Luginger stellte die Musik leiser.

»Möchten Sie was trinken?«, fragte Moni.

Während Frau Weibel noch überlegte, sagte Gernot: »Wie wär’s mit einem Persiko?«

»Persiko!«, antwortete Frau Weibel erstaunt. »Gibt’s den noch? Den habe ich bestimmt 30 Jahre lang nicht mehr getrunken. «

»Länger«, sagte Faulhuber. »War sogar mal verboten.«

»Persiko, Wasser und Kaffee«, entschied Frau Weibel. »Haben Sie auch was zu essen?«

»Da müssen Sie Sammy fragen«, sagte Moni. »Irgendwas Kleines können Sie schon haben.«

Schließlich kam Sammy aus der Küche, und Luginger beobachtete, wie die Polizistin seine Erscheinung prüfe. Wie gemalt fürs Bett, wird sie denken, schoss es ihm durch den Kopf, muskulös, jung, schwarz. Ein Klassiker für Dummheiten, die man niemals bereut.

»Sie wollen mich sprechen?«, fragte Sammy.

»Ja. Wahrscheinlich haben Sie es schon gehört. Gestern Nacht hat es einen Verkehrsunfall mit Todesfolge und Fahrerflucht gegeben. Am anderen Ende von Leuterding, im Erlenweg. Herr Fischer wurde überfahren, leider kam jede Hilfe zu spät.«

»Ist zu uns vorgedrungen«, sagte Luginger.

»Kennen Sie Herrn Fischer?«, fragte Frau Weibel Sammy.

»Eigentlich nicht.«

»Eigentlich?«

»Den Namen hab ich schon gehört. Und dass er in der Bürgerinitiative mitmischt.«

»Sind Sie da auch engagiert?«

»Nein.«

»Kennen Sie Frau Fischer?«

»Nein.«

»Der ist doch Lehrer hier am Gymnasium«, sagte Faulhuber. »Und seine Frau hat das kleine Reisebüro in der Pestalozzistraße. Richtig?«

»Richtig«, bestätigte Frau Weibel. »Sagen Sie, Sammy, könnten Sie mir was zum Essen bringen?«

»Fleischpflanzerl, Semmel, Senf, Ketchup. Wenn Ihnen das reicht?«

»Reicht. Wie heißen Sie eigentlich mit vollem Namen? Ich meine, ich nenne Sie einfach Sammy, das ist vielleicht etwas salopp für eine Fremde.«

»Passt schon«, erwiderte Sammy und verschwand in der Küche.

Alle schwiegen. Luginger kramte sein Tabakpäckchen aus der Hosentasche, und Moni stellte Frau Weibels Getränke auf den Tresen. Nach einem Schluck Kaffee hielt die Polizistin erschrocken den Atem an, öffnete unwillkürlich den Mund und wedelte aufgeregt mit der Zunge.

»Wow, ist der heiß«, rief sie schließlich. »Das sind doch mehr als 100 Grad.«

»So ein Kaffee muss richtig wehtun«, sagte Gernot. »Lauwarm ist bei Moni nicht.«

Faulhuber musterte das randvolle Likörglas. »Nehmen Sie den zum Schluss. Alles andere ist Verschwendung.«

»Wie lange arbeitet Sammy denn schon bei Ihnen, Herr Luginger? «, fragte Frau Weibel, als sie aufgehört hatte, mit der Hand vor ihrem Mund rumzuwedeln.

»Zehn Jahre, denk ich mal.«

»Und er wohnt hier?«

Luginger drehte sich eine Zigarette. »Oben, da gibt’s eine kleine Wohnung.«

»Sagen Sie, worum geht’s denn?«, fragte Moni.

Frau Weibel pustete in ihren Kaffee. »Der Unfall heute Nacht war etwas merkwürdig. Es gibt Ungereimtheiten, denen wir nachgehen.«

»Aha«, murmelte Gernot.

»Und Sammy hat was damit zu tun?«, fragte Faulhuber.

»Noch wissen wir nicht viel, Herr …«

»Faulhuber.«

»Wissen Sie, es ist wie im Fernsehen. Es passiert was, wir schauen hin, fragen, denken nach, kriegen Hinweise und so weiter.«

Ein großer Teller mit zwei Fleischpflanzerl, einer Semmel und gewaltigen Senf- und Ketchupmengen stand plötzlich vor ihr.

»Guten Appetit«, wünschte Sammy.

