Honeymaw - Martin Haak - E-Book

Honeymaw E-Book

Martin Haak

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Beschreibung

"So stand sie entschlossen zwischen ihren Kindern und der gesichtslosen Bestie, welche der dunkelsten Finsternis des Abgrunds entstiegen war, um sie alle zu verschlingen." Geschichten von der Höhlenmutter, überliefert aus der Zeit vor der Zeit Die junge Bärin Honeymaw erwartet mit Ungeduld das Ende des Winters, denn es naht das Jahr ihres achtzehnten Sommers. Die Weihe zur Frau. Der Runenwurf, der einen Blick in die Zukunft gewährt. Und die Weissagung, die ihre Bestimmung offenbart. Doch anstatt Glück und Segen werden ihr Mühsal und Schrecken vorhergesagt. Einem schier unbezwingbaren Feind soll sie gegenübertreten. Wenn nicht, erwartet ihre Welt ein Schicksal endgültiger als der Tod und tausendmal so bitter. Der Feind hat seine Schachfiguren klug gewählt und schon längst für das kommende Spiel positioniert. Zug um finsteren Zug führen diese Handlanger seinen Willen aus.

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Honeymaw

LEGENDEN AUS DER ZEIT VOR DER ZEIT

BUCH EINS

MARTIN HAAK

Inhalt

Danksagung

Reisekarte

Prolog

1. Des Winters Ende

2. Nordblume

3. Was die Maschine speist

4. Eine Wahl fürs Leben

5. Die Weissagung

6. Eierdiebe

Die Geschichte geht weiter

Danksagung

Ich danke allen, die mich beim Erschaffen dieser Geschichte unterstützt haben. Ich danke auch den Leserinnen und Lesern, die diese Erzählung hoffentlich unterhaltsam finden werden. Die Reise nimmt hier ihren Anfang und ihre Pfade winden sich durch Zeit und Raum.

Viel Spaß beim Lesen!

Martin Haak, 2021

Reisekarte

Reisekarte

© 2021 Martin Haak

Alle Rechte vorbehalten

Auflage: 1

Illustrationen: Martin Haak

Umschlaggestaltung: Mina Bekker

Lektorat: Annette Kulzer und Paul Tido

Verlag: Selbstverlag

Martin Haak, Frankfurter Straße 11, 61476 Kronberg, Deutschland

ISBN Paperback: 978-3-949908-44-6

ISBN Hardcover: 978-3-949908-41-5

ISBN e-Book: 978-3-949908-03-3

ISBN Hörbuch: 978-3-949908-45-3

Illustrationen, Landkarten und weiteres Material auf:

www.legendenzeit.com

Erstellt mit Vellum

Prolog

„Geboren aus Feuer und mit dem Lebenshauch der Jahrhunderte gesegnet, herrschten die Drachen Jahrtausende über die Welt. Ihnen waren alle Völker untertan.

In der Erinnerung der sprechenden Völker war es eine Zeit des Schreckens und der Verzweiflung, denn sie waren zu schwach, um ihr Joch abzuwerfen.

Doch das Zeitalter der Drachen endete schließlich durch den Aufstand der edlen Greife, welche die Drachen erschlugen und ihre Armeen zerstreuten.

Wir Greife waren die Erretter aller Völker und Garanten der Freiheit und der Sicherheit all jener, die sich unserem Schutz unterstellten. Denn die Diener der Drachen flohen zwar nach dem Großen Krieg, waren aber im Gegensatz zu ihren Herren nicht vernichtet.

Alle weisen Völker verstanden die einfache Wahrheit: Nur Sicherheit erzeugt Freiheit.

Der Sieg über den finsteren Feind brachte dereinst die Völker zusammen und gemeinsam erschufen wir uns eine blühende, neue Welt, in welcher Dank der weisen und gerechten Herrschaft der Greife Friede und Wohlstand für alle herrschen."

Herabos der I., Hochkönig, aus dem Hause der Donnerschwingen, 645 nach den Drachen

* * *

„Nachdem die Drachen vernichtet und ihre Knechte vertrieben worden waren, forderten die Greife die Unterwerfung aller Völker als Lohn für ihren Sieg. Hah! So viel zu ihrer Selbstlosigkeit.

Ja, die meisten folgten gehorsam und begaben sich freiwillig in die Fron, doch nicht alle waren derart unterwürfig. Wir Wölfe, wie auch die Bären, blieben unabhängig. Es gab zwar irgendwann Frieden, der auch immer noch stabil scheint, doch die Herzen der Greife ändern sich auch in tausend Jahren nicht. Haltet also eure Sinne und Waffen scharf.“

Grimnir „Zweischneid“, 897 n. D.

* * *

„Doch auch dieses golden erscheinende Zeitalter neigte sich seinem Ende entgegen und wie so oft waren es Lügen und die Gier nach Macht, die das Glück von ungezählten Millionen in den Abgrund rissen. Welches Volk, welche Familie blieb von den Schrecken verschont, die entfacht wurden?“

Honeymaw, 924 n. D.

Kapitel1

Des Winters Ende

„Reisen. Reisen, um die Welt zu sehen. Ja, das ist es. Man kann tausend Geschichten am Feuer hören. Aber wie schön sie auch erzählt werden, mit eigenen Augen sehen, mit eigenen Ohren hören, mit eigener Nase riechen und mit eigener Zunge schmecken – das kann keine Erzählung aufwiegen.“

Honeymaw, 918 n. D.

