Brackwasser - Paul Russell - E-Book

Brackwasser E-Book

Paul Russell

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Beschreibung

Poughkeepsie, ein kleines Städtchen im nördlichen Speckgürtel von New York City, Mitte der Achtzigerjahre: Anatole betreibt einen angesagten Friseursalon, Lydia ist als gescheiterte Existenz aus New York zurückgekehrt und Chris, der vor einer tragisch verlaufenen Beziehung nach Poughkeepsie geflüchtet ist, betreibt einen Plattenladen. Anatole und Lydia sind beide in Chris verliebt, doch der lässt niemand an sich heran. Paul Russell erzählt davon, wie die drei Mitzwanziger versuchen, miteinander klarzukommen – und wie der achtzehnjährige Leigh ihre beschauliche Dreisamkeit gehörig aufmischt: "Im Einkaufszentrum an der Main Street von Poughkeepsie sitzt ein Junge. Damit fängt es an: Lydia und Anatole sehen, aus zwei verschiedenen Fenstern, den Jungen auf der Lehne einer Bank sitzen." Anatole, der sich am laufenden Band in hübsche Jungs verliebt, lässt den "Jungen Gott des Einkaufszentrums" bei sich wohnen. Wie der geheimnisvolle Besucher in Pasolinis "Teorema" löst Leigh bei allen drei Freunden tiefgreifende Veränderungen aus. In der Mitte der Achtzigerjahre war die Aufbruchsbewegung der Hippies zu einem abrupten Ende gekommen, die Hoffnung auf ein liebevolles Zeitalter des Wassermanns in Drogenrausch und Aidskrise ertränkt. Die Zukunft war nicht länger der Fluchtpunkt weltverändernder Pläne, sondern eine gefährliche, von Krieg und Zerstörung geprägt Welt. Die in dieser Zeit aufwachsenden Generationen waren auf das Hier und Jetzt, ihre individuellen Wünsche und Ängste und das schwierige Miteinander in privaten Cliquen verwiesen. Die Menschen begannen, sich in einer ewigen Gegenwart ohne verlockende Perspektiven einzurichten. Wenn wir heute in diese Zeit zurückblicken, sehen wir die Anfänge einer Alltagskultur, die wir im 21. Jahrhundert perfektioniert haben.

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Brackwasser

Paul Russell

BRACKWASSER

Roman

Aus dem amerikanischen Englisch von Joachim Bartholomae

Männerschwarm Verlag

Hamburg 2017

FÜR MICHAEL SOMOYA

Dies wurde mir dadurch offenbar, weil es der Charakter der guten Dinge ist, Verschlechterung erleiden zu können, die, weder wenn sie die höchsten Güter wären noch wenn sie keine Güter wären, verderbt werden könnten; wären sie die höchsten Güter, so wären sie nicht verderblich, wären sie keine Güter, dann gäbe es nichts an ihnen, was verderbbar wäre.

Augustinus (dt. v. Otto F. Lachmann)

I

SEPTEMBER

In der Fußgängerzone der Main Street von Poughkeepsie sitzt ein Junge. Damit fängt es an: Lydia und Anatole sehen, aus zwei verschiedenen Fenstern, den Jungen auf der Lehne einer Bank sitzen. Lydia lehnt sich mit der Stirn an die Schaufensterscheibe der Boutique Elegance, die vor Kurzem eröffnet wurde und bald wieder schließen wird. Sie langweilt sich und starrt aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite, bei Reflexion, läuft Anatole ganz aufgeregt zwischen zwei Kunden sofort wieder zum Fenster. Gemeinsam fixieren sie den Jungen aus ihren verschiedenen Blickwinkeln.

Sie wissen nicht, wie er heißt. Sie wissen gar nichts über ihn. Er isst einen Riegel gefrorene Schokolade – ein schlanker Junge, siebzehn oder achtzehn. Er schlägt die Beine übereinander wie ein Mädchen. Die Springbrunnen hinter ihm sind trocken, die Bäume abgestorben. Der rissige Zement zu seinen Füßen überlässt sich dem Staub und der Hitze eines Nachmittags, dessen Temperatur 30 Grad längst überschritten hat. Der Junge hat dünne Arme, sein straßenköterblondes Haar fällt in einer großen Locke über ein Auge. Er lutscht die gefrorene Schokolade.

Auf der Welt leben fünf Milliarden Menschen. Keiner ist besonders wichtig. Er trägt Jeans, ein weißes T-Shirt, schwarze Sneakers ohne Socken. Sein Profil ist perfekt.

Chris Havilland trinkt Scotch im Bertie’s, als Lydia und Anatole hereinplatzen.

«Herrje, bin ich froh, dass du da bist», sagt Anatole.

«Ich bin immer hier, das weißt du doch.»

Anatole rutscht erschöpft auf die Bank in der Nische.

«Manchmal braucht man eben eine neutrale Einschätzung. Die Meinung eines Außenstehenden, du weißt schon.»

«Anatole, wovon redest du? Lydia, wovon redet Anatole?»

«Lydia weiß Bescheid», ruft Anatole. «Lydia hat ihn gesehen. Sie kann dir sagen, dass ich nicht verrückt bin.»

«Du bist verrückt, Anatole», erinnert ihn Lydia. «Deshalb mögen wir dich.»

«Der Junge schafft mich», sagt er zu Chris.

«Oh bitte, nicht schon wieder!» Sie mokieren sich darüber, dass Anatole sich ständig in Teenager verliebt. Er entdeckt sie in Supermärkten, in Kinos, und ein paar Stunden oder Tage lang kann er an nichts anderes denken, danach vergisst er sie wieder. Jedes Mal, wenn er mit Chris und Lydia ausgeht, zeigt er ihnen den Jungen, der gerade sein Herz erobert hat. Chris macht sich Sorgen deswegen, er findet das gefährlich und unvernünftig und möchte Anatole in Sicherheit bringen, an einen Ort, wo ihn keine solchen Erscheinungen quälen.

«Ich weiß, was du denkst», sagt Anatole zu Chris. «Doch mit dem hier ist es anders. Er war von einer Aura umgeben.»

«Ah?»

«Das Licht war heller.»

Chris lehnt sich zurück und zieht an seiner Zigarette. Er weiß, dass er dabei eine Pose einnimmt, die affektiert wirkt und seine Freunde eine Zeitlang beeindruckt hat, aber jetzt beachten sie es nicht mehr.

«Erzähl mir nicht, dass du versucht hast, ihn abzuschleppen», stichelt er, um sein vages Unbehagen zu kaschieren. «Ich kenn dich: Du hast dich aus dem Fenster gelehnt und ihm zugejubelt oder dich sonst wie zum Narren gemacht.»

«Darf ich mir nichts wünschen? Sei nicht so ketzerisch», beschwert sich Anatole. «Das war kein Junge, das war ein Gott.»

«Du hast die Erscheinung auch gehabt?» Chris wendet sich an Lydia. Sie und Anatole sehen anscheinend immer dasselbe, nur aus verschiedenen Blickwinkeln.

«Es war einer dieser Momente», gibt sie zu.

«Du klingst ja richtig finster.»

«Du hättest da sein sollen.»

«Du meine Güte, ihr macht mich wahnsinnig.» Chris ist sich bewusst, dass er den skeptischen Dritten spielt. Aber das ist okay – es bedeutet schließlich, dass die andern sich ihm und seinem Urteil unterwerfen. Sie wollen etwas von ihm.

