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„Die Straßen quollen über von Flüchtlingen. So viele verzweifelte Seelen auf einem Haufen, die alles hatten zurücklassen müssen. Kinder waren von ihren Familien getrennt worden und bettelten auf den Straßen. Nicht die organisierten Banden, wie man sie im Armenviertel findet, sondern wirklich verlorene Kinder. Doch noch war die Stimmung in der Hauptstadt gut, ja fast ausgelassen. Man war trunken von der Euphorie des Krieges und man zeigte sich gerne großzügig gegenüber jenen, denen es schlechter ging. Zumindest für eine Weile. Doch dann kam es wie immer.“ Der Krieg ist über das Königreich hereingebrochen. Das untergegangen geglaubte Imperium der Sonne droht die Länder des Nordens in einer Welle aus Blut zu ertränken. Als die mächtige Jägerin Grimhilda vom Schicksal ihrer Nichte Honeymaw erfährt, setzt sie die Segel gen Süden. Und über Nacht ist Kronprinzessin Victoria gezwungen, die Verteidigung zu leiten. Doch da lauert noch etwas anderes: Eine grausame Mordserie erschüttert das Armenviertel der Hauptstadt. Tritt eine Tochter der Sonne aus den Schatten? Befreit sich eine Tochter des Mondes aus der Dunkelheit? Ändert ein armes Bettelmädchen das Licht seines Sterns?
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Veröffentlichungsjahr: 2024
LEGENDEN AUS DER ZEIT VOR DER ZEIT
BUCH DREI
Reisekarte Nordlande
Reisekarte westliches Königreich
1. Böses Erwachen
2. Heimkehr
3. Lagerfeuergeschichten
4. Glühendes Eis
5. Im Schutz des Winters
6. Die Schattenseite
7. Rauch über den Wassern
8. Himmelsfeuer
Die Geschichte geht weiter
© 2023 Martin Haak
Alle Rechte vorbehalten.
Auflage: 1
Umschlaggestaltung: Mina Bekker
Illustrationen: Martin Haak
Lektorat: Sabine Gotthardt, Annette Kulzer und Paul Tido
Verlag: Selbstverlag
Verantwortlicher: Martin Haak, Frankfurter Straße 11,
61476 Kronberg, Deutschland
ISBN Paperback: 978-3-949908-16-3
ISBN Hardcover: 978-3-949908-17-0
ISBN eBook: 978-3-949908-15-6
Illustrationen, Karten und weiteres Material auf:
www.legendenzeit.com
Erstellt mit Vellum
„Zuerst wollte niemand glauben, dass der gesamte Süden gefallen war: Die Landeshauptstadt von Swampasud im Handstreich genommen. Das königliche Heer geschlagen und der Hochkönig tot! Doch schließlich glaubte es jeder. Oh, die Leute glaubten es so sehr, dass sie in jedem Schatten eine Echse sahen, in jedem Geräusch das Aneinanderreiben von Schuppen hörten, und selbst der vom Himmel fallende Regen wurde zum Zischen des Feindes. Du kannst dir die Angst, die damals herrschte, gar nicht vorstellen, mein Junge.“
Meister Sorelius, 933 n. D. (nach den Drachen)
Victoria hatte gut geschlafen. Die körperlich fordernden Ausflüge in voller Rüstung schenkten ihr geruhsame Nächte. Das Heer würde heute Abend in Badersweiler Hafen ankommen. Wenn sie stramm durchmarschierten, wäre es sogar möglich, die Landeshauptstadt Badersweil südlich der Hafenanlage kurz nach Einbruch der Nacht zu erreichen. Doch wenn sie ihre Truppen so sah, fragte sie sich, ob sie den frischen Rekruten und den zusammengewürfelten Einheiten der Landwehr das zumuten sollte. Vater hatte die Situation bestimmt unter Kontrolle.
Es kam ihr müßig vor, mit Truppen zu ziehen, die so viel langsamer waren als sie selbst. Hauptmann Rolfgar konnte sie in dieser kurzen Zeit vertreten. Darüber hinaus waren genug andere Offiziere im Heer, um den Marsch zu organisieren. Ihre Ernennung zum Kommandeur war ohnehin nur symbolischer Natur.
Sie könnte heute Abend, wenn sie Badersweiler Hafen erreichen würden, auch vorausfliegen. Dann könnte sie sich ein Bild über die Lage verschaffen und ihrerseits Vater Bericht erstatten. Nicht, dass es viel zu berichten gäbe. Doch in Zeiten der Krise konnten viele Gefahren abgewandt werden, bevor sie zu groß wurden, wenn man sich nur früh genug um sie kümmerte. Hierfür war eine zügige und vor allem detaillierte Kommunikation unabdingbar.
Victoria seufzte und streckte sich ausgiebig. Versorgungsbedarfe ermitteln. Tagesmarschtempo berechnen.Bericht erstatten. Lagebild besprechen. Langsam entwickelte sie sich zu einem Logistiker und Bürokraten. Sie musste nun grinsen. Wenn Zoe nicht unablässig mit ihrem schädlichen Einfluss auf sie eingewirkt hätte, würde sie vielleicht sogar zu einem Technokraten werden.
Das wäre wahrscheinlich das Einzige, was Vater an ihrer Freundin zu schätzen gewusst hätte.
Denn ihm missfiel die Bürokratie, trotz all ihrer Vorteile für seine Herrschaft. Diese Disziplin war für ihn der Inbegriff der Kleinkariertheit und Langeweile. Es gab nur eines, das er noch mehr verabscheute, nein, geradezu hasste: die Technokratie. Für ihn war sie nichts anderes als der naive Kinderglaube, dass es ideologie- und interessenfreie Wege gäbe, für das Gemeinwohl und die staatliche Stabilität zu sorgen. Eine nahezu gefährliche Träumerei, die bei einem absehbaren Zusammenbruch des Staatswesens durch Korruption schlussendlich zur Anarchie führen müsse. Die Amtsträger hüteten sich, technokratisch angehauchte Vorschläge zu unterbreiten. Alles musste Hierarchien untergeordnet sein, selbstverständlich mit dem König an der Spitze. Eine wohlwollende Autokratie in Gestalt der Monarchie. Alles andere würde im Chaos enden!
Victoria konnte ihn fast verärgert murmeln und brummeln hören, wie er sich beim Durchsehen von Statistiken und Budgetplanungen außer Hörweite glaubte. Ihr Grinsen verbreiterte sich. Das aktuelle Verhältnis zu ihrem Vater war bestenfalls als distanziert zu bezeichnen, doch sie musste immer wieder an seine kleinen Schwächen und Eigenarten denken, die kein anderer kannte. Oder die außer ihr niemand wahrzunehmen wagte. Sein überzogenes Selbstbild. Wenn er seine eigenen Fehler ignorierte. Wie er andere dafür verurteilte, was er selbst tat. Oder wie sehr er sich auf den Seneschall verließ, dessen Volk er für seine Art und Wege verachtete. Dabei waren die Wiesel der Krone eine große Stütze, auch wenn sie untereinander kämpften und oft geradezu geckenhaft auftraten. Wenn sie ihn so reden hörte, dann wirkte der Hochkönig nicht mehr so absolut unfehlbar und erhaben, wie er sich selbst gerne sah.
Zoe, die ihr Schlafquartier im Zelt der Prinzessin hatte, war wohl schon ein wenig länger auf den Beinen. Sie hatte Victoria Frühstück gemacht und ihr auch frisches Wasser bereitgestellt. Victoria glaubte, abgekühlten Lachs in einer Kruste aus Parmesan-Walnuss-Kräuter zu riechen, der am Vorabend zubereitet worden war. Ihr lief das Wasser im Munde zusammen. Zoe kannte sie einfach zu gut.
* * *
In dieser Nacht hatte Zoe kaum ein Auge zugetan. Die Echos des schrecklichen Traumes vom Vortag hatten sie durch ihren Schlaf hindurch verfolgt und regelmäßig aufgeschreckt, sodass sie sich schon bei Morgengrauen entschied, aufzustehen. Wahrscheinlich waren es nur die Schatten ihrer Angst vor dem Krieg, die in den Alpträumen Gestalt angenommen hatten. Die Sorge, dass sie tatsächlich in eine Schlacht verwickelt werden würden. Ja, das musste es sein.
Sie betrachtete den Morgennebel, dessen Schwaden, so nahe am großen Fluss, dicht und schwer waren. Mutter hatte solchen Dunst stets als „tränenschwer“ bezeichnet. Wenn in der Nacht zuvor schlimmes Unheil geschehen war, dann würden die Flüsse am folgenden Morgen Trauer tragen.
Zoe wusste, dass dies Unfug war, denn das würde ja bedeuten, dass jeden Tag etwas Schlimmes passierte. Obwohl dies im Grunde ja der Wahrheit entsprach. Aber schlimme Taten erzeugten keinen Nebel, das hing mit den Jahreszeiten zusammen. Mit der Temperatur. Verdunstung von Wasser. Dies hatte sie aus den Büchern von Victoria gelernt. Lesen war anstrengend und mühsam, doch sie gab zu, dass das Wissen, das in den Büchern zu finden war, interessant und zuweilen sogar inspirierend war. Es erweiterte den Verstand. Machte klüger. Man konnte besser um Ecken denken.
Jetzt klang sie schon wie Victoria, wenn sie sie mit ihrer Neunmalklugheit aufzog. Wenn sie so weitermachte, würde sie noch ein Bücherwurm werden. Wie die alten Meister, die ihre Leben in staubigen Wälzern verbrachten und für die kleinen Freuden des Lebens blind waren. Doch es waren genau diese kleinen Dinge, die das Leben lebenswert machten!