»So viel kriege ich nie und nimmer runter«, sagte Frau Weibel. »Das sind ja Riesendinger.«

Während sie kaute, sah Luginger, wie ihre Blicke durch sein Lokal wanderten. Zuerst die verblassten Bilder von Dennis Hopper, Marlon Brando und Robert Mitchum, dann die Baseballkappen mit ihren Aufschriften, die weiter oben hingen. Danach die Spielautomaten und das nicht mehr ganz weiße Klavier, das vor einer Holzwand stand, an der lauter Postkarten klebten.

Schließlich sagte Luginger: »Mein Klo ist da links runter, falls Sie das auch interessiert.«

Frau Weibel wischte mit einer Serviette über ihren Mund. »Herr Sammy, wir haben gehört, dass Sie mit Frau Fischer ein Verhältnis haben sollen. Sie haben aber gerade eben ausgesagt, Sie kennen die Frau gar nicht. Frau Fischer sagt das Gleiche, na ja, nicht ganz. Sie sagt, sie kenne Sie, wie Sie jeder in Leuterding kennt. Unter 15 000 Mitbürgern sind Sie der einzige Schwarze, daher sind Sie eine feste Größe, wenn ich es so sagen darf. Und jetzt kommt es, wie es kommen muss. Herr Fischer hat seine Frau im Fall seines Todes mit einer großen Summe abgesichert. Den Rest können Sie sich ja denken.«

Lugingers Zigarette hing locker zwischen seinen Lippen. Gernots Kopf kreiste. Faulhuber blickte stumm auf seine Schuhe.

Nur Moni legte sofort los. »Was ist denn das für ein Mist, Sammy! Bist du völlig verrückt geworden? Eine verheiratete Frau vögeln, eine Frau aus dem Ort, eine Frau, deren Mann tot ist. Gibt’s da nicht andere?«

Luginger gab sich Feuer. Dann rückte er den Aschenbecher zurecht und dachte, Heilandszeiten, was geht denn hier ab. Sammy, Sex, Kohle. Klasse Kombination!

Sammy brauchte etwas, bevor er sagte: »Da gibt’s nichts zwischen mir und Frau Fischer. Wer so etwas behauptet, lügt.«

Clara Weibel nickte, trank Wasser und biss in ein Fleischpflanzerl.

»Würden Sie Ihre Zigarette ausmachen«, bat sie Luginger.

Luginger blickte zu Sammy und fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe. Während er seine Zigarette ausdrückte, sortierte er laut seine Gedanken: »Sie glauben, dass der Fischer absichtlich überfahren worden ist. Und Sie prüfen, ob Sammy es gewesen sein könnte.«

»Richtig«, entgegnete Frau Weibel kauend und schlürfend. »Entschuldigen Sie meine Manieren, aber je mehr ich esse, desto hungriger werde ich.«

»Wann war denn die genaue Tatzeit?«, fragte Luginger so beiläufig wie möglich.

»Mitternacht, plus minus fünf Minuten.«

»Mitternacht«, wiederholte Luginger, »also da haben wir hier zugemacht. Moni, Sammy und ich. Unser letzter Gast war Bernie. Also Herr Faulhuber. Etwas später hat Moni abgerechnet. Um halb eins war dann das Licht aus.«

Luginger schaute in die Runde. Jeder, der ihn kannte, wusste, was sein Blick zu bedeuten hatte.

Moni, Sammy und Faulhuber nickten.

»Na, das ist ja schon mal gut«, sagte Frau Weibel und leckte ihre Finger ab. »Prima. Bouletten, Senf, Brötchen. Dazu noch Zigarettenqualm, wirklich gelungen. Fast wie früher.«

»Bouletten«, brummte Gernot. »Bouletten kennt hier keener.«

»Jetzt seien Sie mal nicht so. ›Fleischpflanzerl‹ klingt auch nicht wirklich gut.« Frau Weibel schob ihren Teller zur Seite und wandte sich an Moni. »Wer mit wem schläft, interessiert mich nicht. Weder in Leuterding noch sonst wo. Mich interessiert vielmehr, was Sie über die Bürgerinitiative denken. Ich meine, seit heute Morgen weiß ich, dass das ja hier im Ort ein richtig großes Ding ist.«

»Alles ganz einfach«, antwortete Moni, während sie für sich und Sammy Cola einschenkte. »Die einen sind für die Natur, die anderen für ihr Portemonnaie, wieder andere für ihre Wiederwahl und der Rest für die Zukunft. Alle fühlen sich im Recht, jetzt wird gestritten, und zum Schluss gewinnen die Geldsäcke.«

»Und auf welcher Seite stehen Sie?«, fragte Frau Weibel.