«Du wirst ja sehen», sagt Anatole zu ihm.

«Jawoll, bestimmt. Wann baut ihr den Tempel?»

«Lach nur. Es wird Wunderheilungen geben.»

«Der Tempel vom Jungen Gott der Fußgängerzone.» Chris versucht es.

«Genau.» Anatole schweigt einen Moment, als dächte er darüber nach, was das bedeutet. «Ich werde ihn niemals wiedersehen», sagt er.

«Dann bist du ja gerade noch mal davongekommen», antwortet Chris, doch im selben Moment bedauert er den Ton – seine Distanziertheit und die Art, sich hinter geistreichen Bemerkungen zu verstecken, sind Dinge, die er überhaupt nicht an sich mag. Er sieht, wie Lydia und Anatole sich einen Blick zuwerfen – nur ganz kurz –, der sagt, davon versteht er nichts. Wir haben’s im Grunde nicht anders erwartet.

Und er hat’s nicht verstanden. Oder wenn doch, dann lässt er es nicht an sich heran. Etwas in dem Bündnis, das Anatole und Lydia eingegangen sind, hält ihn außen vor – trotz seiner bewegten Vergangenheit mit jedem von ihnen. Wenn sie zu dritt zusammen sind, fühlt er sich immer als der Dritte. Vielleicht, weil er erst später dazugekommen ist – noch vor drei Jahren hat er keinen von ihnen gekannt –, während Anatole und Lydia in Poughkeepsie aufgewachsen sind, sie kennen sich seit anno dazumal, wie sie gern sagen. Ich bin hier nur zu Besuch, sagt Chris zu sich selbst. Ich lebe nicht hier, sie aber schon – und er weiß nicht, ob ihn dieser Unterschied befreit oder traurig macht. Die drei Jahre, die er in Poughkeepsie wohnt, ist er für sich geblieben – er hat seine Kreise gezogen, ohne je richtig einzutauchen. Er sucht einen Ort, um sich zu verstecken, und Über den Wolken, sein Schallplattengeschäft in der Academy Street, eignet sich bestens dazu. Poughkeepsie eignet sich bestens dazu.

Sie sind die engsten Freunde, Chris, Anatole und Lydia. Entweder sind sie die erste Welle der lang erwarteten Gentrifizierung Poughkeepsies oder ihr letztes Aufgebot, jedenfalls halten sie sich für schön, schick und beneidenswert – «das Einzige, das an dieser verdammten Stadt wirklich sehenswert ist», wie sie untereinander herumalbern, vor allem wenn es schon spät ist und sie selbst betrunken, bekifft oder gelangweilt. Ihre Gemeinsamkeit besteht in komplizierten Vergangenheiten und den üblichen Enttäuschungen. Ihre Freundschaft beruht darauf, dass es ihnen gelingt, die Kräfte auszubalancieren, die sie entzweien könnten – eine ständige Neubewertung von Bedürfnissen, Krisen und tief liegenden Problemen, mit denen sie sich nur widerwillig befassen. Denn keiner hält diese Freundschaft für eine klar umrissene, eindeutige Sache, und für jeden von ihnen bedeutet sie etwas anderes.

Die Main Street ist verlassen und der Mond steht am Himmel wie eine schmale Sichel. Sie sind als lockere Gruppe unterwegs, Daniel und Anatole, Lydia und Marion. In einer Macie’s-Tragetasche hat Marion zwei Flaschen Champagner dabei.

Daniel ist Anatoles Geschäftspartner, und er tut so, als befände er sich in einem Madonna-Video. Er trägt eine enorme, geknotete Perlenkette, einen engen schwarzen Rock, blauen Rollkragenpullover und ein Barett mit Strass-Brosche auf dem langen blonden Haar. In samtweichem Falsett singt er «Like a Virgin». Anatole hüpft mit ihm herum und versucht vergeblich, so mondän und geheimnisvoll zu wirken wie der Mann mit der Löwenmaske im Video. Mit fließenden Bewegungen verwandelt Daniel die Main Street in einen venezianischen Kanal. Mal steht er in einer Gondel, mal auf einer gebogenen Brücke, oder er befindet sich in einem Palast, und die Gazevorhänge wehen in der Brise der Adria.

Daniel ist der Starfriseur bei Reflexion – ohne ihn wäre der Salon in einem Monat pleite. Außerdem ist er ein bisschen verrückt. Abends nimmt er Ecstasy und streift im Fummel durch die Straßen von Poughkeepsie, so überzeugend, dass kaum jemand ihn für einen Mann hält. Im vorigen Monat stoppte ihn die Polizei wegen Alkohol am Steuer, als er mit seinem Golf ohne Licht herumfuhr. Zuerst glaubte der Beamte, er hätte einen falschen Führerschein dabei. «‹Daniel›? Gute Frau, was soll das heißen?»

Lydia und Marion sind ganz ins Gespräch vertieft und ignorieren Daniels und Anatoles Mätzchen. Marion erzählt Lydia, wie reizend die beiden zu ihr sind, und dass sich ihr Leben geändert hat, seit sie sich kennen. Lydia seufzt – Marion ist nur die Letzte einer langen Reihe von Daniel-und-Anatole-Groupies, Frauen, die die beiden für Magier halten. In einer anderen Stadt wäre es vielleicht ein berühmter Therapeut oder ein Tanzlehrer. Hier sind es Daniel und Anatole – die sich auf diese einsamen Frauen spezialisiert haben und ihnen teure Färbungen aufschwatzen, sehr spezielle und langwierige Haarkuren. Sie sind mit ihr verabredet – Komm am Samstag, bring Champagner mit, wir gestalten dich neu. Es wird wundervoll sein und dein Leben verändern, Püppchen.

Lydia, die nur wegen des Champagners dabei ist und um am Samstag nicht allein zu sein, findet das traurig. Diese dicke Frau ist ja total aufgekratzt; sie ist aufgekratzt, weil sie glaubt, was sie ihr eingeredet haben, dass dieser Abend wirklich ihr Leben verändern wird. Alles wird anders. Sie wird sich verlieben.

Pass bloß auf, will Lydia Marion sagen. Aber sie tut es nicht. Sie geht neben Marion, als würde ihr Daniels und Anatoles Herumgehopse nicht gefallen. Sie springen in einen trockenen Brunnen. Daniel tut, als planschte er in einem unsichtbaren Wasserstrahl.

Marion soll ihre eigenen Erfahrungen machen, denkt Lydia. Sie mag sie sowieso nicht besonders; sie ist ein fetter, armseliger Eindringling. Da sie selbst etwas übergewichtig ist, oder zumindest überzeugt ist, es zu sein, hasst Lydia gnadenlos alle fetten Frauen.

Marion trabt in ihrem wallenden kornblumenblauen Kleid daher, mit Prinzessin-Diana-Schuhen und -Strümpfen, und Lydia denkt: Wer zum Teufel bist du? Welchem Hutmacher auf welcher verrückten Teeparty bist du entlaufen?

Aber Marion ist betrunken und redselig. «Sind sie nicht großartig?» Sie zeigt auf die beiden tanzenden Gestalten. «Ich finde das alles so interessant. Frauen wie wir.»

«Was meinst du damit, ‹Frauen wie wir›?»