So, genug von Büchern und Tränennebel, es war Zeit, zu frühstücken! Sie würde Victoria auch gleich etwas zubereiten. Fisch, den sie selbst schlicht widerlich fand, ihre Freundin jedoch liebte. Zoe seufzte leise. Jedes Volk mochte etwas anderes, und Fisch war eine akzeptable alternative zu…
Zoe vertrieb den Gedanken, der ihr plötzlich durch den Kopf geschossen war. Sie musste den Schatten des bösen Traumes vertreiben, sonst würde er auch am Tage auf ihr lasten. Es würde ein weiterer Tag des Wanderns werden und es lief sich besser mit etwas Gutem im Magen.
* * *
Victoria flog über den Badersweiler Hafen hinweg. Der Kai und die Ankerplätze waren leer. Die Evakuierungen waren abgeschlossen. Bis auf Weiteres war der Schiffsverkehr auf königliches Geheiß eingestellt worden. Die Truppen fingen schon an, das Lager für die Nacht zu errichten. Alles schien friedlich. Zumindest am Fluss. Was sich weiter südlich zutrug, wollte sie noch heute in Erfahrung bringen. Sie hatte Hauptmann Rolfgar das Kommando übertragen und wandte sich nach Badersweil.
Der Abend neigte sich zur Nacht, doch die Landeshauptstadt von Swampasud lag keine Viertelstunde Flugzeit von ihr entfernt. Die diesige Luft des moorigen Südlandes verhüllte die weiter entfernten Gebiete. Aus Victorias Höhen wirkte es so, als ob das Land in trägen, orange leuchtenden Wolken verborgen lag. Sie folgte einfach dem Kanal, der leicht zu sehen war. Eine gerade Linie vom Fluss Grun nach Badersweil.
Die Stadt kam nun in Sichtweite. Victoria wunderte sich für einen kurzen Moment, weshalb sie sie nicht schon früher durch den Nebel gesehen hatte. Dann begriff sie, dass keine Lichter schienen. Kein Feuer und auch keine Lampe waren entzündet worden. Nicht einmal die der Wachbastion, die die Tore sicherten. Nun erkannte sie die Zelte des königlichen Lagers vor den Toren der Stadt. Auch dort kein Rauch, kein Licht und keine Bewegung. Beunruhigend. Hatte es eine Evakuierung gegeben? War das Heer nach Süden ausgerückt, um den Feind zu stellen? Victoria sank aus den kühlen Höhen zur dunklen Stadt herab. Sie sah keinerlei Lebenszeichen. Die Ebene, die die Stadt umgab, war in rotes Licht getaucht, das die Szenerie noch unwirklicher erscheinen ließ. Die Stadt und das Lager waren wie ausgestorben. Es schien auch eine seltsame Unordnung zu herrschen, so, als hätte man ein ausschweifendes Fest gefeiert und im Anschluss alles stehen und liegen gelassen. Es gab noch nicht einmal Wachposten. Ihre scharfen Augen erfassten im Dämmerlicht stattdessen etwas Verstörendes: Lange, unregelmäßige Reihen von Pfählen, auf die die Helme von Soldaten gesetzt worden waren, säumten den Weg entlang der Ostmauer der Stadt. Diese seltsamen Wegmarkierungen setzte sich vom Südtor bis zu dem Waldrand südlich der Stadt fort. Sie kreiste nun etwas tiefer.
Der flachere Winkel erlaubte ihr schließlich, einen klareren Blick auf diese seltsamen, dünnen Pfähle zu werfen. Ein Teil von ihr wusste es schon, bevor sie es sah, aber ihr Verstand weigerte sich, es tatsächlich zu glauben. Doch nun wurde es offenbar. Nein, da waren nicht nur Helme auf den Pfählen.
Es waren Köpfe.
Hundeköpfe.
Die Häupter von zehntausend Soldaten waren auf ihre eigenen Piken gespießt worden.
Es war auch nicht das Abendrot, das sich dort auf den Wiesen vor der Stadt spiegelte. Tausende Gallonen Blut waren vergossen worden. Eine Schlacht hatte stattgefunden und das Reich hatte den Kampf verloren. Vater hatte den Kampf verloren! Victoria wurde trotz der Wärme des Sommerabends eiskalt.
Nun, da sie es wusste, erkannte sie auch die Verwüstung des königlichen Feldlagers und des Marketenders. Dort herrschte keine Unordnung, sondern Zerstörung. Zerrissene Zeltbahnen, umgestürzte Tische und Bänke und alltägliche Dinge wie Becher und Teller lagen, achtlos fallen gelassen, über die Heide verstreut. Sogar Silbermünzen glänzten im Zwielicht. Sie erkannte jetzt auch abgeschlagene Körperteile. Hände, Arme, Beine. Einige hatten Fell, andere Schuppen. Am Nordtor sah sie blutige Kleidungsstücke. Selbst zerrissene, blutdurchtränkte Unterwäsche. Die ursprünglichen Träger waren offenbar buchstäblich aus ihrer Kleidung herausgefressen worden. Victoria hatte in ihrem bisherigen Leben nur ein einziges Mal einen Anflug echter Furcht verspürt, doch nun packte sie ein entsetzliches Grausen. Schauer durchfuhren sie in kalten Wellen. Ihr standen alle Haare und Federn vom Körper ab, nur gebändigt von ihrer schweren Rüstung. Sie musste sich zum ersten Mal, seitdem sie kein Kind mehr war, konzentrieren, um ihre Flugbahn zu halten. Badersweil hatte zwanzigtausend Einwohner gehabt. Mit den Flüchtlingen der umliegenden Dörfer und Weiler konnten bis zu fünfzigtausend Bürger dort gewesen sein. Alle waren fort. Gefressen oder entführt. Nur um etwas später ebenfalls verschlungen zu werden.
Vater!
Doch Victoria kannte die Antwort zu seinem Schicksal. Er war sicherlich tot. Er wäre niemals aus dem Kampf geflohen. Dazu war er zu sehr Mann. So oft er auch die Wahrheit in seinem Sinne zurechtbog, er würde ein Leben als Feigling nicht ertragen können. Auch wenn nur er allein sich als Feigling sähe.
Vater war tot! Ihre Sicht verschwamm. Für einen Moment entglitt ihr die Kontrolle über die Luft unter ihren Schwingen und sie begann zu taumeln. Dann sah sie ihres Vaters strenges Gesicht vor sich, hörte seine fordernde Stimme, mit der er sie ermahnte, sich ihrer Pflichten bewusst zu werden.
Victorias Sinne kehrten zurück. Ihre Sicht klarte auf und sie erlangte wieder Kontrolle über den Strom des Windes. Sie musste jetzt analytisch denken. Angst verwirrte den Geist. Angst konnte zu Panik führen. Wenn ein Bürger in Panik verfiel, stürzte er sich zu Tode. Wenn aber eine Königin in Panik verfiel, könnte sie etliche Millionen ins Verderben reißen.
Vater hatte Victoria sein Leben lang immer von den Pflichten eines Herrschers gepredigt, doch er legte sich diese Pflichten stets so zurecht, dass sie seinem Selbstbild entsprachen. Sie selbst sah sich jedoch nicht als das höchste Wesen. Sie war nur eine Gallionsfigur, eine Illusion, die das Bildnis einer vergangenen Zeit am Leben hielt. Vaters ungewollte Offenbarung der Tatsache, dass die Greife über Jahrhunderte hinweg die eigenen Gesetze und Schwüre schamlos gebrochen hatten, sogar das Verspeisen von ...
Nein, daran wollte sie jetzt nicht denken. Nicht, während sie über den kläglichen Überresten ihrer Schutzbefohlenen kreiste, die auf den Schutz durch das Königshaus vertraut hatten. Victoria musste erneut gegen die aufwallende Angst ankämpfen. Sie musste nun an Arco denken. Der alte General, der stets mit ihr sprach, als ob sie seine Tochter wäre, und nicht die Kronprinzessin. Sie sah ihn nun vor sich, seine dunklen Augen, die sie gutmütig anblickten, konnte seine beruhigende Stimme hören:
„Mit der Angst stiehlt sich auch Verzweiflung in das Denken. Angst verwirrt und führt zu Handlungsunfähigkeit und Panik. Schließlich tritt genau das ein, vor dem man sich eigentlich fürchtet. Wandle die Angst stets in Zorn. Zugegebenermaßen ist Wut auch kein guter Ratgeber. Der Zorn trübt das Denken, doch ebbt er schnell ab. Die Angst dagegen frisst auch noch den letzten klaren Gedanken auf. Und im Gegensatz zum Zorn bleibt die Angst. Denk daran, mein liebes Kind, Angst ist der wahre Feind! Bei allen Belangen. Immer.“
Victoria atmete tief durch. Sie empfand zwar nicht die Wut, zu der Arco ihr geraten hatte, doch das Gefühl, dass er für einen Moment bei ihr gewesen war, hatte ihr geholfen. Die Furcht saß ihr immer noch im Nacken, doch nun konnte sie wieder halbwegs klare Gedanken fassen.
Sie blieb in zweihundert Fuß Höhe und rief laut, in der Hoffnung, dass eine Antwort erschallen möge. Vielleicht hatte sich jemand verstecken oder in den Wald entfliehen können. Vielleicht hatte jemand überlebt.
Doch niemand antwortete. Sie musste zurück zu ihrem Heer. Es warnen. Die Armee auf einen Kampf vorbereiten. Sich mit den Offizieren beraten. Sich Gedanken zu einer Planung von komplexen Strategien zu machen, war ihr gerade nicht möglich. Abermals schlich das Gefühl der Angst ihren Rücken hinauf, so, als wollte sie ihr heimlich von hinten in den Kopf eindringen. Victoria schob das Ausmaß des offenkundigen Horrors unter großen Mühen von sich und konzentrierte sich stattdessen auf einfache Dinge. Sie spähte ein letztes Mal nach Überlebenden. Erfolglos flog sie dann über das Hafenbecken hinweg in Richtung Norden. Dann erregte ein seltsames Detail ihre Aufmerksamkeit. Vor einer alten Weide beim Hafen standen zwei gekreuzte Piken. Davor war ein Halbkreis aus rund hundert Piken, auf denen ebenfalls Köpfe staken. Sie wollte sich die schrecklichen Details nicht aus der Nähe ansehen, doch dort war vielleicht etwas, das sich als wichtig herausstellen könnte.
