Breisgauer Finsternis - Gudrun Schmauks - E-Book
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Breisgauer Finsternis E-Book

Gudrun Schmauks

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Beschreibung

Packende Spannung zwischen Weinbau und Obstwiesen: Ein humorvoller Kriminalroman mit unerwarteten Wendungen! Zwei Männer graben nachts nach antiken Schätzen – und stoßen auf das Skelett einer seit dreißig Jahren vermissten Frau. Kurz darauf wird einer der beiden tot auf einem Golfplatz gefunden. Kommissarin Henry Wunsch und ihr Partner Oskar Wolf von der Kripo Freiburg stehen vor einem Rätsel: Gibt es womöglich einen Zusammenhang zwischen dem Skelettfund und dem Tod an Loch 14? Nach und nach erhärtet sich der Mordverdacht – und der Täter scheint noch lange nicht zu ruhen.

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Gudrun Schmauks, Jahrgang 1952, hat ihre Wurzeln sowohl in dem winzigen Ortsteil Stockmatt im kleinen Wiesental des Südschwarzwalds als auch in dem malerischen Dorf Michelbach im Nordschwarzwald. Sie studierte in Freiburg und wurde Lehrerin. Den größten Einschnitt in ihrer Laufbahn erfuhr sie, als das Bundesverwaltungsamt sie für fünf Jahre an die Deutsche Schule nach Kapstadt entsandte. Gudrun Schmauks ist verheiratet, hat zwei Kinder und lebt seit ihrer Rückkehr aus Afrika mit ihrem Mann im Ortenaukreis.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Fotoping/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-129-4

Originalausgabe

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Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß §44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

EINS

Wäre zu dieser späten Stunde jemand aus dem Wald hinaus auf die angrenzende Wiese getreten, hätte er die zwei Lichter gesehen, die in unregelmäßigem Rhythmus dort unten, wo es zum Feldweg hin schon wieder eben wurde, in der Dunkelheit wie Irrlichter auf und ab tanzten.

Aber niemand kam aus dem Wald. Nicht einmal ein Reh. Auch sonst war weit und breit keiner zu sehen, der die beiden Männer mit ihren Stirnleuchten hätte beobachten können.

Sie arbeiteten schweigend.

Der Boden war durch den Regen der letzten Tage an der Oberfläche aufgeweicht, aber je tiefer sie mit ihren Spaten gruben, umso schwerer wurde es. Wäre man näher herangegangen, hätte man auch ihre kurzen, heftigen Flüche hören können, wenn der Spaten wieder auf einen Stein getroffen und der Rückstoß schmerzhaft bis in ihre Schultern hineingefahren war. Auf ihren Stirnen hatten sich Schweißtropfen gebildet, die sie achtlos mit dem Ärmel abwischten. Die Jacken hatten sie längst ausgezogen und auf die Wiese geworfen.

An allem war nur Carsten schuld. Carsten Zapf. Seit er diesen sündhaft teuren Metalldetektor hatte, war er wie besessen von der Idee, einen Schatz zu finden, und er, Jonas, hatte sich als sein bester Freund von dem Wahn anstecken lassen. Wie immer.

Schon in der Schulzeit hatte Carsten Zapf das Sagen gehabt, und seine Freunde waren ihm gefolgt. Für ihn hatte sich bis heute nichts daran geändert. Jonas war zur Stelle, wenn Carsten rief. So auch bei seiner neuen Leidenschaft – der Schatzsuche.

Die beiden schwitzten und keuchten, da das Graben immer anstrengender wurde. Schließlich war keiner von ihnen körperliche Arbeit gewohnt. Jonas leitete das Autohaus Hansmann in Kenzingen, und Carsten war Eigentümer der Firma Industriebau Zapf in Herbolzheim. Einen Spaten hatten sie zum letzten Mal in ihrer Kindheit angerührt. Und da auch nur zum Spaß.

Normalerweise wäre Bastian Rauer, der Dritte im Bunde, Zahnarzt in Ettenheim und der Einzige von ihnen, der verheiratet war, auch mit von der Partie gewesen. Aber Bastian schmollte noch.

Carsten bedauerte inzwischen, dass er den Verlockungen der hübschen Gattin seines Freundes nicht hatte widerstehen können. Ein schwerer Fehler, im Nachhinein gesehen. Aber was hätte er auch machen sollen? Die Frauen flogen nun mal auf ihn. Auch das war immer schon so gewesen.

Frauen hatten ihre Freundschaft bisher noch nie gefährdet. Bis jetzt. Bastian würde sich wieder einkriegen. Davon war Carsten überzeugt. Auch das war schon immer so gewesen. Selbst wenn sie sich wegen etwas zerstritten hatten, hielt es nie lange an. Ihre Freundschaft war unzerbrechlich.

Plötzlich stieß Jonas mit seinem Spaten auf etwas Hartes. Und diesmal handelte es sich nicht um einen Stein.

»Carsten, hier ist was!« Augenblicklich ließ er seinen Spaten fallen und ging in die Knie. Behutsam begann er, mit seinen Händen die Erde auf die Seite zu schaffen, während Carsten ihm dabei zusah.

»Jetzt hilf mir doch mal, Carsten. Mit dem Spaten können wir nicht weitermachen, sonst geht noch was kaputt.«

Carsten warf seine Schippe auf die Wiese und nahm sein Leatherman aus der Hosentasche. »Da. Versuch es damit.« Er reichte sein Multifunktionstaschenmesser an Jonas weiter, der nach kurzer Überprüfung den kleinen Löffel herausklappte und nun begann, die Erde in einem Oval um den Fund herum wegzukratzen.

Auch Carsten kniete nun auf dem Boden. Die Erregung hatte beide gepackt. Hier lag etwas vergraben. Das Gerät hatte sie nicht getäuscht.

Sie wechselten sich jetzt ab, denn es war mühsam. Beim nächsten Mal würden sie Spachtel oder so etwas Ähnliches mitnehmen müssen. Das wäre auf jeden Fall effektiver als dieser kleine Löffel vom Leatherman.

Da! Jetzt konnte man etwas sehen. Der Löffel legte eine glatte Oberfläche an den Rändern frei. Eine Scherbe? Nein, das Gerät hatte doch Metall angezeigt. Sie mussten wahrscheinlich einfach noch tiefer graben, wenn das hier nur eine Scherbe war. Der Schatz war vielleicht darunter.

Carsten hatte sich inzwischen einen Stock aus dem Gebüsch, hinter dem sich ihre Grube befand, abgebrochen und versuchte nun auch damit, die Erde vorsichtig abzukratzen. Langsam kamen sie dem verborgenen Gegenstand näher. Und dann erkannten sie, was sie vor sich hatten: einen Tonbehälter. Eine Art Vase. Nahezu unversehrt.

»Ich habe dir doch gesagt, die Römer waren hier überall. Siehst du? Ich wette, da liegt noch mehr.« Carsten hatte glänzende Augen.

Jonas ging es nicht anders. »Vorsicht, nicht dass wir sie noch kaputt machen, wenn wir sie herausnehmen. Das wäre zu blöd«, warnte er seinen Freund und hob das Fundstück so hoch, dass er mit den Fingern darunterfassen konnte.

Carsten griff ebenfalls zu, und endlich gelang es ihnen, das Gefäß aus der Grube herauszuheben. Sie stellten den bauchigen Tonbehälter auf die Wiese und befreiten ihn mit den Handflächen grob von Erdresten.