Einen Augenblick wirkt Marion, als wollte sie einen Rückzieher machen, aber dann springt sie tapfer ins kalte Wasser. «Ach, du weißt schon. Schwulenmuttis.»

«Ich halte mich nicht für eine Schwulenmutti», sagt Lydia höflich. Sie will, dass Marion leidet.

«Was weiß denn ich. Ich meine, ich will weder dich noch sonst jemand beleidigen oder so. Wir sitzen doch alle im selben Boot. Rede ich zu viel? Ich hab vorher schon ’ne ganze Menge getrunken, um mir Mut zu machen.»

Anatole und Daniel drehen im Mondlicht ihre Pirouetten. «Like a Virgin» kreischen sie den leeren Gebäuden entgegen. Im Eingang eines Spielwarenladens heben zwei Schwarze eine Whiskeyflasche im braunen Packpapier, um ihnen zuzuprosten, «Ja, ja, ja», singen sie im heiseren Chor. «Weiße Mädchen», rufen sie. «Kommt her, lutscht mir den Schwanz, weiße Mädchen.»

Daniel dreht sich zu Anatole um. «Wollen wir?»

«Klingt gut. Ich wette, die haben riesige Schwänze.»

«Hotdogs wie Unterarme.»

«Monsterdödel.»

«Vorficht mit den Fähnen!»

Daniel und Anatole stolzieren Arm in Arm auf sie zu und johlen vor Spaß. Den beiden Schwarzen kommt das anscheinend komisch vor. Sie verschwinden im Schatten und schwenken dabei die Flasche, als könnten sie damit die Geister vertreiben, die sie gerufen haben.

«Sind sie nicht verrückt?», meint Marion.

«Das machen sie nur für dich», kommentiert Lydia trocken und ein wenig geistesabwesend. «Sie wollen dich in Stimmung bringen, bevor sie sich über dein Haar hermachen. Sei vorsichtig.»

«Ich bin auf alles gefasst.»

Dann poltern sie die Stufen zum Reflexion hinauf. «Sieht eher aus wie Chez Barbarella», räumt Anatole ein. «Fühlt euch wie zu Hause.»

Auf Zehenspitzen und mit weit ausgebreiteten Armen nimmt Daniel ein Bild von der Wand. Es ist fast so groß wie er selbst – ein Calvin Klein-Poster von einem eingeölten Model in Unterhosen vor dem Hintergrund einer blendend weißen Wand. Voller Sehnsucht blickt er an der Kamera vorbei nach rechts. Sieht er Matrosen, die in den Hafen kommen? Jungen, die nackt am Strand toben? Über ihm der blaue Himmel von Mykonos. Daniel wischt die Glasplatte sauber und arrangiert mitten auf dem Bild geschickt eine Koks-Pyramide, genau über dem Nabel des Models. Mit seiner American Express-Karte teilt er den Koks in acht lange, dünne Linien, Gitterstäbe über dem nackten Körper. «Die Droge ist ein schreckliches Gefängnis», lacht Daniel und lädt Marion und Lydia ein, sich zu bedienen. «Befreien wir den Burschen.» Anatole kümmert sich um die Champagnerflasche. Er öffnet ein Fenster, lehnt sich weit hinaus und schießt den Korken in die Nacht.

«So solltet ihr immer arbeiten», sagt Marion und beugt sich tief über das Bild, das eine Nasenloch zugedrückt.

«Nur zu, Mädchen», ermuntert sie Daniel und fährt mit den Händen durch sein langes blondes Haar; dann schüttelt er es genüsslich. «Schnüffel an seinem Schritt.»

«Bring mich nicht zum Lachen. Das wird teuer.»

«Hört mal, ihre Idee gefällt mir.» Anatole gießt Champagner in Plastikbecher. «Wir berechnen Mitternachts-Preise. Damit kriegen wir die Kunden vom Astor Place. Sie werden in lila Cadillacs aus der City zu uns kommen.»

«Träum weiter, Schatz», schnurrt Daniel und beugt sich über die Linie auf der Glasplatte. «Ah» – er richtet sich auf und holt tief Luft – «dieser Kaffee macht wach.»

Anatole schiebt eine Kassette in den Player auf dem Kassentresen: Orchestral Manœuvres in the Dark. Lydia bewegt sich im Rhythmus der Musik durch den Raum. Die Frisier-Utensilien wirken im grellen Licht fremdartig und wundervoll. Sie ist gelangweilt, aber es ist ihr egal. Sie ist gern hier, wenn keine Kunden da sind, sondern nur sie drei; wer die Geheimnisse dieser Räume kennt, kann seinem Körper entfliehen.

Daniel und Anatole haben Marion in einen Stuhl gesetzt und mit einem Tuch abgedeckt, als wollten sie sie operieren. Daniel ist aufgeregt und gesprächig – erst wenn er Haare sieht, wird er richtig lebendig. Jetzt wirkt er wie ein Junge beim ersten Sex. Er umstellt sie mit Spiegeln und betrachtet sie aus jedem möglichen Winkel. «Puppe, das wird der Haarschnitt deines Lebens», versichert ihr Anatole. Daniel schnippt mit der Schere durch die Luft; er formt in Gedanken ihre Frisur. Mit der Hand fährt er durch ihre dicke dunkle Mähne. «Richtig irisches Haar», sagt er. «Typisch irisches Landei.»

«Ich will nicht wie ein Landei aussehen», sagt Marion.

«Natürlich willst du das nicht. Sondern raffiniert. Sehr kurz, denke ich mir. Kantiger Bürstenschnitt. Klug.»

«Und dieses Braun geht gar nicht», ergänzt Anatole.

«Vielleicht ein schrilles Blond?» Daniel schaut sie noch immer an wie ein Maler, der sein Model ausmisst. «Ich glaube, schrilles Blond wäre perfekt. Marilyn bei den Marines. Ich betone den Manhattan-Cut und rhythmisiere die Spannungen, das wird großartig.»

«Ich lege mein Leben in eure Hände», sagt Marion und hält ihren Becher hin, damit sie ihn nachfüllen. «Ich lehne mich einfach zurück und mache ein Nickerchen, und wenn ich aufwache, bin ich jemand anderes. Gefällt euch das?»

«Puppe, das nenn ich Vertrauen. Du bist klasse. Was hältst du von richtig dramatischen Farben?»

«Zum Beispiel?»

«Anatole, hol die Folien. Hier, siehst du, wie sie leuchten? Prisma-Folien, in einem Monat sind sie ausgewaschen. Sie schaden dem Haar nicht.»

Marion denkt nach.

«Sag schon Ja», drängelt Anatole. «In hundert Jahren sind wir alle tot, vielleicht schon in zehn. Was macht’s, wenn du vorher ein bisschen Spaß hast?»

«Klar», sagt Marion. «Warum nicht? Aber gebt mir noch mehr Champagner.»

«Wir könnten Strähnchen machen», sagt Daniel und trommelt mit den Fingerspitzen gegen sein Kinn, ein Künstler tief in Gedanken. «Hinten ein Wippsterz in Aubergine» – er gestikuliert ausdrucksvoll um ihren Kopf herum, formt den neuen Look mit den Händen – «und an den Seiten abwechselnd dieses hübsche Weinrot und Stahlblau.»

«Soll sie uns vorher nicht besser schriftlich Carte blanche geben? Was sagt unser Anwalt dazu?»