Sie schwenkte um und landete bei der Weide. Die Äste der Trauerweide waren gestutzt, sodass sie nicht bis zum Boden reichten. Der Baum sollte wohl als natürlicher Schattenspender nahe des Hafenbeckens dienen. Kaum war sie gelandet, da hörte sie das Brummen der tausenden Insekten, die sich an den Überresten ihrer Soldaten gütlich taten. Unzählige Schmeißfliegen, die sich wie ein lebendiger, grün glänzender Belag auf dem Blut am Boden und den Überresten der Gardisten niedergelassen hatten. Sie waren bei der Landung der Greifin wie eine widerliche dunkle Wolke kurz aufgestoben. Fast augenblicklich aber waren sie wieder zu ihrem grausigen Schmaus zurückgekehrt. Ein wahres Festmahl für das krauchende Getier der Erde und die summenden Scharen des geflügelten Ungeziefers.
Angewidert fokussierte Victoria ihren Blick in die Ferne, sodass sie das, was ihr nahe war, nicht klar erkennen musste. Doch den Geruch, den konnte sie nicht ausblenden. Blut, Urin, Angstschweiß und bittere Tränen. Es war, als hätte sich das Grauen als übler Dunst über dem Ort des Schreckens manifestiert. Die Prinzessin versuchte, die aufsteigende Übelkeit zu unterdrücken.
Auf den beiden gekreuzten Piken, die wie ein „X“ aufgestellt standen, hingen die festgebundenen Überreste eines Soldaten. Zumindest vermutete Victoria, dass es einmal ein Hund gewesen war, denn er hatte keinen Kopf mehr auf den Schultern. Sein Körper war fast vollständig von seiner Haut und seinen Muskeln befreit worden. Die Hälfte von ihm lag in eingetrockneten Streifen unter seiner Leiche. Ihr wurde klar, dass er noch lebte, als man ihm das angetan hatte. Wie entsetzlich! Sie sah die freigelegten Knochen seiner Arme und Beine, seine blanken Rippen. Die Streifen Fleisch am Boden waren winzig. Wie lange hatte man ihn gefoltert? Kannte der Feind denn gar keine Gnade? Sein Kopf war ihm brutal abgetrennt worden. Die geschälten Muskeln seines Halses waren zerfasert. Mit roher Gewalt regelrecht abgerissen.
Sie sah nun jenseits des improvisierten Foltergestells eine halbierte Pike mit dem aufgespießten Kopf des Opfers im Boden stecken. Dahinter stand eine seltsam in sich zusammengesunkene Gestalt. Dann erkannte Victoria, dass es sich um ein erhängtes Mädchen handelte. Es hing an einem Strick vom Baum.
Es war zuvor misshandelt und geknebelt worden. Schwarze Fliegen wuselten auf ihrer ausgetrockneten Zunge. Der Kopf des Soldaten war genau auf Höhe des geschwollenen Gesichts des Mädchens. Dann schoss Victoria ein Gedanke durch den Kopf, der das entsetzliche Bild vor ihr noch unerträglicher machte. Die beiden waren ein Liebespaar gewesen.
Wer auch immer ihnen das angetan hatte, wollte, dass sie zusätzlich zu den körperlichen Schmerzen auch noch seelische Qualen litten. Sie mussten während des eigenen Sterbens dem Geliebten bei dessen grausamen Dahinscheiden zusehen.Victoria wurde erneut von Grauen übermannt. Dieses Mal drang das Gefühl so tief und stark, dass sie die Fassung verlor. Von Würgereizen geschüttelt, wandte sie sich ab und schritt blind ein Stück von der grausamen Szene hinweg. Als sie die Augen öffnete, sah sie durch einen Tränenschleier in die Gesichter der toten Gardisten. Sie starrten stumm und mit gebrochenem Blick von den Piken zurück. Einige der Schädel waren von der Gewalt, die ihnen angetan worden war, regelrecht eingedrückt. Manche hatten noch ihre eingebeulten Helme auf. Die Rüstung, auf die sie vertraut hatten, hatte sie jedoch nicht vor den Angriffen des Feindes geschützt. Sie nahm nun auch Bewegungen unter der Haut der Hunde wahr. Insekten hatten sich in ihre Gesichter hineingefressen und erfüllten sie mit einem unheimlichen Leben.
Victoria unterdrückte unter Aufbringung all ihrer Willenskraft einen Schrei. Sie fühlte sich entsetzlich. Übelkeit, Angst, Trauer und eine seltsame Erschöpfung. Ihre Bücher und Vaters Heldengeschichten hatten sie nicht auf diesen Anblick vorbereitet. Der Gestank und das Grauen setzten ihr zu. Schließlich wurde sie von dem Ekel, gegen den sie ankämpfte, übermannt und übergab sich.
Sie musste hier weg, nur weg! Sie atmete zitternd durch. Sie konnte den Verfall in der Luft regelrecht auf der Zunge schmecken. Sie würgte erneut und spie bittere Galle aus. Doch selbst dieser bitter-saure Geschmack war ihr in jenem Moment willkommen. Sie wischte sich die Tränen aus den Augen und setzte zum Abflug an.
Da hörte sie etwas. Es klang wie Wimmern. War es etwa ein Säugling? Von der eigenen Mutter in allergrößter Not vor den Reptilien versteckt und nun allein zurückgelassen?
Victoria ergriff diesen Gedanken und hielt sich an ihm fest, wie ein bei Sturm über Bord gegangener Seemann sich an das kleinste Stückchen Holz in der tosenden See klammern mochte. Der Gedanke an die Not eines Hilflosen entfachte etwas in ihr. Ein Teil der Dunkelheit, die ihren Geist umklammerte, wich zurück. Die Prinzessin fing sich. Sie würde nicht von hier fliehen, wenn sie noch jemanden retten konnte!
Wo kam das Wimmern her?
Ihr Blick folgte dem kläglichen Klang.
Oh Sonne! Erbarme dich dieser armen Seele!
* * *
Zoe verließ beklommen das hastig errichtete Spitalzelt. Es hatte nur einen Patienten: eine kleine Bärin. Die Nordländerin war die einzige Überlebende, die Victoria hatte finden können. Geschunden und gequält hatte man sie zum Sterben zurückgelassen. Victoria hatte sie in ihren starken Armen und mit der Kraft ihrer mächtigen Schwingen zum Feldlager getragen. Die Prinzessin erließ sofort Alarmbereitschaft. In dieser Nacht wurden die Wachposten verdreifacht und sogar zum Fluss hin aufgestellt.
Der Bericht der Prinzessin erschütterte die Offiziere. Die Armee des Königs war aufgerieben, der König verschollen und Badersweil gefallen. Eine Katastrophe! Möglicherweise der Untergang des Reiches, ja der Zivilisation!
Hauptmann Rolfgar rief die anderen Hauptmänner zur Ordnung und erinnerte sie an ihre Schwüre und die Pflichten, die mit ihnen einhergingen. Er wirkte als einziger gefasst, fast so, als hätte er mitgeteilt bekommen, dass es nur Eintopf anstatt Auflauf zum Abendessen geben würde. Zoe musste gestehen, dass er Victoria in dieser Nacht eine wirkliche Stütze gewesen war. Ein kühler Kopf. Unerschütterlich. Er strahlte diese Unerschrockenheit auf die anderen Hunde aus. Aber auch auf die Prinzessin. Einem Teil von Zoe gefiel das zwar nicht, doch ein anderer war froh für ihre Freundin, auf der nun eine unglaubliche Last lag. Ein seltsames Gefühl, das Zoe nicht richtig zuordnen konnte. Doch war jetzt nicht die Zeit, um selbstsüchtige Gedanken zu hegen.
Die eingeweihten Offiziere und auch die Heiler, die das übel zugerichtete Bärenmädchen versorgten, wurden zum Stillschweigen verpflichtet. Die Truppen sollten in dieser Nacht noch nicht erfahren, was geschehen war. Zoe verstand nun, weshalb. Sie hatte schreckliche Visionen vor Augen und regelrechte Angst davor, schlafen zu gehen. Welche Träume würden sie wohl in dieser Nacht heimsuchen?
Man hatte der Bärin beide Arme und Beine gebrochen und sie so aufgeknüpft, dass sich die Schlinge um ihren Hals gerade so weit zuzog, dass sie am Rande des Erstickens blieb. Sie sollte langsam zu Grunde gehen. Wer dachte sich solch grausame Dinge aus? Wie oft mussten sie zuvor erprobt worden sein, um sie zu perfektionieren? Zoe schüttelte es bei diesem Gedanken.
Die junge Frau war lange bewusstlos gewesen. Der Strick, der ihr durch ihren Mund geführt und an den Stab festgeknotet war, hatte sie davor bewahrt, sich in ihrer Ohnmacht selbst zu erhängen. Doch ihre Mundwinkel waren dadurch wund. Durch den andauernden Zug an ihrem Nacken hatten sich auch noch beinahe die Wirbelknochen ihres Halses von ihrem Rückgrat ab der Schulter gelöst. Zum Glück hatte Victoria sie am Stab gelassen, um sie während des Flugs stabil zu halten.
Die Ärmste. Zoe hatte noch nie jemanden in einem so schlimmen Zustand gesehen. Die Ärzte waren jedoch zuversichtlich, dass sie überleben würde. Bären galten als widerstandsfähig und außerordentlich zäh. Abgesehen von den edlen Greifen waren sie die stärksten Bewohner der bekannten Welt. Doch wie es um ihre Gliedmaßen und Hälse stünde, würde sich letztlich noch zeigen.