»Hinterm Tresen. Ich zapf Bier und freu mich, wenn’s keinen Ärger gibt.«

»Was wird denn so geredet? Über den Herrn Fischer, der wollte ja wohl den Vorsitz der Bürgerinitiative übernehmen. Über den Bürgermeister und über die Geldsäcke.«

»Geredet wird viel«, sagte Faulhuber. »Bürgermeister Lohmann ist Sozi. Und Sozis haben nicht viel zu melden in Bayern. Vor einem Jahr wurde der gewählt, war eine Riesenüberraschung im Ort. Viele hier hatten die Schnauze voll von zweitausend Jahren CSU-Herrschaf im Gemeinderat. Junger Typ, charmant, beliebt, guter Redner. Der will was reißen, was bewegen. Der will bestimmt auch weiter, Landtag, Bundestag, was weiß ich. Recht hat er. Klar ist die Gemeinde überaltert, und bezahlbarer Wohnraum für junge Familien fehlt an allen Ecken und Enden. Jedes Popelreihenhaus kostet 300 000 und mehr. Dreißigjährige können so was doch nicht bezahlen. Ein Aberwitz ist das. Und einen Markt gibt es auch nicht. Viel Nachfrage, wenig Angebot, das will Lohmann eben ändern. « Faulhuber taxierte sein leeres Glas. »Moni, eins geht noch. Dann geh ich.«

Die Tür sprang auf, und drei Männer begrüßten Luginger mit Handzeichen, ehe sie vorne neben den Spielautomaten Platz nahmen. Ohne ihre Bestellung abzuwarten, stellte Moni weitere Weißbiergläser unter den Hahn.

»Immerhin, ein paar Leute kommen ja noch«, bemerkte Frau Weibel.

»So gegen zehn geht’s noch mal los«, sagte Gernot.

»Und der Herr Fischer, was war denn das für einer?«, wollte Frau Weibel wissen.

»Jedenfalls war er noch nie hier«, sagte Moni. »Ein Zugereister, wie Tausende andere auch. Über den wüsste ich nichts zu sagen.«

Während Luginger ein Schälchen mit Erdnüssen füllte, um es zum Tisch der Neuankömmlinge zu bringen, sagte Faulhuber: »Bei mir saß der ab und an auf dem Stuhl. Seine Frau und sein Sohn auch. Ich bin Zahnarzt. Ruhiger Typ, unauffällig. Unterrichtete Deutsch und Geschichte, wenn ich mich nicht irre. Sein Häuschen steht eben genau da, wo gebaut werden soll. Logisch, dass der nicht begeistert war. Frau Fischer ist ganz anders. Die würde am liebsten noch mit tamponiertem Mund reden. Ihr Interesse für Feld, Wald und Wiesen dahinten ist echt. Wenigstens glaube ich das. Die ärgert es maßlos, dass ein großer zusammenhängender Grüngürtel verschwinden soll.«

»Und Sie?«

»Ich? Ich möchte, dass alles bleibt, wie es ist. Ich möchte immer, dass alles bleibt, wie es ist, obwohl nichts bleibt, wie es ist. Prost.« Mit geschlossenen Augen nahm Faulhuber einen tiefen Schluck.

»Wird denn bei Ihnen über die Streitigkeiten viel geredet?«

Moni und Sammy schüttelten gleichzeitig den Kopf.

»Nein«, sagte Moni. »Wer hierherkommt, hat andere Sorgen.«

Luginger und Sammy saßen auf alten Holzstühlen und drehten Bierdeckel. Mittlerweile waren alle gegangen. Bis auf eine matte Deckenfunzel brannte kein Licht mehr. Die Tür war geschlossen, die restlichen Stühle waren hochgestellt.

»Die Kripotante sehen wir noch öfter«, sagte Luginger.

Sammy fuhr sich durch sein kurzes schwarzes Haar. Dann verschränkte er die Arme hinterm Kopf und wippte auf seinem Stuhl vor und zurück.

»Und?«, fragte Luginger.

»Nix«, erwiderte Sammy.

»Nix ist a bisserl wenig, mein Lieber.«

Sammy zog die Nase hoch und schwieg.