Honeymaw hatte ihrem achtzehnten Sommer mit brennender Ungeduld entgegengesehen. Der Winter ihres siebzehnten Jahres – des letzten Jahres als Kind – schien sich eine Ewigkeit hinzuziehen. Doch nun ging er endlich zur Neige. Der Wind wehte an diesem Morgen aus dem Süden und brachte den ersten Hauch der Wärme eines neuen Jahres mit sich.

Das achtzehnte Jahr. Es war das Jahr der Weissagung. Des Erkennens der eigenen Bestimmung. Und das war schließlich das Wichtigste im Leben eines Bären. Der neue Lebensweg würde beginnen. Und der neue Lebensweg begann traditionell mit einer Reise – wie herrlich.

Honeymaw war Angehörige des Waldbärenstammes, jenem Volke also, das den weiten Norden bewohnte. Die Bären gingen, wie alle anderen sprechenden Völker, aufrecht und hatten ihre eigenen Wege und ihre Art, ihre Dinge zu regeln. Die Bären gehörten zu den Größten und Stärksten unter den sprechenden Völkern und genossen deshalb Respekt. Der Ort, in dem Honeymaw aufwuchs, war ein kleines Fischerdorf. Es lag an den Steilküsten der südlichen Grauen See und trug den Namen Klipphaven, aber die Bewohner sagten immer nur „das Dorf“.

Im Gegensatz zu den anderen Waldbären verfiel Honeymaw nicht in die übliche Schläfrigkeit, die die anderen Bären während der Tief-Frost-Tage überkam. Das bedeutete, dass sie nur an wenigen Tagen am Stück durchschlafen konnte.

Das sollte ihrem Vater zufolge am Blut ihrer Mutter liegen, von der sie auch das helle Fell geerbt hatte. Mutter war eine Frostbärin. Honeymaw hatte nur noch ungenaue Erinnerungen an ihr Aussehen. Aber ja, Mutters Fell war deutlich heller als das der anderen Bären im Dorf. Es hatte die Farbe des Schnees. Aber dieses Weiß verband sie mit Wärme, nicht mit Kälte. Und sie erinnerte sich an den Klang von Mutters Stimme, wenn sie lachte oder ihr ein Lied sang. Oder wenn sie eine Melodie summte.

Honeymaw hatte auch ein helles Fell. Es war aber nicht weiß, sondern hatte ein sanftes, lebendiges Beige, ähnlich dem Sand der Dünen, die sich an den wenigen Stränden der Steilküste gebildet hatten. Ihre Augen hatten ein grünes Leuchten, das jeden, der es erblickte, an das frische Grün eines sonnigen Maitages erinnerte. Ihre Nase hatte ein gesundes, feuchtes Schwarz und ihren hellen, langen Schopf hatte sie stets nach Art der Waldbären nach hinten gebunden. Ihre Statur war für ihr Alter etwas zu klein, aber doch von einer gesunden Kräftigkeit. Bei einer Bärin von zierlich zu sprechen, wäre tatsächlich unpassend, denn selbst ein etwas zu kurz geratenes Bärenmädchen wie sie war größer als ein ausgewachsener Mann der meisten anderen Völker.

Was ihr an körperlicher Größe fehlte, machte sie mit ihrem wachen Geist wett. Sie merkte sich jede neue Erkenntnis und spann daraus neue Gedanken. Diese wurden wiederum zu neuen Ideen. Honeymaw hatte außer ihrem Vater niemanden, mit dem sie über ihre Ideen sprechen konnte, ohne mit einem Augenrollen oder zumindest einem gutmütigen Lachen bedacht zu werden. Die Bären waren Hüter der alten Wege und fast alle Neuerungen wurden grundsätzlich erst einmal abgelehnt.

Einer der wenigen Bereiche, in denen sie Neues schnell akzeptierten, war die Holzverarbeitung. Hier gab es zwar eine Menge Traditionen, die zu beachten waren, doch gerade im Schiffsbau waren die Bären überraschend offen. Schließlich bedeuteten bessere Schiffe mehr Fisch.

Als sie noch jünger war, erschien ihr dies zuerst widersprüchlich. Nun aber glaubte sie zu erkennen, dass es eben auch zum Brauchtum des Zimmermanns- und Schiffsbauhandwerks gehörte. Neues mit einfließen zu lassen. Es wäre also untraditionell gewesen, dies nicht zu tun.

Im Holzhandwerk der Bären fand man seit ehedem geschnitzte Knotenmuster. Bug und Mast zierten seit jeher die altehrwürdigen Muster. Selbst die Segel wurden zuweilen mit diesen Mustern bestickt. Diese wurden auch auf die neuesten Schiffe geprägt: So waren auch die neuesten Techniken mit den ältesten Kunstformen verwoben.

Die Muster waren oftmals Sinnbilder für Erzählungen der außergewöhnlichen Taten der Helden aus alter Zeit. Oder gar Symbole für die Großen Geister, deren Wohlwollen man auf das Werk lenken wollte. So fanden sich oft die Knotenmuster des großen Geistes des Fischers auf den Rümpfen der Schiffe. Denn er wurde als Schutzpatron der Seeleute verehrt und sollte die Boote im Sturme schützen und für reichen Fischfang sorgen.