»Wir müssen später noch mit einer weichen Bürste den restlichen Dreck entfernen«, meinte Jonas. »Irgendwie sieht sie ja ziemlich schlicht aus, unsere Vase.«

»Das machen wir nachher bei mir daheim. Aber den Dreck, der im Innern ist, den will ich nicht mitnehmen. Komm, hilf mir mal. Du hältst sie schräg, und ich lockere die Erde, damit sie rausfällt.«

Gesagt, getan. Die beiden Schatzsucher saßen nun, ungeachtet der Feuchtigkeit, nebeneinander auf dem Boden, während Carsten in der fest gewordenen Erde des Behälters stocherte, bis diese sich löste und allmählich herausfiel. Aber nicht nur die. Auf einmal glitten zahlreiche runde Metallstücke in verschiedenen Größen und andere Objekte heraus. Welch triumphaler Moment.

Sie hatten ihn also doch gefunden, ihren Schatz! Münzen, zwei Medaillons, eine Kette und mehr. Oh Gott! Sprachlos und überwältigt sprangen beide auf und klatschten sich ab.

»Du bist ein Genie, Carsten!«

»Ich weiß!«

»Meinst du, da liegt noch mehr?«

»Schon möglich. Wir füllen jetzt erst mal wieder alles zurück in den Behälter, dann können wir ja noch ein bisschen weitergraben, wenn du willst. Aber Jonas: Zu niemandem ein Wort! Hörst du? Auch nicht zu Bastian. Erst einmal wenigstens. Sonst müssen wir unseren Fund noch abgeben.«

»Wieso denn abgeben? Das ist doch das Grundstück meiner Familie.«

»Ja, schon. Aber das heißt nicht, dass man automatisch alles behalten darf, was man ausgräbt. Drum sage ich ja: Kein Wort darüber! Machen wir jetzt weiter?«

Die beiden nahmen ihre Spaten und schaufelten wieder. Nun nicht mehr so ungeduldig wie eben, aber dafür wesentlich vorsichtiger. Schließlich könnten sie ja schnell auf etwas Neues stoßen.

Plötzlich schrie Jonas auf: »Fuck! Hier liegt einer!«

Carsten fuhr herum und starrte dann erschrocken auf das, was dort aus der Grubenwand neben Jonas herausragte: eine Hand.

Es sah aus, als griffe die Skeletthand aus dem festen Erdreich geradewegs in die Grube hinein. Unheimlich. Hastig verließen sie die Ausgrabungsstelle und starrten von oben auf ihre Entdeckung hinunter.

»Was machen wir jetzt bloß, Carsten?«, flüsterte Jonas. Und dann, einer Eingebung folgend: »Komm, lass uns doch einfach die Erde wieder darüberschaufeln und schnell verschwinden.« Er hatte ein sehr ungutes Gefühl.

»Aber vielleicht ist das das Grab eines alten Römers, Jonas. Stell dir das mal vor! Und wir beide die Entdecker. Das können wir doch nicht für uns behalten. Das ist historisch.«

»Ja, aber dann kommt doch alles raus, und unseren Schatz sind wir auch los.«

»Von dem Schatz brauchen wir ja nichts zu sagen. Aber überleg doch mal, was der Fund eines Römergrabes mit sich bringt, Jonas. Wir werden berühmt! Die Presse wird sich darauf stürzen. Echt, Jonas, als Geschäftsmänner können wir doch auf so eine Gelegenheit gar nicht verzichten. Mal abgesehen von der Ehre, die damit verbunden ist. Nein, das melden wir«, entschied Carsten.

»Und wie sollen wir erklären, dass wir hier gegraben haben?« Sah denn Carsten das Problem gar nicht?

»Stimmt«, lenkte der nun ein, »lass mich mal überlegen.«

Carsten stand eine Weile sinnend neben der Grube, dann setzte er sich in Bewegung. Ohne seinem Freund mitzuteilen, was er zu tun beabsichtigte, ging er zum Auto, ließ den Dackel seines Vaters aussteigen und kam mit seinem Jagdgewehr, das sich im Kofferraum befunden hatte, zurück.

»Was hast du vor?«, fragte Jonas alarmiert und nahm den Tonbehälter an sich, damit der Dackel ihn nicht noch umwarf.

»Ich rette die Situation.« Damit legte er das Gewehr an, zielte kurz und schoss.

Der Dackel fiel neben der Grube zu Boden.

Jonas starrte seinen Freund an. »Was machst du da? Bist du jetzt völlig durchgedreht? Du hast den Dackel deines Vaters erschossen. Du weißt doch, wie er an ihm hängt.«

»Der Köter war sowieso schon alt. Ich kaufe meinem Vater einen neuen. Und jetzt hör mir genau zu: Wir beide waren im Wald auf der Jagd. Der Dackel ist ausgebüxt und genau in dem Moment, als ich auf einen Hasen zielte, in die Schusslinie gelaufen. Das dumme Vieh. Pech. Wir wollten ihn hier begraben, um meinem Vater den Anblick zu ersparen. Dabei haben wir die Hand gefunden. Na, wie klingt das?«

»Ja, das hat Hand, äh, und Fuß. Trotzdem: Dein Vater wird wütend sein. Und jetzt?«

»Nichts. Wir packen alles ein, und ich hole noch die Plane, die im Auto liegt. Die legen wir über den Dackel und die Grube, damit nicht noch Aasfresser angelockt werden, bis hier jemand nach unserem Römergrab schaut. Gleich morgen früh rufe ich bei der Polizei an.«

Jonas hätte es besser gefunden, wenn sie gleich die Polizei informiert hätten, aber Carsten hatte natürlich recht. Der Römer lag jetzt schon so lange da. Da kam es auf eine weitere Nacht auch nicht mehr an. Und sie hatten jetzt Besseres zu tun. Sie wollten zu Hause die Münzen reinigen und im Internet recherchieren, um herauszufinden, ob sie tatsächlich etwas Wertvolles gefunden hatten.

Als sie sich auf den Heimweg machten, ahnten sie nicht, welche Turbulenzen ihr Fund noch mit sich bringen würde. Auch nicht, dass einer von ihnen zwei Tage später bereits tot wäre.

Henry stieg aus und dehnte sich unauffällig. Die lange Fahrt von Bremen nach Freiburg steckte ihr in den Knochen, was sie wieder daran erinnerte, dass sie mit ihren zweiundvierzig Jahren eindeutig die magische Grenze der Jugend überschritten hatte. Dennoch war ihre Entscheidung richtig gewesen, nachts zu fahren. Davon war sie überzeugt. Tagsüber hätte sie auf der überfüllten Autobahn sicher viel länger gebraucht. Henry unterdrückte den Impuls zu gähnen. Wieder etwas, das sie an ihr Alter erinnerte. Noch vor zehn Jahren war Schlafmangel für sie überhaupt kein Thema gewesen. Innerlich seufzte sie ein wenig.

Bevor sie noch weitere unerfreuliche Gedanken hochkommen ließ, die sowieso nur wieder bei ihrer Scheidung und den damit verbundenen schmerzlichen Demütigungen geendet hätten, straffte sie ihre Schultern und ging auf das Gebäude des Polizeipräsidiums zu.

Ein Neuanfang. Sie brauchte einen Neuanfang weit weg von Bremen, wo sie alles an ihr altes Leben erinnerte. Weit weg von ihrem Ex-Mann und seiner hochschwangeren zwanzigjährigen Fußpflegerin. Weit weg von den Freunden, die sie durch ihr Mitleid stetig an ihr Unglück erinnerten. Weit weg von allem. In Freiburg würde sie diesen Neuanfang finden. Energisch betrat sie das Gebäude und meldete sich an.

