Die Letzte Nacht - Martin Haak - E-Book

Die Letzte Nacht E-Book

Martin Haak

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Beschreibung

„Ich weiß noch, wie sie auszogen. Wie sie ihre Lieder sangen. Die Trommeln hallten wie der Donner durch die Straßen, ihre Stimmen klangen wie ein himmlischer Sturm. Stolz und Jung. Und wir jubelten ihnen zu. Niemand konnte ahnen, was geschehen würde. Oh, was waren wir für Narren!“ Honeymaw, Tochter der nördlichen Bärenstämme, folgt ihrer Bestimmung und reist mit ihrem Vater Jorl in das Königreich. Kaum angekommen erfahren sie am eigenen Leibe, wie bedrohlich die Laster und Gefahren der Großstadt sein können. Doch wo Schatten ist, da ist auch Licht: Denn auch die Liebe lockt. Indes scheint der Konflikt zwischen altem und neuem Reich unausweichlich. Kriegstreiber auf beiden Seiten entfachen die Flammen des Krieges. Wird sich die Weissagung erfüllen? Wie viele Leben ist der Erhalt des Status quo wert?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Die Letzte Nacht

LEGENDEN AUS DER ZEIT VOR DER ZEIT

BUCH ZWEI

MARTIN HAAK

Inhalt

Reisekarte

1. Aufbruch

2. Tavernenhumpen und Gossenhalunken

3. Die Letzte Nacht

4. Der Kindheit Ende

5. Alpträume

Die Geschichte geht weiter

Reisekarte

© 2021 Martin Haak

Alle Rechte vorbehalten.

Auflage: 1

Umschlaggestaltung: Mina Bekker

Illustrationen: Martin Haak

Lektorat: Sabine Gotthardt, Annette Kulzer, Paul Tido

Verlag: Selbstverlag

Martin Haak, Frankfurter Straße 11, 61476 Kronberg, Deutschland

ISBN Paperback: 978-3-949908-42-2

ISBN Hardcover: 978-3-949908-43-9

ISBN e-Book: 978-3-949908-09-5

ISBN Hörbuch: 978-3-949908-46-0

Illustrationen, Karten und weiteres Material auf:

www.legendenzeit.com

Erstellt mit Vellum

Kapitel1

Aufbruch

Wir ziehen mit dem Winde

Er trägt uns weit hinfort

Über Land und über See

Zu Ländern in der Ferne

Zu manchem fremden Ort.

Wer kreuzt dann unsre Pfade?

Das weiß allein der Wind

Wir ziehen immer weiter

Wer kann schon morgens sagen

Wo wir des Abends sind.

Und senkt sich dann die dunkle

Kalte, lange Nacht

Kein Sonnenschein für immer währt

Wir schlagen unser Lager auf

Und halten treu die Wacht.

Ein Reiselied, Ursprung unbekannt

Das Mittsommerfest wurde auch 918 n. D. in Klipphaven mit dem großen, die ganze Nacht brennenden Feuer vor dem Dorf beendet. Honeymaw blickte gedankenverloren in die tosenden Flammen. Sie spürte die gewaltige Hitze, die von den aufgeschichteten brennenden Baumstämmen ausging. Das Feuer machte die Nacht zum Tag, was ihr gefiel. Sie nippte am Met, den sie heute Abend mit Vorsicht genoss. Immer einen Becher Wasser nach einem Krug des verführerisch süßen Mets. Ihre erste Erfahrung mit Alkohol hatte sie nicht vergessen und war froh, dass Tante Grimhilda damals auf sie aufgepasst hatte. Schon die leichte Übelkeit am darauffolgenden Morgen war Honeymaw Warnung genug gewesen.

Vater hatte für sie beide eine Passage nach Süden gebucht. Er bestand darauf und sie hatte, entgegen anfänglicher Bedenken, nicht widersprochen. Die Weissagung hatte ja von einer gemeinsamen Reise berichtet und Vater schien sie seit dem Abend im Runenwald als Erwachsene anzuerkennen.

Sie freute sich so sehr auf die Reise. Schon das erste Ziel war eine der größten Städte der Welt. Telkar, das Juwel der Azurküste. Vater hatte kein gutes Wort für den Ort übrig, aber sie hatte auch schon von anderen Bären und den reisenden Händlern einiges über diese Hafenstadt in Erfahrung bringen können. Demnach war Telkar gewaltig und strahlte blendend weiß vor dem leuchtenden Blau der Azursee. Die Händler erzählten, dass die Azursee so hoch im Norden bei weitem nicht so blau sein soll wie im Süden, wo warme Wasser flossen. Ein warmes Meer, das musste man sich einmal vorstellen. Die Stadt hatte viele Tavernen und Gasthäuser, wo Reisende aus aller Welt beisammensaßen. Es gab auch verschiedene Märkte, getrennt nach Art der Handelsgüter. Einige waren sogar in Hallen untergebracht. Eine Halle zum Handeltreiben. Wie groß die Gebäude sein mussten. Das größte Haus, das Honeymaw kannte, war das Langhaus beim Markt, wo auch kleine Feiern abgehalten wurden. Es wurde von niemandem bewohnt, sondern diente dem Dorf als wettergeschützte Versammlungsstätte. Es war auch das einzige Langhaus ohne Höhle und war bestimmt zwanzig Fuß hoch sowie sechzig Fuß lang und es bot Platz für dreißig ausgewachsene Bären.