«Ich unterschreibe alles», sagt Marion. Sie ist ziemlich betrunken. Koks und Champagner heben sie wie eine Welle aus Licht zur Decke empor und verleihen ihr grenzenlosen Überblick. Mit einer einzigen Bewegung klappt Daniel Marions Lehne nach hinten, sie schreit «Huch!» – und hängt rücklings über dem Waschbecken. Energisch hält er ihren Kopf unter den Wasserstrahl und massiert das Haar mit Shampoo. Plötzlich riecht es im Raum nach frischer Kokosnuss. Ausspülen, dann der Festiger mit Weizen und Honig. «Wie wär’s mit Sesampaste?», albert Marion unter Daniels langen, kräftigen Fingern.

Lydia findet es nicht so lustig, wie sie gedacht hatte. Plötzlich wird sie eifersüchtig auf die Aufmerksamkeit, die Daniel und Anatole Marion schenken. Das überrascht sie, aber sie kann nichts dagegen tun. Sie sitzt seitlich auf der Fensterbank und schaut hinab zur Main Street, eine menschenleere Betonwüste mit ein paar verstreuten Bäumen, die im schwachen Mondlicht nicht gerade magisch wirken. Sie denkt, Bin ich auch so? Anatole und Daniel zeigen sich von ihrer schlimmsten Seite – Daniel scheint Anatole immer weiter zu diesem verzweifelten Tuntentrash anzustacheln, der am Ende nur herzlos und zerstörerisch ist. Würde sie Marion nicht verabscheuen und als Eindringling fürchten, als verwirrenden Spiegel ihrer eigenen Lage, sie täte ihr leid. Doch so – kein schöner Gedanke – erscheint ihr alles, was die Hände der beiden mit ihr anrichten, als eine Art süßer Rache.

Als sie wieder zum Trio hinüberschaut, sitzt Marion aufrecht im Stuhl, auf dem Kopf eine enge durchlöcherte Gummimütze. Sie könnte ein Versuchskaninchen in einem Science-Fiction-Film sein. Daniel wirkt wie eine demente Marilyn Monroe als Laborantin, während er mit so was wie einer Häkelnadel Haarsträhnen durch die Löcher zieht. «Au», schreit Marion halb im Ernst, halb im Spaß, «das hat wehgetan.»

«Das ist Kunst – was hast du erwartet, Püppchen?»

«Au.» Marion zuckt unter Daniels Stochern in der Gummifolterkappe zusammen.

«Schon fertig.» Daniel tätschelt ihre Hand. «Du hast’s überlebt. Jetzt bleichen wir.»

«Was sagt ein Bleichgesicht am Marterpfahl?», fragt Anatole.

«Jetzt wär ich lieber eine Rothaut», antwortet Daniel.

«Hast du das selbst gehört?»

«Ich hab’s mir ausgedacht, Schätzchen.» Er tunkt einen kleinen Pinsel in eine Schale und schmiert die Bleiche auf die freigelegten Haarsträhnen. Beiläufig sagt er, «Ich glaube, das Bleichgesicht ist ohnmächtig.» Und das ist sie. Sie schnarcht, den Kopf zurückgelehnt und den leeren Champagnerbecher im Schoß wie ein Lieblingsspielzeug. Unter Daniels Händen stirbt das üppige Braun ihrer Haare und wird weiß wie Gebein. Daniel hält ihren Kopf noch einmal über das Waschbecken und lässt das Wasser laufen. Prustend wacht sie auf, mit wild umherblickenden Augen. «Professor, es lebt, wir haben ein Lebewesen erschaffen», ruft Daniel. «Alles in Ordnung», beruhigt er Marion. «Jetzt können wir pinseln. Mondrian wird vor Neid erblassen.»

Er taucht eine Bürste in die Schüssel, hält kurz inne und denkt nach. Dann verkündet er, «Nächster Halt Glamourville.»

Anatole schaut Marion an. Ihr Glaube an Daniel ist rührend. Bewusstlos, mit gelblichem Gesicht sieht sie aus, als würde sie mit dem Schlimmsten rechnen und ergeben daran glauben, dass es das Beste ist. Mit übertriebenen Gesten trägt Daniel das Aubergine forsch und reichlich auf.

Anatole summt zur OMD-Kassette, bildet stumm mit den Lippen die Worte, obwohl er die meisten gar nicht kennt. Er ist fröhlich, alles scheint vollkommen – dieser Augenblick, dass all diese Menschen hier beisammen sind. Marion ist bewusstlos, Daniel schmiert Aubergine, Lydia sitzt auf der Fensterbank und nippt am Champagner. In einer solchen Situation fühlt er sich am wohlsten. Gleichzeitig fühlt er sich leer und will nicht hier sein. Lieber wäre er bei Chris.

Das ist sein großes Geheimnis. Was er auch tut, wie viel Spaß er auch hat, es bedeutet nichts ohne Chris. Die Sehnsucht nach Chris beherrscht sein Leben seit zwei Jahren, seit dem Tag, als er ihn an einem Nachmittag im Juni in der Metro von New York nach Poughkeepsie getroffen hat. Er war den Tag über zum Einkaufen in der City gewesen. In Croton-Harmon müssen die Fahrgäste nach Poughkeepsie umsteigen. An diesem Nachmittag war der Anschlusszug noch nicht eingefahren, und die Fahrgäste standen auf dem offenen Bahnsteig und warteten, als ein Gewitter aufzog – dicke Regentropfen und gewaltige Blitze über den grünen Hügeln, die den Bahnhof umgeben. Das Licht war gespenstisch, wie es bei plötzlichen Gewittern manchmal der Fall ist, und Anatole machten die Blitze Angst. Er erinnerte sich, was ihm sein Vater gesagt hatte, als er noch ein Kind war: Wenn du den Donner hörst, weißt du, dass er dich nicht getroffen hat. Aber das Warten auf den Donner war unerträglich. Überall am Himmel zuckten Blitze, und man wusste nicht, ob sie treffen würden: Dieser Moment oder der nächste konnte dein letzter sein.

Zitternd stand er da mit seinem Regenschirm und widerstand dem Drang, sich hinzukauern; dabei fragte er sich, ob es zutraf, dass Regenschirme wie Blitzableiter wirkten. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und wandte sich an die Person neben sich, um mit jemand Kontakt aufzunehmen, der in derselben Notlage war wie er.

«Um nach Poughkeepsie zu kommen setzt man doch gern sein Leben aufs Spiel.»

«An Ihrer Stelle würde ich Abstand halten», sagte der Fremde. «Hier ist es nicht sicher, Gott hat mit mir noch ein paar Rechnungen zu begleichen.»

Genau in dem Moment zuckte ein Blitz, und kurz darauf grollte der Donner. Anatole schaute den Mann an, mit dem er gesprochen hatte – und es war ziemlich verrückt, er glaubte, der Donner habe einen Engel erschaffen: nass bis auf die Haut, das goldene Haar vom Regen an den Kopf geklebt.

«Gott trifft nicht besonders gut.» Anatole lachte nervös.

«Warten Sie’s ab.» Chris grinste. «Er hat ’ne Menge Munition.»