Ihr neuer Chef, Horst Baltes, erwartete sie bereits in seinem Büro und stellte sie dann ihrem Team vor. »Es ist mir eine Freude, dass es uns gelungen ist, Frau Henryke Wunsch als Kollegin zu gewinnen, die ab sofort die Leitung unseres neuen Teams in der Mordkommission übernimmt. Sie kommt aus Bremen und hat dort kürzlich den ›Rotkäppchen-Mörder‹ überführt, ein spektakulärer Fall, über den die Presse ausführlich berichtet hat, wie ihr euch sicher erinnern werdet. Mit nun zwei Mordermittlungsteams sind wir für die Zukunft gut gerüstet. Ich wünsche Ihnen einen guten Start, Frau Wunsch. Wenn Sie noch Fragen haben: Meine Tür steht immer offen.« Horst Baltes verabschiedete sich mit einem freundlichen Nicken und überließ Henry das Feld.

Alle Augen waren nun auf sie gerichtet.

»Jetzt sollte ich wohl eine Art Antrittsrede halten, oder? Aus meiner Sicht werden solche Reden völlig überschätzt, denn was wir voneinander zu halten haben, wird sich schnell und von allein herausstellen. Nur eines vorweg: Ich bin Henry. Niemand sollte den Fehler begehen, mich Henryke zu nennen. Und jetzt lassen Sie uns einfach miteinander anfangen.«

Damit ging sie nacheinander zu jedem Einzelnen der Gruppe, ließ sich den Namen sagen und wechselte mit jedem ein paar Worte. Als Letzter stellte sich ihr Oskar Wolf vor. Ihr neuer Partner. Henry holte innerlich tief Luft. Wenn sie überhaupt noch an Männern interessiert gewesen wäre, was sie seit ihrer Scheidung definitiv nicht mehr war, hätte dieser ihr durchaus gefallen können. Groß, sportlich, mit vollem dunklem Haar und einem charmanten Lachen in den Augen, das sich rasch über sein markantes Gesicht ausbreitete und dann Grübchen in den Wangen bildete. Zum Anbeißen! Wenn sie denn noch an Männern interessiert gewesen wäre. War sie aber nicht.

»Zwar habe ich keine Probleme mit meinem Vornamen«, sagte er, »aber alle hier nennen mich Wolf.«

»Aus der Märchennummer scheine ich wohl nicht mehr so leicht rauszukommen«, flachste sie. »Zeigen Sie mir jetzt unser Büro?«

Und nett war er auch noch. Henry beschloss, sich hier wohlzufühlen. Wenn sie jetzt noch eine Dusche nehmen könnte und danach einen starken Kaffee bekäme, wäre sie für Freiburg bereit. Wolf verwies auf die Umkleide und versprach, für einen Kaffee zu sorgen. Ging doch.

Keine halbe Stunde später war Henry zurück an ihrem Schreibtisch und genoss jeden einzelnen Schluck des heißen Getränks, das die Anstrengung der langen Autofahrt erst einmal vertrieb.

Es klopfte an der Tür. Ihr Kriminalassistent und Sekretär Julian Weinig hatte Neuigkeiten. Auf einem Feld unweit der B3 zwischen Kenzingen und Herbolzheim hatte man eine Skeletthand entdeckt. Er streckte Henry den Zettel mit den Koordinaten entgegen.

»Wir nehmen meinen Wagen, ich kenne die Strecke«, schlug Wolf vor, während sie bereits auf dem Weg nach draußen waren. Henry hatte nichts dagegen einzuwenden. Für heute war sie schon genug gefahren.

Oskar Wolf pflegte keinen allzu zügigen Fahrstil. Das wunderte Henry ein bisschen, war ihr aber angenehm. Er fragte nicht, was sie bewogen hatte, Bremen den Rücken zu kehren. Auch das fand sie erfreulich. Er redete überhaupt nicht viel. Das war für den Moment das Allerbeste.

Henry betrachtete die Landschaft links und rechts der Autobahn. Auf der rechten Seite musste der Schwarzwald liegen. Das wusste sie immerhin. Aus der Großstadt kommend, war sie an so viel unbebaute Fläche überhaupt nicht gewöhnt. Mal sehen, wie das werden würde. Soeben fuhren sie durch Herbolzheim, und auf dem Richtungspfeil las sie den Namen Kenzingen. Na, jetzt wusste sie wenigstens, wo sie nach Dienstschluss hinmusste. Sie hatte sich nämlich kurz entschlossen für die ersten paar Wochen eine Ferienwohnung in diesem Ort gemietet. Das war ihr praktisch erschienen. Aber noch ehe sie dort ankamen, bog Oskar Wolf von der Straße ab und nach wenigen Metern in einen schmalen Weg ein, der sie schon bald zum Fundort brachte.

Sie parkten hinter einer Reihe anderer Wagen, die die ganze Fahrbahnbreite versperrten. Da waren einige wohl schneller gewesen als sie. Der Polizist in Uniform, der an der Absperrung stand, ließ sich ihre Ausweise zeigen, ehe sie passieren durften. Ein schwer atmender, übergewichtiger Mann eilte ihnen entgegen, sofern man das überhaupt eilen nennen konnte. Er stellte sich Henry als Leo Wanninger, Leiter der KTU, vor.

»Wir haben noch nicht viel, weil wir das Opfer erst ganz freilegen müssen. Der tote Dackel, den der Besitzer hier begraben wollte, als er die Hand entdeckte, ist angeblich bei der Jagd versehentlich erschossen worden. Aber dort, wo das passiert sein soll, konnten wir bisher noch keine Kugel finden. Wir suchen weiter. Mehr habe ich noch nicht. Herzlich willkommen im Team.« Damit wandte er sich um und folgte der Stimme, die ihn wieder zu der Grube rief.

Henry und Wolf folgten ihm. Jetzt konnten sie zum ersten Mal einen Blick auf den Grund ihres Einsatzes werfen. Die Grube hatte die Form eines großen L. Der kürzere rechte Teil war doppelt so tief und nur halb so lang wie der linke, an dem die Kriminaltechniker bereits so viel Erde abgetragen hatten, dass allmählich ein vollständiges menschliches Gerippe zum Vorschein kam.

Als sie freundlich in die Runde grüßten, stieg der Pathologe aus dem Loch zu ihnen heraus und stellte sich Henry ebenfalls vor. »Bernd Meisner. Es freut mich wirklich sehr, Sie kennenzulernen, Frau Wunsch. Ich habe jedes Detail aus dem ›Rotkäppchen-Fall‹ verfolgt. Höchst interessant, muss ich sagen, wirklich.«

»Nennen Sie mich einfach Henry. Ja, das stimmt. Aber was sagen Sie denn zu unserem aktuellen Fall, Herr … Meisner, wenn ich richtig gehört habe?«

»Bernd. Ich kann seit eben wenigstens sicher sagen, dass wir keinen Archäologen hinzuziehen müssen. Die Knochen sind keine menschlichen Überreste aus der Römerzeit, wie von den Entdeckern vermutet, denn unser Opfer trug eine Armbanduhr. Aller Wahrscheinlichkeit nach wurde hier also eine Leiche entsorgt, sodass ich ein Tötungsdelikt nicht ausschließen kann. Aber um das zu klären, bedarf es genauerer Untersuchungen.«

»Vielen Dank, Bernd. Wissen Sie denn schon, ob es sich um eine Frau oder um einen Mann handelt und wie lange das Opfer etwa hier lag?«

»Das ist schwer zu sagen. Aber oberflächlich betrachtet deutet so einiges auf eine weibliche Person hin. Ich werde Ihnen nach der Obduktion Genaueres mitteilen können. Was das Alter angeht: Der Boden ist ziemlich lehmhaltig. Haare und Schuhe sind noch teilweise vorhanden. So auf den ersten Blick denke ich, es müssen mehr als zehn Jahre, aber weniger als fünfzig sein. Sie erhalten in meinem Bericht ein engeres Zeitfenster.«

Henry und Wolf hatten fürs Erste genug gesehen. Sie mussten dringend mit den beiden Herren sprechen, die hier gegraben hatten. Die waren heute in ihren Firmen zu finden. Ein Kollege in Uniform gab ihnen die Adressen.