Nach Beschreibung der Händler und Seefahrer waren die Gebäude im Reich deutlich größer. Bauernhäuser auf dem Land waren, je nachdem, welches Volk in ihnen wohnte, zuweilen kleiner als ein Bärenhaus. Doch in der Stadt, wo man auch aus Steinen Häuser errichtete, schien es für die Baumeister kaum Grenzen zu geben. Honeymaw stellte sich vor, wie es sich wohl in einem Gebäude leben würde, das so hoch wie die Kiefern der nahen Wälder war. Man hätte ja einfach nur eine hohe Decke. Welchen Sinn das erfüllte, war ihr nicht ganz klar. Aber sie konnte es kaum erwarten, es mit eigenen Augen zu sehen.

Mogen würde sie in zwei Tagen mitnehmen. Am Tag des Mittsommerfestes wurde kein Handel getrieben und die meisten würden am Folgetag lange ausschlafen. Honeymaw dachte immer, das läge daran, dass die Erwachsenen so lange aufblieben, aber nun ahnte sie, dass der Met auch seinen Teil dazu beitrug, dass viele erst am späten Nachmittag vor die Türen traten.

Sie nippte jetzt noch einmal am Met. Ihr Krug war fast leer. Einer der jungen Männer, Lorson, wollte ihr nachschenken, doch sie lehnte höflich ab. Der Bursche, der drei Jahre älter war als sie, hatte sie nie beachtet, aber heute Abend war er geradezu freundlich. Das gefiel Honeymaw zwar, aber sie hatte noch einige gute Ratschläge und Warnungen im Hinterkopf, die Tante Grimhilda ihr mit auf den Weg gegeben hatte. Männer würden zuweilen keck oder gar aufdringlich werden, wenn sie tranken. Außerdem solle sie sich hüten, selbst zu viel zu trinken, wenn sie allein unter Fremden war. Als Honeymaw sie fragte, was denn schon passieren solle, wurde Grimhilda seltsam verschlossen.

Nun, sie war hier nicht wirklich unter Fremden und Vater starrte den Jüngling schon den ganzen Abend grimmig an. Lorson war etwas kleiner als Jorl und deutlich leichter gebaut. Er hatte hellbraune Augen und ein dunkelbraunes Fell, wie die meisten Waldbären. Honeymaws höfliche Zurückweisungen schienen ihn zu enttäuschen, doch er lächelte nur höflich, als sie abermals ablehnte.

Die einzigen anderen jungen Bärenmänner waren die beiden, die immer Tante Grimhilda begafften, wenn sie kam. Sie lachten und tranken unentwegt. Die Possen wurden mit voranschreitender Zeit derber, fast anzüglich, und Honeymaw entschloss sich, etwas Abstand zu nehmen. Jedoch nicht so weit, dass sie nicht mehr mitbekam, was da so gesagt wurde. Das war nicht allzu schwer, da die zwei sehr laut waren. Die Höhepunkte ihrer Scherze gingen jedoch zumeist in ihrem schallenden Gelächter unter.

Honeymaw bemerkte, dass sie inzwischen selbst mehr getrunken hatte, als sie ursprünglich vorgehabt hatte. Sie schwankte leicht und hattesich, ohne es zu bemerken, wieder nahe zu den jungen Männern gestellt. Sie lachte mit, obwohl sie die meisten Witze nicht verstand – entweder inhaltlich oder weil die beiden inzwischen so verwaschen sprachen. Es war dennoch so lustig. Es machte Spaß, zu lachen. Das musste das beste Mittsommerfest sein, das jemals gefeiert worden war.

Honeymaws Krug war schon wieder leer. Das ging ja gar nicht. Zum Glück stand ein Fass in ihrer Nähe, sodass sie nicht lange würde darben müssen. Sie ging zum Fass und fragte, ob es hier einen Bären gebe, der sie vor dem garstigen Durst erlösen könne. Sie gab ihren Krug aus der Hand und die beiden jungen Männer bemühten sich, die holde Maid aus ihrer Not zu erretten.

Überrascht spürte Honeymaw, wie ihr ein Becher von der Seite in die Hand gedrückt wurde. Ihr Blick war inzwischen ein wenig verschwommen, auch wollte sie keine ruckartigen Drehungen durchführen. Erst einmal einen kleinen Schluck nehmen, dann sich beim edlen Spender bedanken. Aber im Becher war nur schnödes Wasser. So ein gemeiner Scherz. Honeymaw drehte sich nun um und blickte nach oben. Uh-oh. Das Gesicht kannte sie. Vater stand neben ihr und hatte die Augenbrauen hochgezogen.