Auch auf dem wenigen Schmuck, den die Bären trugen, fanden sich diese Muster und Zeichen. Frauen trugen üblicherweise zwei kleine Schmuckspangen, sogenannte Fibeln, auf dem bunten Oberkleid. Diese dienten zum einen der Zierde, zum anderen hielten sie das Kleid am Leibe zusammen. Darunter trugen Bärinnen stets ein Unterkleid, welches nach alter Art aus weißem Leinen gewebt war. Ein herrlicher Kontrast zum bunten Oberkleid.

Die Männer wiederum kleideten sich in einfach geschnittene Tuniken aus Wollstoff, die ihnen bis zu den Knien reichten. Den schweren Lodenmantel, der an Schlecht-Wetter-Tagen getragen wurde, schlossen sie mit einer einzelnen großen Fibel auf der Schulter.

Aber Honeymaw war nicht die Art Denkerin, die neue Techniken der Holzbearbeitung ersann. Ihre Art des Sinnens wob andere Ideen. Sie war für die meisten im Dorf eine Tagträumerin.

Sie verbrachte viel Zeit mit dem Durchdenken von Geschichten, die sie gehört hatte. Sie wanderte hierfür manches Mal zu den Klippen der Steilküste und blickte hinauf in den Himmel oder hinaus zur See und lauschte dem Wind und der Brandung.

Geschichten. Das war es, was sie begeisterte. Erzählungen von Dingen, die waren, sind oder auch sein könnten. Sie hatte die Erfahrung gemacht, dass eine Geschichte sich mit jeder Erzählung veränderte, je nachdem, wer sie erzählte.

Sie war sich daher sicher, dass es nicht die eine Wahrheit gab, sondern eine Anzahl von Wahrheiten. Denn die eine Wahrheit hob die anderenicht auf.

In ihrem zehnten Sommer hatte sie hierzu eine Erkenntnis. Sie saß allein im nahen Apfelhain und aß einen Apfel.

„Die vier Wahrheiten des Apfels“ nannte sie ihre Geschichte.

So stritten sich in ihrem Gleichnis zwei Bären über einen Apfel.

Der eine meinte: „Der Apfel ist rot und schmeckt sauer.“

Der andere, der ihm gegenübersaß, sprach: „Nein, der Apfel ist gelb und schmeckt süß.“

Beide aber sprachen sie jeweils nur ihre eigene Wahrheit aus:

Der Apfel war auf der einen Seite hauptsächlich rot und auf der anderen eher von gelber Farbe. Jeder sah aber nur seine Seite.

Und das mit dem Geschmack – das ist nun mal Geschmacksache. Ein süß-saurer Apfel kann je nachdem als eher süß oder eher sauer wahrgenommen werden.

Daher war keine der Aussagen falsch: Es gab unterschiedliche Wahrheiten. Die ganze Wahrheit konnte sich nur dem offenbaren, der den Apfel aus jedem möglichen Blickwinkel in ein und demselben Moment betrachtete. Der jeden Geschmack, Geruch, jedes Gefühl und jeglichen Gedanken des anderen erfasst. Das war aber vielleicht nicht einmal den Großen Geistern möglich.

Wenn sie so etwas erzählte, sah ihr Vater Jorl sie immer mit einem seltsamen Blick an, den sie nicht richtig einordnen konnte. War es Stolz? War es Sorge?

Der Südwind hatte also eingesetzt. Nicht mehr lange, bis endlich Tauwetter einsetzte und die ersten Frühjahrsblumen durch den letzten Schnee des vergangenen Jahres brachen.

Honeymaw rieb sich den Schlaf aus den Augen. Nicht, dass sie in der Höhle, die der Familie als Schlafplatz diente, viel hätte sehen können. Da es Winter war, war der Höhleneingang mit einem schweren Wollfilz verschlossen. Der Zweck dieses Vorhangs war es, die Wärme drinnen und die Kälte draußen zu halten. Aber er hielt auch fast alles Licht draußen.

Vater schlief noch, also schlich sie zum Eingang der Höhle und schob sich am grünen Wollfilz vorbei, der nahezu geräuschlos zur Seite und wieder zurückglitt.

Sie stand nun im Langhaus, das direkt mit der Höhle verbunden war. Die Höhle war traditionell der Schlafplatz und die Vorratskammer. Das angebaute Langhaus aber war Küche und Wohnzimmer der Waldbären.

Honeymaw zog sich ihr weißes Unterkleid an und streifte rasch ihr blaues Oberkleid darüber. Dieses war an den Seiten geschlitzt, um weite Schritte zu ermöglichen. Dann legte sie ihre mit dem Zeichen des großen Geistes der Höhlenmutter verzierten Fibeln aus poliertem Messing an.

Vater hatte ihr die Fibeln zu ihrem zehnten Mittsommerfest geschenkt. Die Nadeln, die in der Rückseite der Hohlfibel verborgen waren, hielten den blauen Wollstoff sicher in Position. Das glänzende Messing sah auf dem leuchtenden, satten Blau der feinen Wolle prächtig aus.

Nun war es Zeit, um etwas frische Luft hereinzulassen. Honeymaw öffnete die einfache Holztür, die scharnierlos im Türrahmen saß. Diese einfachen Verschläge wurden mit einem Ast von innen gesichert. Im Sommer blieben die Langhäuser grundsätzlich offen. Diebstahl war im Dorf unbekannt. Die Türen dienten nur dem Zweck, im Winter den Schnee draußen zu halten.