In dem Moment hielt der Zug nach Poughkeepsie am Bahnsteig. Schnell stiegen sie ein und setzten sich einander gegenüber zu beiden Seiten des Gangs. Wind und Regen peitschten den silbernen Hudson und die grüngrauen Hügel. Kurz darauf kam die Sonne heraus. Als der Zug Poughkeepsie erreichte, hatte Anatole praktisch alles erzählt, was es über ihn zu erzählen gab, und bei der Gelegenheit erfahren, dass der umwerfende Fremde Chris Havilland hieß, im Plattenladen an der Academy Street arbeitete und am selben Tag wie er Geburtstag hatte, am ersten Juli, genau in der Mitte des Jahres.

Später am Abend rief er Lydia an.

«Na, wie war’s in New York?» Sie wusste, dass er wenig Lust gehabt hatte, hinzufahren.

«Du wirst es mir nicht glauben. Ich bin ein Wrack. Lydia, meine Liebste, ich habe den Mann meiner Träume getroffen.»

«Schon wieder? Ist er über achtzehn?»

«Lydia, er wird dir gefallen. Er hat mir seine Telefonnummer gegeben und gesagt, ich soll ihn anrufen. Er sieht aus wie David Bowie.»

«David Bowie ist alt.»

«Er sieht aus, wie David Bowie ausgesehen hat. Wie auf dem Cover von ‹Station to Station›.»

Nach ein paar Tagen brachte er es fertig, Chris anzurufen. Zuerst schien sich Chris nicht an ihn zu erinnern, und Anatole verlor den Mut, doch dann machte es Klick und Chris klang plötzlich ganz begeistert. «Ah, der Zug», sagte er. «Natürlich. Wollen wir essen gehen? Ich mag den Mailänder. Sind Sie schon mal dort gewesen?!»

Nach vier Gläsern Wein sind beide entspannt und redselig. Anatole gefällt es, bei Kerzenlicht dazusitzen und in dieses unglaublich perfekte Gesicht zu schauen. Ich kann nicht glauben, dass ich so viel Glück habe, sagt er zu sich selbst. Einfach jetzt hier zu sein. Anatole ist auch für kleine Dinge dankbar. Deshalb muss man ihn einfach mögen.

«Wie schön, in dieser Stadt einen interessanten Menschen zu treffen», sagt Chris. «Du warst so witzig in dem kleinen Regenschauer …»

«Das war ein Gewitter …»

«… dem kleinen Regenschauer. Mir hat er gefallen. Weißt du, ich bin seit einem Jahr in Poughkeepsie und kenne niemanden. Ich habe noch keinen getroffen, den ich kennenlernen möchte. Ich bin hier nicht aufgewachsen. Ich stamme überhaupt nicht aus dem Osten. Ich bin aus Denver.»

«Denver.» Anatole war noch nie westlich von Buffalo, wo er als Kind seine Cousins besucht hat. «Und was hat dich hierherverschlagen?»

«Man könnte sagen, ich arbeite für meinen Vater. Genauer gesagt, der Plattenladen, den ich leite, Über den Wolken – er gehört ihm. Das hat irgendwas mit Steuern zu tun – ich weiß es nicht genau; will es nicht wissen. Ich arbeite da nur. Mit Platten zu tun zu haben gefällt mir sehr gut.» Er lacht verlegen und steckt sich eine Zigarette an. «Die Anwälte meines Dads kümmern sich ums Geschäftliche.»

«Du musst ein gutes Verhältnis zu deinem Dad haben», stellt Anatole fest.

«Nein», Chris lacht sarkastisch auf. «Genau gesagt kommen wir überhaupt nicht miteinander klar. Dass ich hier bin, gehört zu einem Deal. Mein Dad ist ziemlich taff, er war Colonel bei der Luftwaffe. Dann setzte er sich zur Ruhe, stieg ins Immobiliengeschäft ein – und hat damit unglaublich viel Geld verdient. Wir zogen in immer größere Häuser, er kaufte Boote und Wohnmobile. Er hat mich hierhergeschickt, um mich loszuwerden, verstehst du? Ich flog immer wieder von der Schule, irgendwann war ihm das zu peinlich. Er hatte Angst, ich würde eines Tages als Kellner oder so im East Village enden. Dad wollte einen anständigen Sohn. Deshalb nehme ich sein Geld. Ich weiß auch nicht. Vielleicht versuche ich, auf diese Weise mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er mag nun mal die falschen Dinge an mir. Vielleicht habe ich einfach Angst, auf eigenen Füßen zu stehen, weil ich weiß, dass ich scheitern werde. Deshalb lasse ich ihn für mich sorgen.»

Er schaut in sein Weinglas, als wäre das ein faszinierender Anblick. Anatol sieht ihn an und wagt nicht, etwas zu sagen, das vielleicht dumm klingen würde.

«Nein», sagt Chris plötzlich, «ich sag dir, woran es liegt. Als ich klein war – es ist das Erste, woran ich mich erinnern kann –, haben wir Schlangenlaufen gespielt, Dad und ich. Wir balancierten auf einer kleinen Steinmauer am Rand der Terrasse, er war der Kopf der Schlange und ich ging hinterher. Ich bin runtergefallen und habe mir den Arm gebrochen; den Ellbogen aufgeschlagen. Ich glaube, das ist der Grund für alles.» Er schweigt, dann stöhnt er laut, fast verzweifelt. «Ach, mir ist das schnurzegal. Sonst rede ich nicht über so was, Anatole. Es interessiert mich nicht. Ich wollte dich nur auf die Probe stellen.»

«Aha?» Anatole ist etwas verwirrt. «Habe ich bestanden?»

Chris schaut ihn über die flackernde Kerzenflamme hinweg an. «Das merken wir dann schon, oder?»

Sie blicken sich eine Minute lang an, keiner schaut weg. Anatole ist ganz benommen, er hat Angst. Dann senkt Chris den Blick zur Tischplatte und steckt sich eine Zigarette an. Anatole findet es umwerfend, wie Chris die Zigarette hält. Allein deswegen möchte er auch rauchen.

«Ich bin erschöpft», sagt Chris. «Ich hatte einen schlechten Tag und rede zu viel.»

«Ich finde es klasse.»

«Ach, irgendwann findest du das auch langweilig, keine Sorge.»

Später geht Anatole dieser Satz nicht mehr aus dem Kopf, der Satz «Irgendwann findest du das auch langweilig». Für ihn gäbe es nichts Schöneres, als sich mit Chris Havilland zu langweilen. Er weiß nicht, ob er ihn jemals wiedersieht. Er weiß nicht, ob der Abend «in Ordnung» war.

Aber Chris meldet sich wieder. Den ganzen Sommer treffen sie sich einmal die Woche zum Trinken oder um zusammen essen zu gehen. Chris gibt nie wieder so viel von sich preis. Er kokettiert, wird nur selten ernst. Anatole bestreitet den größten Teil des Gesprächs.

Und dennoch – eines feuchten Augustabends stehen sie auf dem Restaurantparkplatz neben ihren Wagen, und beide haben keine Lust, nach Hause zu fahren. «Und jetzt?», sagt Anatole. Er ist plötzlich sehr nervös. Ist dies der Moment, auf den sie sich den trägen Sommer über zubewegt haben? Beim vorletzten Abendessen hatte er erwähnt, dass er mit Männern schläft, er hatte nichts zu verbergen. Chris hatte höflich zugehört, ohne etwas zu sagen. Es scheint sich nicht auf ihre Beziehung ausgewirkt zu haben. Und heute Abend sagt Chris, «Das kann ewig so weitergehen, oder?»

«Was meinst du damit?»

«Wir umkreisen uns gegenseitig.» Er lacht. «Es ist verrückt.»