Zuerst führte ihr Weg sie zum Autohaus Hansmann, das direkt in Kenzingen lag. Jonas Hansmann würde ihnen erklären müssen, weshalb sie den Fund erst am nächsten Tag gemeldet hatten. Unter anderem.

ZWEI

Henry hatte gehofft, während der Fahrt einen ersten Blick auf ihren neuen Wohnort werfen zu können. Aber das war leider nicht möglich, das Autohaus Hansmann befand sich gleich hinter dem Ortsschild. Nun gut. So wichtig war es auch wieder nicht. Spätestens nach Feierabend würde sie sich alles in Ruhe ansehen können.

Jonas Hansmann sah aus wie ein typischer Autoverkäufer, wenn man dem Klischee trauen durfte. Erster Eindruck: aalglatt. Henry schätzte ihn auf Anfang vierzig. Er war groß, schlank, mit einem hellgrauen Anzug bekleidet und trug eine Fliege über dem weißen Hemd. Den Mangel an üppigem Haar und seine abstehenden Ohren versuchte er durch eine modisch auffällige Brille auszugleichen. Nicht ungeschickt. Henry bemerkte jedoch, dass er bemüht war, seine Nervosität vor ihnen zu verbergen, als sie in seinem Büro auf der Besuchercouch Platz nahmen.

»Sie waren also gestern Abend mit Ihrem Freund und einem Dackel auf der Jagd?« Henry ließ es langsam angehen.

»Ja, wissen Sie, das Gelände dort gehört weitgehend meiner Familie, aber Carstens Vater ist der Pächter. Deshalb darf Carsten dort auch jagen. Und ich begleite ihn manchmal.«

Henry nickte, und Oskar Wolf übernahm. Er ließ Jonas Hansmann berichten, wie es zu dem tödlichen Schuss auf den Dackel gekommen war. Die Erklärung klang plausibel. Es sei eigentlich schon zu dunkel gewesen, um überhaupt noch einen Schuss abzugeben, räumte Herr Hansmann bedauernd ein, und der Dackel sei plötzlich unkontrolliert losgerannt. Dadurch sei es dann eben passiert. Die Kugel habe den Hund getroffen, nicht den Hasen. Der Hund sei sozusagen genau in die Kugel hineingelaufen. Ein Jagdunfall.

»Und wieso haben Sie ihn dann nicht im Wald begraben, sondern erst noch über die ganze Wiese nach unten getragen?«, fragte Wolf ungläubig.

»Wegen des Spatens. Wissen Sie, Carsten hatte seinen Spaten im Kofferraum, und weder er noch ich hatten Lust, ihn zu holen und den ganzen Weg zweimal zu laufen. Außerdem wussten wir, dass man dort unten leichter graben kann. Die Wiese war ja ganz matschig. Der Wald aber nicht. Es war so einfacher für uns.«

»Was ich dann aber nicht verstehe«, mischte sich nun wieder die Kommissarin ein, »ist, dass Sie nicht schon gestern Abend die Polizei gerufen haben.«

»Das war der Schock. Wir wollten einfach nur den Hund begraben – und dann so etwas! Damit haben wir nicht gerechnet. Das war zu viel, wissen Sie. Wir mussten das erst mal verdauen. Und auf eine Nacht mehr kam es unserer Meinung nach nicht an. Frische Spuren gab es dort doch sowieso nicht, so lange, wie dieser Typ dort gelegen haben muss.« Jonas Hansmann schaute sie beinahe trotzig an.

»Gut, dann belassen wir es fürs Erste dabei. Bitte halten Sie sich aber weiter zu unserer Verfügung, Herr Hansmann.« Henry erhob sich und gab ihrem Kollegen damit das Zeichen zum Aufbruch.

Auf dem Weg zum Auto betrachtete Oskar Wolf seine neue Chefin. Unter ihren mindestens eine Nummer zu großen Kleidungsstücken schien sich eine gute Figur zu verbergen, wie er ihrem anmutigen Gang entnahm. Warum versteckte sie sie unter solchen Kleidern? Er war bisher noch keiner einzigen Frau begegnet, die sich betont unvorteilhaft gekleidet hätte. Auch die Haare. Sie hatte sie so straff in einen glatten, wenn auch langen Seitenzopf gezurrt, dass er ihrer Erscheinung zusätzlich eine nüchterne Strenge verlieh. Seltsam. Vielleicht wollte sie sich vor unnötiger Anmache der doch überwiegend männlichen Kollegen schützen. Oder der Männer insgesamt. Oder sie war lesbisch. Nein, Oskar schüttelte den Kopf. Wäre sie lesbisch, würde sie sich vor keinem Mann verstecken. Da kannte er sich aus.

Beim Einsteigen warf er noch einen flüchtigen Blick auf ihr Gesicht. Sie war schön, ohne Zweifel. Auch wenn ihre großen blauen Augen hinter einer breitrandigen Brille lagen. Er würde schon noch dahinterkommen, was das sollte.

»Ist Ihnen an der Grabstelle nicht auch etwas aufgefallen?«, fragte Henry ihren in Gedanken versunkenen Kollegen.

»Was meinen Sie?«

»Na ja, wie tief muss man graben, um einen Hund zu beerdigen? Hätte da nicht ein Meter locker gereicht?«

»Sie haben recht. Die Grube war mindestens einen Meter fünfzig tief. Wesentlich tiefer als die Stelle mit dem Skelett. Sie meinen, die beiden haben aus ganz anderen Gründen da gebuddelt?«

»Könnte doch sein. Zumal sich die Geschichte mit dem Hund auch komisch anhört, finden Sie nicht?«

»Aber wonach sollte man an dieser Stelle denn suchen?«

»Was weiß ich? Hat nicht der Pathologe etwas von Überresten aus der Römerzeit gesagt? Kann es sein, dass die beiden Herren dort so etwas vermutet haben?« Henry legte grübelnd ihre Stirn in Falten.

»Ja, das hat er gesagt. Wenn die beiden tatsächlich an einen historischen Fund geglaubt haben, könnte es natürlich sein, dass sie gezielt nach römischen Relikten gegraben haben. Fragt sich nur, ob sie fündig geworden sind. Verboten ist es allemal.«

»Vielleicht erfahren wir bei Carsten Zapf gleich noch Genaueres.« Henry nahm ihr Handy und rief im Präsidium an. Sie bat ihren Kriminalassistenten Julian, dessen Nachnamen sie schon wieder vergessen hatte – eine ärgerliche Schwäche ihrerseits –, schon mal alle Vermisstenmeldungen über Frauen herauszusuchen, die mehr als zehn, aber weniger als fünfzig Jahre zurücklagen und vom Einzugsbereich her in Frage kamen. Dann waren sie an ihrem Ziel.

Das Firmengebäude von Industriebau Zapf war ein echter Hingucker. Holz, Glas und Stahl vermittelten in Kombination mit einer großzügigen Bogenform den Eindruck von Leichtigkeit. Henry war beeindruckt und gespannt auf den Firmenchef. Er musste jedenfalls Geschmack haben.

Die Gestaltung des Empfangsbereichs unterstützte diese Einschätzung. Während sich Henry ein wenig umsah, meldete Wolf sie bei der Empfangsdame an. Mara Schiffer war ihr Name.