Groß und stark. Für Zoe sah die Bärin auf ihrem Krankenbett aus, wie ein kleines Kind, das man halbtot aus einem kalten Fluss gezogen hatte.
Zerbrechlich.
Zerbrochen.
* * *
Victoria schritt den Waldrand ab. Die Dunkelheit und der dichte Nebel verbargen die Bäume, die sich weiter als zehn Fuß vor ihr befanden. Doch sie musste sichergehen. Der Pfad, auf dem sie ging, war mit weißen Kieseln bedeckt und auch in dem fahlen Licht des wolkenverhangenen Mondes gut zu erkennen, denn auf der vom Wald abgewandten Seite des Weges waren Pfähle aufgestellt worden. Auf diesen Pfählen brannten kleine Feuer, um ihr den Weg zu leuchten. Das Leuchten dieser Flammen war blass, doch voller … Erwartung? Wie seltsam.
Der Pfad mündete in einem ebenfalls von diesen weißen Kieseln bedeckten Platz, der von im Halbkreis aufgestellten Pfählen ausgeleuchtet wurde. Am anderen Ende des Platzes standen zwei gekreuzte Piken, auf denen Vater festgebunden hing. Ein Gefühl des Schreckens baute sich in Victoria auf, doch sie ging weiter. Vater war gehäutet worden und man hatte große Stücke aus ihm herausgeschnitten. Sein Haupt war nicht auf seinen Schultern, doch sie sah, dass es nicht weit von seinem Körper entfernt war.
Dieser körperlose Kopf Carolons schwebte nun vor der Weide, die sich hinter dem grausigen Gestell befand, und blickte sie streng an.
„Wo warst du?“ Seine harte Stimme klang vorwurfsvoll. „Wir haben auf dich gezählt!“
Victoria wollte antworten, erklären, dass sie doch noch auf dem Marsch gewesen war, nicht hatte früher eintreffen können.
Dann hörte sie ein Flüstern aus dem Dunklen. Traurige Stimmen. Erschöpft. Verzweifelt. Gequält. Sie hauchten nur ein einziges Wort.
„Prinzessin!“
Hunderte flüsternde Stimmen. Nein, tausende. Victoria blickte sich erschrocken um: Da waren gar keine Flammen auf den Pfählen. Es waren die abgetrennten Köpfe der Soldaten, die bei Badersweil ihr Leben gelassen hatten. Die Armee hatte auf sie gewartet. Vater hatte ihr vertraut. Und sie hatte sie im Stich gelassen. Sie hatte versagt. Ihretwegen waren sie nun alle tot.
„Prinzessin!“
Das tausendfache Klagen verlorener Seelen, die keine Ruhe finden konnten.
Victoria wich zurück. Dabei trat sie gegen etwas Schweres. Etwas, das wie achtlos weggeworfen am Boden lag. Sie blickte hinab, als es von ihr wegrollte. Es war ein Gardistenhelm. Doch es stak noch der Schädel des jungen Pikeniers darin. Der Helm rollte ein Stück über die weißen Kiesel. Sie sah nun, dass es gar keine Kiesel waren, sondern bleiche Knochensplitter. Der Kopf des Toten schlug seine Augen auf, blickte gequält zu ihr hinauf und hauchte ein verzweifeltes „Prinzessin!“.
Sie hörte, wie sich ihr von hinten ein dutzendfaches Knirschen und Klicken näherte. Ohne es zu sehen, wusste sie, was es war: Helme, in denen noch die Köpfe der Soldaten staken, rollten langsam und ungelenk auf sie zu.
„Prinzessin!“
Ein zehntausendfaches Flüstern, wie ein eisiger Wind in den toten Ästen eines abgestorbenen Waldes in einer einsamen Winternacht.
Victoria schrie vor Entsetzen auf. Sie wandte sich ab und wollte einfach nur fortlaufen. Sie rannte der Dunkelheit entgegen, denn ihre Flügel wollten sich nicht entfalten. Kaum hatte sie den Schein der blassen Lichter hinter sich gelassen, erschien Vaters Kopf direkt vor ihr und starrte sie mit brennenden Augen aus der Finsternis an.
„Victoria! Wach auf!“
Victoria rang nach Atem und fuhr keuchend aus dem Bett. Dabei riss sie Zoe mit, die sich an ihrer Seite befand. Victoria zitterte am ganzen Leib. Ein Gefühl der Verzweiflung durchströmte sie.
„Vater hatte recht gehabt. Er hatte es schon immer gewusst. Und nun ist er tot“, stammelte sie, noch ganz ergriffen vom bösen Traum. „Das ganze Königreich wird bald in Flammen stehen. Und alles nur, weil ich unfähig und schwach bin. Ich habe stets versagt und werde immer versagen!“
* * *
Zoe lauschte diesen Worten mit Entsetzen. Was sagte Victoria da? Zoe war aus einem seichten Schlummer geschreckt, weil ihre Freundin im Schlaf geschrien hatte. Sie stand selbst noch neben sich, während die Worte der Prinzessin vom Untergang der Welt kündeten. Sie spürte plötzlich die Angst und die Selbstzweifel, die die Greifin beherrschten, so, als wären es ihre eigenen. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen und ließen ihren Blick verschwimmen. Zugleich setzte ein Schluchzen in ihrer Kehle ein, es baute sich in ihrer Brust ein gewaltiger Druck auf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ein Brennen erfüllte ihren ganzen Körper. Es war wie ein Feuer, das man nur mit diesem inzwischen unerträglich gewordenen Schluchzen würde löschen können. Das war einfach alles zu viel für sie.
Plötzlich hatte Zoe eine Vision, die in Bruchteilen eines Augenblickes durch ihren Geist blitzte: Wenn sie dieses Brennen in ihrer Brust jetzt entweichen ließe, dann müsse das Reich untergehen. Nicht das politische Konstrukt, sondern die Millionen Leben darin.
Victoria, die sich an sie klammerte wie ein Kind im Dunkeln an seine Stoffpuppe, würde allen Mut verlieren und verzagen. Und mit ihr all die Soldaten vor ihrem Zelt, die in dieser dunklen Zeit auf Führung hofften, nein, geradezu danach verlangten. Die Hunde schöpften ihren Mut aus der Kraft ihrer Herren. Sie würden durch den Tod des Königs bei dem Massaker, das stattgefunden hatte, im Kern erschüttert werden. Wenn sie morgen auf dem Schlachtfeld ankämen, wäre nur noch wenig vonnöten, um sie gänzlich zu entmutigen. Es hieß, ein Krieger, der einmal wahrhaftig seinen Mut verlor, fand ihn oft nicht wieder. Wenn die Prinzessin an ihrer Aufgabe zerbräche und sich nicht mehr sammelte, würde es keine Kraft mehr geben, die sich dem Schrecken entgegenstellen könnte. Es würde wie eine dunkle Flut über sie hereinbrechen und alles verschlingen.
Jeder, den sie kannte, würde sterben oder sogar Schlimmeres erleiden. Viel Schlimmeres. Sie dachte an das arme Bärenmädchen, das nur einige Dutzend Meter entfernt auf einer Bahre im Spitalzelt lag. Eine atmende zerbrochene Hülle, zerstört in Leib und Seele. Ihr grausames Schicksal würde das Schicksal aller fühlender Wesen werden. Von hier bis an die gefrorenen Küsten jenseits der Grenzen des Reiches.
Wenn sie jetzt schluchzte. Wenn sie nur eine Träne vergösse.
So stand die kleine Häsin voller Furcht und mit pochendem Herzen im flackernden Schein einer einzigen kleinen Kerze und hielt in ihren zierlichen Armen den letzten Greifen dieser Welt.
Prinzessin Victoria die Erste, die letzte Donnerschwinge, Kronregentin und zukünftige Königin des mächtigsten Reiches dieses Zeitalters.
Mit einer Willensanstrengung, die ihrem Volk niemand zugetraut hätte, unterdrückte Zoe ihre Angst und das auf sie einbrandende Gefühl der Verzweiflung. Sie griff Victoria fester, sodass die Greifin das Zittern ihrer Freundin nicht bemerken konnte. Dann atmete sie langsam und tief ein und nahm somit eine innere Haltung ein, die in dieser Nacht jede Seele im Reich und in den Ländern jenseits seiner Grenzen retten würde.
Jedoch würde niemand je davon erfahren.
* * *
Victoria stand kurz vor einer Panikattacke. Zoe hielt sie in ihren Armen, die zu kurz waren, um ihren Körper komplett zu umfassen. Die kleine Häsin drückte ihr Gesicht seitlich an das ihre.
Die Prinzessin klammerte sich an Zoe, als könnte sie so die Welt festhalten, die ihr zu entgleiten drohte. Sie merkte gar nicht, dass sie ihre Freundin dabei anhob, sodass die Füße der Zofe den Kontakt zum Boden verloren.
In dieser Position verharrten sie einen Augenblick. Doch der Moment schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Die Zeit war wie eingefroren. Victoria konnte keinen klaren Gedanken fassen. Kälte breitete sich in ihr aus. Sie wollte schreien. Einfach nur ihre Verzweiflung hinausschreien, doch gleichzeitig fühlte sie sich, als wenn sie ersticken würde.
Doch dann atmete Zoe tief ein, hielt den Atem kurz an, fasste Victoria etwas fester und atmete ruhig und tief wieder aus.
* * *
Victoria spürte den Atem in Zoes kleinem Körper. Konnte fühlen, wie er hinein- und wieder hinausströmte.