Anatole weiß nicht, was er sagen soll. Ihm ist klar, dass er etwas antworten sollte. Er ist sich der Gelegenheit bewusst und auch, dass er sie gerade verpasst, aber ihm fällt keine passende Erwiderung ein.

«Komm doch noch auf einen Absacker mit zu mir», schlägt er vor.

Es entsteht eine Pause; er wartet darauf, dass Chris Nein sagt. Selbst die Nacht scheint einen Moment innezuhalten und ihnen zuzuhören, um zu erfahren, wie die Sache ausgeht.

«Klar», sagt Chris und lächelt. «Ein Absacker.»

In Anatoles Wohnung – große viktorianische Räume, dunkles Holz, viele Möbel, die er von seiner Großmutter geerbt hat – setzt sich Chris auf ein Sofa, und Anatole trägt ein Tablett herein, eine Kristallkaraffe mit Scotch, Gläser und eine Schüssel Eis.

«Irre», sagt Chris.

«Ich bin nervös, wenn ich Gäste habe, und dann übertreibe ich.»

Sie sitzen nebeneinander auf dem Sofa und trinken schweigend. Die Wohnung fühlt sich groß, aber gemütlich an. Anatole versucht, das schwierige Thema anzusprechen. «Es ist schon komisch, wenn ich daran denke, wie alles anfing. Ich hatte ja keine Ahnung, was kommen würde.» Er schaut Chris an. Es ist peinlich, so nebeneinanderzusitzen, also wagt er den Sprung ins kalte Wasser. «Es ist schwer, über so was zu reden, stimmt’s?» Er lacht, dann wird er wieder ernst. «Ist es okay, wenn ich sage, dass du in diesem Sommer mein Leben verändert hast? Dass ich jetzt lebendig bin. Ist das okay?»

Er schaut, ob Chris Anstalten macht zu gehen, aber das tut er nicht.

«Also, was ich sagen will ist, ich glaube, ich hab mich irgendwie in dich verliebt.»

Als er das sagt, legt er Chris die Hand auf die Schulter. Sein Herz schlägt so schnell, dass er Angst hat, einen Herzinfarkt zu bekommen.

«Okay.» Chris lacht halbherzig, aber freundlich. Anatole wartet darauf, dass er weiterspricht, ihn berührt, irgendwas. Aber nichts passiert. Chris hebt Anatoles Hand von seiner Schulter und tätschelt sie. Dann sagt er, «Ich mag dich, Anatole.»

«Verstehst du, was ich sagen will?», fragt Anatole.

«Ich hab’s verstanden.» Chris ist entschlossen, aber sanft. «Denk dran, du solltest Abstand wahren. Blitze.»

«Ich will doch, dass sie einschlagen. Mein ganzes Leben warte ich darauf.»

Chris lächelt freundschaftlich und schüttelt den Kopf. «Ich hatte Angst davor.» Er nimmt einen Schluck Scotch. «Jetzt werde ich gehen. Ruf mich bald an, okay?»

Niemals wieder waren sie sich so nah wie in diesem Moment – dieser Pegelstand wurde nicht wieder erreicht. Aber Anatole erinnert sich daran. Er ertappt sich dabei, dass er in Augenblicken wie diesem daran zurückdenkt, und dann fühlt er sich weit entfernt von allem, was um ihn herum geschieht, all dem Geplapper und Getue. Immer wieder muss er daran denken, obwohl seit dieser Nacht mehr als zwei Jahre vergangen und Chris und er beste Freunde geworden sind, wie sie es nennen, beste Freunde, er bekommt davon einen Kloß im Hals. Der höchste Augenblick seines Lebens. Er hat mit vielen anderen Jungs geschlafen, er hat mit Daniel geschlafen – das ist etwas anderes. Hier war er einer Sache unglaublich nah gekommen – er hat keinen Namen dafür, weiß nicht einmal genau, was es ist. Er weiß nur, dass es ihm wichtiger ist als alles andere im Leben.

«Hey, Puppe», sagt Daniel. Er tätschelt Marions Wange, dann gibt er ihr einen leichten Schlag, um sie zurückzuholen. Sie zuckt, als sie das Bewusstsein wiedererlangt. «Lass die Augen zu, Süße. Dein Herz hat eine Weile ausgesetzt. Wahrscheinlich hast du schon über deinem Körper geschwebt, stimmt’s?»

«Sind wir fertig?», murmelt sie benommen. Gehorsam lässt sie die Augen zu.

Daniel betrachtet sie schweigend. «Damit kommst du direkt in den Himmel», sagt er. «Du musst garantiert keine Minute warten. Patti LaBelle fällt in Ohnmacht, wenn sie davon hört.»

«Ich trau mich nicht zu kucken.» Marion gibt sich alle Mühe, lange genug bei Bewusstsein zu bleiben, um den ersten Blick in den Spiegel voll auszukosten, den ersten Blick auf dieses andere Ich, das sie unbedingt werden wollte und das ihr so unerreichbar schien.

Doch diese Schlacht hat sie verloren.

Daniel spricht zu der schon wieder leblosen Gestalt vor seinen Augen. «Schätzchen, deine Selbstbeherrschung ist bewundernswert.» Er toupiert das Haar an den Seiten, dann runzelt er die Stirn, zieht fast einen Schmollmund, während Anatole sich mit aufgerissenen Augen die Fingerspitzen an die Schläfen presst und mit den Lippen ein stummes Huch formt.

Lydia verfolgt das alles kühl und nachdenklich. Sie fühlt sich meilenweit von diesen Albernheiten entfernt. Sie ermüden sie, ihre Späße werden irgendwann langweilig. Aber sie sind ihre Freunde. Anatole ist der beste Freund, den sie hat. «Schwulenmutti» – Marions Worte ärgern Lydia, aber sie verfolgen sie auch.

Es ist kaum zu glauben, dass diese Sache zwischen ihr und Anatole schon so lange gehalten hat. Andererseits haben sie alles gemeinsam durchgestanden: Die Nähe zwischen ihnen ist stärker als das Gefühl, in eine Falle getappt zu sein, ohne Sinn und Zweck. Ich sollte mich mit Männern treffen, die zu haben sind, sagt sie zu sich selbst, ich sollte einen Mann finden, den ich lieben und heiraten kann. Aber sie ist gelähmt; sie fragt sich, ob die Lähmung von Anatole ausgeht. Schließlich ist es sicherer, hier dabei zu sein – Anatole und Daniel zuzuschauen, auch wenn ihr nicht wirklich gefällt, was sie machen –, als allein loszuziehen, im Let’s Dance einsam am Rand des Geschehens zu stehen und auf den Mann zu warten, der wirklich zählt, durch den sich alles ändert und der niemals kommt. Irgendwann hat sie den Mut verloren.

Als sie sich am Bard College im zweiten Jahr beurlauben ließ, sechs katastrophale Monate in New York verbrachte – in einer von Ratten und Kakerlaken verseuchten Wohnung zwischen Avenue A und B, in die zweimal im Monat eingebrochen wurde, die Nachbarn ein Saxofonspieler, der dreihundert im Monat für Heroin ausgab, und eine Dragqueen, deren Kreischen sie nachts wachhielt – und dann zurück nach Poughkeepsie flüchtete, in die Arme ihrer Mutter, zu ihren alten Freunden und dem Leben, das sie kannte, war Anatole für sie da gewesen.