Ja, Herr Zapf habe schon mit ihnen gerechnet. Henry und Wolf folgten der freundlichen Dame vorbei an hellen Büroräumen, die von allen Seiten einsehbar waren. Das Chefbüro ordnete sich diesem Prinzip nur teilweise unter. Dennoch überwog auch hier das Prinzip der Leichtigkeit, das durch die geschwungene Decke und die filigranen Glasflächen zur Außenseite hin hervorgerufen wurde.

Carsten Zapf kam ihnen mit ausgestreckter Hand entgegen und begrüßte sie so überschwänglich, als wären sie langersehnte Gäste. Er bot ihnen Platz in einer Sitzecke mit weißen Ledermöbeln an. Kurz darauf huschte eine Angestellte herein und brachte unaufgefordert Kaffee und Gebäck. Ganz der perfekte Gastgeber.

Weder Henry noch Wolf bedienten sich. Sie ließen sich von Carsten Zapf noch einmal die Ereignisse des gestrigen Abends erzählen und wunderten sich überhaupt nicht darüber, dass sie fast den gleichen Wortlaut zu hören bekamen wie bei Jonas Hansmann. Offenbar hatten sich die beiden Freunde sorgfältig abgesprochen. Vor allem was den Grund anging, weshalb sie den Dackel nicht im Wald, sondern auf der Wiese hatten begraben wollen.

Henry hakte an der Stelle ein und fragte: »Nehmen Sie immer einen Spaten mit, wenn Sie auf die Jagd gehen, Herr Zapf?«

Herr Zapf zuckte ein wenig. Mit dieser Frage hatte er wohl nicht gerechnet. »Auf die Jagd nicht, nein. Aber ich habe immer ein gewisses Sortiment Werkzeuge im Kofferraum, wissen Sie. Ebenso wie Gummistiefel. Das braucht man, wenn man sich wie ich häufig auf Baustellen aufhält.« Jetzt schien er wieder Oberwasser zu haben.

»Das verstehe ich. Aber wäre da nicht eine Schaufel passender als ausgerechnet ein Spaten?«

»Schaufel, Spaten! Was soll das? Wollen Sie mir etwas unterstellen? Dann nur raus mit der Sprache. Ich habe nicht den ganzen Morgen Zeit.« Jetzt war dem charmanten Gastgeber die gute Laune doch ziemlich vergangen.

»Könnte es nicht sein, dass Sie von vornherein vorhatten, dort auf der Wiese gezielt nach etwas zu graben, Herr Zapf? Und dass die Version mit dem Dackel Ihres Vaters erst nachträglich entstanden ist?« Henry beobachtete ihn bei ihren Worten genau, aber er wich ihrem Blick kein bisschen aus. Der Mann verfügte über ein äußerst gefestigtes Selbstbewusstsein.

»Ihre Phantasie in Ehren, Frau Kommissarin Wunsch, aber wonach hätte ich denn ausgerechnet dort graben sollen?«

Oskar Wolf mischte sich ein. »Besitzen Sie einen Metalldetektor, Herr Zapf?«

Ohne seine Augen von Henry abzuwenden, antwortete er: »Nein. Sie entschuldigen mich jetzt bitte, ich habe noch zu tun.« Damit erhob er sich und komplimentierte die beiden freundlich, aber bestimmt hinaus.

Henry und Wolf tauschten auf der Fahrt zurück ins Präsidium ihre Eindrücke über Carsten Zapf aus.

Wolf war empört. »Er hat uns ins Gesicht gelogen. Und seine Aussage war so was von abgesprochen mit seinem Freund. Wie kann er nur glauben, dass wir so doof sind, das nicht zu bemerken?«

»Ein interessanter Mann, dieser Carsten Zapf. Er hält sich für unangreifbar. Aber was soll’s? Verbotene Schatzsuche ist nicht unsere Baustelle, wenn es denn wirklich darum ging. Wir haben einen Mord aufzuklären. Höchstwahrscheinlich jedenfalls. Und die beiden Herren stehen eher nicht unter Verdacht, weil sie ja wohl kaum ausgerechnet dort gegraben hätten, wo sie in früheren Jahren selbst eine Leiche entsorgt haben.«

Plötzlich wurde Henry von einer heftigen Müdigkeit übermannt. Am liebsten hätte sie die Augen zugemacht und ein bisschen geschlafen. Die acht Stunden Fahrt von Bremen nach Freiburg rächten sich jetzt. Aber konnte sie sich gleich am ersten Tag so gehen lassen? Auf gar keinen Fall. Da gab es nur eines. »Wolf, ich bin total unterzuckert. Können wir bitte irgendwo anhalten und etwas essen? Ich hatte nämlich noch kein Frühstück.«

»Es gibt eine Kantine im Präsidium.«

»Nein, nicht heute. In meinem Kopf ist schon genug Kuddelmuddel wegen der ganzen neuen Namen. Das reicht für einen Tag. Kennen Sie nicht etwas anderes? Egal, was. Hauptsache, Frühstück.«

Oskar Wolf grinste. Er mochte Frauen, die gern aßen und nicht nur Kalorien auswichen. Ein Pluspunkt aus seiner Sicht. Wolf entschied, sie zu mögen.

Zehn Minuten später saßen sie sich in einem Selbstbedienungscafé gegenüber, und Wolf, der zu Hause bereits ausgiebig gefrühstückt hatte und nur Kaffee trank, registrierte amüsiert, dass Henry ordentlich zulangte. Dabei unterhielten sie sich über den Leichenfund.

»Hoffentlich kann der Pathologe das Alter bald genauer eingrenzen, damit wir richtig loslegen können. Möglicherweise weiß er ja schon etwas, der Herr – wie hieß er doch gleich noch mal?«

»Bernd Meisner«, half Wolf Henry auf die Sprünge. »Unser Chefpathologe.«

»Ja richtig. Bernd Meisner. Also, auf geht’s. Statten wir unserem Chefpathologen doch einen Besuch ab. Vielleicht hat er schon was für uns.«

Henry stand auf. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.

»Gut, dass Sie kommen!« Bernd Meisner schien sehr zufrieden, als die beiden Ermittler den Obduktionssaal betraten. Er winkte sie an seinen Tisch heran, auf dem das Gerippe vollständig ausgebreitet war. »Ich habe interessante Entdeckungen gemacht.«

Henry und Wolf kamen neugierig näher. Im Unterschied zu sonst mussten sie heute nicht gegen den Brechreiz ankämpfen. An dieser Leiche war sämtliches Körpergewebe, das unangenehme Gerüche hätte verbreiten können, bereits verwest.

»Ich konnte bei der Untersuchung sowohl eine Haarprobe als auch eine Nagelprobe entnehmen. Wie Sie sehen, sind noch verschwindend geringe Reste davon am Skelett erhalten.« Dabei zeigte er auf die wenigen dünnen Haare, die nun neben dem Schädel lagen, und auf einen Zehennagelrest. Danach fuhr er unbeirrt fort: »Der Boden, in dem die Überreste gefunden wurden, ist äußerst lehmhaltig. Und Lehm wirkt konservierend. Das hat die Verwesung stark verzögert. Ich hoffe, Sie werden sich bei uns wohlfühlen, Henry. Ist das eigentlich die Abkürzung von Henriette?« Bernd Meisner hielt inne und schaute die Kommissarin neugierig an.