Sie tat es ihr nun gleich. Langsam einatmen. Den Atem vier Herzschläge halten. Tief ausatmen. Die kalte Hand der Panik glitt von ihrem Herzen, bevor sie endgültig zupacken konnte. Ihre Gedanken beruhigten sich, wurden klarer. Der Schatten des Alptraumes fiel von ihr ab.
Sie öffnete ihre Augen. Sie musste nun stark sein! Ihren Truppen den Eindruck vermitteln, dass sie der Situation gewachsen war. Unerschüttert wirken. Ihre Pflicht erfüllen. Das war es! Sie bemerkte nun, dass sie ihre Freundin hochgehoben hatte, und setzte sie sanft wieder ab.
„Danke dir, meine Liebe.”
Sie gedachte Vater und seiner hohen Erwartungen an sie. Dann dachte sie an General Arco und seine Warnung vor dem wahren – inneren – Feind. Sie würde ihre Ängste in den Griff bekommen und die Rolle spielen, die das Schicksal ihr zugeteilt hatte.
* * *
Sie brachen das Lager früh am Morgen ab und marschierten nach Badersweil. Die verletzte Bärin wurde am Hafen in der nun verwaisten Amtsstube untergebracht. Ihr sollten die Strapazen eines erneuten Transports erspart bleiben. Ein kleines Kontingent Soldaten, das die Hafenanlagen sichern sollte, und ein Heiler blieben vor Ort. Sollte es wider Erwarten zu einem Angriff kommen, galt der Befehl, ohne Verzögerung über den Fluss zu evakuieren. Die verletzte Bärin war als potenzielle Trägerin von strategischem Wissen unbedingt zu retten.
Ein Kurier wurde zurück nach Dreistädten gesandt. Die Nachricht vom Fall Badersweils und dem möglichen Tod des Königs mussten den Seneschall erreichen, bevor das Gerücht sich im Reich verbreiten würde. Er war der fähigste Mann, auf den sich die Prinzessin in dieser Zeit stützen konnte. Er würde wissen, was zu tun war, und die Geschäfte anstatt ihrer leiten.
Die Truppen nahmen die Neuigkeiten wie erwartet mit Entsetzen auf. Dass sich der Krieg so schnell zum Schlimmsten entwickeln würde, damit hatte niemand gerechnet. Auf dem Marsch nach Süden hielten sich alle kampfbereit. Es erklangen weder Lieder noch Lachen, Rüstungen und Helme waren angelegt, und alle Hände umschlossen Waffen. Sie erreichten Badersweil am Mittag. Die Sonne schien wohlwollend auf sie herab, doch alle Gemüter waren bedrückt. Es lag ein übler Brodem über dem ganzen Ort. Das Blut, das die Erde tränkte, hatte einen widerlichen, dunklen, schlackigen Sumpf vor der Stadt gebildet. Die Piken, auf denen die Köpfe der Gardisten der anderen Bataillone staken, waren als schreckliche Warnung entlang der Mauer aufgereiht, soweit das Auge reichte. Victoria befahl, zuallererst den grausigen Folterplatz vor der Weide am Nordtor zu räumen. Die Soldaten, die hierfür abkommandiert worden waren, konnten den Schrecken trotz des hellen Tages und der Sicherheit, die zehntausende bewaffnete Kameraden ihnen gewährten, kaum ertragen. Ein betroffenes Schweigen hatte sich über das gesamte Heer gelegt. Außer dem Summen der unzähligen Insekten war kein anderer Laut zu hören.
Die Stadt war leer. Es gab Anzeichen von Gewalt, auch wurden Bündel von blutiger Kleidung entdeckt. Die aufgespießten Häupter wurden eines nach dem anderen von den Piken heruntergenommen. Die Mannschaften, die diese Aufgabe wahrnahmen, waren bald erschöpft vom Grauen und mussten regelmäßig ausgetauscht werden. Es gab kaum einen Soldaten, der an diesem Tag nicht mit eigenen Augen die Gräueltaten gesehen hatte, die der Feind verbrochen hatte. Sie trugen an diesem Abend keine Leichname zur letzten Ruhe. Nur Köpfe. Zehntausend Schädel. Zehntausend Brüder. Die Stimmung im Heer war fatalistisch, die Moral der Armee am Boden. Victoria betete zur Sonne, dass in dieser Nacht kein Angriff erfolgen möge.
Victoria bemühte sich, selbstsicher und unerschrocken zu wirken. Da sie schon gewusst hatte, was sie alle erwartete, konnte sie sich im Gegensatz zu den Truppen auf die Schrecken, die dieser Tag bringen würde, mental vorbereiten. Sie setzte ihren schweren Helm auf, der über ein hochklappbares Visier verfügte. Wenn sie dieses Visier schloss, sah man nur noch ihre Augen aus den schmalen Sehschlitzen leuchten. Der Helm sollte eigentlich ihr Gesicht im Kampfe schützen, doch heute würde er helfen, ihre innere Unruhe zu verbergen. Die Soldaten sollten poliertes Eisen sehen und keine unkontrollierten Gefühlsregungen. Sie stand scheinbar ungerührt am Nordtor in der Nähe des Weidenbaums. Ihr war zwar elend zumute, doch sie bemerkte, wie die Hunde unentwegt in ihre Richtung blickten. Selbst jene, die so weit entfernt waren, dass sie die Prinzessin kaum ausmachen konnten. Es schien ihnen Mut zu machen, zu wissen, dass die Greifin vor Ort war. Sie würde eine Runde über das Heer machen müssen, sich zeigen. Unerschrockenheit demonstrieren. Victoria wollte gerade zum Flug ansetzen, da kam Hauptmann Rolfgar auf sie zu. Selbstsicher wie immer. Er ging über das grausige Schlachtfeld, als wäre er auf dem Weg zu einer gewöhnlichen Besprechung. Ernst, aber unbekümmert.
„Eure Majestät, wir sollten alle Waffen und Rüstungen bergen, derer wir habhaft werden können“, begann er unvermittelt. „Die Schmieden der Eisenhütten von Smont werden den kommenden Bedarf der Krone nicht so kurzfristig decken können. Der Feind wird gewiss im Kampf mit dem König und seinem Heer schwere Verluste erlitten haben. Dennoch: Die Echsen waren siegreich und zahlreich genug, um nach der Schlacht die Leichen von zehntausend Mann und fast Dreißigtausend Zivilisten nach Süden zu verschleppen.“
Victoria starrte den Hauptmann an. Kalte Logik. Aber das war es, was nun vonnnöten war. Er hatte recht. Der Feind war zahlreicher und schlagkräftiger aufgestellt, als sie alle gedacht hatten. Dennoch war er hastig wieder abgezogen, anstatt die Stadt zu besetzen. War es das von Victoria angeführte Heer, das ihn zum Rückzug bewogen hatte? Die hier gefallenen Bataillone waren die besten des Reiches gewesen, inklusive der Elite der Königswache. Und nicht zuletzt des Königs selbst. „Des Königs“. Vater ...
Victoria zwang sich zurück zu den Schlussfolgerungen, auf die der Hauptmann mit seinen Äußerungen hingedeutet hatte. Die Echsen hatten einen großen Sieg errungen. Diese bittere Wahrheit musste man erkennen und sich bewusst machen. Sicherlich würde der Feind den Kampf mit den zusammengewürfelten Hilfstruppen der provinziellen Landwehren nicht scheuen. Gab es also vielleicht einen anderen Grund, weshalb Badersweil direkt nach der Eroberung aufgegeben wurde? Victorias Gedanken rasten. Umgingen sie vielleicht ihr Heer, um in das Reich vorzustoßen. Um noch mehr Städte zu entvölkern? Oder um sie aus verschiedenen Richtungen zugleich anzugreifen? Eine Zangenbewegung konnte, wenn akkurat ausgeführt, eine tödliche Strategie sein.
„Ja, Herr Hauptmann, eine umfangreiche Erkundungsmission ist unabdingbar. Stellen sie zwei Trupps zusammen, die die Wälder östlich und westlich der Stadt nach Spuren absuchen sollen. Dass der Feind an uns vorbei nach Norden vorgedrungen ist, muss unbedingt ausgeschlossen werden“, teilte die Prinzessin dem Hauptmann mit. „Außerdem muss ein größerer Stoßtrupp unverzüglich nach Süden ausrücken, um Position und Stärke des Gegners festzustellen. Es scheint so, als ob sich der Feind nach der Auseinandersetzung nach Süden abgesetzt hat. Alle Spuren wiesen darauf hin. Wenn die Streitmacht der Echsen geschwächt ist, könnte man sie sogar einholen und zum Kampf stellen. Mit den Gefangenen werden sie nicht so schnell vorankommen wie wir. Möglicherweise können wir sie vor dem Erreichen der Tiefen Sümpfe stellen. Sie haben nur zwei Tage Vorsprung.“
„Ich melde mich freiwillig, die Erkundungsmission in den Süden zu führen, meine Königin!“, antwortete Rolfgar mit festem Blick.
„Meine Königin“. Ja, das war sie nun zwangsläufig, auch ohne Zeremonie. Von allen Fürstenhäusern gab ja nur noch sie.
Victoria fiel auf, dass der Hauptmann ihr direkt in die Augen sah. Vater hatte niemand in die Augen gesehen. Victoria war sich sicher, dass dies kein gutes Zeichen war. Man respektierte sie wohl nur aufgrund ihrer Position. Tochter des Königs. Der letzte Greif. Der einzige Greif, der nie wirklich einer war. Auch wenn es Victoria aus diesem Grunde nicht gefiel, dass der Hauptmann ihr so offen in die Augen blickte, machte ihr die nahezu spürbare Angstlosigkeit des Soldaten Mut. Ihm schien der Gedanke an das, was die Zukunft bringen mochte, keine Furcht zu bereiten. Im Gegenteil. Auch war Rolfgar kein kampflustiger Narr, der sich den eigenen Tod nicht vor Augen führen konnte. Obwohl er auf den ersten Blick durchaus so wirken konnte. Doch er hatte sich im Angesicht der schlimmen Entwicklungen als fähig bewiesen und war ihr eine große Stütze gewesen. Victoria bemerkte, dass ihr der Gedanke, dass der junge Hauptmann auf die gefährliche Mission ging, nicht gefiel. Doch sie konnte der gebotenen Logik nicht widersprechen. Zudem war es nur richtig, dass der verlässlichste Mann diese wichtige Aufgabe übernahm. Viel hing von einer akkuraten Lageeinschätzung ab. „Nun gut, Hauptmann, ich stimme Eurem Vorschlag zu“, entschied die Prinzessin.
