Breath Of The Dragon - Shannon Lee - E-Book

Breath Of The Dragon E-Book

Shannon Lee

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Beschreibung

*Ein Krieger formt sein eigenes Schicksal.* Der sechzehnjährige Jun träumt davon, seinen Wert als Krieger beim Hüterturnier unter Beweis zu stellen, das alle sechs Jahre stattfindet, um die magische Schriftrolle des Himmels einem neuen Hüter anzuvertrauen. Jun ist begierig darauf, sein Können unter Beweis zu stellen. Er hofft, dass ein Sieg den Stolz seines Vaters wiederherstellen und den schrecklichen Fehler wiedergutmachen würde, der ihre Verbannung von seinem Zuhause, seiner Mutter und seinem Zwillingsbruder zur Folge hatte. Doch Juns Vater verbietet ihm strikt die Teilnahme. Er ist überzeugt davon, dass Jun keine Zukunft als Krieger hat, zumal er nicht wie sein Zwillingsbruder mit einem Atemmal, einem Fleck von Drachenschuppen, und besonderen Fähigkeiten geboren wurde. Entschlossen, der nächste Hüter zu werden, versteckt sich Jun im Wagen von Chang und seiner Tochter Ren, die auf dem Weg in die Hauptstadt sind, wo das Turnier stattfinden wird. Während Jun an dem Wettbewerb teilnimmt, wird ihm schnell klar, dass er nicht nur um ein besseres Leben kämpft, sondern auch um das Schicksal des Landes und das Überleben aller, die ihm wichtig sind.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Shannon Lee & Fonda Lee

 

Breath of the Dragon

Vom Atem gezeichnet

(Band 1)

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Übersetzt von Patricia Buchwald

BREATH OF THE DRAGON – BAND 1

 

 

 

BREATH OF THE DRAGON

Copyright © 2025 House of Lee

First published in Great Britain in 2025 by Hodderscape

An imprint of Hodder & Stoughton Limited

An Hachette UK company

 

The right of Shannon Lee and Fonda Lee to be identified as the Authors of the

Work has been asserted by them in accordance withe the Copyright, Designs

and Patents Act 1988.

 

All rights reserved. No part of this publication may be reproduced, stored in a retrieval system, or transmitted, in any form or by any means without the prior written permission of the publisher, nor be otherwise circulated in any form of binding or cover other than that in which it is published and without a similar condition being imposed on the subsequent purchaser.

 

All characters in this publication are fictitious and any resemblance to real

persons, living or dead, is purely coincidental.

 

Arranged by LeeWay Media Group, LLC

Represented by Agence Hoffman GmbH

 

Translation Copyright © 2025 by VAJONA Verlag GmbH

 

Übersetzung: Patricia Buchwald

Korrektorat: Lara Gathmann und Michelle Markau

Umschlaggestaltung: Stefanie Saw

Satz: VAJONA Verlag GmbH

 

VAJONA Verlag GmbH

Carl-Wilhelm-Koch-Str. 3

08606 Oelsnitz

Für alle, die Bruce Lees Erbe mit Selbstverwirklichung, Wachstum und Einheit am Leben erhalten – und für die vielen, die noch folgen werden

P R O L O G

Vor zehn Jahren

 

Zwei Fremde kamen an einem Morgen mitten im Herbst, als hätte der kalte Wind, der durch die herabhängenden Äste der Ulmen raschelte, sie herbeigeweht. Durch einen Spalt im Fliegengitter konnte Jun das Gesicht seiner Mutter nicht sehen, als sie die Tür öffnete, aber er bemerkte, wie ihr Rücken und ihre Schultern sich anspannten. Sie trat zur Seite, verbeugte sich tief und sprach mit leiser, respektvoller Stimme.

»Ehrwürdige Aspects, ich … habe heute nicht mit Ihrem Besuch gerechnet. Ich fürchte, ich habe keine Mahlzeit vorbereitet, um Sie willkommen zu heißen …«

»Machen Sie sich keine Umstände.« Der Mann, der als Erster eintrat, war groß und hatte ein strenges Gesicht mit einer hohen Stirn, die durch seinen ordentlichen Haarknoten noch betont wurde. Die Frau, die ihm folgte, war jünger und hatte ihr langes schwarzes Haar zu einem Zopf gebunden. Beide trugen die schwarze Tunika mit den gelben Ärmelaufschlägen, die sie eindeutig als Aspects auswiesen. Selbst der sechsjährige Jun wusste, dass die Aspects der Tugend die Elite der Regierungsbeamten waren, aber was machten sie in seinem Haus und warum war seine Mutter so nervös? Warum hatte sie Jun und Sai gesagt, dass sie im Familienschlafzimmer bleiben sollten?

Die Besucher zogen ihre Schuhe aus, blieben aber in der Nähe der Eingangstür stehen. »Sie können mich Compass nennen«, sagte der Mann. »Das ist meine Schwester Aspect Water.« Juns Mutter verbeugte sich erneut und beeilte sich, Tontassen und eine Teekanne herbeizubringen, die nach dem Frühstück noch warm vom Herd war, aber Compass winkte die Gastfreundschaft ab. »Wo ist Ihr Mann, Mrs. Li?«

»Er … holt Feuerholz«, erklärte Juns Mutter mit einer Beiläufigkeit, die Jun als gezwungen empfand. »Er sollte bald zurück sein.«

Jun presste sein Auge gegen den Riss in dem Raumteiler, um einen besseren Blick zu bekommen. Sai bedeutete ihm drängend, zur Seite zu gehen, damit er auch etwas sehen konnte, aber Jun wollte seinen Platz nicht aufgeben. Aspects wurden zu den besten Kämpfern der Welt ausgebildet, das hatte Jun gehört. Compass und Water sahen nicht furchterregend aus, aber sie trugen Schwerter an ihren Hüften. Echte Schwerter!

Compass schaute an Juns Mutter vorbei, direkt zu dem Raumteiler, hinter dem Jun und sein Bruder versteckt waren. »Lassen Sie Ihre Kinder herauskommen, Mrs. Li. Es gibt nichts zu befürchten. Wir sollten uns alle bemühen, diesen Prozess freudig und einfach zu gestalten, nicht traurig.«

Jun sah, wie sich das Gesicht seiner Mutter mit einer Resignation verzog, die sie erfolglos zu verbergen versuchte. »Jun. Sai«, rief sie ihnen zu. »Kommt und begrüßt unsere geschätzten Gäste.«

Jun huschte hinter dem Raumteiler hervor; er platzte schon vor tausend Fragen und grübelte, ob die Fremden ihn ihre Waffen anfassen oder halten lassen würden. Sai zögerte einen Moment, dann folgte er wie immer direkt hinter Jun. Ihre Mutter brachte sie dazu, vor den Aspects stehen zu bleiben. Sie packte jeden von ihnen mit einer zitternden Hand an der Schulter.

»Eineiige Zwillinge.« Überraschung klang in Waters melodiöser Stimme mit. Sie lächelte zu den Kindern hinunter. »Wer von euch ist älter?«

Sai richtete sich auf, sein Selbstvertrauen war durch die Frage, die ihm die Leute immer zu stellen schienen, wiederhergestellt. »Ich bin ganze acht Minuten älter!«

Jun blickte missmutig auf seine Füße hinunter. Er verstand nicht, warum sein Bruder darauf stolz sein sollte. Sai war zwar der Erstgeborene, aber Jun war der Erste, der krabbeln, laufen und sprechen gelernt hatte. Seiner Meinung nach war das eine viel größere Sache.

Er öffnete den Mund, um den Fremden dies zu sagen, kam aber nicht dazu; Compass wandte sich an Juns Mutter und bemerkte mit scharfer Missbilligung: »Es ist Gesetz, dass ein Kind mit Atemzeichen dem Rat vorgestellt werden muss, wenn es sechs Jahre alt ist.«

Juns Mutter senkte den Blick und murmelte: »Ehrwürdiger Aspect, vergeben Sie mir. Meine Söhne sind erst letzten Monat sechs Jahre alt geworden. Ich war zu der Zeit krank, also haben wir die Reise nach Yujing verschoben. Ich … ich dachte, dass wir ein bisschen mehr Zeit hätten. Dass die Jungs mehr Zeit hätten, um zusammen zu sein.« Ihr Griff um Juns Schulter wurde fester, er zuckte zusammen und versuchte, sie abzuschütteln.

»Die Verzögerung war eine Vernachlässigung Ihrer Pflicht als Bürgerin und Mutter.«

Water berührte ihren Kollegen am Arm. »Zum Glück, Bruder Aspect, sind wir jetzt hier, und das Kind ist noch nicht zu alt, um eine richtige Ausbildung zu beginnen.« Sie deutete auf die Jungen. »Welcher von ihnen ist es?«

Compass richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf Jun und seinen Bruder. »Seltsam«, sagte er langsam. »Es war einfach genug für mich, den Aufenthaltsort des Kindes zu erspüren, aber jetzt, wo die beiden nebeneinander stehen, kann ich nicht sagen, wegen welchem der beiden wir gekommen sind. Könnte es sein, dass beide ein Atemzeichen haben?«

»Nein«, sagte Juns Mutter schnell. »Nur einer von ihnen hat das Zeichen. Sai, zeig es dem ehrwürdigen Aspect.« Sie half dem Zwilling zu ihrer Linken, sich aus seinem einfachen Leinenhemd zu befreien. Der Junge stand mit nacktem Oberkörper da und zitterte ein wenig unter den Blicken aller Erwachsenen im Raum.