Der Winter hatte das Land mit einer dicken Schicht Schnee überzogen, die auch den Eingang zu ihrem Haus versperrte. Obwohl Honeymaw fast jeden Tag durchlüftete und den Eingang freiräumte, lag der Schnee stets von neuem halshoch vor dem Haus. Zumindest bis zu ihrem Hals.

Aber heute war ein Duft in der Luft, der die Unannehmlichkeit wett machte: Südwind.

Ein kaum wahrnehmbarer Geruch von Grün lag darin. Schon bald würde Tauwetter einsetzen. Die Bären würden erwachen. Die Händler würden eintreffen. Auch der Tag ihrer Weissagung würde kommen und Honeymaws Bestimmung offenbaren.

Mit diesem frohen Gedanken beseelt, schaufelte sie den Schnee mit ihren Händen beiseite, damit sie vor die Tür treten konnte.

Honeymaw kehrte danach in das Langhaus zurück und prüfte, ob noch Glut vom Vortag in der Asche des Kamins zu finden war. Sie stocherte mit dem Schüreisen und fand tatsächlich noch ein einzelnes Stück verkohltes Holz, in dem sich noch ein letzter Funke Glut befand. Sie nahm rasch ein kleines Häuflein Späne zur Hand, die sie am Vorabend von einem Stück trockenen Holzes heruntergeschnitzt hatte, und legte einige davon behutsam auf das letzte glimmende Stück Kohle. Dann blies sie vorsichtig – sie wollte ja zum einem nicht das Leben aus der Glut pusten, zum anderem auch nicht die Asche aufwirbeln – bis die Hitze auf einen der Späne übergriff. Nun hielt sie einen weiteren Span an die kleine Flamme, die aus dem ersten schlug, und entzündete so ihr Feuer.

Sie legte nun kleine Holzstücke und ein paar dürre Äste nach, sodass in kürzester Zeit ein kleines Feuer in dem aus groben Steinen gemauerten Kamin prasselte.

In den großen Kupferkessel stopfte sie frischen Schnee. Der würde bald in der aufkommenden Wärme der Hütte schmelzen und so zu frischem Trinkwasser werden.

Sie brachte den Kessel zurück in die Stube und stellte ihn in die Nähe des Kamins. Vorsichtig – sie wollte Vater noch nicht wecken.

Vater war ein Waldbär, und diese schliefen eben deutlich länger als Honeymaw.

Die Waldbären besiedelten die Gebiete nördlich des Greifenreiches. Von den Vorgebirgen der Drachenkammberge, die die natürliche Grenze zum Reich im Süden bildeten, lebten sie in den gewaltigen Kiefernwäldern, die sich bis zur Grauen See im Westen und zumEismeer im hohen Norden erstreckten.

Klipphaven lag an einer der Steilküsten der Grauen See. Die Graue See reichte vom Eismeer im Norden, bis zur Azursee im Süden. Dort waren die Wasser warm und erstrahlten in einem einzigartigen Blau, das den Erzählungen der Seeleute nach sogar noch den leuchtenden Himmel verblassen ließ.

Honeymaw hoffte den ganzen Winter hindurch, dass ihre Tante Grimhilda auch in diesem Jahr den Weg zu ihrem Haus in Klipphaven finden würde. Da im Winter Teile der Grauen See gefroren waren, musste man jeden Weg in den Nordlanden zu Fuß beschreiten – und im Norden lag der frische Schnee zuweilen weit über sechs Fuß hoch. Dann weite Strecken zu wandern, war selbst für eine Frostbärin wie sie beschwerlich.

Bislang war sie nicht gekommen und der Winter neigte sich schon dem Ende zu. Sie kam nicht jeden Winter. Doch wenn sie kam, blieb sie für einige Wochen. Sie hatte immer neue Abenteuer zu erzählen. Die ansonsten tristen Wintertage waren dann erfüllt von Leben und wundersamen Geschichten. Grimhilda erweckte die Geister der alten Helden und die Schatten der finstersten Schurken zu neuem Leben. Honeymaws Geist wurde durchflutet von den Farben des Flusses der vergangenen Zeitalter. Das Langhaus wurde zu klein für diese unfassbar großen Geschichten.

Grimhilda ging mit Honeymaw dann auch im tiefen Schnee, was sonst niemand mit ihr machte. Die Tante pflügte mit ihrem starken Körper eine Schneise, in der sie leicht folgen konnte. Gemeinsam erkundeten sie so die umliegenden Gebiete. Im Winter war das Land kaum wieder zu erkennen. Die Häuser des Dorfes waren ganz von der gefrorenen Masse bedeckt. Man konnte dann kaum noch erkennen, wo sie sich unter der Schneedecke befanden. Selbst die hohen Kiefern waren derart vom Schnee bedeckt, dass das ganze Land nur aus weißen Wogen zu bestehen schien.

Grimhilda zeigte Honeymaw auch neue Spiele, wie das Werfen von Holzspeeren auf Schneeschlangen. Diese Schlangen zu bauen, war schon ein großer Spaß. Grimhilda warf oft unvermittelt kleine Schneebälle auf ihre Nichte, was schnell zu einer ausgewachsenen Schneeballschlacht ausartete.