»Von einer Frau Fischer hab ich noch nie was gehört«, sagte Luginger.

»Geht dich auch nichts an, Mann.«

Luginger nickte und trommelte mit zwei Fingern auf die Tischplatte. »Wo warst gestern Nacht?«

»Hatte was vor.«

»Wie alt?«

Sammy hatte zu wippen aufgehört und schaute zum Tresen. Dann brummte er leise: »Scheiße.«

»So seh ich das auch«, meinte Luginger trocken. »Wirst Ärger kriegen, also pass auf, wer was von dir will.«

Luginger starrte auf James Dean. Denn sie wissen nicht, was sie tun. Die Fischer und Sammy, dachte er. Blöder hätte es nicht kommen können. Dabei hatte er die Frau nie in Sammys Nähe gesehen. Was hätte die auch von ihm kriegen können? Sex, guten Sex, besseren Sex als von ihrem Mann. Kurzfristig riskieren die Weiber schon mal Kopf und Kragen, dachte er, langfristig wollen sie was anderes. Geld, Sicherheit, Kopf höher als die anderen, zeigen, was sie haben und wo sie hingehören. Weiber saugen einen aus, das wusste er aus Erfahrung, die riechen, ob was zu holen ist oder nicht.

Stöhnend stand er auf und schlenderte zum Klavier. Im Stehen spielte er die ersten Takte von As time goes by. Sammy und die Fischer, eine Affäre, so offensichtlich, dass andere davon Wind bekommen hatten. Und dann die Kripolady. Clara Weibel. Machte einen auf locker und tat so, als wollte sie nur mal vorbeischauen. Die hat’s faustdick hinter den Ohren. Die wusste mehr, als sie rausgelassen hat. Viel mehr.

An der Theke schenkte er sich Whisky ein. Neben der Kasse lag die Abrechnung. Sammy hatte sie diesmal für Moni gemacht, weil die keine Lust mehr gehabt hatte und früher als sonst gegangen war.

Vor zehn Jahren hatte Sammy bei ihm vor der Tür gestanden und gefragt, ob er kellnern könne. 18 war er gewesen, sah aber älter aus. Löchrige Jeans, Turnschuhe, eine Tasche unterm Arm. War von zu Hause abgehauen, hatte die Schnauze voll gehabt. Gestrichen, Oberkante Unterlippe. Hatte mit seiner Mutter in irgendeinem finsteren Kaff im Bayerischen Wald gelebt. Kasse bei EDEKA, samstags besoffen, sonntags Dorffußball. Vier Jungs auf zwölf Mädels. Immer dumme Sprüche, Anmache und Schlägereien. Nichts Ernstes, der übliche Mist halt.

Luginger war zufrieden, als er die Zahlen prüfe. Guter Samstag, dachte er. Geschluckt wird immer, mit und ohne Bayern-Tore.

Sammy konnte Deutsch, packte an, war verlässlich und hatte die Idee mit der Küche. Vor Sammy gab’s im Hammer-Eck jahrelang nur Flüssiges zwischen die Zähne. Mit ihm hatte sich das geändert. Nichts Großes, nichts Aufwendiges, Kleinigkeiten eben, etwas, das Umsatz brachte, nicht verdarb und schnell hergerichtet war. Sammy wusste, wie der Hase lief. Preiswert einkaufen, teuer verkaufen, kein Ausschuss. Wenn die Marge stimmt, Franz, sind nicht nur die Gäste zufrieden.

Marge! So, so!

Mädels hat’s schon gegeben, jede Menge sogar, aber keinen Ärger. Nur die Nummer mit Moni war voll danebengegangen. Was hatten sich die beiden bloß gedacht? Nix hatten sie gedacht, gevögelt hatten sie wie die Blöden. Wochenlang hatte Luginger das Gefühl gehabt, wenn sie nicht hätten arbeiten müssen, hätten sie nur noch ineinandergesteckt. Und dann der große Knall. Baff! Moni war zwei Monate wie vom Erdboden verschluckt, und Sammy hatte geschufet, um nichts denken zu müssen. Danach war es wieder aufwärtsgegangen, langsam, zäh und ohne viel Worte.

Mit dem Whiskyglas in der Hand und der letzten Zigarette für heute ging Luginger noch mal zur Eingangstür und prüfte, ob er sie auch wirklich abgeschlossen hatte. Vielleicht war ja alles auch ganz harmlos. Fischer ist überfahren worden und Schluss. Einer, der eben Pech hatte, zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen war. So was gab’s überall auf der Welt. Auch in Leuterding.