»Das werde ich todsicher, wenn Sie sich freundlicherweise mit Henry abfinden und nicht länger nachbohren. Können Sie inzwischen sagen, ob wir von einer weiblichen Person ausgehen können?«

Das konnte er. Ohne näher auf ihre Abfuhr einzugehen, bestätigte er, dass es sich bei der Toten zweifellos um eine Frau handelte. Und er wusste noch mehr: Sie hatte etwa dreißig Jahre an der Fundstelle gelegen. Ihre Armbanduhr, die das Handgelenk noch immer umspannte, würde vielleicht noch exaktere Rückschlüsse ermöglichen. Was den Täter anging, müsse man also davon ausgehen, dass er oder sie heute mindestens fünfzig Jahre oder älter sei.

Henry und Wolf warfen sich bei Meisners Ausführungen einen kurzen Blick zu. Zwar hatte für sie schon davor kein Zweifel bestanden, aber jetzt war es endgültig: Carsten Zapf und Jonas Hansmann konnten nichts mit dem Tod dieser Frau zu tun haben, da sie zum Todeszeitpunkt noch Kinder gewesen waren.

Der Pathologe machte die beiden Ermittler nun noch auf eine Besonderheit aufmerksam: Das Skelett wies eine scharfe Einkerbung am linken Rippenbogen auf. »Ich vermute, dass sie durch ein Messer entstanden ist, das dem Opfer direkt von vorn in die Brust gestoßen wurde und dabei diese Rippe verletzt hat. Wahrscheinlich wurde das Herz getroffen. Henry gefällt mir übrigens ganz ausgezeichnet. Ich hoffe nur, ich habe es mir mit Ihnen nicht schon verscherzt!«

»Machen Sie sich da mal keine Sorgen, Bernd. Ich bin mit drei Brüdern aufgewachsen, da hat man keine Chance, wenn man sich piepelig anstellt.« Dabei lächelte sie ihn schelmisch an, sodass ihm klar werden musste, was sie mit diesem eigenartigen Wort gemeint hatte.

Wolf starrte noch immer ungläubig auf die Kerbe im Rippenbogen. »Sie wollen damit sagen, dass das Opfer erstochen wurde?« Seine Stimme hatte einen bewundernden Unterton. Immerhin war von der Dame nicht mehr viel übrig.

»So ist es. Dass sie keines natürlichen Todes gestorben ist, lässt ja schon allein der Fundort vermuten. Aber diese Kerbe hier erlaubt keinen anderen Schluss.«

»Und können Sie uns auch einen Hinweis zu diesem Messer geben, Bernd?«

Der Pathologe ließ sich nicht lange bitten. »Nach meiner Einschätzung muss die Klinge etwa fünfzehn Zentimeter lang gewesen sein. Viel mehr kann ich leider nicht sagen ohne Stichkanal.«

Henry war dennoch zufrieden. Jetzt hatten sie gute Belege, mit denen sie etwas anfangen konnten.

Sie bedankten sich bei Bernd Meisner und fuhren zurück ins Präsidium.

DREI

Jonas Hansmann war wütend auf Carsten. Er, Carsten und Bastian waren zwar schon seit der Grundschule miteinander befreundet, aber immer wieder reizte Carsten die Grenzen ihrer Freundschaft aus. Immer wieder und immer ein bisschen weiter. Es passte Jonas nicht, dass er die Polizei hatte anlügen müssen. Und dass Carsten einfach kaltblütig den Hund seines Vaters erschossen hatte, schockierte ihn noch immer.

Manchmal ging Carsten einfach zu weit. Das war schon früher so gewesen. Aber sie hatten dennoch immer zusammengehalten. Und dann verblüffte Carsten einen aber auch wieder, wenn es einem einmal schlecht ging. Wie damals, als Jonas sich hatte scheiden lassen. Da war Carsten beinahe täglich zur Stelle gewesen. Hatte ihn überallhin mitgenommen, ihn abgelenkt, mit ihm geredet, war ein guter Freund gewesen. Ja, so war Carsten eben auch. Allerdings, was er Bastian angetan hatte, indem er mit seiner Frau geschlafen hatte, überschritt die Grenze der Freundschaft deutlich. Oder etwa nicht?

In letzter Zeit beschlichen Jonas immer wieder Zweifel an dieser Verbindung. Er sollte eine klare Grenze ziehen. Freundschaft hin oder her, er wollte dadurch nicht noch mehr in Bedrängnis geraten. Auf keinen Fall! Schließlich waren sie erwachsen. Die Zeit der Kinderstreiche war vorbei. Er musste Carsten anrufen. Jetzt gleich. Oder zuerst doch lieber Bastian?

Entschlossen griff Jonas zum Telefon und wählte. Und er tat gut daran, denn die Zeit lief …

Es klingelte an der Tür. Olaf Disch legte sein Cello, auf dem er gerade eine schwierige Passage aus der Ouvertüre zu »Figaros Hochzeit« geübt hatte, zur Seite und ging nachsehen.

»Ach, du bist es, Charly. Komm rein.«

Olaf marschierte voraus in die Küche und setzte Teewasser auf. Charly, eigentlich Charlotte Urban, folgte ihm wie selbstverständlich und stellte ihre braune Bügeltasche energisch auf dem Küchentisch ab. Seine Besucherin war eine bemerkenswerte Erscheinung: klein, drahtig und wie immer mit einem wadenlangen Rock bekleidet. Heute in Apfelgrün, sporadisch durchsetzt mit dunkelblauen Linien. Und darüber trug sie einen ihrer selbst gestrickten, weiten Pullover in Knallgelb. Die zierlichen Füße steckten in flachen hellbraunen Lederschuhen. Auf ihrem Kopf saß ein breitrandiger Hut mit einem Arrangement aus grünlichem Blattgewusel unter einer üppigen Blütenpracht. Ein wandelndes Frühlingsereignis sozusagen. Nichts Ungewöhnliches bei ihr. Olaf mochte sie.

»Hat Wolf nichts gesagt?«, fragte sie ihn mit vor Neugier blitzenden Augen.

»Was soll er denn gesagt haben, Charly?« Olaf brühte den Tee auf und trug die Kanne mit zwei Tassen auf einem zierlichen Tablett ins Wohnzimmer.

Charly folgte ihm. »Die Polizei war beim Hansmann. Sie haben ein Skelett auf seiner Wiese gefunden!«

»Charly, woher weißt du das denn wieder?«

»Ich kenn doch die Sekretärin vom Hansmann. Sie war früher in meinem Kunstkurs. Eine nette Person. Sie hat mich soeben angerufen. Ich fahre jetzt da hin. Das will ich mir genauer ansehen. Und du kommst mit.«

»Das geht nicht. Ich muss jetzt wirklich üben. Diese Mozart-Ouvertüre hat ein paar knifflige Stellen.«

»Papperlapapp! Das sind doch alles Ausreden. Komm jetzt. Oder willst du eine alte Frau allein zu einem Tatort schicken?«

Olaf seufzte. Charly wusste immer, welche Knöpfe sie bei ihm drücken musste. Sie kannte ihn zu gut. Und neugierig war er natürlich auch. Außerdem hätte er noch genug Zeit zum Üben. Er musste ja nicht mal zum Dienst heute Abend. Allerdings durfte er den neuen Mieter seiner Ferienwohnung im Obergeschoss nicht verpassen. Der wollte irgendwann am späten Nachmittag eintreffen. Nun, bis dahin war es noch lange hin. Und eine Unterbrechung seines einsamen Spiels tat ihm wahrscheinlich sogar gut. Also nichts wie los.

Kurze Zeit später ließ Olaf Charly in seinen VW Kombi einsteigen und startete den Wagen. Er hatte Charly schon gekannt, als seine Eltern noch in dem Haus gelebt hatten. Sie war eine enge Freundin seiner Mutter gewesen und hatte ihm mit ihrem ungezwungenen Lebensstil schon immer imponiert. Charly hatte an derselben Schule, in der auch seine Eltern gearbeitet hatten, Kunst unterrichtet. Und als seine Eltern auf einer lange geplanten Europatour mit ihrem Wohnmobil tödlich verunglückt waren, war sie für ihn da gewesen. Das war sie immer noch. Sie war schließlich seine Patentante. Aber Kriminalgeschichten waren nun einmal ihre Leidenschaft. Und Hüte.