Für die Augen der Schlangen verwendeten sie kleine Stücke Kohle, die dann böse aus dem Schnee starrten. Die Schneeschlangen schienen sich in der weißen Landschaft zu tarnen und auf unachtsame Wanderer zu lauern. So verschlagen die Schlangen auch waren, Honeymaw war keine leichte Beute. Sie erkannte den Feind und traf ihn mit ihrem Speer. Zumindest meistens. Grimhilda stieß dann einen wilden Ruf aus, und sie feierten zusammen ihren glorreichen Sieg.

Das anschließende Festmahl war meist ein in gewürztem Honig eingelegter Apfel, der auf einen dünnen Zweig aufgespießt wurde. Vater hatte die Äpfel nach Mutters Rezept für den Winter eingelegt. So briet sich jede Bärin einen Apfel am Stock über dem offenen Feuer, bis sich eine harte süße Schicht gebildet hatte. Hier musste man sehr bedacht und geduldig sein, damit der Apfel nicht verkohlte. Nicht direkt über das Feuer. Nicht zu lange an einer Stelle. Ständig und gleichmäßig drehen und wenden. Es erforderte Geduld, den Apfel perfekt zu braten. Doch der Aufwand lohnte sich.

Die anderen Bären hatten keine Verwendung für Speere. Somit war Honeymaw eine der wenigen Waldbären, die das Werfen von Speeren übte. Es waren im Grunde nur angespitzte Stöcke, aber Grimhilda zeigte ihr, wie man diese Spitzen im Feuer härtete, um sie widerstandsfähiger zu machen. Mit diesen gehärteten Spitzen konnten die Speere auch tief in festen Schnee oder gar weiches Holz eindringen. Speere waren nicht traditionell und die Waldbären verließen sich lieber auf ihre Ebenholzstäbe als Waffen. Im Gegensatz zu einem Wurfspeer behielt man die aus nahezu unzerbrechlichem Ebenholz gefertigten Kampfstäbe in den Händen. So blieb man auch bei langen Auseinandersetzungen stets bewaffnet. Es gab aber nur wenige Feinde, gegen die ein Bär eine Waffe nötig hatte. Honeymaw fielen hier nur die Greife ein.

Aber gegen diesen Gegner waren blanke Stäbe aus Ebenholz unzureichend und mussten mit Eisen verstärkt werden.

Vater störte sich nicht daran, dass Grimhilda Honeymaw neue Dinge zeigte. Außerdem konnte er in den Zeiten, in denen ihre Tante sie besuchte, länger in den Tag hinein schlafen.

In den Wintern, in denen Grimhilda nicht kam, brauchte Honeymaw zusätzliche Beschäftigung. Schneeschlangen oder andere Skulpturen alleine zu bauen, wurde schnell langweilig. Sie war auch ihrem Spielzeug schon lange entwachsen, hatte sich aber seit ein paar Jahren zu eigen gemacht, aus einfachen Dingen Neues zu erschaffen. Zierden, die das Auge erfreuten.

So hatte sie im vergangenen Herbst unter anderem allerlei Federn gesammelt. Hauptsächlich die von Möwen, die in der Nähe der Küsten lebten. Aber auch einige deutlich längere von anderen Vögeln, die den Winter im fernen Süden verbringen sollen. Diese Federn hatte Honeymaw in Winter geschickt zusammengesteckt, gebunden und verflochten bis sie zwei „Flügel“ gebaut hatte. Diese könnten als Kopfschmuck dienen.

Flügel – am Kopf. Sinnbild für einen freien Geist. Vielleicht könnte man diesen, ihren freien Geist, für alle sichtbar an ein Stirnband heften.

Ihr kam diese Idee, als sie einer von Vaters Geschichten lauschte. In den vergangenen Tagen, als der Große Krieg schließlich auch im Norden tobte, hatten die verwegensten und ruhmreichsten Krieger der Bärenstämme es sich zur Gewohnheit gemacht, Trophäen zu sammeln und diese zur Schau zu stellen.

So hefteten sie die prachtvollsten Federn der von ihnen erschlagenen Greife an ihre Helme, um ihre Siege zu bezeugen. Sie waren eben die Söhne des Berserkers, des dunkelsten großen Geistes der Bären.

Das hatte etwas Barbarisches, aber zugleich doch Romantisches an sich.

Honeymaw, die selbst vermutlich nie einen Kriegerhelm besitzen würde, stellte sich vor, wie es wohl wäre, einen zu tragen. Und diesen zu verzieren. Der Gedanke, das Bündel Federn so anzuordnen, dass es aussah, als hätte ihr Helm Flügel, gefiel ihr. Greife hierfür zu erschlagen, das gefiel ihr deutlich weniger.

Die Greife. Hier schossen ihr sofort dutzende Geschichten durch den Kopf. Sie wurden von den meisten Völkern als Erlöser gefeiert und waren doch zugleich der alte Feind der Bären.

Tante Grimhilda hatte, wie die meisten Bären und die Frostbären im Besonderen, keine Liebe für die Greife. Sie sah sie als ständige Gefahr. Frieden hin oder her. Als Befreier sah sie sie erst recht nicht. Schließlich hatten sich die Greife dereinst nicht den Geschundenen zuliebe in den Krieg begeben, sondern um selbst die Macht zu ergreifen. Sie verachtete aber auch die Schafe, die blind folgten, und die Hunde, die bedingungslos dienten – was waren denn das für Krieger, die keinen eigenen Willen hatten. Irgendwie hatte sie über alle anderen Völker wenig Gutes zu sagen.