„Euer Wunsch sei mir stets Befehl, meine Königin“, antwortete Rolfgar mit fester Stimme.
* * *
Zoe wünschte sich, sie wäre in Badersweiler Hafen geblieben und hätte sich zusammen mit dem Heiler um die Bärin gekümmert. Ihr Alptraum war zur Realität geworden. Vor der Stadt, die sie zu retten ausgerückt waren, hatte das Blut von Tausenden die Wiesen und Wege in einen widerlichen stinkenden Sumpf verwandelt. Sie hatte noch nie so etwas gerochen. Nichts kam diesem modrigen, süßen Duft gleich, der entfernt an eine verdorbene Süßigkeit und zugleich an Fäkalien erinnerte. Wenn man über diese Kombination nachdachte, machte es den Gestank noch ekelerregender, wenn das überhaupt möglich war. Die Hunde, aber auch Victoria schienen die Ausdünstungen des gräulichen Morasts besser ertragen zu können. Zoe vermutete, dass Völker, die auch Fleisch verzehren konnten, mit dem Geruch von Blut besser umzugehen wussten. Vermutlich war es Teil ihrer Natur, aber es war offensichtlich, dass auch sie unter dem Miasma des Verfalls litten. Der Marketender blieb über eine halbe Meile von der Stadt entfernt, doch auch dort konnte man das verrottende Blut wahrnehmen.
Zoe war bis auf fast einhundert Fuß an das Schlachtfeld herangetreten, konnte dann aber nicht weiter. Sie glaubte jeden Moment, sich übergeben zu müssen. Die Soldaten sammelten Köpfe ein und stapelten sie zu großen Haufen. Köpfe!
Zoe erinnerte sich an den Tag, als sie mit Victoria von ihrem Balkon aus auf die durch die Stadt marschierenden Truppen blickte. Die jungen Männer, die dort durch die Straßen zogen und fröhlich sangen: Das waren diese Köpfe. Zoe wollte auf keinen Fall näher an die entsetzlichen Haufen. Sie wollte keines der Gesichter klar erkennen. Sie wusste, sie würde diese Gesichter für den Rest ihres Lebens in ihren Träumen sehen. Besser abgetrennte Blumen.
Die Gardisten, die mit dem Zusammentragen der Schädel beauftragt waren, sahen krank und erschöpft aus, so, als wögen die Häupter so viel wie die ganzen Leiber der ursprünglichen Besitzer. Sie beobachtete, wie einer der Soldaten den Kopf eines Gardisten auf dem ihr am nächsten befindlichen Haufen ablegen wollte. Kaum, dass er ihn abgelegt hatte, schien das abgetrennte Haupt herunterrollen zu wollen, und der Soldat griff erschrocken nach dem Kopf. Dabei glitt er in dem inzwischen oberflächlich eingetrockneten Blutschlamm aus, denn unter dem Schorf war noch immer viel Feuchtigkeit verborgen. Der tückische Schlick stahl dem jungen Pikenier schmatzend den Stand und dieser fiel schreiend in den Schädelhaufen. Der Soldat streckte seine Arme entsetzt vor sich, doch seine Hände glitten durch die losen, blutverschmierten Köpfe, sodass er regelrecht in den Haufen einsank. Ein Dutzend Köpfe lösten sich aus dem Schädelhaufen und er wurde regelrecht von ihnen begraben. Aus dem erschrockenen Ruf wurde panisches Kreischen, das nun gedämpft aus dem Leichenberg klang. Ein paar andere Soldaten eilten sofort zu Hilfe, um ihn aus seinem grausigen Grab zu befreien. Einer ließ den Schädel, den er trug, fallen. Zoe konnte den Aufschlag des Kopfes hören, ein dumpfes, feuchtes Schmatzen. Das Haupt blieb dort liegen, wo es den Boden berührt hatte. Wie eine entkernte Pflaume, die man in roten Haferschleim hatte fallen lassen.
Zoe konnte nicht länger zuschauen. Ihr standen alle Haare zu Berge, sie mochte sich nicht einmal ausmalen, wie es sich anfühlte, unter abgetrennten Köpfen begraben zu werden. Wenn sich der Schorf ablöste und das feuchte Fleisch des Halsansatzes über die Wangen glitt. Wundsaft und Blutschleim aus den Totenköpfen in den vor Entsetzen aufgerissen Mund lief. Der Geruch in der Nase zum Geschmack auf der Zunge wurde. Die Übelkeit überkam sie und sie spie einen Teil ihres Frühstücks aus. Sie wandte sich ab und lief so schnell sie konnte zu den Zelten des Lagers und dem Marketender. Die Nachhut hatte die gnädige Aufgabe erhalten, das Lager für die Nacht zu bereiten. Dorthin wurden nun auch Rüstungsteile und Ausrüstungsgegenstände, die noch brauchbar waren, gebracht. „Wiederverwertung“ nannten die Soldaten das. Doch wer wollte eines toten Bruders Rüstung tragen, an der noch dessen Blut klebte? Die Nachhut sollte diese Metallteile im Kanal reinigen. Keine schöne Aufgabe, aber immer noch besser, als Schädel zu sammeln. Viel besser.
Am besten waren diejenigen Soldaten dran, die Holz zum Errichten von Scheiterhaufen beschafften. Die Arbeit mochte die körperlich anstrengendste sein, doch jedem, der hierzu eingeteilt wurde, war die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. Die fünf großen Schädelberge vor der Stadt sollten eingeäschert werden, gemäß der Tradition der Greife. Krieger sollten brennen! Kein Wurm sollte von ihnen kosten, nein, ihre Asche sollte zu den Himmeln aufsteigen. Da die Hunde Sonne und Mond verehrten, wurde die Einäscherung auf Victorias Befehl auf die Dämmerung verlegt. Wenn die Vorbereitungen bis zum Sonnenuntergang abgeschlossen sein würden, würde man die Feuer an diesem Abend entzünden, wenn nicht, dann eben im Morgengrauen.
Zoe hoffte, dass es schon diesen Abend so weit sein würde. Damit die Seelen der Toten Frieden finden konnten. Damit die Feuer den garstigen Sumpf austrocknen und den Gestank vertrieben. Damit das Licht der Scheiterhaufen die kommende Nacht erhellte. So schrecklich dieses Feuer auch werden mochte, Zoe fürchtete die aufziehende Dunkelheit noch mehr.
* * *
Victoria sah Hauptmann Rolfgar nach, wie er mit dreißig mutigen Männern in den Süden aufbrach. Nur Freiwillige für diesen Auftrag. Das Risiko war gewaltig: Was mit den Gefangenen geschähe, konnten nun alle bezeugen. Sie ließen ihre Rüstungen zurück und führten als Bewaffnung jeweils nur ein Schwert mit sich. Ihre Aufgabe war es nicht, zu kämpfen, sondern Informationen zu beschaffen. Schnell und leise. Am besten gänzlich unbemerkt.
Auf der Ebene vor der Stadt waren mittlerweile fünf große Scheiterhaufen errichtet worden. Erschreckend große, wenn man wusste, dass unter dem Holz nur Köpfe waren. Erschreckend kleine, wenn man bedachte, dass dies vor kurzem noch zehntausend junge Männer waren. Die Dämmerung brach schon herein. Die Feuer würden also erst zum Morgen entzündet werden. Ihnen stand eine wahrlich finstere Nacht bevor.
* * *
Die Sonne war untergegangen und alle Soldaten wurden zum befestigten Feldlager zurückbefohlen. Die trägen, fließenden Gewässer des nahegelegenen Kanals hatten sich rot vor Blut gefärbt. Jeder wusch sich, so gut er nur konnte, das Blut vom Körper und aus den Kleidern. Manche Soldaten waren gleich ins seichte Wasser gesprungen, um sich zu reinigen. Den Geruch loszuwerden. Den Tod abzuwaschen. Dennoch haftete dieser Leichenbrodem dem gesamten Lager an. Bei weitem nicht so stark wie in der unmittelbaren Nähe von Badersweil, dennoch klar wahrnehmbar. Fast niemand aß an diesem Abend eine Mahlzeit.
Zoe stand nun mit dem Rücken zum königlichen Zelt und blickte auf das Lager. Es herrschte Stille. Nur das Prasseln hunderter Feuer war zu hören, die entgegen der Sommerhitze viel zu hoch geschichtet waren. Es war, als wollten die Soldaten die Dunkelheit vertreiben. Doch nicht das Dunkel der Nacht, sondern die Finsternis, die auf ihrem Geiste lastete. Denn wenn das Licht erstarb, tauchten die Bilder des Tages vor ihnen auf. Aus diesem Grunde wollte auch niemand die Augen schließen. Denn obwohl es inzwischen tief in der Nacht war, schien kein Soldat zu schlafen. Ihr ging es nicht anders.
Nur ein paar der Hunde hatten die junge Häsin bemerkt, denn fast jeder schaute zum Rand der Dunkelheit nach Süden. Dorthin, wo der Schrecken Gestalt angenommen hatte. Wo sich ein wahrer Sumpf aus dem Blut der Brüder geformt hatte. Wo ein Wald aus Köpfen gewachsen war. Wo fünf große Hügel aus Holz und Schädeln auf das Kommen der Morgendämmerung warteten. Die Soldaten in der Nähe schauten die kleine Zofe mit leeren Augen an.