Sonntag

Am nächsten Morgen war alles wie immer. Luginger kochte Kaffee, buk Semmeln auf, stellte Butter und Marmelade auf einen kleinen runden Tisch in der Küche und las im Internet die ersten Berichte zu den Samstagsspielen der Bundesliga. Später husten, rauchen, Fenster aufreißen.

Dann rief seine Mutter an und bat ihn, nach ihrem Fernseher zu schauen. Sie könne ihn nicht mehr einschalten, irgendwas sei kaputt.

»Ich war doch gestern früh bei dir, da ging er noch«, antwortete er so gelassen wie möglich. »Hast mal die Batterien in der Fernbedienung ausgetauscht?«

Lautes Ausatmen am anderen Ende der Leitung.

»Gut, Mama, ich komm dann am Vormittag noch vorbei.«

Gegen zehn ging er hinunter und richtete den Gastraum her. Fegen, Stühle auf den Boden, Tische abwischen, Getränkebestand kontrollieren, Müll hinaustragen. Alles Handgriffe und Wege, die so verinnerlicht waren, dass er ohne nachzudenken locker in den Tag kam.

Von Sammy hatte er noch keinen Ton gehört. Entweder schlief er wie ein Stein oder war schon mit dem Rad unterwegs. Im März hatte er sich auf dem Flohmarkt neben der Tennishalle ein Rennrad gekauft und seitdem schon Tausende von Kilometern zurückgelegt. Zum Chiemsee, nach Bad Tölz, Lenggries oder hinüber nach Starnberg, häufig brach er frühmorgens auf, um am Nachmittag wieder zurück zu sein.

Luginger stellte das Radio an und hörte was von blauem Himmel, Sonne und 20 Grad, als Bernie Faulhuber mit dem Hund seiner ältesten Tochter auftauchte.

»Ist Sandra immer noch weg?«, fragte Luginger.

»Sieht so aus.«

»Also rennst mit dem Viech a bisserl auf und ab. Na ja, schaden kann’s nix.«

Faulhuber trug Stühle in die Morgensonne vors Hammer-Eck und sagte: »Setz dich, Franz. Wir müssen reden.«

»Magst was?«, fragte Luginger.

»Wasser für Dexter wär nicht schlecht.«

Luginger brachte einen vollen Napf, setzte sich und kraulte den Hundekopf.

»Ich hab heute Morgen rumtelefoniert«, fing Faulhuber schließlich an. »Der Tod von dem Fischer ist ein ganz heißes Eisen, und Sammy hat oder hatte wirklich was mit seiner Frau. Wenn es ganz blöd läuft, haben die beiden am Freitag eine Nummer geschoben, während Carsten Fischer bei seiner BI-Sitzung war.«

Luginger schnitt Grimassen und gab kindische Töne von sich. »Ui, Dexter«, feixte er. »Ui, ui, Sammy hat eine Nummer geschoben. Pfui, gibt’s denn so was.«

»Ich weiß, dass du das eher lustig findest«, entgegnete Faulhuber genervt, »aber wir haben ihm gestern ein Alibi gegeben, das nicht viel taugen wird. Mein Spezl Rottinger, der Steuerberater, weißt schon, der kennt den Vater vom Markus Polterer. Der Polterer hat Freitagnacht Dienst geschoben und war am Unfallort. Er hat alles aufgenommen und diese Clara Weibel von der Kripo informiert, weil ihm die ganze Sache gleich merkwürdig vorgekommen ist. Du weißt ja, wenn die Schutzpolizei die Kripo ruft, ist schon was im Busch. Und die Frau Killert, die, die das neue Fischgeschäft neben der Reinigung aufgemacht hat, hat wohl das Gerücht gestreut, dass Sammy und Frau Fischer was miteinander hatten. Jetzt braucht nur noch ein neugieriger Nachbar gesehen zu haben, wie unser Sammy da Freitagnacht rein- oder rausspaziert ist, und wir sitzen mit unserem zusammengelogenen Alibi ordentlich in der Scheiße.«

Luginger tätschelte Dexters Maul und blabberte: »Guter Hund, ja, bist ein guter Hund.« Die Killert, dachte er. Wer denn sonst. Ein Klatschmaul ohne Ende.