Jun runzelte die Stirn und zappelte herum. Er verschränkte die Arme und schnaubte. Er und Sai waren gleich groß, sie hatten das gleiche Gesicht, die gleiche Stimme. Sie waren in jeder Hinsicht ununterscheidbar, bis auf eine Sache. In der Mitte von Sais Brust befand sich ein speerspitzenförmiger Fleck aus grünen Schuppen, jede einzelne kleiner als ein Fingernagel, hell und schillernd. Jun hingegen hatte am ganzen Körper glatte, normale Haut.

Jun hatte seine Eltern oft gefragt, warum er und sein Zwilling diesen einen eklatanten Unterschied hatten. »Niemand weiß, warum das Blut von Dragon bei den einen auftaucht und bei den anderen nicht«, hatten sie ihm erklärt. Immer wenn er über die Nicht-Antwort schmollte, sah seine Mutter unerklärlicherweise traurig aus. »Sei nicht neidisch auf deinen Bruder«, sagte sie ihm dann. »Sein Weg ist vorgezeichnet, während deiner offen ist. Nur weil du kein Atemzeichen hast, heißt das nicht, dass du nicht auf deine eigene Art begabt bist.«

Die Zusicherung hatte sich für Jun schon immer hohl angefühlt, und jetzt erst recht, als Compass Sai mit intensivem Interesse in seinem ruhigen Blick ansah. »Sai, stimmt’s?« Als Sai schüchtern nickte, sagte der Aspect: »Weißt du, was es bedeutet, ein Atemzeichen zu haben?«

Sai sagte leise: »Es bedeutet, dass Dragon mir eine besondere Fähigkeit gegeben hat, die ich nutzen soll.«

»Das ist richtig.« Compass’ Lächeln erreichte seine Augen nicht ganz, aber es machte seine Gesichtszüge weicher. Er sprach mit dem Jungen auf eine beruhigende Art und Weise, die darauf schließen ließ, dass er darin geübt war, Kindern zu begegnen und ihnen Dinge zu erklären. »Ich wurde auch mit einem Atemzeichen geboren.« Er zog den Ärmel seiner Tunika zurück und enthüllte eine Linie aus silbernen Schuppen, die an der Unterseite seines rechten Arms entlanglief. »Ich habe die Fähigkeit, andere Menschen mit Atemzeichen zu finden. Meine Gabe von Dragon hat mich zu vielen Kindern wie dir geführt. Diejenigen von uns, die Dragons Blut in sich tragen, haben die Verantwortung, ihre Gabe für das Allgemeinwohl einzusetzen. Wir müssen uns zu Aspects ausbilden lassen, um Ost-Longhan zu dienen und zu schützen.«

Sai schlang seine dünnen Arme ängstlich um die Taille seiner Mutter. »Muss ich Mama, Baba und Jun verlassen?«

Water kniete sich hin, um auf Augenhöhe des Jungen zu sein, und sprach freundlich zu ihm. »Als Aspect wirst du in der Sonnenpagode in Yujing leben und trainieren. Es ist ein ganz besonderer Ort, an dem die Schriftrolle der Erde aufbewahrt wird. Wenn du sehr hart arbeitest, wirst du vielleicht eines Tages einer der angesehenen Krieger, die die Stockwerke der Pagode bewachen. Deine Ausbilder werden dir helfen, deine natürlichen Fähigkeiten zu erkennen und zu verbessern. Du erhältst die beste schulische und kämpferische Ausbildung, die das Land zu bieten hat. Und obwohl du das Leben mit deiner Familie aufgeben musst, um dich dem Land zu widmen, wirst du viele neue Aspectgeschwister gewinnen.«

Sai starrte auf den Boden. »Aber ich will keine anderen Geschwister. Ich habe Jun.«

Juns Mutter wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. Sie umarmte Sai fest, bevor sie ihn eine Armlänge von sich schob. »Weißt du noch, wie oft ich mit dir darüber gesprochen habe, dass dieser Tag kommen würde? Und dass du unsere Familie sehr stolz machen würdest?« Ihre Stimme war zittrig und sie lächelte durch ihre Tränen hindurch.

Sais Lippen bebten und er sah Compass und Water an. »Wird meine Familie mich trotzdem besuchen können?«

»Ja. Zu besonderen Anlässen«, versprach Compass. »Die Familien der Aspects werden geehrt. Sie erhalten einen Wohnsitz im inneren Viertel von Yujing, wo die Regierungsbeamten und die Familien der Tugendhaften leben.«

»Was ist mit mir?«, meldete sich Jun zu Wort und war verwirrt, dass keiner der Erwachsenen ihn in das Gespräch einbezog oder ihn überhaupt beachtete. Wenn Sai an einen besonderen Ort gehen würde, um zum Aspect ausgebildet zu werden, würde Jun sicher auch mitkommen. Niemand hat jemals einen der Zwillinge von dem anderen getrennt. Er und Sai waren immer zusammen. Sie verbrachten keinen einzigen Tag getrennt.

»Weißt du, was deine Atemzeichenfähigkeit ist?« Water sprach noch immer mit freundlicher und sanfter Stimme zu Sai. »Mach dir keine Sorgen, wenn sie sich noch nicht manifestiert hat, aber manche Kinder wissen es in deinem Alter schon.«

Sai zögerte und trat auf der Stelle. Er schaute Jun schuldbewusst an: »Manchmal, wenn ich sehe, wie jemand etwas tut, kann ich es auch tun. Ich muss nicht üben oder mir von jemandem sagen lassen, wie man es macht. Ich weiß einfach, wie es geht.«

Compass und Water tauschten einen beeindruckten Blick. Water sagte: »Die Gabe der perfekten Nachahmung ist eine seltene und mächtige Atemzeichenfähigkeit.«

Jun konnte es nicht mehr ertragen. »Das ist nichts Besonderes, er macht mir nur nach!«, platzte er heraus und stampfte mit dem Fuß auf. »Sie können nicht ihn nehmen und mich nicht! Wir sind Zwillinge! Wenn Sai in einer Pagode leben und seine Kampfkünste trainieren darf, dann sollte ich das auch. Ich bin genauso gut wie er. Eigentlich bin ich sogar besser! Sehen Sie sich an, was ich kann!«

»Jun, hör auf!«, befahl seine Mutter und in ihrer Stimme schwang Wut und Panik mit. »Geh sofort zurück ins andere Zimmer und –«

Mit einem Schrei stellte sich Jun in die Pferdestellung und ließ eine Reihe von Schlägen los, die er gerade und kraftvoll ausführte, um seine beste Form zu zeigen. Aus dem Stand sprang er hoch und führte einen doppelten Jump-Front-Kick aus, dem er einen doppelten Spinning-Smash-Kick folgen ließ. Er schnappte sich den Besen seiner Mutter aus der Ecke und drehte ihn wie einen Stab um seinen Kopf und Körper, dann holte er aus und stieß das Ende wie einen Speer durch den Papierschirm, um das Möbelstück mit all seiner jungenhaften Kraft zu zerstören.

Als er sich mit dem Besen in der Hand umdrehte, warf er den zuschauenden Erwachsenen einen triumphierenden Blick zu. Seine Mutter schlug entsetzt die Hände vor den Mund. Die beiden Aspects starrten Jun mit einem ganz anderen Gesichtsausdruck an, als sie es noch vor wenigen Sekunden bei Sai getan hatten. Das Grinsen verschwand aus Juns Gesicht.

Compass ging auf Jun zu, riss ihm den Besen aus der Hand, warf ihn beiseite und stellte sich so nah vor ihn, dass er ihn weit überragte. »Wer hat dir das beigebracht, Junge?«, verlangte er, zu wissen.

Juns Mutter wurde ganz blass. »Bitte«, flüsterte sie, »ich kann es erklären –«

Die Tür öffnete sich. Juns Vater kam mit einem Bündel auf dem Rücken herein, begleitet von einem kalten Luftzug, der durch den Raum wehte, bevor er ihn wieder ausschloss. »In Dragons Namen, es wird kalt draußen –« Als er plötzlich die beiden Aspects im Haus bemerkte, den erschrockenen Gesichtsausdruck seiner Frau und Jun, der trotzig vor dem beschädigten Papierschirm stand, erstickten die restlichen Worte auf seiner Zunge. Sein Adamsapfel wippte in einem besorgten Schlucken. »Was … ist hier los?«

Endlich jemand, der ihm zuhören würde! Jun eilte zu seinem Vater und zeigte auf die beiden Fremden. »Baba, diese Leute sagen, dass sie Sai mitnehmen wollen, um ihn als Aspect auszubilden. Das ist nicht fair! Entweder soll er bei uns bleiben oder ich soll mit ihm gehen.«

Juns Vater legte eine Hand auf seinen Kopf, antwortete aber nicht. Seine Augen waren auf Compass gerichtet, während dieser sich mit langsamen Schritten näherte.