Victoria trat nun ebenfalls aus dem Zelt. Auch sie konnte oder wollte keinen Schlaf finden. Doch sie fand auch keine Worte, die sie mit Zoe hätte wechseln können. Sie hatten stumm im Zelt gesessenen und schweigend ins Leere gestarrt. Die Prinzessin wirkte gefasst, doch Zoe wusste es besser. Sie wusste, wie es um sie alle stand. Die Verzweiflung lag über dem königlichen Heer wie ein dichter Dunst. Tränenschwer, wie der Morgennebel nach einer Schlacht.Noch ein wenig mehr, und er würde sich zu einem Regenschauer verdichten.
Die Greife besaßen Lieder von Krieg und Sieg, die Hunde von Kampf und stolzem Tod, aber keines dieser Lieder wurde in dieser Nacht gesungen. Die Hasen hingegen besaßen nur einfache Lieder, die nicht von großen Taten handelten oder zu Ehren von mächtigen Helden gedichtet waren. Nein, ihre Lieder kündeten von den Jahreszeiten und dem Sonnenschein, dem Regen, der das frische Grün wachsen ließ und den Sternen, die die Nacht erhellten. Zoe wandte ihren Blick von dem Lager ab und sah hinauf in das Tuch der Nacht. Über ihnen spannte sich das wolkenlose Firmament, aus dem jetzt die ungezählten Kerzen des Nachtkönigs schienen. Auch die Hasen kannten seine Geschichten. Der Mond schien mit sanftem Licht auf sie hernieder, so, als hätte das Massaker von Badersweil nie stattgefunden.
Das Leuchten der Gestirne spendete Zoe zu ihrer eigenen Überraschung ein wenig Trost. Das Licht des Nachthimmels kam den Legenden zufolge zum Teil aus der Andernwelt. Von dort, wo es keine Schmerzen und kein Leid gab. Wo man einander wiederfand, stark und immer jung, egal wie alt und gebrochen man am Tage des eigenen Todes war.
Ihr fielen nun die Zeilen eines Schlafliedes der Hasen ein. Sie hatte im Licht der Sterne auf einmal das Bedürfnis, dieses Lied zu spielen. Sie ging zurück ins Zelt, nahm ihre Laute und begann die Melodie zu spielen. Gerade als sie die alte Weise anstimmen wollte, wurde ihr Mund trocken und sie wagte es nicht, mit dem Gesang zu beginnen. Glücklicherweise blieb es nur bei einem trockenen Mund, denn ihre Finger spielten die einfache Melodie unbeirrt weiter.
Zoe blickte auf. Die Soldaten an dem nahen Feuer starrten sie nun an. Sie senkte schnell ihren Blick, da sie fürchtete, nun doch noch den Mut zu verlieren, sollte einer von ihnen mit Spott reagieren. Oder gar verärgert sein, da diese Nacht im Grunde eine Totenwache war. Zoe atmete tief durch und spielte weiter.
* * *
Victoria stand am Zelt und blickte auf Zoe. Sie konnte es nicht fassen. Zoe spielte eines der Kinderlieder, die Momma Sue ihnen so oft vorgesungen hatte. Was dachte sich ihre Freundin dabei? Die Armee war ein Haufen derber Männer. Zoe machte sich gewiss zum Gespött. Darüber hinaus war sie Teil ihres offiziellen Gefolges und damit nicht mehr nur eine einfache Magd. Womöglich würden die Soldaten jetzt erkennen, dass ihre zukünftige Königin nur ein verängstigtes, unselbstständiges Mädchen war, so wie Vater es immer befürchtet hatte. Das sich von einem Häschen Kinderlieder vorsingen ließ. Die ohnehin geschwächte Moral würde noch weiter sinken. Sollte der Feind sie angreifen, würde er über sie hinwegtosen und das gesamte Reich mit all seinen Einwohnern fortspülen. Sie sollte Zoe bitten, mit dem Lautenspiel aufzuhören. Doch Victoria zögerte. Wie würde es wirken, wenn sie ihrer Freundin jetzt ein einfaches Lied untersagte? Zudem wollte sie es in ihrem tiefsten Inneren selbst hören.
Sie beobachtete die Soldaten, die in der Nähe waren. Niemand lachte. Niemand rief dazwischen. Sie blickte in die Gesichter der Hunde. Da war kein Spott oder Entrüstung in ihren Augen. Dort waren Schmerz und Verzweiflung, Traurigkeit und Angst. Ihre Gedanken weilten in dem Tod. Ihr Mut war fast gebrochen und ihre Seelen bluteten. Ein Heer von Dreißigtausend Mann, in dem jedoch jeder für sich allein in der Nacht verharrte. Das Lied, das die Häsin spielte, hieß „Gute Nacht, Gefährten“. Ein schlichtes Lied, das vom Einbruch der Nacht handelte. Von den Sternen, die über den Rand der Welt emporstiegen, um den Kindern in der Dunkelheit Licht zu spenden. Von dem Versprechen, dass, wenn der Morgen kam und der neue Tag erwachte, die meisten Sorgen vergangen sein würden. Zoe stimmte den Gesang an. Ihre helle Stimme erklang sanft, doch klar. Victoria schwieg und richtete ihren Blick hinauf zu den Sternen.
Es würde ohnehin kaum einer der Soldaten das Lied hören.
* * *
Hauptmann Rolfgar hatte sich eine Handvoll fähiger Männer genommen und erkundete mit ihnen das Gebiet südlich von Badersweil. Der Trupp war klug zusammengestellt, keinem der Männer ging auf dem langen Weg durch die Nacht die Puste aus. Es hatten sich mehr Männer für die Mission gemeldet, als Rolfgar angesichts des Massakers gehofft hatte. Doch der Spähtrupp durfte nicht zu groß sein und alle Freiwilligen mussten vor allen Dingen gute Läufer sein. Im Zweifelsfall mussten sie sich zurückziehen. Wer dann zu langsam war oder wessen Ausdauer versagte, der würde unweigerlich sein Leben verlieren. Doch jenen, die er nicht für die Mission auswählte, erklärte Rolfgar, dass es gut so sei. In dieser Nacht mussten mutige Herzen das Lager sichern. Zu viele Brüder waren zu tief erschüttert.
Sie hatten ihre Waffen von den Hüften losgegurtet und trugen die Schwertscheiden stattdessen in der Hand. So eilten sie durch die Dunkelheit, immer weiter in Richtung Zitadelle. Die alte, doch mächtige Festung wurde bestimmt noch belagert. Dieses Bollwerk würde nicht so leicht erobert werden, zumal es General Arco war, der die Verteidigung leitete. Er galt unter den jungen Offizieren als der fähigste Befehlshaber der Streitkräfte ihrer Zeit.
Die Spuren, die sie fanden, bestätigten die Befürchtungen, dass die Bürger von Badersweil, und vermutlich auch der gesamte Marketender, als Gefangene in Richtung der Dolchzahn-Sümpfe getrieben worden waren. Rolfgar wollte nicht ruhen, bis sie auf den Feind gestoßen waren oder den Belagerungsring um die Zitadelle ausgekundschaftet hatten. Möglicherweise könnten sie mit ihren Dreißigtausend aufholen und den Feind überraschen, um ihm empfindliche Verluste zufügen. Er wagte es nicht, die Hoffnung laut auszusprechen, dass sie dann den Feind aufreiben und die Entführten befreien könnten.
Sie liefen die gesamte Nacht, so schnell sie es wagten, auf der Straße nach Süden. Die Spuren waren selbst im Sternenlicht unverkennbar. Zehntausende waren in großer Eile vor Kurzem hier entlanggeströmt. Selbst das Grün, weitab vom Wegesrand, war regelrecht zu Matsch zertreten. Der Trupp stieß von Zeit zu Zeit auf blutige Kleidungsstücke. Sie konnten ahnen, was vorgefallen war. Einer der Entführten hatte nicht mehr mithalten können und wurde an der Stelle, an der er stürzte, ermordet und gefressen. Doch dieser Gräuel entmutigte die Männer im Trupp nicht, sondern gab ihnen zusätzliche Kraft. Sie mussten den Feind einholen. Es bestand die ernsthafte Gefahr, dass eine starke Nachhut der Echsen die Straße sicherte und jeden Moment aus dem Unterholz hervorbrechen konnte. Doch Rolfgar ging das Risiko ein und lief seinen Männern voraus. Wenn ein Überraschungsangriff gegen den Feind gelingen sollte, war es wichtig, zeitnah zuzuschlagen. Sie würden also zur Zitadelle und wieder zurückeilen müssen. Und dann mit dem gesamten Heer auf die Zitadelle zumarschieren. Harte Tage lagen vor ihm, aber noch härter wäre es, das gesamte Heer in einen Hinterhalt laufen zu lassen.