»Und das Dumme ist, dass die Killert bis vor Kurzem mit der Fischer ziemlich dicke war«, fuhr Faulhuber fort. »Dann sollen sie sich gestritten haben, weil die Killert der Fischer wegen Sammy die Leviten gelesen hat. Sagt man, hört man.«

Mittlerweile hatte Luginger einen Slipper ausgezogen und ihn weit weg geworfen. Dankbar war Dexter losgelaufen, um mit der Beute zwischen den Zähnen zurückzukommen.

»Prima, Dexter. Feines Hündchen.« Kraulen, Fellziehen, tiefe Blicke.

»Warum müssen die Weiber auch so viel quatschen«, sagte Luginger endlich.

»Die Killert ist nicht das einzige Problem, Franz. Der Rottinger hat mir erzählt, dass er Sammy zusammen mit der Fischer zufällig mal in einer Münchner U-Bahn gesehen hat. Und kameradschaftlich hätte das nicht ausgeschaut, eher intim.«

»Du meinst, wenn die Kripo nachhakt, kommen noch andere und hängen Sammy was an?«

»Was anhängen, was anhängen, Franz. Träumst du? Sammy hat gestern Abend gelogen, und die Kripo wird wissen wollen, warum. Na ja, und wir haben auch gelogen. Die beiden waren nicht vorsichtig genug. Wenn der Rottinger sie gesehen hat, haben andere sie auch gesehen. Hast du mit Sammy mittlerweile geredet?«

Während Luginger die richtige Tabakmenge in einem Papierchen verteilte, brummte er: »Also gut. Ein Skandal. Sammy vögelt die Besitzerin einer Reiseagentur, verheiratet, ein Kind. Was soll’s. Magst einen Kaffee?«

Faulhuber nickte.

Luginger ging hinein und stellte den Kaffeeautomaten an. Sekunden später stand er wieder in der Eingangstür. »Vielleicht hat Fischers Tod ja was mit der Bürgerinitiative zu tun«, sagte er. »Streit, Neid, irgendwas. Ich meine, es könnt doch noch andere Gründe geben, oder?«

»War Sammy zur Tatzeit bei der Fischer, Franz? Ja oder nein?«

Luginger klatschte in die Hände und strahlte Dexter an. »Davon dürfen wir ausgehen«, antwortete er gut gelaunt. »Und wer vögelt, kann nicht gleichzeitig Auto fahren.«

Faulhuber stöhnte. »Wenn stimmt, was ich gehört habe, soll jemand den Fischer absichtlich überfahren haben. Und die Kripo wird nicht so blöd sein und annehmen, der einzige Schwarze in Leuterding setzt sich hinters Lenkrad und bringt ausgerechnet den Mann um, der ihn von der großen Kohle trennt.«

Luginger rauchte, bückte sich wieder zu Dexter und begann von Neuem in kindischem Singsang zu flöten: »Guter Hund, feiner Hund, ja, bist ein Guter.« Wieder Kraulen, Fellziehen, tiefe Blicke.

Faulhuber stand auf und ging zur Theke. »Zwei Cappuccino, ja?«

»Meinen mit Zucker, bitte«, rief Luginger. »Du meinst also, Sammy hat einen Killer bezahlt. Oder die Fischer.«

»Klingt natürlich verrückt«, rief Faulhuber zurück, während der Automat laut vor sich hin gurgelte. »Aber so kann man doch denken als Polizist. Und diese Frau Weibel hat doch keine Ahnung, wer Sammy wirklich ist. Ich meine, dass er kein Mörder ist und keiner Fliege was zuleide tun kann.«

Beide rührten in ihren Tassen. Luginger schaute auf seine riesigen Füße, die in der Sonne standen und darauf warteten, von Dexters Zunge abgeleckt zu werden.

»Also, wenn die Fischer aus der Lebensversicherung jetzt jede Menge Kohle kriegt, ist sie da, wo viele hinwollen. Sie hat’s geschafft. So sieht’s doch aus. Und Sammy ist eine Nummer zu klein für eine, die oben schwimmt.«

»Franz, red mit Sammy. Der muss mit der Wahrheit rausrücken. Je länger er schweigt und lügt, desto mehr reitet er sich rein. Und uns. Das ist nicht lustig, wenn’s zum Schwur kommt.«

Luginger nickte. Gleichzeitig wusste er, dass Sammy kein Sterbenswörtchen zu seiner Affäre mit der Fischer sagen würde. Bis heute kein Ton zum Eklat mit Moni, bis heute kein böses Wort über sie, bis heute außer Schweigen nichts zu Frauen, mit denen er was gehabt hatte. Sammy redete über Fußball, Schnitzelsemmel und Alltagskram. Das war’s. Selbst hinterm Tresen stoische Miene bei dummen Sprüchen über Frauen und ihren schlechten Einfluss auf die Welt.