Sie denkt nur selten an diese Niederlage. Es ist ein privates Versagen, mit dem sie leben muss wie mit der Erinnerung an das Baby, das sie in ihrem ersten Jahr am Bard abtreiben ließ. Manchmal, selbst jetzt noch, spürt sie morgens beim Aufwachen eine unendliche Sehnsucht nach der Lower East Side, ihrer pittoresken Armut und dem umtriebigen Leben auf den Straßen.

Manchmal denkt sie an Demian, einen Jungen, mit dem sie befreundet war. Er war Dichter, trug immer schlichte Arbeitskleidung und abgewetzte schwarze Lederschuhe – auf dem Kopf eine griechische Seemannsmütze, die Haare schwarz und ungewaschen. Sie weiß noch, wie sie die Nacht mit ihm verbrachte, sein süßlich-fettiges Haar streichelte und den Duft seines kraftvollen Körpers atmete, während er wild, ja, voller Verzweiflung in sie eindrang. Nachher weinte er und erzählte ihr von seinem Liebhaber Marc, dem einzigen Menschen, den er wirklich liebte; Marc lebte in Bellevue und hatte versucht, ihn zu töten. Manchmal (sie denkt an Anatole) ist es schwer, nicht bitter zu sein. Obwohl es natürlich nicht ihre Schuld ist; niemand ist an irgendetwas schuld, oder alles ist Gottes Schuld, und dann ist es sowieso egal.

Sie hält den Mythos aufrecht, dass sie eines Tages nach New York zurückkehrt, dass sie nur deshalb in Poughkeepsie ist, um wieder Tritt zu fassen – aber Jahr um Jahr fällt es schwerer zu glauben (und sie befürchtet, dass sie die Einzige ist, die noch daran glaubt), dass sie nicht für immer hierbleibt, sondern zur Lower East Side und zum College zurückkehren wird. Was auch immer das Leben für sie bereithält – und sie ist neunundzwanzig, der Ernst des Lebens hat längst begonnen –, es ist genau das Leben, das sie jetzt führt.

Es war Anatole, der ihr geholfen hat, dieses lange Exil von dem, wie ihr Leben sonst hätte verlaufen können, zu ertragen. Er hat sie aufgemuntert und abgelenkt, mit ihr geweint und getrunken. Anatole und Daniel – sie beweisen, dass es überall Leben gibt, dass es wie Unkraut plötzlich emporsprießt, selbst dort, wo man es nicht für möglich hält.

Sie schaut zu, wie die beiden in ihren Bemühungen um Marion eine Pause einlegen, um das Ausmaß des Schadens festzustellen.

«Meinst du, wir sollten die Feuerwehr rufen?», fragt Anatole. «Oder wenigstens einen Schlauch bereithalten, wenn sie aufwacht?»

Aber Daniel gefällt das Ergebnis, er triumphiert. Mit einem letzten Tusch holt er Marion zurück ins Leben – zwei kräftige Schläge auf die Wangen. Erst setzt er sie aufrecht hin, dann dreht er den Stuhl herum, damit sie sich im Spiegel betrachten kann. Im Spiegel sieht sie, verwandelt – ihr neues Ich.

Wie genau, fragt sich Lydia, würde man wohl den Ausdruck auf Marions Gesicht beschreiben, als sie zum allerersten Mal ihr neues Ich erblickt?

Abendsonne durchflutet die Küche. Während er auf Anatole und Lydia wartet, schneidet Chris Endivien und wirft sie in eine blaue Porzellanschüssel. Er gibt gebackene Paprika hinzu, sechs geviertelte sonnengetrocknete Tomaten. Er presst Zitronensaft, hackt Knoblauch und Dill. Dies könnte einer jener perfekten Augenblicke sein: Jede Fläche, jeder Gegenstand schwimmt im Licht.

Vielleicht sind es solche Augenblicke, in denen Chris seine Höchstform erreicht: unmittelbar bevor die anderen kommen. Alles befindet sich in Übereinstimmung, Spannungen balancieren sich aus wie in einem Musikstück. Für kurze Zeit kehrt Ruhe ein, eine Perspektive wird gefunden und wieder verworfen.

Chris sieht, wie Anatole und Lydia aus Lydias Chevrolet steigen und auf dem Bürgersteig näher kommen. Ihre Art, sich zu berühren, so anmutig, selbstironisch – auf Chris wirken sie wie ein Ehepaar. Er ist der unverheiratete Freund, den beide mögen und der mit der Ehefrau eine Affäre hatte, von der der Mann nichts weiß.

Er denkt selten an die Nacht, in der er Lydia gefickt hat. Er verbietet es sich, denn die Erinnerung ist immer da, er muss nicht daran denken, um sich der Sache bewusst zu sein: Sie hängt über den perfekten Augenblicken wie eine Wolke, die nicht nur mit Regen droht, sondern mit Gewitter, Verwüstung, ganze Städte können fortgeschwemmt werden.

Was war sein wichtigster Grund, nach Poughkeepsie zu ziehen? Doch wohl, eine andere Stadt zu verlassen, in der er zu viele Menschen verletzt hatte. Er kann nicht daran denken, an das Jahr in Ithaca mit John, den Sommer mit John und Michelle in dem großen, kahlen Haus. Falls es möglich ist, eine Seele zu verwunden, dann ist es dort geschehen. Und jetzt, dreieinhalb Jahre später, befürchtet Chris, dass alles wieder von vorn anfängt, unter anderen Umständen, mit anderen Menschen – aber dennoch dasselbe. Wie kann er zulassen, dass es sich hier wiederholt, nachdem er aus furchtbaren Vorfällen so schmerzvolle Lehren gezogen hat?

Anatole hatte ihn mit Lydia bekannt gemacht. Sie trafen sich nach der Arbeit bei Bertie’s auf ein paar Drinks. Manchmal gingen sie ins Kino, oder Anatole kochte für sie. Sie kannten sich zwei oder drei Monate, als ihr jüngerer Bruder Craig aus Boston zu Besuch kam. Chris mochte Lydia – sie gefiel ihm von Anfang an, weil sie schnell, zickig und großzügig war. Aber ihren Abglanz in ihrem Bruder zu sehen – er war dünner, klarer definiert – vermittelte Chris einen völlig neuen Eindruck. Die Ähnlichkeit mit ihrem Bruder veränderte sie, vermittelte Chris ein erweitertes Verständnis. Wenn er sie in ihm wiedererkannte, konnte er auch ihn in ihr sehen.

Die beiden waren bei ihm zum Essen; Anatole hatte etwas anderes zu tun. Chris wusste nicht mehr, weshalb Anatole mit so verhängnisvollen Folgen verhindert gewesen war.

Es wurde spät. Alle drei – Chris, Lydia und ihr Bruder – hörten Musik von Chris’ neuem CD-Player und tranken Scotch.

«Ich bin müde», gähnte Lydia, «richtig schön müde. Ich könnte sofort einschlafen.»

«Dann gehen wir», sagte Craig.

«Nein, warum denn. Ich lege mich einfach aufs Bett und mache ein Nickerchen. Redet nur weiter. Ich höre euch gern zu. Ich mache nebenan die Augen zu und höre euch reden.»