»Li Hon, einer Ihrer Söhne trägt das Atemzeichen von Dragon und ist dazu bestimmt, Ost-Longhan zu dienen. Normalerweise würde Ihrer Familie ein Ehrenplatz zustehen.« Die Stimme und der Gesichtsausdruck des Aspects wurden sehr ernst. »Aber es scheint, als hätten Sie verbotenes Wissen trainiert und gelehrt. Sie haben Ihre Söhne in den Gebräuchen der Gewalt unterrichtet.«

Compass bewegte seine Hand zum Griff seines Schwertes. Juns Mutter stieß einen gedämpften, ängstlichen Schrei aus und zog Sai an sich. Water blieb etwas hinter ihrem Partner stehen, griff aber nicht nach ihrer eigenen Waffe, obwohl ihre Schultern angespannt und ihre Miene wachsam waren.

Jun blickte alarmiert zu seinem Vater auf. Zu spät erinnerte er sich daran, dass seine Eltern ihm immer gesagt hatten, er solle mit dem, was er gelernt hatte, nie vor anderen angeben. Manche Leute würden es nicht verstehen, hatten sie gesagt. Ihm gefiel der Gedanke, dass die Kampfkünste ein Familiengeheimnis waren, aber er hätte nie gedacht, dass es sie in ernsthafte Schwierigkeiten bringen würde.

Juns Mutter schimpfte oft mit ihm: »Jun, du kannst nicht einfach tun, was dir gerade in den Sinn kommt! Du musst erst nachdenken.« Aber dann seufzte sie, lachte oder schickte ihn mit seinem Bruder nach draußen. In seiner Verzweiflung schaute er zu seiner Mutter, um sie zu beruhigen, und hoffte, den vertrauten Ausdruck nachsichtiger Verärgerung auf ihrem Gesicht zu sehen, aber sie wirkte überhaupt nicht verärgert über ihn.

Sie sah verängstigt aus.

»Lassen Sie das Bündel fallen, das Sie tragen«, befahl Compass.

Juns Vater machte einen Schritt zurück und schob Jun schützend zur Seite, als er sein Gewicht verlagerte. Für einen kurzen Moment sah es so aus, als würde er gegen die Aspects kämpfen wollen. Ein einzelner Mann gegen zwei Elitesoldaten des Rates. Juns Herz schlug ihm bis zum Hals, aber er hob seine kleinen Fäuste und war mit all seinem kindlichen Mut bereit, an der Seite seines Vaters zu kämpfen.

Der Moment der Spannung brach. Juns Vater warf einen Blick auf seine Frau und seine Söhne, dann entspannte er seine Haltung in widerstandsloser Kapitulation. Mit einer langsamen und nicht bedrohlichen Bewegung legte er das Bündel vor den Aspects auf den Boden.

Water bückte sich und wickelte das Tuch auf. Zum Vorschein kamen ein langer Stab, ein kurzer Stab, ein Speer, ein Breitschwert und ein langes Schwert – alles Waffen, mit denen Jun seinen Vater schon einmal hatte üben sehen. Compass schnappte entsetzt nach Luft. »Das ist streng verboten!«

»Aber ihr tragt Waffen!«, rief Jun entrüstet und deutete auf das Schwert an der Hüfte des Mannes.

»Wir sind die geschworenen Vertreter von Dragon«, schnauzte Compass ihn an. »Die Aspects der Tugend sind dazu ausgebildet, das Land zu schützen und den Frieden zu bewahren, damit die Menschen in Harmonie leben können. Wir kämpfen, damit ihr es nicht müsst!« Der Aspect drehte sich mit drohender Miene wieder zu Juns Vater um, die Stirn so stark gerunzelt, dass eine tiefe, wütende Furche über seine Stirn lief. »Wenn Sie Kindern beibringen, über Gewalt nachzudenken und sie auszuüben, fördern Sie die Aggression und Disharmonie in der Gesellschaft. Fähigkeiten, die darauf abzielen, zu verletzen oder zu töten, sollten nicht von jedem gelehrt und unbedacht eingesetzt werden. Das ist es, was uns vom vulgären, barbarischen Westen unterscheidet. Wir müssen uns sorgfältig vor solchen niederen Einflüssen schützen.«

Juns Vater presste seine Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Er begegnete Compass’ Blick für einen Moment, dann senkte er seinen Blick auf den Boden. »Mein Großvater war jahrzehntelang ein Meister der Kampfkunst, bevor der Bürgerkrieg Longhan in zwei Länder teilte. Ich habe als Junge von ihm gelernt und wollte immer nur meine Vorfahren ehren, indem ich sein Wissen bewahrte. Er lehrte mich, die Kampfkünste zu nutzen, um mich und andere auf friedliche Weise zu verbessern.« Er blickte mit Schmerz in den Augen auf Jun herab. »Ich übernehme die Verantwortung dafür, meinen Söhnen diese Fähigkeiten beigebracht zu haben. Jun zeigte schon in so jungen Jahren Talent und Interesse und wollte ständig lernen. Es schien mir falsch, ihn davon abzubringen.«

Der Aspect blieb ungerührt. »Ihre Verstöße gegen das Gesetz und die Gesellschaft werden mit einer Strafe von drei bis fünf Jahren Buße durch Arbeit geahndet.«

Juns Mutter stieß einen unterdrückten Schluchzer aus. Es war bekannt, dass Menschen unter den harten Bedingungen in den Arbeitslagern starben.

Li Hons Gesicht wurde blass. Er sank vor den Vollstreckern des Rates auf die Knie und sagte leise, aber bestimmt: »Ich werde jede Konsequenz akzeptieren, die die ehrwürdigen Aspects mir auferlegen. Bitte bestrafen Sie nicht den Rest meiner Familie. Sie sind unschuldig und haben nur meine Dummheit mitgemacht.«

Aber Jun wusste, dass das nicht stimmte. Einige seiner frühesten Erinnerungen waren, wie er seinem Vater beim Training zugesehen hatte. Sobald er stehen und einige der Bewegungen nachahmen konnte, hatte er unaufhörlich darum gebeten, es zu lernen. Es war also wirklich seine Schuld, dass er seinen Vater angefleht hatte, ihm etwas beizubringen, und dass er nun unvorsichtigerweise ihr Geheimnis verraten hatte.

Seine Sicht verschwamm vor Wut und Verwirrung. Baba, steh auf! Er wollte seinem Vater die Worte entgegenschreien, aber sie blieben ihm im Hals stecken. Wo war Li Hon, der große Kämpfer, dessen Bewegungen Jun so sehr bewunderte und dem er so sehr nacheifern wollte? Der Mann, der ängstlich auf dem Boden kniete und um Gnade bat, zeigte nichts von dem Stolz und der Stärke, die Jun immer an ihm beobachtet hatte, wenn er seine Schritte und Ausführungen mit den Waffen übte. Wozu all die Stunden des fleißigen Trainings, wenn er den Aspects nicht standhalten konnte, wenn er nicht kämpfte, wenn er es am nötigsten hatte?

Jun kniff seine Augen zu. Frau der vielen Hände, er betete zu Dragons Gemahlin, der barmherzigen Göttin, so wie seine Mutter es ihm an Tempeltagen beigebracht hatte. Ich habe einen Fehler gemacht, aber ich wollte es nicht. Ich nehme es zurück! Wenn du dafür sorgst, dass diese Leute verschwinden und alles wieder so wird, wie es vorher war, werde ich meinen Eltern nie wieder ungehorsam sein. Bitte!

Sai riss sich von ihrer Mutter los und rannte zu seinem Vater, der Compass und Water mit tränenreichem Verrat anschaute. »Ihr habt gesagt, dass die Aspects ihre Fähigkeiten für das Gute einsetzen. Ihr habt versprochen, dass meine Familie in einem schönen Haus in der Nähe der Sonnenpagode leben würde.« Sais Gesicht zitterte. »Ich werde nicht mit euch gehen! Ich will kein Aspect werden, wenn ihr Baba wegschickt.«

»Sai, geh zur Seite. Sprich nicht so respektlos mit Älteren«, befahl ihr Vater, dessen Stimme bis zur Unkenntlichkeit angestrengt war.

Compass blickte auf das Kind hinunter, das er gesucht hatte und das er so gerne in den Schoß der Aspects aufgenommen hätte. Sein Mund verzog sich vor Unentschlossenheit, da er offensichtlich nicht wusste, wie er mit einer so unerwarteten und widersprüchlichen Wendung der Ereignisse umgehen sollte. Er gab ein frustriertes Grummeln von sich. »Tu, was dein Vater sagt«, warnte er Sai, die Hand immer noch am Griff seines Schwertes.