»Gut, ich red mit ihm, Bernie. Mit wem hast heut Morgen denn sonst noch telefoniert?«

»Mit dem Beckstein aus dem Gemeinderat.«

»Dem CSU-Trottel? Den kennst du?«

»Privatpatient, Franz. Guter Kunde und tief im Herzen eher ein Grüner.«

»Aha. Und was sagt nun der Beckstein?«

»Die Bürgerinitiative macht mächtig Ärger, und der Tod vom Fischer wird alles verschlimmern. Die Stimmung im Ort ist aufgeheizt, viele Leute sind unzufrieden mit der Informationspolitik im Rathaus. Die machen sich richtig Sorgen, die Lokalpolitiker, sag ich dir. Und die CSU hat aufs falsche Pferd gesetzt, meint Beckstein. Statt dem Lohmann die Gefolgschaft zu kündigen, sind sie ihm hinterhergerannt. Jetzt sitzen sie mit im Boot und wissen nicht mehr, wie rauskommen.«

»Der Beckstein ist ja eine richtige Plaudertasche, Bernie. Fällt seinem Verein sonntagmorgens in den Rücken, nur weil du ihn anzapfst.«

»Ich habe ihn ja nicht umsonst angerufen. Ich wusste, dass der mit der offiziellen Linie Probleme hat.«

Luginger steckte seine Füße wieder in die Schuhe. »Na, Dexter, siehst, der Kumpel von unserem Bernie ist ein waschechter Abweichler, einer, der Äste absägt, auf denen er jahrelang gut gesessen hat.«

Faulhuber wurde sauer. »Hör auf, Franz, ja. Wir wissen doch alle, wie das läuft.«

»Stimmt. Arschbacken zusammenkneifen und durch.« Während Luginger seinen Stuhl aus der Spätsommersonne zog, fragte er: »Weiß denn der Beckstein was über den Fischer? Was hat der denn gemacht in der BI?«

»Also Mitläufer war der nicht. Gründungsmitglied und immer dabei, wenn es um Öffentlichkeit ging. Beckstein vermutet sogar, der wäre der kommende Vorsitzende gewesen. Der alte Gmeiner ist krank und kann das nicht mehr lange machen. Beckstein meint, der wäre eh nur auf den Zug aufgesprungen, um dem Lohmann eins auszuwischen. Weil der seinem Sohn die Tour vermasselt hat.«

»Ich erinnere mich dunkel«, sagte Luginger. »Michael Gmeiner, der sollte doch als junger Aufsteiger die CSU im Sattel halten. Und dann hat der Lohmann gewonnen. Weißt, Bernie, bei uns ist’s wie überall: Geschachere ohne Ende. Und jetzt haben wir noch einen Toten mit einer Frau, die ihr Reisebüro zumachen kann, weil sich alle die Mäuler zerreißen.«

»Hast was zu essen da?«, fragte Faulhuber, während er auf seine Kaffeetasse starrte. »Ich habe richtig Hunger, und bei mir ist niemand zu Hause.«

»Geh halt in die Küche und schau, was im Kühlschrank ist.«

»Sitz«, sagte Luginger zu Dexter, während Faulhuber lostrottete. Dann fuhr er dem Hund erneut über die Schnauze. »Tja, Dexter, siehst. Da hat einer drei Frauen, ein schönes Haus, viel Geld und darf in der Früh schon mit dem Beckstein reden, aber zu essen kriegt er nichts Gescheites. Kommt zu mir und mampft die Reste.«

Moni im Kleid. Luginger war perplex. Gewöhnlich trug sie Jeans, hellblau, dunkelblau, verwaschenes Blau, röhrenmäßig, knalleng, dazu schwarze Gürtel, große Silberschnalle, kleine Silberschnalle, oben herum bunte Shirts, Ende. Heute ein rotes Kleid, kniefrei, keine Strümpfe, schwarze Stöckelschuhe, maßvoller Ausschnitt.

Sie grüßte kurz, ging zur Theke und schenkte sich ein Glas Wasser ein.