In Kenzingen war Charly immer schon eine stadtbekannte Erscheinung gewesen. Seit sie aber den Einbruch in einen Fahrradladen quasi ganz allein aufgeklärt und den jugendlichen Täter aufgespürt hatte, wurde sie von den Ortsansässigen heimlich »Miss Marple« genannt. Olaf wusste: Charly kannte ihren Spitznamen und trug ihn mit Stolz.

Olaf und Charly mussten eine Weile suchen, bis sie die richtige Wiese gefunden hatten. Charly rief zwischendurch sogar noch einmal bei der Sekretärin von Hansmann an, um sich den Weg genauer beschreiben zu lassen. Die Ausgrabungsstelle war abgesperrt, das sahen sie gleich. Aber außer der Grube in Form eines L gab es nichts zu sehen. Charly machte mehrere Fotos aus allen erdenklichen Perspektiven. Sie schien ganz in ihrem Element und wieselte emsig hin und her.

Olaf stand lediglich ruhig da und sann über die Grubenform nach. Eine komische Grube für eine Leiche. »Charly, hast du gesehen, wie seltsam die Ausgrabungsstelle geformt ist?«

»Bin ich blind, oder was? Das ist alles höchst interessant. Du musst unbedingt Wolf anrufen, damit wir mehr Informationen bekommen.«

»Das geht zu weit. Du weißt doch, wie er ist. Wir müssen abwarten, ob er heute Abend etwas erzählt. Anrufen kann ich ihn nicht. Dann ist er sauer und stellt auf stur. Hast du vergessen, wie es beim letzten Mal war?«

»Ist ja schon gut.«

Charly hielt für einen Moment inne und überlegte. Dann kam ihr offenbar ein Gedanke, denn ihre Miene hellte sich mit einem Mal auf, und sie fragte in unschuldigem Ton: »Du, Olaf? Hast du schon die Sommerreifen drauf?«

»Wieso fällt dir das jetzt ein? Aber um deine Frage zu beantworten, nein, habe ich noch nicht.«

»Die lagern bei Hansmann, oder? Lass uns doch da vorbeifahren und einen Termin ausmachen.«

Charly grinste Olaf übers ganze Gesicht an – und der konnte nicht anders, er grinste zurück. Wenn sie schon vorsichtig sein mussten, was Wolf anging, dann konnten sie trotzdem diesem Hansmann einen Besuch abstatten.

Während der Fahrt verabredeten sie, dass Olaf sich um seinen Reifenwechsel kümmern und Charly in der Zwischenzeit versuchen würde, Jonas Hansmann kurz zu sprechen.

Olaf hatte seinen Part nach zehn Minuten erledigt. Nun saß er wartend im Wagen. Hoffentlich gab es bei Charly keinen Ärger. Es wäre nicht das erste Mal.

Zwanzig Minuten dauerte es, bis er sie endlich mit schnellen Schritten über den Parkplatz eilen sah. Und wie sie so heranstürmte, in der einen Hand die kompakte braune Bügelhandtasche, die andere schützend auf ihren Hut gelegt, um ihn am Wegfliegen zu hindern, während sich der Rock nach hinten flatternd aufbauschte, so als würde sie jeden Moment abheben, musste er unwillkürlich an Mary Poppins denken und lächelte ihr entgegen.

»Fahr los, Olaf. Wir wissen jetzt Bescheid!«

»Na, dann wirst du mir doch jetzt hoffentlich auch mitteilen, worüber wir Bescheid wissen?«

»Der Jonas Hansmann hat nichts rausgerückt, obwohl meine Wiedersehensfreude als seine ehemalige Kunstlehrerin durchaus echt gewirkt haben muss. Das kannst du mir glauben.«

»Zweifellos. Hast du ihn denn tatsächlich wiedererkannt?«

»Nicht die Bohne. Aber er hat mir das Theater abgenommen. Nur was das Skelett und seine Rolle in diesem Fall betrifft, war er verschlossen wie eine Auster. Er hat mich lächelnd abgewimmelt.«

»Und das hast du nicht hingenommen.«

»Doch, das habe ich. Du kennst mich doch.«

»Ja eben!« Olaf musste schmunzeln.

»Aber seine Sekretärin, die Bettina, hat mir erzählt, dass er auf seinem Schreibtisch seit einer Woche einen Katalog über Metalldetektoren liegen hat und sie ihm aus der Bibliothek alles über römische Funde an der Rheinschiene besorgen musste. Du weißt, was das heißt?«

»Es heißt, dass Hansmann sich für römische Ausgrabungen interessiert.«

»Es heißt, dass er neben der Leiche etwas ausgegraben hat.« Triumphierend schaute sie ihn an.

»Das kannst du nicht einfach so behaupten«, versuchte Olaf, sie zu beschwichtigen.

»Aber sicher doch. Du hättest ihn mal sehen sollen. Der schaut absolut nicht aus wie einer, der freiwillig ein Buch aufschlägt. Glaub mir. Und schon gar keins über Geschichte. Nein, nein, den hat die Leidenschaft des Schatzsuchens gepackt. Deshalb der Katalog mit den Metalldetektoren. Und bestimmt hat er mit seinem Freund, diesem Carsten, gestern Abend etwas gefunden. Aber das soll wahrscheinlich niemand erfahren. Ich wüsste zu gern, was die entdeckt haben.«

Charly war in ihrem Element. Olaf kannte das schon. Sie würde so lange nicht lockerlassen, bis sie alles genau wusste. Miss Marple eben. Der Spitzname passte wirklich gut zu ihr.

Als sie aus seinem Wagen stieg, erinnerte sie ihn noch einmal daran, Wolf nach den Fakten zu dem Skelett zu befragen. »Oder soll ich rüberkommen und das selbst übernehmen?«

»Nein, Charly. Besser nicht. Du weißt doch, wie er ist, wenn er einen neuen Fall hat. Außerdem lernt er heute auch noch seine neue Chefin kennen. Und wir haben keine Ahnung, was das für eine ist. Mal sehen, in welcher Laune er sich befindet, wenn er heimkommt. Wir sprechen besser morgen früh.«

Charly war es recht. Sie umarmte ihn kurz und ging dann nach Hause. Sie wohnte nur ein paar Häuser weiter und hatte es abgelehnt, von ihm bis vor die Tür gefahren zu werden. Charly war gern zu Fuß unterwegs. Ganz besonders, wenn so wie heute in jedem Strauch, jedem Baum, überhaupt überall auf ihrem Weg entlang der Gärten die Zeichen des Neubeginns in der Natur nur so hervorzuquellen schienen. Der Frühling war einfach herrlich. Er war definitiv Charlys Lieblingsjahreszeit. Außerdem waren ihr beim Gehen schon immer die besten Ideen gekommen. Und es gab schließlich einiges, worüber sie nachdenken wollte.

Olaf hingegen musste sich jetzt sputen. Seine Zeit war knapp. Er musste das Abendessen vorbereiten, und üben wollte er auch noch. An Tagen, an denen er abends keinen Dienst hatte, kochte er immer. Das war eines seiner Hobbys. Außerdem gehörte ein gepflegtes gemeinsames Essen seiner Meinung nach zu einer guten Partnerschaft. Und darauf legte er Wert.