Water trat lautlos neben ihren Kollegen und legte ihm eine Hand auf den Arm. »Bruder Aspect, vielleicht erfordert eine ungewöhnliche Situation eine ungewöhnliche Lösung«, sagte sie mit ruhiger Behutsamkeit. Compass blickte sie mit einem fragenden Blick an, als sie fortfuhr: »Wir sind gekommen, um ein Kind mit Atemzeichen zu finden und es nach Yujing zurückzubringen. Wie können wir erwarten, dass er sich bereitwillig und eifrig der geforderten Ausbildung eines Aspects widmet, wenn wir seinen Vater in ein Arbeitslager schicken, aus dem er vielleicht nicht zurückkehrt, und seine Mutter und seinen Bruder allein und unversorgt zurücklassen?«

»Li Hons Frau und seine Söhne haben ihn unterstützt«, sagte Compass und deutete auf die verängstigte Familie. »Sie haben sein inakzeptables Verhalten ignoriert, nein, sie haben ihn ermutigt.«

»Doch Li Hon hat keine Gewalttaten gegen seine Nachbarn begangen, keinen Verrat am Rat, und nicht einmal jetzt setzt er seine verbotenen Fähigkeiten ein, um sich uns zu widersetzen. Wir sollten dem jungen Sai ein frühes Beispiel dafür geben, dass die Aspects nicht nur gerecht, sondern auch barmherzig sind.« Ihre Worte waren sanft, aber sie hatten ein überzeugendes Gewicht, eine Autorität, die ihr Alter nicht vermuten ließ.

Offenbar hatten sie eine Wirkung auf den anderen Aspect. »Was hast du vor?« »Lass das Kind mit dem Atemzeichen und seine Mutter wie geplant nach Yujing kommen«, schlug Water vor. »Li Hon und sein anderer Sohn sollen wegen illegaler Gewaltausübung für fünf Jahre aus Ost-Longhan verbannt werden, so lange, wie er normalerweise durch Arbeit Buße tun müsste. Wenn sie nach fünf Jahren der Gewalt abgeschworen haben, können sie in den Osten zurückkehren und sich ihrer Familie wieder anschließen.«

Compass dachte eine Minute lang über Waters Worte nach, die sich wie eine Ewigkeit anfühlte. Schließlich nickte er und ließ seine Hand vom Griff seines Schwertes sinken. »Wie immer sprichst du weise und kannst einen Weg durch jedes Problem finden, Schwester Aspect«, stimmte er widerwillig zu.

Water kniete sich vor Jun und Sai. »Ihr seid beide sehr mutig«, sagte sie und wischte ihnen die Tränen aus den Gesichtern. »Aber auch jung und töricht. Ihr wurdet mit unterschiedlichen Schicksalen geboren. Aber wenn ihr euch beide dem widmet, was Dragon für euch vorgesehen hat, werdet ihr euch wiedersehen.«

Es ging alles viel zu schnell. Nichts davon ergab für Jun einen Sinn. Er wollte weglaufen und sich verstecken, sich in eine Ecke werfen und weinen, schreien und kämpfen, aber es war, als wären die Muskeln seines kleinen, zitternden Körpers durch die eine schreckliche Sache, die er verstand, gelähmt – er war dabei, alles zu verlieren.

Das morgendliche Training mit seinem Vater, die Umarmungen seiner Mutter vor dem Schlafengehen, die Reisschüssel, die sie zu viert bei den Mahlzeiten herumreichten, den Baum hinter ihrem Haus, auf den man gut klettern konnte, die drei gefleckten Hühner in ihrem Garten, das sonnige Flussufer, an dem er und Sai immer planschten und Steine warfen. Das Schlimmste von allem war, dass er sich selbst verlor, denn Jun war die Hälfte eines Ganzen, und dieses Ganze war dabei, sich zu trennen.

Sai legte seine Hand in die von Jun und drückte sie, als ob er sie nie wieder loslassen würde.

»Stehen Sie auf, Li Hon«, befahl Compass unwirsch. »Schwester Water wird Sai und seine Mutter nach Yujing bringen. Ab hier werden sie nichts mehr brauchen. Es wird für alles gesorgt sein. Ich werde Sie und Ihren anderen Sohn zur Schlangenmauer begleiten, wo Sie heute Abend die Grenze in den Westen überschreiten werden. Sie haben zwei Stunden Zeit, Ihre Sachen zu packen und sich zu verabschieden.«

K A P I T E L 1

 

 

Jun beobachtete aus dem Schatten heraus, wie sein Vater dem maskierten Mann gegenüberstand, beide mit gezogenen Breitschwertern, bereit zum Kampf. »Hier endet es«, sagte Li Hon mit grimmiger Entschlossenheit im Gesicht. »Heute Abend stelle ich meine Ehre wieder her, indem ich dein Leben beende.«

»Du Schurke, du hast keine Ehre wiederherzustellen.« Der Mann mit der weißen Maske stürmte mit einem Schrei und einem bösartigen Diagonalhieb seiner Klinge vor. Juns Vater begegnete dem Angriff frontal, und die Waffen trafen mit einem metallischen Klirren aufeinander. Die beiden Männer stöhnten vor Anstrengung, als sie versuchten, sich einen Vorteil zu verschaffen. Ihre Klingen trennten sich und trafen in einem silbernen Wirbel wieder aufeinander. Schnelle Schläge wurden mit geschickten Paraden abgewehrt, Stößen und Hieben ausgewichen und gekontert. In der Stille war das schwere Atmen der Kämpfer das einzige Geräusch, das Jun hören konnte.

Er hat es immer noch drauf, stellte Jun fest, während er die sicheren Angriffe und die schnelle Verteidigung seines Vaters beobachtete. Li Hons maskierter Gegner war mindestens fünfzehn Jahre jünger als er, aber Jun hatte keinen Zweifel daran, dass die Kampfkünste seines Vaters besser waren.

Li Hon täuschte einen offensichtlichen, einfachen Angriff vor. Als sein Gegner seine Waffe zur Verteidigung hob, versetzte er ihm einen Tritt in den Unterleib, woraufhin dessen Oberkörper nach vorn sackte, und trat ihm dann mit dem Knie hart in die Brust, sodass er auf Hände und Knie fiel. Mit einem Schrei triumphaler Wut ließ Juns Vater sein Schwert auf den Hals des Maskierten niedersausen.

Jun unterdrückte ein Gähnen vor Langeweile.

Er wusste, was als Nächstes passieren würde: Bevor der tödliche Schlag kommen konnte, drehte sich der maskierte Mann auf dem Boden und holte mit seinen Beinen zu einem wirbelnden, doppelten Spin-Kick aus, der Juns Vater in die Kniekehlen traf und ihn zu Boden schleuderte. Er verlor seinen Griff um das Schwert und es flog in die Luft. Mit perfekt getimten Reflexen sprang der maskierte Mann auf die Füße und ergriff das Breitschwert. Er richtete die Klinge gegen die Kehle von Juns Vater.

Li Hon hob kapitulierend seine Hände. »Du hast gewonnen, Ghostface«, keuchte er in bitterer Niederlage.

Der Sieger riss sich mit einem dramatischen Schwung die weiße Maske vom Gesicht. »Ghostface war nur ein Name, um die Herzen der Kriminellen zu erschrecken. Ich war es, Shang, der Bürgermeister der Stadt, die ganze Zeit!«

Applaus brandete auf, als die Frau auf der anderen Seite der Bühne weinend in die Arme des Helden stürzte. »Wir werden nie wieder getrennt sein«, erklärte sie. Das Publikum jubelte, als die beiden sich leidenschaftlich küssten und der Seidenvorhang sich vor die Szene senkte.

An der Hintertür des Opernhauses stehend, stieß Jun einen langen Seufzer aus. Sein Vater könnte den anderen Schauspieler mit Leichtigkeit besiegen, wenn es ein echter Kampf wäre, aber sein Vater führte keine echten Kämpfe mehr. Stattdessen choreografierte Li Hon alle Kampfszenen für die Cheon Opera Company, die in ganz West-Longhan für ihre aufwendigen Kostüme und Bühnenbilder und ihre dramatischen, actionreichen Inszenierungen bekannt war. Wenn Li Hon auf der Bühne auftrat, spielte er immer nur Nebenrollen und Bösewichte. Manchmal schlüpfte er in das Kostüm des Hauptdarstellers, um die schwierigeren oder gefährlicheren Stunts auszuführen, wenn dieser dazu nicht in der Lage war, aber Juns Vater war nie der Held. Er hatte nie einen Kampf auf der Bühne gewonnen. Und die Bühne war der einzige Ort, an dem er noch kämpfte.

Als Platzanweiser und Wachmann im Opernhaus sah Jun seinen Vater jeden Tag verlieren. Und er hasste es. Er suchte die Menge ab und hoffte, dass er vielleicht einen betrunkenen Zuschauer rauswerfen musste, um sich von der Peinlichkeit abzulenken. Dieses Glück hatte er aber nie.

Als sich der Vorhang wieder hob, war das vorherige Bühnenbild durch einen schlichten schwarzen Hintergrund ersetzt worden. Ein Mann mit verbundenen Augen saß auf einem Hocker an der einen Seite der Bühne. Ihm gegenüber stand eine junge Frau in einem fließenden blaugrünen Seidenkleid mit langen Ärmeln, die bis zum Boden reichten. Ein Schweigen legte sich über die aufgeregte Menge. Der blinde Flötist Chang und seine Tochter reisten durch ganz West-Longhan und kamen nur ein paar Mal im Jahr in die Stadt Cheon, aber über ihre seltenen Auftritte wurde immer gesprochen. Dieser Auftritt war kein Teil der regulären Show, und alle wussten, dass sie sich auf etwas Besonderes freuen konnten.