Honeymaw akzeptierte Grimhildas harsche Meinung, teilte sie aber nicht. Sie war sich sicher, dass die Schafe nicht so dumm waren, wie man es ihnen nachsagte. Dass die Hunde allesamt rückgratlose Kriecher waren, konnte sie sich auch nicht vorstellen – sie hatten mit den Wölfen im Osten gekämpft und gewonnen.

Die Wölfe waren stark und mutig. Sie bauten keine Dörfer oder gar Städte, sondern zogen frei durch die Steppen des Ostens und die Tundren des Nordens. Sie nahmen sich, was sie brauchten. Aus diesem Grunde gab es immer wieder Scharmützel in den Grenzgebieten zum Reich. Seitdem die Greife Garnisonen im Norden und im Osten errichtet hatten, kamen Übergriffe auf die Zivilbevölkerung jedoch sehr selten vor.

Selbst die Bären waren auf der Hut, wenn ein großes Rudel Wölfe durch deren Landen zog. Es war dann eine der seltenen Gelegenheiten, zu denen sich die Bären zum Kampf rüsteten, um sich gemeinsam einer Bedrohung zu stellen. In der Regel liefen Aufeinandertreffen zwischen Bären und Wölfen aber auf Verhandlungen hinaus, denn die Wölfe waren nicht nur mutig, sondern auch klug. Sie würden keinen sinnlosen Kampf mit einer Rotte Bärenkrieger austragen, wenn sich dies vermeiden ließe. Auch die Bären wollten keinen Kampf und wenn man sich einig werden konnte, wurde immer die gewaltlose Lösung angestrebt.

Es gab in den Grenzgebieten sogar Handel mit den Wölfen, der meist zivilisiert und für beide Seiten gerecht war. Wo das Leben hart ist, ist es weniger rau, wenn man zusammenarbeitet.

Honeymaws Gedanken wurden unterbrochen, als sie hörte, wie Vater sich regte. In der Stille des Winters war alles viel besser zu vernehmen.

Honeymaws Vater Jorl schob nun den Filzvorhang der Höhle beiseite und hakte ihn an der dafür vorgesehenen Halterung an der Wand ein, sodass der Durchgang offenblieb.

Jorl war selbst für einen Waldbären groß und sehr stämmig. Sein brauner Pelz wies ihn als Angehörigen der Waldbären aus. Er hatte ein breites Gesicht mit sanften, dunkelbraunen Augen und seine tiefe Stimme war von einem warmherzigen, bronzenen Klang. Vaters Blick war stets ruhig und seine Haltung gelassen.

Er sah die Welt mit etwas anderen Augen als die meisten Bären. So schob er Honeymaws ausbleibendes Wachstum, das sie manchmal beschäftigte, auf ihre innere Unruhe. Sie verbrauche ihre Energie lieber mit Entdecken, Träumen und Grübeln als mit Wachsen, sagte er dann mit einem Augenzwinkern.

Wenn sie ein schnell fließender, sprudelnder Bergquell war, so war Vater ein ruhig strömender, breiter Fluss.

Er murmelte ein „guten Morgen, mein Liebes“ und streckte sich dann ausgiebig. Seine Arme reichten fast bis zur Decke. Honeymaw stellte sich vor, was wohl passieren würde, wenn er sich nicht in der Mitte des Langhauses unter dem Giebel befände, sondern an einer flacheren Stelle. Vermutlich würde er das Dach durchstoßen und in einem Schneegestöber versinken.

„Guten Morgen, Vater“, antwortete sie mit dem Anflug eines Grinsens.

* * *

Jorl gefiel dieses Grinsen gar nicht, auch wenn es noch so unmerklich war. Er schaute sich um, ob er nicht irgendetwas übersehen hätte, das ihn gleich nass oder schmutzig machen könnte.

Einen zusätzlichen Topf mit Eiswasser, das zum Schmelzen an einem der Haken des großen Stützbalkens aufgehängt worden war, oder einen Kübel mit Asche vom Feuer des Vortags zu seinen Füßen?

Als er nichts Verdächtiges entdecken konnte, holte er sich seinen Schemel und setzte sich an den Kamin. Er warf einen kurzen Blick auf das Feuer, war zufrieden und legte sich ein Scheit für später zurecht.

Jorl hatte aufgrund seiner Erfahrungen der vergangenen Jahre in weiser Voraussicht den sonst ungenutzten Raum des Langhauses mit Holz für den gesamten Winter vollgestapelt.

Die inzwischen erwärmte Luft des Langhauses hatte das Eis im Kessel in kaltes Wasser verwandelt. Jorl ergriff eine flache Schale und schöpfte sich einen erfrischenden Schluck.

„Zeit für Frühstück“, beschloss Jorl. „Worauf hast du denn Lust, Honeymaw? Etwas Süßes oder doch lieber salzig?“

Die beiden schmorten sich morgens stets einen für die Wintertage aufgesparten Leckerbissen. Das war einer der Lichtblicke im Winter, wenn die Tage kurz und die Nächte lang waren.

Er dachte jetzt an das brutzelnde Geräusch der im Pfännchen röstenden Honig-Datteln aus dem weit entfernten Süden. Da konnte man fast die Sonne des Südens auf der Zunge schmecken.

Oder ein Stück Lachs, auf dem etwas von dem aufgesparten Käse langsam schmelzend zerfloss. Eine Offenbarung.