Olaf kannte Wolf schon seit der dritten Klasse. Er würde nie vergessen, wie verloren er sich am Anfang vorgekommen war, als seine Eltern mit ihm aus Steinen im Wiesental, einem kleinen Ort im südlichen Schwarzwald, nach Kenzingen gezogen waren. Endlich hatten sie eine kleine Stadt gefunden, in der sie beide als Lehrer eingesetzt werden konnten. Nahe genug an Freiburg, wo sie ihrem musikbegabten Sohn eine qualifizierte Cello-Ausbildung angedeihen lassen konnten.

Trotzdem war Olaf über all die Veränderungen am Anfang ziemlich unglücklich gewesen. Bis eines Tages die Klassenzimmertür aufging und der Rektor einen neuen Schüler vorstellte. Oskar Wolf.

Da nur noch neben Olaf ein Stuhl frei gewesen war, hatte er neben ihm Platz genommen. Neben ihm, dem kleinen Jungen mit der Brille, der bis dahin so viele Hänseleien über sich hatte ergehen lassen müssen, der zwar Cello spielen konnte, sich aber im Sportunterricht äußerst ungeschickt anstellte und überhaupt insgesamt ein Loser war. Nach Meinung der anderen. Wolf war da ganz anders. Er war ein Sieger. Er konnte Fußball spielen und sah super aus. Schon damals. Und sofort wollten alle mit ihm befreundet sein. Auch die Mädchen. Olaf musste bei der Erinnerung daran lächeln. Aber Wolf hatte sich ausgerechnet ihn ausgesucht. Vielleicht hatte ja ein wenig dazu beigetragen, dass Wolf, der aus dem Markgräflerland stammte, auch im alemannischen Dialekt zu Hause war. Das verband sie.

Wenn sie allein waren, sprachen sie Alemannisch miteinander. Bis heute. Damals hatten sie ihren Dialekt im fremden Kenzingen wie eine Geheimsprache benutzt, mit der sie sich mühelos in ihre verlorene Heimat zurückversetzen konnten. Das hatte beiden geholfen.

Dass sie noch mehr gemeinsam hatten, nämlich dass sie beide schwul waren, hatten sie erst viele Jahre später gemerkt. Aber von Beginn an waren sie unzertrennlich gewesen, und mit Wolf an seiner Seite war Olaf in der Schule niemals wieder gehänselt worden.

Das alles ging Olaf durch den Kopf, während er den Kopfsalat putzte. Hoffentlich würde der neue Mieter nicht ausgerechnet dann kommen, wenn sie beim Essen waren.

Henrys Team, die Abteilung Tötungsdelikte 2, hatte sich zu einer Besprechung in dem dafür vorgesehenen Raum eingefunden. Es ging unaufgeregt zu. Als Nächstes war Leo Wanninger, der Leiter der KTU, an der Reihe. Er hatte noch etwas gefunden.

»Nachdem uns die Gerichtsmediziner die Armbanduhr der Toten überlassen und wir sie gründlich gesäubert hatten, konnten wir sie eindeutig der Firma Swatch zuordnen. Wahrscheinlich würde sie mit einer neuen Batterie sogar noch laufen. Da sieht man mal wieder, dass unsere Produkte teilweise eine längere Lebenserwartung haben als wir selbst.« Er räusperte sich. Offenbar empfand er seine Bemerkung im Nachhinein als unangebracht.

»Aber«, fuhr er fort, »wir haben, nachdem das Skelett geborgen war, noch ein bisschen weitergegraben. Dabei waren wir erfolgreich: Wir haben eine silberne Kette mit einem Medaillon gefunden. Leider kann man das Foto darin nicht mehr erkennen. Und im anderen Grubenteil lag eine Tonscherbe mit einem Muster.« Er ließ die eingetüteten Fundstücke herumgehen und weidete sich noch einen Moment an dem Eifer, mit dem die Kollegen sich darüberbeugten. Danach verabschiedete er sich.

Henry sprach die abschließenden Worte: »Nach dem augenblicklichen Kenntnisstand haben wir es also sicher mit einem weiblichen Opfer zu tun. Die Frau war laut Bericht der Gerichtsmedizin ungefähr zwanzig Jahre alt, als sie erstochen wurde. Sie trug eine Swatch-Uhr und eine silberne Kette mit einem Medaillon. Möglicherweise hatte sie sich mit ihrem Mörder am Fundort verabredet, sodass wir wohl damit rechnen können, dass mindestens eine der beiden Personen aus der näheren Umgebung stammte. Einer musste sich in der Gegend ausgekannt haben. Vielleicht auch beide. Wie sieht es mit dazu passenden Vermisstenmeldungen aus?«

Während ihrer Zusammenfassung hatten die Kollegen ihre Angaben mit denen in ihren Unterlagen verglichen. Die Jüngste der Truppe, Natalie Beckmann, meldete einen Treffer.

»Hannes und ich haben hier eine Vermisstenanzeige von vor einunddreißig Jahren. Vermisst wurde damals Dagmar Drechsler aus Ringsheim. Sie war zu diesem Zeitpunkt neunzehn Jahre alt und hatte einen einjährigen Sohn. Ihre Mutter hat die Anzeige aufgegeben.«

»Sehr gut. Dann gehen Sie dem bitte gleich morgen früh weiter nach. Mit dem Sohn der Vermissten sollten wir zuerst sprechen. Für heute wünsche ich Ihnen allen einen angenehmen Feierabend.«

Henry war müde. Sie war seit elf Uhr gestern Nacht ununterbrochen unterwegs gewesen. Sie wollte jetzt endlich in ihre Wohnung, ein Bad nehmen, etwas essen und sich ausruhen. Heute würde sowieso nichts mehr passieren. Als Wolf und sie wieder in ihrem Büro ankamen, musste sie herzhaft gähnen.

Ihr Kollege schaute sie belustigt an. »Es war ein langer Tag für Sie. Müssen Sie heute noch Umzugskartons auspacken?«

»Nein, zum Glück nicht. Ich habe die Koffervariante gewählt. Für den Anfang jedenfalls.«

»Wenn Sie Hilfe brauchen, scheuen Sie sich nicht, es zu sagen.«

»Hoffentlich wird Ihnen dieses leichtsinnige Angebot nicht noch irgendwann leidtun. Aber im Ernst, danke. Ich komme gern darauf zurück. Für heute habe ich alles, was ich brauche.«

»Nun, dann wünsche ich Ihnen einen schönen Feierabend. Und herzlich willkommen bei uns.«

»Danke, Wolf. Genießen Sie den Abend. Wir sehen uns morgen.«

Henry nahm ihre Tasche und verließ kurz nach Wolf das Büro. Der erste Tag ihres Neuanfangs war geschafft. Sie wollte nicht vorschnell urteilen, aber sie hatte ein gutes Gefühl. Den ganzen Tag hatte sie nicht ein einziges Mal an Thomas, ihren Ex-Mann, gedacht. Und damit würde sie heute Abend nicht noch anfangen!

Aus ihrer Handtasche kramte Henry den Zettel mit der Adresse hervor, gab die Daten ins Navi ein und fuhr los. Kenzingen. Mal sehen, was dieser Ort zu bieten hatte. Hoffentlich war die Ferienwohnung einigermaßen schön. Obwohl, so wichtig war das auch wieder nicht. Es sollte schließlich nur ein Übergang sein. Bis sie eine geeignete Wohnung gefunden hatte.

Mittlerweile war es schon dunkel, und Henry bekam deshalb schon wieder fast nichts von Kenzingen mit, als sie den Angaben des Navis folgte und in ein freundliches Wohngebiet einbog, um dort die Straße mit dem seltsamen Namen »Im Kohler« zu suchen.