Chang hob die Flöte an seine Lippen und begann zu spielen. Ein hörbares Seufzen der Anerkennung entwich den Zuschauern, als die ersten beschwörenden Töne die Luft erfüllten und Ren, die Tochter des Flötisten, zu tanzen begann. Die wortlose Geschichte, die sich auf der Bühne abspielte, war allen bekannt und doch zeitlos in ihrer Bedeutung. Während Ren sich mit makelloser Präzision drehte und sprang, ihre Füße lautlos auf der hölzernen Bühne, veränderte sich die Kulisse, die von geschickten Bühnenarbeitern ausgetauscht und von erfahrenen Beleuchtern erhellt wurde. Das Blau des Ozeans erhob sich hinter den Darstellern; leuchtendes Grün erinnerte an Gras und Bäume, die zu wachsen begannen; Schatten verwandelten sich in die Silhouetten von Tieren und Menschen. Dies war die älteste Legende von Longhan: Dragon, der die Welt zum Leben erweckt.

Changs Musik steigerte sich zu einem ergreifenden Crescendo, während Ren ihre langen Ärmel im Rhythmus ihrer Bewegungen durch die Luft wirbelte, wobei jede ausbalancierte Pose und jeder athletische Sprung dem Publikum ein beeindrucktes Keuchen entlockte. Aus dem Strudel der hellen, sich drehenden Seide zog die Flötistentochter zwei breite, blassgelbe Bänder hervor, die sich in weißem Licht in die Luft erhoben und von dünnen, für das Publikum unsichtbaren Fäden von oben gezogen wurden. Sie tanzte die Rolle von Dragons Gemahlin, der Frau der vielen Hände, ätherisch anmutig, ihr Gesicht perfekt zu einem geheimnisvollen, wohlwollenden Lächeln geformt, während sie die Schriftrollen des Himmels und der Erde herunterbrachte, um die Menschheit zu führen.

Die letzten Töne der Musik verklangen in der Stille und Ren verbeugte sich tief. Das Opernhaus brach in tosenden Applaus aus, als der Vorhang zum letzten Mal an diesem Abend fiel. Viele im Publikum tupften sich die Tränen aus den Augen.

Jun räusperte sich gegen den Kloß in seinem Hals. Er konnte sich nicht vorstellen, dass jemand anderes als Ren die Rolle der schönen Göttin so perfekt spielen würde. Dragon war mächtig, aber die Frau der vielen Hände war mitfühlend. Das Letzte, was Juns Mutter zu ihm gesagt hatte, als sie an der Kreuzung gekniet und sein Gesicht in ihre Hände genommen hatte, war: »Sei gut zu deinem Vater, Jun. Bete zur Gesegneten Gemahlin und sie wird dich erhören. Sie wird uns wieder zusammenbringen.«

Er wollte ihr glauben. Er hatte an jenem Tag und an vielen Tagen danach um Hilfe gebetet, doch er hatte sie nie erhalten. Selbst die Frau der vielen Hände konnte die Zeit nicht zurückdrehen und einen einmal begangenen lebensverändernden Fehler nicht ungeschehen machen. Das Letzte, was seine Mutter ihm je gesagt hatte, war eine Lüge.

Nach zehn Jahren waren Kindheitserinnerungen und ein tiefer, vertrauter Schmerz, wie von einer bleibenden Verletzung, alles, was Jun von seiner Mutter und seinem Zwillingsbruder Sai noch hatte. Dieser frühe Teil seines Lebens fühlte sich unwirklich an, wie ein ganz anderes Leben.

Jun hielt den sich unterhaltenden Theaterbesuchern die Tür auf, als sie in Kaufmannsroben und Gelehrtenhüten aus dem Opernhaus strömten. Sie öffneten Fächer aus Elfenbeinknochen und fächelten sich Luft zu, während sie in die wartenden Sänften stiegen. Als sich die Türen hinter den letzten von ihnen schlossen, ging Jun den Flur hinunter und hinter die Bühne, um durch den engen Gang zur Garderobe seines Vaters zu gelangen. Li Hon hatte sein Kostüm ausgezogen und aufgehängt und wusch sein Bühnen-Make-up in einem kupfernen Waschbecken ab. In einer schlichten Tunika, Leinenhosen und Sandalen, die Haare aus dem steifen Zopf gelöst, beugte sich Juns Vater über das Waschbecken und hustete heftig, ein tiefes, nasses Geräusch. Er sah ganz anders aus als der posierende Antagonist aus dem Theaterstück.

»Baba«, sagte Jun. »Du solltest einen Arzt aufsuchen.«

»Mir geht’s gut, es ist nur eine hartnäckige Erkältung«, sagte sein Vater und drehte sich nicht um, während er sein Gesicht mit einem Waschlappen abtrocknete. »Wir sollten das Geld für die wichtigen Dinge sparen.«

Das hatte Juns Vater im Laufe der Jahre immer wieder gesagt, damals, als ihr Plan darin bestanden hatte, genug Geld zu sparen, um die richtigen Beamten und Wachen zu bestechen, um Juns Mutter und Bruder aus dem Osten herüberzuschmuggeln – ein Plan, den sie längst aufgegeben hatten. Aber die Gewohnheit, sparsam zu sein, blieb bestehen, auch wenn das Ziel kaum mehr als ein unmöglicher Traum war.

»Wenn es dir ums Geld geht, solltest du um eine Gehaltserhöhung bitten«, sagte Jun zu seinem Vater. »Oder um eine Hauptrolle.« Jun hörte, wie der Hauptdarsteller, der Ghostface spielte, draußen im Flur mit einem Trio von Bewunderinnen plauderte und lachte.

»Die Gans mit dem längsten Hals wird als erste geschlachtet«, erinnerte Juns Vater ihn mit einem Grummeln. Das Auffallen war es gewesen, was sie überhaupt erst ins Exil getrieben hatte. Li Hon setzte sich auf einen Hocker und begann, die auf dem Boden gestapelten Waffen zu sortieren und zu reinigen. Der Umkleideraum war eng und zugig; das eine Fenster ließ sich nicht richtig schließen, und da der Raum auch als Abstellkammer diente, hatten die beiden kaum genug Platz, um sich zwischen den Kostümständern und Kisten mit Requisiten zu bewegen. Juns Vater hatte diese Garderobe schon so lange, wie er am Opernhaus arbeitete.

Wenn er nur mehr für sich selbst verlangen würde, dachte Jun. Oder sich zur Ruhe setzen würde. Sein Vater war noch nicht einmal alt, aber die schwache Beleuchtung der einzigen Öllaterne, die über ihm hing, zeichnete Schatten auf sein Gesicht und ließ ihn älter erscheinen. Es war unmöglich, sich nicht zu fragen, wie viel glücklicher und gesünder er hätte sein können, wenn alles anders gewesen wäre, so wie Jun es manchmal tat.

»Ich werde spät nach Hause kommen«, sagte Jun. »Heute Abend gibt es ein zusätzliches Sparringtraining.«

Juns Vater schürzte die Lippen, wischte die alten, stumpfen Bühnenschwerter mit einem Tuch ab und legte sie in eine Holzkiste. »Wen schickt Meister Song dieses Jahr zum Hüterturnier?« Li Hon stellte die Frage beiläufig, aber Jun bemerkte, wie sich die Hände seines Vaters vor Besorgnis langsamer bewegten.

»Er plant, Yin Yue zu schicken.« Jun musste dagegen ankämpfen, keine Grimasse zu schneiden.

Li Hons Schultern senkten sich unmerklich und seine Bewegungen wurden wieder lebhafter. »Gute Wahl. Der junge Mann ist talentiert. Er hat eine gute Chance.«

»Er ist nicht besser als ich«, erwiderte Jun hitzig.

»Jun.« Sein Vater schaute ihn mit dem bekannten strengen Blick an, der einer Belehrung vorausging. »Ich weiß, dass du gerne kämpfst, aber wenn du dich auf dein Studium konzentrierst, kannst du deinen Verstand einsetzen, anstatt deinen Körper so zu missbrauchen, wie ich es tue. Ich habe dir erlaubt, weiterhin mit Meister Song zu trainieren, weil es ein gutes Ventil für deine überflüssige Energie ist, aber ich möchte, dass du dir ein besseres Leben aufbauen kannst.«

Li Hon bestand darauf, dass sein Sohn für die kaiserlichen Prüfungen in zwei Jahren lernte. Wenn er einigermaßen gut abschnitt, konnte er darauf hoffen, einen Einstiegsjob im öffentlichen Dienst zu bekommen, und sich vielleicht zu einem kleinen Beamten oder lokalen Verwalter hocharbeiten – stabile, respektable Jobs, die nichts mit Kampfsport zu tun hatten, den er, so schlug Juns Vater vor, nebenbei betreiben sollte.