Ihr Handy klingelte. Breites Lächeln und Säuseln. Ohne Luginger zu beachten, lief sie kreuz und quer durch den Gastraum. Lippenstift, Lidschatten und Augenbrauen, die aufgepeppt wirkten.

Luginger schaute zur Uhr. Zwölf durch, und Sammy war immer noch nicht da. Seit einer halben Stunde saß Gernot auf dem Hocker am Tresen und las die Bild am Sonntag. Sein Knie zuckte sporadisch, und seine Hand lag ruhig auf einem schwarzen Herrenhandtäschchen, das er nur sonntags mit sich trug.

Moni kicherte, und Luginger glaubte, ihre Haare seien blonder als gestern und vorgestern. Schließlich klappte sie ihr Handy zu, setzte sich auf irgendeinen Stuhl, schlug die Beine übereinander und verkündete: »Ich geh an die frische Luft. Von drei bis sechs bin ich weg. Übrigens war ich grad bei deiner Mutter, Franz. Hab die Wäsche zum Bügeln mitgenommen. Sie wartet auf dich. Irgendwas mit ihrem Fernseher stimmt nicht.«

Luginger lächelte und sagte: »Gut siehst aus.«

Gernot ergänzte, ohne aufzuschauen: »Fesch, Moni.«

»Sammy kann mich doch vertreten, oder?«, fragte sie. »Seit gestern hab ich eh was gut bei dem, stimmt’s? Heute Nachmittag wird auch nichts los sein. Bei dem Wetter gehen alle raus.«

»Geh nur«, sagte Luginger.

Wie bestellt stand Sammy plötzlich in der Tür. Sein gelbes Trikot war nass, und seine Stirn glänzte vor Schweiß. Moni musterte seine kräftigen Beine, schüttelte den Kopf und grinste hämisch.

»Tust mir einen Gefallen?«, fragte sie ihn in einer Tonlage, die Luginger noch nie gehört hatte.

»Erst geh ich duschen«, erwiderte Sammy und schwenkte seine leere Wasserfasche. »Geil draußen. In drei Stunden runter zum Tegernsee bis nach Kreuth.«

»Warum beeilst dich denn so?«, fragte Luginger.

Sammy lachte. »Würd dir auch nichts schaden, Franz. Sich auspowern, an die Grenzen gehen und seinen Körper spüren.«

Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er zur Tür neben dem Tresen und sprintete die Treppen hoch.

Gernot blätterte um.

»Wie lange liest eigentlich an einer Seite, auf der eh nur Bilder sind?«, fragte Moni. Sie war aufgestanden und zupfe ihr Kleid zurecht.

»Fesch«, wiederholte Gernot. »Wie heißt der Knabe?«

»Ronaldo, und er trägt mich auf Händen. Trinkt nicht, raucht nicht, geht früh schlafen und möchte Kinder. Ein Dutzend oder zwei, je nachdem, wie viel ich austragen kann.«

»Na ja, das geht vorbei«, brummte Gernot. »Hauptsache, du hast Spaß.«

Luginger trottete über die Straße und lief zum Maibaum, ehe er in den Drachenweg einbog. Moni und Sammy, das wird schwierig, dachte er. Wenn sie schlecht drauf ist, muss er sich warm anziehen. Da gibt’s noch alte Wunden, die nicht verheilt sind. Hoffentlich taugt der neuer Lover was. Gute Männer lenken ab. Gute Männer machen weich. Und eine weiche Moni brauchte er jetzt. Eine Pleite in Herzensangelegenheiten, und er hätte Scherereien ohne Ende.

Er schaute zur Uhr und wusste, dass er spät dran war. Halb eins war für seine Mutter nicht mehr Vormittag, sondern Mittag. Und Mittag war nicht nur etwas später, sondern viel später. Viel zu spät. Wohnst doch nur ein paar Meter weg, sagte sie immer, wenn er sich entschuldigte, weil er es wieder mal nicht geschafft hatte, rechtzeitig ihre Haustüre aufzuschließen. Weißt doch, dass ich wart. Ich wart immer. Was soll ich sonst tun, Bub. Wir Alten warten eben. Auf Besuch, auf was Schönes im Fernsehen, aufs Ende, so ist das halt.

Anna Luginger saß in ihrem speckigen Ledersessel im Wohnzimmer, während er seine Runde durchs Haus drehte. Er zog Rolläden hoch, öffnete Fenster, goss Blumen und trug Geschirr in die Küche.