Bei dem besagten Gericht zerlief der Käse erst auf dem bratenden Lachs, bildete schließlich eine leicht gebräunte Schicht, die dann Blasen warf und beim Abkühlen in der Pfanne knusprig wurde. Zur Erheiterung ihres Vaters nannte sie dies „Käseknusper“.

Sie war der Meinung, dass alles einen Namen haben sollte. Denn wenn sich etwas veränderte, war es ja nicht mehr das, was es einmal gewesen war; und somit etwas Neues.

So ein leckeres Frühstück weckte in seiner Tochter neben dem Appetit auch das Verlangen nach geistiger Nahrung. Denn ihr wahrer Gegner im Winter waren nicht der Hunger oder die Kälte, sondern die Langeweile.

So berichtete Vater ihr im Winter von seinen Reisen, wob die Sagen von den Großen Geistern um ein weiteres Mal und beschrieb die Länder jenseits der Berge und der Seen. Er erzählte von den Legenden über die vergangenen Kriege und den Taten der Helden der alten Zeiten. Und auch Geschichten von ihrer Mutter. Wie sie sich kennengelernt, was sie erlebten hatten, bevor Honeymaw geboren wurde. Oder auch Geschichten aus der frühen Kindheit von Honeymaw, an die sie sich selbst gar nicht oder kaum erinnerte. Zum Beispiel, wie sie zu ihrem Namen kam.

* * *

Bärenkinder erhielten ihren Namen nicht bei Geburt, sondern erst in ihren ersten Lebensjahren. Der Name wurde aufgrund von Ereignissen oder Zeichen gewählt. In ihrem Fall war es keine mystische Offenbarung, sondern ein für ihre Eltern lustiges Ereignis.

Honeymaws Eltern, Jorl und Ulvna, waren keine Fischer, wie die meisten Bären in Klipphaven, sondern Honigsammler. Bären liebten das süße Bienengold, aber auch die Länder des südlichen Reiches begehrten den kräftigen Honig der Nordlande. Denn der Waldhonig, der in den nördlichen Kiefernwäldern gewonnen wurde, war um ein Vielfaches aromatischer als jener, der von den Blumenwiesen des Südens stammte. Auch wurden ihm heilende Kräfte nachgesagt. Ihr Vater verstand es zudem, aus den Überschüssen, die nicht selbst verbraucht oder verkauft wurden, Honigwein zu gewinnen. Er war also ein Metbrauer, und zwar einer der besten, wenn man den Ausführungen der anderen Bären Glauben schenken durfte. Was Honeymaw tat.

Eigentlich war sich jeder insgeheim darin einig, dass der „überschüssige“ Honig gewisslich Abnehmer finden würde – würde Jorl ihn denn zum Verkaufanbieten. Honeymaw wusste, dass Honig nicht verderben kann. Sie durchschaute bald Vaters Vorwand, diese „Überschüsse“ in Met verarbeiten zu „müssen“.

Doch niemand störte sich daran. Denn der Met war mindestens so beliebt wie der Waldhonig selbst. Einige würden sagen, er war sogar beliebter.

Den Honig lagerten sie in ihrer Vorratskammer. Den Anteil für den Met bewahrte Jorl in einem kleinen Schuppen nahe dem Apfelhain auf, der unweit ihres Hauses stand. In diesem Schuppen braute er auch den Honigwein, denn er wollte den Alkohol nicht im Hause haben, solange Honeymaw noch klein war. Der goldene Wein hatte im Gegensatz zum nördlichen Branntwein nicht den scharfen Geruch von Rauch, Torf und Feuer. Nein, sein Duft enthielt die Noten der verschiedenen Waldhonigarten. Dieser Duft konnte zwar die Sinne benebeln, erinnerte jedoch zu sehr an eine Süßigkeit. Etwas, das ein Kind haben wollte.

Den Schuppen verschloss Jorl stets sorgsam. Diebstahl gab es in dem Dorfe nicht. Tatsächlich waren Verbrechen unter den Bären so selten, dass es in ihrer Gesellschaft nicht einmal eine Gerichtsbarkeit gab. Er wollte einfach nicht, dass seine kleine Tochter in einem unbeobachteten Moment an einen der Metkrüge gelangen konnte.

Die Honigtöpfe lagerten dagegen im unverschlossenen Vorratsraum, im hinteren Teil ihrer Höhle.

Nun hatten Jorl und Ulvna natürlich stets einen Blick auf Honeymaw. Doch es kam der Tag, an dem die Kleine es schaffte, sich unbemerkt in den Bereich der Vorräte zu stehlen.

Mutter war zugange, das Abendessen vorzubereiten, und achtete nur drauf, dass Honeymaw nicht zur Vordertür hinaus entwich, um die Welt zu erkunden. So krabbelte die Kleine auf allen Vieren ungesehen in die andere Richtung an ihr vorbei.

Vater und Mutter hatten ihr streng untersagt, sich allein vom Haus zu entfernen, um im tiefen Fluss zu schwimmen, oder nachts allein in den Wald zu gehen. Als ob sie da je allein hin wollte.

Der Duft des Honigs, der aus der hinteren Höhle strömte, war aber viel verlockender als der kalte, tiefe Fluss oder der dunkle, unheimliche Wald in der Nacht.

So kam es, dass Honeymaw unbemerkt zu den Honigtöpfen gelangte. Als sie einen der Töpfe öffnen wollte, kippte dieser zur Seite und sie wurde mit dem Inhalt übergossen. Vor Überraschung schrie sie kurz auf, fing aber sofort an, den Honig aufzuschlecken.