Jun trat mürrisch von einem Fuß auf den anderen, antwortete aber nicht. Sie hatten diesen Streit schon so oft gehabt, dass es sinnlos war, ihn noch einmal zu führen. Als die beiden mit kaum mehr als den Kleidern am Leib in den Westen gekommen waren, hatte Juns Vater ihm kein einziges Mal erlaubt, Kampfsport zu betreiben. Es war eine schreckliche Ironie, dass sie sich jetzt in einem Land aufhielten, in dem die Kampfkünste nicht nur erlaubt waren, sondern sogar gefeiert wurden, Juns Vater sich aber dennoch weigerte, ihn zu unterrichten.

Die ersten zwei Jahre in einem neuen Land, getrennt von Juns Mutter und Bruder und allem, was sie je gekannt hatten, waren schrecklich gewesen. Er erinnerte sich vor allem an lange Abschnitte dumpfer Einsamkeit, die von emotionalen Zusammenbrüchen unterbrochen worden waren. Sein Vater war oft schweigsam, zurückgezogen und deprimiert gewesen. Obwohl sie arm waren, hatte Li Hon Jun in die Schule geschickt, in der Hoffnung, dass er sich dort einleben und Freunde finden würde. Stattdessen hatten ihn die Kinder dort wegen seines östlichen Akzents gnadenlos schikaniert, und er hatte ständig Ärger wegen Prügeleien bekommen.

Jedes Mal, wenn Jun zerknirscht und mürrisch nach Hause gekommen war, hatte ihm sein Vater Briefe von seiner Mutter gezeigt, in denen stand, dass sie in Yujing lebte, dass Sai eine vielversprechende Ausbildung zum Aspect machte und dass sie sie vermisste und es kaum erwarten konnte, bis sie wieder zusammen sein konnten. »Dein Bruder ist zu Hause ein guter Schüler«, hatte Juns Vater ihn flehend belehrt und ihm das Papier vor die Nase gehalten. »Du musst hart arbeiten und auf deine Lehrer hören, damit du keinen Ärger bekommst. Du willst doch, dass deine Mama stolz auf dich ist, wenn du sie wiedersiehst, oder?«

Jun wünschte sich das wirklich sehr. Mit gelegentlichem Erfolg hatte er versucht, seinem Vater zu gehorchen, die Rüpel in der Schule zu ignorieren, sich nicht über Hunger oder zu kleine Schuhe zu beschweren und an den Tag zu denken, an dem sie endlich nach Hause gehen würden. An den Tag, an dem er so viel von den Gerichten seiner Mutter essen könnte, wie er wollte, und mit Sai über alles reden würde, so wie sie es nur miteinander und mit niemandem sonst konnten. Es schien jede Mühe wert zu sein, damit dieser Tag kommen würde.

Dann kam die Katastrophe. Die politischen Spannungen zwischen Ost- und West-Longhan eskalierten und die Schlangenmauer schloss sich praktisch über Nacht und machte die Grenze dicht. Beide Länder zogen ihre Botschafter ab und verhängten ein Handels- und Reiseverbot. Briefe von Juns Mutter kamen mit monatelanger Verspätung an, und wenn sie ankamen, waren Teile zensiert und geschwärzt worden. Juns Vater vermutete, dass auch ihre Antwortbriefe sie nicht erreichten. Sai, der sich in der Sonnenpagode aufhielt und sich zum Agenten des Tugendrats ausbilden ließ, bekam sie jedenfalls nicht.

Zunächst glaubten Jun und sein Vater, dass die Einschränkungen nur vorübergehend sein würden. Schließlich teilten Ost- und West-Longhan eine lange Geschichte und Kultur; ihre Völker waren die gemeinsamen Nachfahren Dragons. Sicherlich würde die diplomatische Krise gelöst werden. Li Hon sparte jedes Geldstück, das er durch seine tägliche Arbeit von morgens bis abends verdiente, bis Juns Mutter schriftlich darauf bestand, dass sie nicht in Armut lebten, nur um sie über die Grenze zu schmuggeln. Sie erklärte, dass Sai sich seiner Aspect-Ausbildung verpflichtet fühlte und den Osten nicht verlassen würde. Und Jun wäre in einem Land, in dem er das tun könnte, was er am meisten liebte, und in dem er sich ein besseres Leben aufbauen könnte. Es wäre das Beste, dass sie alle vorerst dort blieben, wo sie waren. Die Schlangenmauer würde sich eines Tages wieder öffnen, versicherte sie ihnen optimistisch, aber bis dahin forderte sie sie auf, ihr Leben in vollen Zügen zu genießen.

Das war der letzte Brief, den sie erhalten hatten.

Mit gebrochenem Herzen, aber dem Wunsch seiner Frau folgend, holte Juns Vater seine Kampfsportfähigkeiten wieder raus und fand einen Job als Stuntman bei der Operngesellschaft. Ihr Einkommen und ihre Lebensbedingungen verbesserten sich; sie lebten nicht mehr in einem einzigen zugigen Zimmer im ärmsten Teil von Cheon, sondern in einem kleinen Haus mit eigener Kochstelle und Plumpsklo. Die Schlangenmauer blieb geschlossen. Mit den Jahren verlor Jun seinen Akzent und die Hoffnung, jemals wieder mit seiner Mutter und dem Zwilling zusammenzukommen, von dem er vor so langer Zeit getrennt worden war. Doch als er den distanzierten Gesichtsausdruck des Mannes sah, der vor ihm auf dem Stuhl kauerte, wusste er, dass das nicht für seinen Vater galt.

Aber er wollte sich nicht streiten. Nicht ausgerechnet heute, wo er wieder einen Kampf vor sich hatte. Vielleicht willst du nicht mehr die Hauptrolle spielen, Baba. Aber ich schon.

Er wandte sich zum Gehen.

»Jun«, rief sein Vater ihm müde hinterher. »Bleib nicht zu lange weg.«

K A P I T E L 2

 

 

Draußen war die Stadt in lange, abendliche Schatten gehüllt. Der Staub, den Pferdehufe und Fußgänger von den trockenen Straßen aufgewirbelt hatten, hing in der unbewegten Luft. Die Dämmerung hatte die Temperatur gesenkt, aber es war immer noch ungewöhnlich heiß, selbst für den Spätsommer, und die roten Tonziegel auf den Dächern der umliegenden Gebäude waren von der Asche grau. Jun hatte gehört, dass die Waldbrände im Süden, die schlimmsten seit Jahrzehnten, für den gelblichen Dunst am Himmel verantwortlich waren, der den fernen, aber ständigen Anblick der Schlangenmauer verdeckte, die sich auf den bewaldeten Hügeln jenseits der Stadt abzeichnete. Ihre breiten Wälle waren in der Mitte geteilt und wurden Tag und Nacht von Soldaten der gegnerischen Armeen patrouilliert, um zu verhindern, dass jemand von einer Nation in die andere übertrat.

Jun hielt auf den Stufen vor dem Opernhaus inne. Ein überdachter Reisewagen stand vor den Doppeltüren, zwei angeschirrte Pferde warteten geduldig. Ren, die ihr wunderschönes blaugrünes Seidenkostüm zugunsten von schlichter Reisekleidung abgelegt hatte, führte den blinden Flötisten Chang mit einer Hand an einem seiner Ellbogen. Sie klopfte auf die spezielle Metallschiene an der Seite des Wagens und half ihm auf die Bank.

Jun rief ihnen zu: »Auf Wiedersehen, Onkel Chang. Gute Reise!«

Der Mann drehte sich zu Juns Stimme um und winkte ihm zu. »Halte dich von Ärger fern, junger Mann!«

Jun sprang die verbleibenden Stufen hinunter und kam vor Ren zum Stehen, die den hinteren Teil des Wagens schloss. »Du hast heute Abend gut getanzt«, sagte er. Er räusperte sich. »Wie immer, meine ich.«

Ren wischte sich die Hände ab, drehte sich zu ihm um und strich sich eine Haarsträhne von ihrer Wange. »Danke.«

»Also … ich nehme an, das war für eine Weile die letzte Show, die du hier spielst?«

Sie nickte. »Wir verbringen die Nacht im Phoenix Inn und verlassen morgen früh die Stadt. Sifu möchte, dass wir uns Zeit lassen, um nach Xicheng zu kommen.«

Ren nannte Chang ihren Sifu, weil der Flötist nicht ihr leiblicher Vater war, auch wenn er sie seit ihrer Kindheit aufgezogen hatte. Ren sprach nie über ihre leibliche Familie, sondern sagte nur, dass sie froh war, dass Sifu Chang sie als seine Tochter aufgenommen hatte. Jun warf einen Blick auf den Flötisten, der an einem Fleischbrötchen knabberte, während er darauf wartete, dass Ren ihr Gespräch beendete. Es wirkte nicht sicher für einen blinden Mann und eine junge Frau in Juns Alter, allein durch West-Longhan zu reisen – sie wären ein leichtes Ziel für Banditen –, aber als Jun das letzte Mal mit Ren über diese Sorge gesprochen hatte, hatte sie gelacht und ihm gesagt, er solle sich keine Sorgen machen; sie und Sifu seien es gewohnt, auf sich selbst aufzupassen.