Unerfahrene Männer. Unerfahrene Führung. Die Prinzessin war nun die Königin, doch war sie nicht ihr Vater. Sie war bestimmt doppelt so stark wie Rolfgar, da machte er sich nichts vor. Doch er erinnerte sich, wie sie am vorangegangenen Abend aussah, als sie die kleine Bärin in das Kommandozelt trug. Ein kleines Mädchen, das erschüttert seine kaputte Puppe festhielt und nach seiner Mutter suchte, die wieder alles gut machen sollte. Rolfgar hatte in diesem Moment all seine Kraft aufbringen müssen, um Selbstsicherheit vorzugeben. Vor den anderen Offizieren. Vor der Prinzessin. Vor sich selbst. Auch er war erschüttert von den Neuigkeiten, doch die Rolle des Selbstsicheren zu spielen fiel ihm mit jedem Moment leichter. War es nicht so, als hätte er sein Leben lang von einer solchen Herausforderung geträumt? Heldenhaft zu sein, im Angesicht schier unüberwindlicher Schrecken? Dort aufrecht zu stehen, wo alle anderen entmutig fielen? Doch jetzt wünschte er sich, dass sein Traum nur der Traum eines dummen Jungen geblieben wäre. Denn die Realität dieses Traumes vom Heldentum bedeutete, dass zehntausende litten und sogar starben. Jedoch hatte nicht sein Wunsch nach Größe dieses Unglück heraufbeschworen, sondern ein grausamer Feind, der kein Erbarmen kannte. Rolfgar war dort, als sie den Platz vor der Weide geräumt hatten. Er selbst hatte die Überreste des unglücklichen Gardisten von dem gräulichen Gestell geholt. Er hatte die Pike aus dem Boden gezogen, auf der sein Kopf stak. Er hatte das Seil gesehen, an dem das Bärenmädchen eine ganze Nacht und einen ganzen Tag lang hing.
Oh, könnte er nur für sie alle Rache nehmen! Doch heiße Wut führte zu hastigen Handlungen. Zu falschen Entscheidungen. Ein Offizier musste seinen Zorn kühl halten. Die Glut in der Asche, von der man nichts ahnte, bis man sie gezielt entfachte.
Der Morgen kam und ging. Die Männer waren noch immer angemessen frisch. Die mitgeführten Wasservorräte, das einzige Gepäck, würden aber nur noch bis zum Abend des heutigen Tages halten. Dieses Problem würden sie lösen, wenn die Zeit kam. Im Zweifelsfall würden sie durstig laufen.
Als die Sonne im Zenit stand, fing Rolfgar an, sich Sorgen zu machen. Die Zitadelle hätte inzwischen in Sicht kommen müssen. Er hatte sie nur ein einziges Mal selbst gesehen und das lag inzwischen Jahre zurück. Jeder Offiziersanwärter wurde einmal dem Schwarzen Bataillon zugeteilt und an der Mauer stationiert, um die Grenze mit eigenen Augen zu sehen. Die Patrouillengänge entlang der tiefen Sümpfe erinnerten die jungen Kadetten daran, dass es trotz allem noch Gefahren gab, auf die es sich vorzubereiten galt. Auch wenn so mancher Offizier dies mit den Jahren wieder zu vergessen schien.
Hatte Rolfgar sich in der Entfernung so verschätzt? Er war der Meinung, dass sie schnell vorangekommen waren, der große Turm hätte schon am Morgen zu sehen sein sollen.
Doch was sie schließlich sahen, war so unglaublich und schockierend, dass der Hauptmann den Rückzug befahl. Die Zitadelle war gefallen. Nein, die Festung war praktisch verschwunden! Die Straße endete eine Viertelmeile entfernt von dem Ort, an welchem das Bollwerk gestanden hatte. Der Wald war niedergerissen, ganze Bäume waren entwurzelt und durch die Luft geschleudert worden. Der Trupp verlangsamte sich, ohne dass Rolfgar den Befehl erteilen musste. Er machte einige Handzeichen. Schwer atmend teilte sich der Trupp wortlos in zwei zuvor festgelegte Gruppen auf. Bedächtig gingen sie links und rechts entlang der Straße ins Gehölz, um vom Waldrand aus zu spähen. Hatten die Echsen den Wald abgeholzt? Mit tausenden von Bäumen über Tage hinweg ein derart großes Feuer entfacht, dass die Burg schließlich zusammengebrochen war? Doch den Rauch eines solchen Feuers hätte man hundert Meilen weit gesehen.
Rolfgar schlich zum Waldrand und kroch schließlich das letzte Stück. Durch das Geäst eines umgestürzten Baumes blickte er nach Süden. Die Zitadelle war tatsächlich fort. Hunderttausende Tonnen Steinwerk waren in alle Richtungen verstreut. War das Bauwerk aus sich selbst heraus zerplatzt? Hatten die Echsen eine neue, übermächtige Waffe ersonnen? Doch nun nahm er allerorten Kadaver wahr. Tote Echsenkrieger. Warane. Ihre Leiber waren zerrissen und zerquetscht, verdreht und verstümmelt. Sie lagen über die gesamte Ebene verstreut. Keine zwanzig Fuß vor Rolfgar lag ein mit gelber Farbe bemalter Arm eines Warans. Nein, die Echsen waren von der Macht, die die Festung zerrissen hatte, komplett überrascht worden.
Doch es waren nicht alle Echsen tot. Ein Heer von Fünfzig-, wenn nicht gar Sechzigtausend Waranen hatte auf der Ebene gewaltige Scheiterhaufen errichtet, um unzählige ihrer Toten einzuäschern. Die Verteidiger mussten zehntausende getötet haben! Gut so, also hatte nicht nur das Königreich Blut lassen müssen. Einige der Echsen waren mit weißer Farbe bemalt, die an Knochen erinnerte. Die meisten trugen jedoch gelbe Farbe auf ihren Schuppen. Die mystischsten Symbole, die er je gesehen hatte. Diese Echsen errichteten auch die Scheiterhaufen. Rolfgar stellte überrascht fest, dass es ihm missfiel, dass der Feind eine ähnliche Bestattungszeremonie für seine Gefallenen hatte, wie das königliche Heer.
Dann sah Rolfgar etwas, das ihn noch mehr erschreckte als die beispiellose Zerstörung. Zuerst hatte er es für einen seltsamen Schattenwurf des Waldes gehalten, doch dann bewegte sich dieser Schatten. Am anderen Ende der Schneise, am Waldrand zu den Sümpfen, lag ein Drache! Bestimmt zweihundert Fuß lang. So schwarz, dass man die Form seines Körpers fast nicht ausmachen konnte, sodass man im ersten Moment den Eindruck gewann, dass ein Loch in der Realität entstanden war. Rolfgar vergaß alle anderen Dinge um sich herum. Er wurde Zeuge von etwas, das es gar nicht geben sollte.
Doch dann erkannte er, dass das Monster verletzt worden war! Es bewegte sich kaum und wirkte fast ohne Leben. Die weiß bemalten Echsen schienen sich um es zu kümmern, wenn man das so nennen konnte. Sie trugen Wasser und ... Nahrung ... heran. Rote, feuchte Fleischstücke wurden ihm in das formlose Maul geworfen. Der Drache schluckte die Kadaver der Bürger, ohne zu kauen. Rolfgar hatte genug gesehen. Der Feind war zu stark, um ihn mit Dreißigtausend Mann anzugreifen. Selbst halb tot musste der Drache als schwerwiegende Gefahr gesehen werden. Jede Sage erzählte von dem Feueratem der Drachen, der sogar Stein schmelzen ließ. Gegen so eine Kraft konnten nur Greife zu Felde ziehen. Und es gab nur noch einen.
Auch ohne den Drachen waren die Echsen zu stark, um sie mit dem jetzigen königlichen Heer anzugreifen. Mit einem Drachen waren sie unaufhaltbar. Sie mussten sofort zurück, um die Prinzessin in Kenntnis zu setzen. Sie musste alle Kräfte mobilisieren, die das Reich aufbieten konnte.
* * *
Victoria hatte das gesamte Heer antreten lassen. In einem weiten Halbkreis, der sich über die gesamte östliche Ebene von Badersweil erstreckte, standen die Bataillone in Schlachtformation und waren voll bewaffnet. Bis auf wenige Spähposten schauten alle Soldaten in Richtung der fünf Scheiterhaufen, die am Vortag bis spät in die Nacht errichtet worden waren. Selbst der kleine Marketender hatte sich zusammengefunden, um den Toten Respekt zu zollen. Fast niemand der Anwesenden hatte in dieser Nacht geschlafen, zu sehr hatten die Erlebnisse des Vortages die Gemüter aufgewühlt. Doch nun brach endlich die Morgendämmerung herein. Im Zwielicht zwischen Nacht und Tag sollten die Überreste der Gefallenen unter dem Antlitz von Mond und Sonne zu den Himmeln aufsteigen.
Die Sterne verblassten und die Welt versank in tiefste Dunkelheit. Das Licht des Morgens war nahe. Victoria trat hervor und wies die fünfzehn Fackelträger an, zu dem jeweils zugeteilten Scheiterhaufen zu treten. Drei Fackeln für jeden der ölgetränkten Hügel, denn es musste sichergestellt sein, dass sich alle zugleich entzündeten. Ein Fehler in der Zeremonie würde die ohnehin angeschlagene Moral noch weiter schwächen. Victoria wusste, dass sie Worte der Ehre, der Zuversicht und des Mutes sprechen musste. Dies wurde von ihr als General der Mittlande und nicht zuletzt als Kronprinzessin erwartet. Sie hatte die ganze Nacht drüber nachgedacht, was sie den Toten, aber auch den Lebenden in den Truppen in dieser Stunde des Zwielichtes, wenn die Nacht am dunkelsten war, sagen würde.
„Soldaten! Lasst uns Abschied nehmen von jenen, die ihr Leben gaben, um das Königreich und jeden Bürger darin zu schützen. Die bis zum letzten Mann kämpften.“ Ihre eigenen Worte klangen in ihren Ohren schwach und leer. Floskeln, die man sprach, ohne dass man etwas dabei fühlte. Doch in ihr brannten Trauer und Sorge. Ja, ihr taten die Gefallenen leid. Die Mütter, deren Söhne nie wieder nach Hause zurückkehren würden. Die Einwohner von Swampasud, die einem entsetzlichen Schicksal entgegengetrieben wurden. Ihr Vater, dessen Asche nicht zu den Himmeln aufsteigen würde. Nun lag es allein bei ihr, dieses Schicksal von allen abzuwenden, doch sie fühlte sich an diesem Morgen ohne Kraft. Ohne Zuversicht.