Beide schauten ihr nach, als sie den Raum verließ. Sie schwiegen, waren beinah ein wenig schüchtern. Den ganzen Abend hatten sie sich lebhaft unterhalten, in den Worten des anderen so viele Anknüpfungspunkte gefunden, dass sie sofort Freunde geworden waren, enge Freunde, was Chris faszinierte und zugleich misstrauisch machte.

Craig lag in einem Sessel, die Beine über die Armlehne geschwungen, barfuß, die Sneakers hatte er abgestreift. Waren sie trotz allem noch Fremde? Konnten sie ohne Lydia einfach weitermachen? Für eine Weile hatten sie sich nichts zu sagen, es war hoffnungslos. Doch plötzlich war die stille elektrische Spannung zurück, die zwischen ihnen bestand. Jetzt, fast zwei Jahre später, bekommt er nicht mehr zusammen, worüber sie geredet haben könnten. Aber welche gemeinsame Grundlage ihre Sätze auch schufen, darunter rauschte ein unterirdischer Fluss – man konnte ihn hören, manchmal ganz leise, manchmal so nah unter der Oberfläche, dass man glaubte, er würde im nächsten Augenblick hervorbrechen. Aber dazu kam es nicht. Vielleicht war Craig zu jung, um darauf zu achten – er war im ersten Jahr an der Bostoner Universität. Vielleicht dachte Chris sich das alles nur aus, und Scotch und späte Stunde verliehen ihrem unschuldigen Verhältnis alle möglichen Nuancen, die nicht wirklich existierten. Es wurde drei, dann vier.

Schließlich stand Craig auf, um zu gehen. «Es ist spät geworden», sagte er. Er war über das Wochenende hergekommen und musste schon in wenigen Stunden zurückfahren, um ein Philosophie-Referat zu schreiben. «Es war wirklich toll, mit dir zu reden», sagte er. «Ich hoffe, wir sehen uns wieder.» Lydia schien er vergessen zu haben. Vielleicht glaubte er, dass seine Schwester und Chris etwas miteinander hätten. Er fragte nicht, ob er sie wecken sollte, und auch Chris vergaß sie in dem intimen Moment, als sie sich die Hände schüttelten und die Hand des andern dabei ein klein wenig zu lange festhielten – Chris hatte gelernt, solche Berührungen als geheime, vielleicht sogar unbewusste Zeichen zu begreifen, Zeichen, die er nie eindeutig interpretieren konnte, die ihn jedoch jedes Mal faszinierten, wenn er sie wahrnahm – als nähme er damit Einfluss auf ein verborgenes, dem anderen noch unbewusstes Selbst.

Als er in sein Schlafzimmer kam, schlief Lydia tief und fest. Sie hatte die Schuhe abgestreift und die Decke über sich gezogen. Chris setzte sich aufs Bett und sagte leise «Lydia».

«Oh, hey, Chris.» Sie lächelte zu ihm hinauf, benommen und zufrieden. «Wo ist Craig?»

«Er ist schon gegangen. Nach Hause.» Er sagte nicht, Wir haben dich beide vergessen.

Sie schaute ihn nur an. Er konnte sehen, wie sie zu verstehen versuchte, was er damit sagen wollte. Ihre Augen wirkten verträumt, die Pupillen vom Schlaf geweitet.

«Er ist vor einer Weile gegangen. Du hast geschlafen. Jetzt ist es zu spät, um nach Hause zu gehen. Schlaf weiter.»

«Und wo schläfst du?»

«Ich lege mich einfach hier neben dich.» Er streifte die Schuhe ab und legte sich voll bekleidet neben sie. Sie legte die Arme um ihn, und er drückte sie fest an sich. Es war, als legte er die Arme um ihren Bruder.

Sie küssten sich. Ihr Mund schmeckte nach schalem Alkohol und Zigaretten. Wie würde Craigs Mund wohl schmecken? Es überraschte ihn, dass sie so schüchtern war; sie ließ zu, dass seine Hände herumwanderten, erwiderte seine Berührungen jedoch nicht. Er dachte, sie hätte ihm an anderen Abenden zu verstehen gegeben, dass sie gern mit ihm schlafen würde. Irrte er sich? War er schon wieder nur dumm und eitel? Oder war sie ganz einfach müde? Er schob die Hände unter ihren Rock und zog ihr das Höschen aus. Sie war ihr Bruder. Er ließ die Fingerspitzen über das Schamhaar des Bruders gleiten, umfasste den glatten Hintern ihres Bruders. Aber es war auch sie selbst. Sie küssten sich, um nicht reden zu müssen.

Er drang in sie ein und flüsterte, «Ich komme nicht in dir.» Sie lachte. Aber er kam nicht. Er pumpte ein paar Minuten, dann zog er ihn heraus. Nichts wurde befriedigt. Natürlich war sie nicht ihr Bruder. Sie war Anatoles beste Freundin. Er fühlte nur Panik, als hätte er in einer kurzen Verwirrung alles zerstört.

Sie schlief ein, bevor er ein einziges Wort sagen konnte, und als er am Morgen aufwachte, war sie schon aufgestanden und schluckte gerade eine Handvoll Aspirin-Tabletten. Sie witzelten ein wenig, während sie sich darauf vorbereiteten, den heftigen Kater zu ertragen, der ihnen bevorstand. «Wir können das irgendwann wiederholen, wenn du möchtest», sagte sie beiläufig zu ihrer Reflexion im Spiegel.

Er saß voller Panik auf der Bettkante, sein Kopf drohte zu platzen. «Was wiederholen?», fragte er.

Chris weiß, dass Anatole sterben würde, wenn er je herausfände, was in dieser Nacht geschehen ist. Ihre Beziehung hatte den angenehmen Status einer festen Freundschaft angenommen – nach jener Nacht vor zwei Jahren auf Anatoles Sofa, als sie aufrichtig miteinander gesprochen hatten, war nie wieder eine derart gefährliche Intensität entstanden. Sosehr ihn ihr Waffenstillstand auch erleichterte, war Chris doch auch ein wenig enttäuscht darüber, dass Anatole nach dieser Nacht anscheinend den Mut verloren hatte. Falls er sich Anatoles Liebe wünscht, dann nur, um sie in Schach zu halten. Er wünscht sie sich, wie er sich Beachtung wünscht – aber zugleich macht sie ihm Angst, Angst vor den Folgen für Anatole, falls unter der harmlosen Nähe ihrer Freundschaft sein Schmerz noch immer lodert wie der Flöz unter Centralia.

Welchen Namen man ihrer Freundschaft auch gibt, sein Verhalten Lydia gegenüber war ein Verrat. Das weiß er genau. Anatole hat sich ihm mit seiner Liebe anvertraut, und er hat ihn auf die schmerzhafteste Weise verraten. So und nicht anders würde Anatole es begreifen, sollte er es jemals herausfinden. Er hat mit Lydia nie wieder darüber gesprochen, und Chris ist sich sicher, dass Anatole nicht das Geringste weiß. Doch wie kann er von Lydia erwarten, sich niemals zu verplappern? Schließlich könnte es selbst ihm passieren. Er stellt es sich mit aller Deutlichkeit vor – spätabends geraten sie am Telefon über eine unwichtige Sache in Streit und legen es darauf an, sich gegenseitig mit verletzenden Bemerkungen zu überbieten. Dann wird sie es hinausschreien. Sie muss einfach. «Also, mit mir hat er geschlafen, Anatole – mich hat Chris Havilland gefickt.»

Der Satz ist einfach zu gut, um ihn sich zu verkneifen.