Jun fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Wenn du nächsten Monat in Xicheng bist, bedeutet das, dass du das Hüterturnier sehen wirst, richtig?«

»Natürlich. Dort werden sich die größten Menschenmengen seit sechs Jahren versammeln, die nach dem Ende der Kämpfe jeden Tag Geld ausgeben wollen.« Als Jun auf seinen Füßen hin und her wippte und nichts erwiderte, zog sie eine schmale Augenbraue hoch. »Hast du nicht vor, dir das Turnier anzusehen? Als wir noch jünger waren, hast du ständig davon gesprochen, weißt du noch? Du sagtest, es sei dein Traum, mitzumachen.«

Jun zögerte. Er sah Ren nicht sehr oft und verbrachte nicht viel Zeit mit ihr, aber sie und Chang kamen seit Jahren regelmäßig nach Cheon, er kannte sie also, seit sie zwölf Jahre alt gewesen waren. Im letzten Jahr schien sie sich jedoch dramatisch verändert zu haben. Sie war schon immer groß und anmutig gewesen, auch schon als Mädchen, das bei den Auftritten seines Vaters hinter der Bühne mit ihm herumgelaufen war. Weil sie dem blinden Flötisten half, hatte sie auf Jun immer älter und verantwortungsbewusster gewirkt als andere Kinder in ihrem Alter, auf jeden Fall reifer als die Cheon-Jungs aus der Nachbarschaft. Ren war auch weltgewandt, denn sie war mit einem Wagen durch das ganze Land gereist und an so vielen Orten gewesen, die er noch nie gesehen hatte. Außerdem schien es ihm, als hätte sie ein erwachsenes Selbstbewusstsein entwickelt, von dem Jun sich insgeheim fragte, ob er es jemals haben würde. Auf der Bühne hatten sie und Chang heute Abend weniger wie Vater und Tochter gewirkt als vielmehr wie künstlerische Partner.

Und als sie die Rolle der Gesegneten Gemahlin getanzt hatte, schien es, als könnte niemand im Opernhaus die Augen von ihr lassen.

Jun rieb sich den Nacken und warf einen Blick über die Schulter, als würde er erwarten, dass sein Vater hinter ihm aus dem Opernhaus auftauchte. Er hatte das dringende Bedürfnis, sich jemandem anzuvertrauen. Er beugte sich zu Ren vor und senkte seine Stimme. »Ich habe die Altersgrenze für die Teilnahme am Turnier dieses Jahr knapp verfehlt.« Er war vor einer Woche sechzehn geworden. »Ich weiß, dass es unwahrscheinlich ist, dass ich teilnehmen kann«, fügte er eilig hinzu. »Die Iron-Core-Schule sponsert nur einen Teilnehmer, also wird Meister Song wahrscheinlich einen der älteren Schüler schicken. Aber heute Abend finden in der Schule Sparringkämpfe statt, damit Meister Song alle Anwärter bewerten kann, bevor er seine endgültige Entscheidung trifft. Wenn ich es schaffe, als Sieger hervorzugehen …« Er breitete die Hände aus und zuckte mit den Achseln. Jun versuchte, lässig und zuversichtlich zu wirken, obwohl er schon bei dem Gedanken daran nervös wurde.

Er verdrängte die Tatsache, dass er seinen Vater schon früher am Abend angelogen hatte und dass er es, falls er auserwählt werden sollte, verdammt schwer haben würde, sich zu erklären. Ganz zu schweigen davon, seinen Vater davon zu überzeugen, ihn nach Xicheng gehen zu lassen.

Jun biss sich auf die Lippe. Damit würde er sich auseinandersetzen, wenn es dazu kam. Li Hon sagte immer, dass er nur das Beste für seinen Sohn wollte. Jun musste seinen Vater nur davon überzeugen, dass das Beste nicht ein sicherer Regierungsjob in der Zukunft war, sondern dass er jetzt nach Großem streben sollte. Es war längst an der Zeit, dass sein Vater das Bedauern und die Schuldgefühle, die ihn seit zehn Jahren verfolgten, hinter sich ließ. In West-Longhan gab es Hunderte von Schulen, in denen die Kampfkünste gelehrt wurden. Kriegerisches Können wurde gefeiert – zu keiner Zeit mehr als beim Hüterturnier, bei dem die Jugendlichen des Reiches um die Ehre wetteiferten, zum Hüter der Schriftrolle ernannt zu werden. Der Hüter wurde als der beste Krieger des Landes anerkannt, weil er alle Rivalen in der Arena besiegt hatte. Ein Anwärter trainierte nicht jahrelang, um dann, wenn es darauf ankam, einen Rückzieher zu machen. Und schon gar nicht führte er für ein paar Münzen Scheinkämpfe auf einer Bühne auf. Der Hüter kämpfte wirklich, und er kämpfte, um zu gewinnen.

Ren hob ihr Kinn und musterte sein Gesicht, als würde sie seine Chancen einschätzen. Jun spürte, wie ihm warm ums Herz wurde, je länger ihre großen, prüfenden Augen auf ihm ruhten. »Ich würde nichts lieber tun, als zu sagen, dass ich den Hüter kenne«, erklärte sie. Mit einer geschmeidigen Bewegung zog sie sich auf den Fahrersitz des Wagens und nahm die Zügel der Pferde in die Hand. »Viel Glück heute Abend, Li Jun. Ich hoffe, ich sehe dich in Xicheng.«

K A P I T E L 3

 

 

»Der letzte Kampf heute Abend«, verkündete Meister Song, »ist zwischen Li Jun und Yin Yue.«

Ein Raunen der Vorfreude ging durch die Dutzenden von zuschauenden Schülern. Jun stand auf, verbeugte sich vor seinem Lehrer und stellte sich in der Mitte der Trainingshalle gegenüber von seinem Gegner auf. Seine Hände und Füße kribbelten vor Aufregung, die sich den ganzen Tag über in ihm angestaut hatte. Schade, dass Ren nicht hier ist, um das zu sehen, dachte er – und kam sich dann dumm vor, weil er gerade das jetzt dachte.

Auf Meister Songs Aufforderung hin verbeugten sich die Kämpfer voreinander, die rechte Faust gegen die linke Handfläche. »Gute Arbeit, dass du es bis hierher geschafft hast«, sagte Yin zu Jun und wirkte dabei aufrichtig. Jun hätte es lieber gehabt, wenn der andere Schüler sarkastisch oder herablassend gewesen wäre; das hätte bedeutet, dass eine echte Rivalität zwischen ihnen bestünde und nicht nur eine, die in Juns Kopf existierte. Yin Yue war fast drei Jahre älter als er, größer, hatte längere Arme und einen Körper, der durch jahrelange Hingabe zu dem strengen Iron-Core-Stil geformt war. Yin hatte schon an der Schule trainiert, bevor Jun überhaupt in das Land gekommen war. Er war Meister Songs Starschüler und hatte vor Kurzem die Aufgabe des Assistenzlehrers übernommen. Alle jüngeren Schüler schauten zu Yin auf, nicht nur wegen seiner unbestreitbaren Fähigkeiten, sondern auch, weil er freundlich und ermutigend zu anderen war. Wenn Yin Yue mit seiner Ausstrahlung voller Selbstvertrauen herumlief, was für Jun nach purer Arroganz roch, konnte man kaum behaupten, dass er es nicht verdient hatte. Kein Wunder, dass er annahm, er würde derjenige sein, der zum Hüterturnier ging. Davon gingen auch alle anderen aus.

Jun biss die Zähne zusammen. Du musst erst an mir vorbei. Jun hatte Stunden damit verbracht, Yin heimlich zu beobachten, seinen Kampfstil, seine Stärken und Schwächen zu analysieren. Es war unwahrscheinlich, dass Yin Jun im Gegenzug auch nur annähernd so viel Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Hoffentlich würde das Jun heute Abend den Vorteil verschaffen, den er brauchte, um den Kampf zu gewinnen. Bleib so übertrieben selbstbewusst, drängte er Yin in seinem Kopf. Bis ich deinen Arsch auf den Boden verfrachte.

»Ihr habt fünf Minuten Zeit«, erinnerte Meister Song sie, »um so viele Treffer wie möglich zu erzielen. Schläge gegen die Augen, den Hinterkopf oder die Leistengegend sind nicht erlaubt. Beherrscht euch, aber gebt euer Bestes.«

»Los, Yin!«, rief einer der anderen Schüler von der Seitenlinie aus. Alle Auszubildenden im Alter zwischen sechzehn und vierundzwanzig Jahren waren über ihre eigenen Kämpfe hinaus hier geblieben, um sich das Finale anzusehen. Einige ältere und jüngere Schüler waren nur wegen des letzten Kampfes gekommen, und um zu sehen, wie Meister Song verkündete, dass Yin Yue nach Xicheng fahren würde, um die Iron-Core-Schule zu vertreten. Insgesamt standen oder saßen fast fünfzig Menschen an den Wänden des langen Saals.