So fanden sie ihre Eltern. Sie hatten mit Besorgnis festgestellt, dass sie nicht, wie so oft, in ihrer Spielecke neben dem Höhleneingang war. Der Schrei führte sie aber direkt zu ihrer Tochter.

Zuerst erleichtert, dann erheitert, nannte Mutter sie dann Honeymaw – Honigmäulchen – und bei diesem Namen wurde sie fortan gerufen.

* * *

Honeymaw hatte auch schon des Öfteren über ihren Namen nachgedacht. Es war kein großer Name, den Helden der alten Zeiten trugen. Es war auch keiner der Namen, in denen die Verheißung auf weltverändernde Taten mitschwang. Aber es war ihr Name, den niemand sonst hatte, den sie kannte. Und Mutter hatte ihn ihr gegeben.

Mit jedem Jahr veränderten sich Vaters Geschichten ein wenig, erhielten mehr Details. Zum einen wollte er die Geschichten, die er schon oft erzählt hatte, interessanter machen, zum anderen konnte er sie dadurch weiter ausschmücken.

So war bei der letzten Erzählung, wie Honeymaw zu ihrem Namen kam, ihr Bauch kugelrund, weil sie den ganz großen Topf allein ausgenascht hatte. Heruntergeschlürft, wie man einen kleinen Becher mit Wasser in einem Zuge leerte. So viel Honig hätten sie und Vater in einer Woche nicht verzehren können. Sie protestierte zwar, musste aber auch lachen, wenn sie sich das vorstellte.

Aber nicht alle Geschichten wurden lustiger. Insbesondere die Erzählungen vom Krieg und von den Großtaten der alten Helden veränderten sich, wurden düsterer und endeten manchmal traurig oder gar entsetzlich. Honeymaw liebte aber auch die gruseligen Teile der Erzählungen. Sie mochte sie nicht so sehr, sobald sie danach allein im Dunkeln lag, aber dann war es zu spät. Nichtsdestotrotz drängte sie Vater, nichts auszulassen.

Sie war schließlich kein Kind mehr. Nun, fast nicht mehr. Zeit, Vater daran zu erinnern.

„Vater, der Südwind hat eingesetzt“, begann sie, ohne ihrem Vater auf die zuvor gestellte Frage zum Frühstück zu antworten.

Jorl schaute zu ihr auf und sein Blick wanderte zur offenen Tür. Jetzt, da seine Tochter es aussprach, nahm auch er es wahr.

„Bald setzt also das Tauwetter ein“, fuhr Honeymaw fort, „und ich sollte meine Vorbereitungen treffen.“

* * *

Jorl wusste sofort, wovon seine Tochter sprach. Weissagung. Bestimmung. Reise.

Dieses Thema gefiel ihm gar nicht. Aber ihm länger aus dem Weg zu gehen, war auch nicht möglich. Vergangenes Jahr umging er es, als wäre es eine Grube voller Eisendornstrauch-Gestrüpp.

Dieses Jahr würde es so weit sein.

„Ja, das solltest du“, sagte er im ruhigen Ton. „Wenn du magst, können wir zusammen in den Ebenholzhain gehen und dir einen Baum für deinen Stab aussuchen. Du magst vielleicht noch ein Stückchen wachsen, aber es ist Brauch, den Stab im achtzehnten Lebensjahr und vor der Reise zu fertigen.“

Die Bären hatten nämlich den Ritus, dass sie in dem Jahr, in dem sie der Kindheit entwuchsen, die alten Runensteine aufsuchten. Hier erbaten sie bei ihrem Schamanen eine Weissagung. Die Schamanen waren dafür bekannt, dass sie den Willen der Geister zu deuten vermochten. Das Ritual half den jungen Bären, ihre Bestimmung zu finden. So würde sich ihnen offenbaren, welchem der fünf Geister sie am stärksten zugewandt und wozu sie berufen waren:

War der junge Bär wie die Höhlenmutter – Lebensgeber und Behüter des Heims – welche die Jungen beschützt,

oder kam er doch mehr nach dem Fischer, der weit reist, aber auch immer zur Höhle zurückkehrt und stets etwas Wertvolles mitbringt;

war er wie der Berserker, der für wilde Kraft steht, allerdings immer im Sinne des Ungestümen, für Kriegertum und in manchen Fällen gar Gewalt stehen kann;

oder doch wie die Fröhliche Schwester, die die Jugend und Ausgelassenheit verkörpert, die sich nicht bindet und immer Neues entdecken möchte;

möglicherweise aber doch wie der Schreiner, welcher das Dach über dem Heim errichtet, der für Sesshaftigkeit steht, neue Dinge mit seinen Händen schafft und somit auch die Handwerkskunst versinnbildlicht.

Zu Jorls Unbehagen zeigte seine Tochter viel von der Art des Geistes der fröhlichen Schwester. Sie war neugierig. Wollte Neues erfahren. Ähnlich dem Fischer zog auch sie aus, kehrte jedoch nicht immer zurück.

Honeymaw war in einer Vollmondnacht zur Welt gekommen und somit im Zeichen der Höhlenmutter geboren. Daher dachte Jorl, seine Tochter würde nach ihrer Wesensart kommen. Die Höhlenmutter war der mächtigste der großen Bärengeister und der Mond ihr allsehendes Auge, das über alle Bären wachte.

---ENDE DER LESEPROBE---