»Sei nicht so streng mit dem Ostländer!«, rief jemand anderes. Der Tonfall war eher neckisch als böse, aber Meister Song brachte den Sprecher mit einem Blick zum Schweigen. Jun war als Kind oft gemieden und verspottet worden, aber Meister Song hatte ein solches Verhalten in seiner Schule nicht geduldet. »Glaubt ihr, die Menschen auf der anderen Seite der Schlangenmauer sind anders als wir?«, hatte er seine Schüler gescholten. »Jeder, der in der Iron-Core-Schule trainieren möchte, ist willkommen.« Glücklicherweise musste er Jun nicht mehr verteidigen, sobald dieser begann, alle Gleichaltrigen mit seinen Kampfkünsten zu übertreffen und regelmäßig Kinder, die viel älter und größer waren als er, im Sparring zu besiegen.

Jun mochte jetzt in der Schule respektiert werden, aber es war keine Frage, auf wessen Seite die Menge heute Abend stand. All die Augen, die auf ihn gerichtet waren und von ihm erwarteten, dass er versagen würde, verursachten ein flaues Gefühl in seinem Magen. Konzentriere dich, erinnerte er sich. Das hier ist nichts im Vergleich zu dem, was in der Arena in Xicheng passieren wird.

Die beiden Kämpfer nahmen die klassische Iron-Core-Eröffnungshaltung ein: leicht gebückt, die Knie locker gebeugt, das Gewicht gleichmäßig verteilt, die Arme eng am Körper, aber vorn und bereit. Yin wirkte entspannt und gelassen, obwohl er an diesem Abend bereits fünfmal gegen Gegner gekämpft hatte, die für ihn keine große Herausforderung dargestellt hatten, für die es aber eine Ehre gewesen war, dem besten Schüler bei der Vorbereitung auf das große Turnier zu helfen.

Meister Song trat einen Schritt zurück und klatschte kräftig in die Hände. »Fangt an!«

Jun schoss vorwärts, wie ein Stein aus einer Schleuder, schloss die Lücke zu Yin Yue in einem Augenblick und ließ eine Salve von Schnellfeuer-Schlägen los: senkrechte Faustschläge ins Gesicht und auf den Oberkörper mit der Geschwindigkeit eines Spechts, der auf einen Baum einhämmert. Er hatte den älteren Schüler oft genug beobachtet, um zu wissen, dass Yin in einem Kampf selten den ersten Schritt machte. Er wartete ab, was sein Gegner tat, und schätzte seine Fähigkeiten ein, bevor er entschied, wie er reagieren würde. Yins andere Kämpfe heute Abend waren leicht gewesen; er würde nicht erwarten, dass er gleich zu Beginn einem so überwältigenden Angriff gegenüberstehen würde. Die erste Minute des Kampfes war Juns beste Chance, mehrere Treffer zu landen und den vermeintlichen Champion so stark zu verunsichern, dass er sich nicht mehr erholen konnte.

Es funktionierte. Yin wich überrascht zurück und seine Augen weiteten sich fast komisch, als er nachgab. Er wehrte das Sperrfeuer an Schlägen ab, indem er schnell blockte und seinen Körper geschickt drehte, sodass die Schläge, die an seiner Deckung vorbeikamen, an seinem Oberkörper abprallten, anstatt ihn mit voller Wucht zu treffen. Seine Verteidigung war jedoch nicht perfekt, nicht gegen Juns Geschwindigkeit und Aggressivität. Als Yin auswich, um der direkten Angriffslinie zu entkommen, gelang es Jun, einen Schlag tief in Yins Nabel zu platzieren und dann einen Aufwärtshaken unter das Kinn seines Gegners zu bringen. Yin riss seinen Kopf schnell zurück; der Schlag streifte nur sein Kinn, als er an seinem Gesicht vorbei nach oben schoss, aber die Schaulustigen keuchten vor Erstaunen. Niemand in der Schule hatte mit der Absicht gekämpft, Yin in der ersten Minute k. o. zu schlagen. Schließlich sollten die Sparringkämpfe den Anwärtern zum Üben dienen.

Verflucht, ich hatte dich fast. Dennoch habe ich dich zweimal getroffen, bevor du überhaupt –

Juns Anflug von Selbstzufriedenheit war nur von kurzer Dauer. Yin Yue war nicht umsonst der beste Schüler der Iron-Core-Schule. Bevor Jun sich von dem missglückten Versuch erholen konnte, verpasste Yin seinem Gegner einen steinharten Schienbeinkick gegen die Oberseite seines Oberschenkels. Juns Bein wackelte und wurde taub. Yin verpasste ihm einen Tritt in den Magen. Als Jun keuchend nach hinten taumelte, sah er den Gesichtsausdruck des anderen Mannes: Sein Mund war nicht mehr entspannt, sondern zu einer entschlossenen, finsteren Linie verzogen, und in seinen Augen loderte eine verwirrte Wut, die Jun noch nie gesehen hatte.

Jetzt passt du auf, dachte Jun und lächelte vor sich hin, obwohl sein Bein und sein Magen vor Schmerz pochten. Jetzt ist es ein echter Kampf. Als Jun dieses Mal vorrückte, begegnete Yin ihm mit gleicher Geschwindigkeit und Kraft. Die Iron-Core-Schule legte großen Wert auf Fitness und Körperkonditionierung sowie auf straffe, effiziente Bewegungen, die die Mitte des Kämpfers schützen sollten. Yin und Jun hatten Jahre damit verbracht, zu rennen, bewegungslos in niedrigen Stellungen zu verharren, während ihre Ausbilder mit biegsamen Bambusstöcken auf ihre Oberkörper einschlugen, besonders harte Bauchmuskelübungen zu machen und ihre Arme und Beine durch Schläge auf hölzerne Trainingspuppen und Pfosten abzuhärten. Yins Rücken und Schultern, seine Unterarme, Schienbeine und Bauchmuskeln waren hart wie Stein. Die wenigen frühen Schläge von Jun hatten ihn nicht verletzt, sondern nur verärgert. Jun mochte zwar eine explosivere Geschwindigkeit haben, aber wenn es um verbissenen, präzisen Kampf ging, war Yin unvergleichlich. Er verschwendete kaum eine Bewegung, und es war klar, dass er sich nicht mehr zurückhielt.

Jun griff mit einer Kombination von Schlägen Richtung Kopf an: schnelle Schläge, ein Kreuzschlag, ein hinterhältiger Handkantenschlag gegen die Schläfe. Yin wich jedem dieser Schläge mit einer knappen Bewegung um Haaresbreite aus, als ob er genau wüsste, wo Juns Fäuste landen würden. Aus Frustration holte Jun mit dem nächsten Schlag aus und gefährdete seine Deckung. Yin verpasste ihm einen Schlag gegen die Wange, der seinen Kopf zurückwarf, und trat ihn dann an der gleichen Stelle wie zuvor, wodurch sich der Bluterguss auf Juns Oberschenkel verdoppelte, bevor er anmutig zur Seite glitt. Die zuschauenden Schülerinnen und Schüler, die zunächst fassungslos gewesen waren, weil Jun den Kampf so früh beherrscht hatte, brachen in begeisterten Jubel aus.

Yin schien sie nicht zu bemerken. Seine Augen waren auf Jun gerichtet.

Schüttle es ab, drängte Jun sich selbst, während sein Gesicht und sein Bein pochten. Er ist gut, das wusstest du schon, aber du bist besser. Er stürzte sich in einen Wirbelwind von Tritten und schlug Yin links und rechts in die Rippen. Anstatt sich zurückzuziehen, drängte Yin Jun in die Enge und ließ die Spitze seines Ellbogens knapp über Juns Knie fallen, bevor er ihm gegen das Brustbein schlug. Jun keuchte, brach aber nicht zusammen. Er versetzte dem anderen Mann einen Schlag in die Seite, der so hart war, dass selbst Yin unter dem Aufprall schwankte, aber er konnte den kurzzeitigen Sieg nicht nutzen, weil Yin den hohen Tritt abfing, der auf seinen Kopf zielte, und Juns Knie mit der Armbeuge festhielt. Er drehte sich schnell und ließ Jun über den verschrammten Holzboden fliegen.

Jun stolperte und rollte sich ab, war aber im Nu wieder auf den Beinen. Schweiß tropfte von seinem Gesicht und seiner nackten Brust. Zumindest atmete Yin ebenfalls schwer, denn beide kämpften zum ersten Mal an diesem Abend bis an ihre Grenzen. Als sie sich vorsichtig umkreisten, wurde die Menge ruhiger, denn sie spürte, dass sich das Blatt endlich eindeutig zu Yins Gunsten gewendet hatte. Jun hatte sie alle zuerst überrascht, aber Yin hatte nun wieder die Kontrolle. Auf drei oder vier Schläge von Jun kam einer von Yin, aber fast jeder davon war erfolgreich. Er war der erfahrenere Auszubildende, ein geduldigerer und disziplinierterer Kämpfer.

»Eine Minute«, verkündete der Schüler, der mithilfe eines brennenden Räucherstäbchens die Zeit im Blick behielt.