„Trink mal besser noch einen Schluck hiervon, mein Liebes.“

Honeymaw erwartete nun, dass Vater irgendeine Ermahnung von sich geben würde, aber dem ersten Satz folgte kein zweiter. Die beiden jungen Männer sahen nun ebenfalls zu Vater auf, der groß und breit hinter ihr stand.

„Geschegnetesch Mittschommerfescht, Meischter Jorl“, nuschelte einer.

„Gesegnetes Mittsommerfest, meine Freunde“, antwortete Jorl. „Wie ich sehe, seid ihr alle schön am Feiern. Und trinkfest seid ihr auch. Das lob ich mir.“

Die beiden nickten eifrig. Honeymaw war verwirrt. Es schien, als ob es Vater nicht störte, dass sie hier mit den jungen Männern trank. Vielleicht hatten der Met und die fröhliche Feier ihn etwas gelockert?

„Na, dann wollen wir nun nicht nachlassen, oder habt ihr alle schon genug? Die Morgendämmerung ist noch fern und die Mittsommerfeier noch lange nicht vorbei.“ Vater hob seinen Krug und sie alle stießen zusammen an.

Honeymaw war glücklich. Vater hatte verstanden, dass sie kein Kind mehr war. Und die jungen Männer schienen dies ebenfalls erkannt zu haben. Es wurde auch Zeit. Sie nahm einen tiefen Zug. Verdammt – sie hatte ja immer noch das langweilige Wasser in der Hand.

„So, dann wollen wir mal wie richtige Männer trinken“, sagte Vater mit einem breiten Lächeln und zwinkerte den jungen Bären verschwörerisch zu.

* * *

Jorl hatte den ganzen Abend lang ein Auge auf Honeymaw gehabt. Er ersparte sich jeden Kommentar, denn er wollte ihr nicht die Freude an der Feier nehmen. Aber er wusste, wie schnell manche Dinge passierten, wenn man bei ausgelassener Freude zu viel trank. Er öffnete den Branntwein, indem er den Korken mit dem Finger in die Flasche hineindrückte. Diese Flasche musste jetzt also noch vor Sonnenaufgang geleert werden.

„Der gute Brandt unserer Väter, das Wasser des Lebens. Trinkt erst einmal aus. Lasst uns den Branntwein pur genießen.“

Alle leerten ihre Krüge mit einem Zug. Honeymaw trank den Becher mit Wasser leer und hielt diesen ihrem Vater hin. Sie wollte auch etwas von dem Branntwein. Nun gut.

* * *

Branntwein. Den hatte Honeymaw noch nicht probiert. Sie war jetzt eine Frau und würde alles kosten, was ihr bislang verboten war. Vater füllte ihren Becher nur bis zur Hälfte, die Krüge der jungen Männer aber fast randvoll. Ungerecht. Bei der nächsten Runde würde sie das nicht hinnehmen. Sie stießen zusammen an.

„Auf das Feuer des Mittsommerfestes, das Feuer in unseren Bechern und das Feuer in unseren Herzen“, rief Vater und alle stimmten ein.

Honeymaw nahm einen tiefen Zug. Oh Mutter. Oh Mutter. Branntwein. Das Feuer des Nordens. Ein anderer Name wäre diesem Abgrundsaft nicht gerecht geworden. Dieser Wein brannte wie Feuer. Sie spürte die Flammen in Mund, Hals und Magen. Sie keuchte. Das Brennen stieg ihr nun zur Nase und den Augen. Wie konnte man so etwas nur freiwillig trinken? Durch tränenverschwommene Augen sah sie, wie die jungen Männer zuerst die Gesichter verzogen, aber dies sofort überspielten. Vater sah aus wie immer. Doch ihr Magen wollte, dass das flüssige Feuer ihn wieder verlässt. Honeymaw spürte Übelkeit in sich aufwallen und kämpfte um klare Gedanken. Ihr Kopf fing an zu schwimmen. Das Gefühl war unangenehmer als bei dem Pilztee. Viel unangenehmer. Die Welt fing an sich zu drehen, sie verstand die Worte um sich herum nicht mehr. Die Wärme des Mittsommerfeuers verstärkte das Hitzegefühl des Weinbrands in ihren Eingeweiden. Ihr war schlecht. Sie wollte Wasser. Sie wollte nach Hause.

Die Gesichter der jungen Bären waren nun fast ausdruckslos. Ihnen standen die Münder offen, während sie mit getrübten Augen den goldenen Fluss des Feuers des Nordens bestaunten, das erneut in ihre Krüge strömte.

„Auf uns!“, sprach Vater und stieß mit ihnen an, als die Geste ihrerseits ausgeblieben war. Jorl setzte seinen Krug an und trank ihn Schluck für Schluck herunter. In den Gesichtern der Burschen stieg nun Grauen auf. Der Bär setzte seinen leeren Krug auf dem Fass ab und blickte sie ausdruckslos an. Wartete. Er schwankte kein Stück.

Honeymaw schloss die Augen. Sie taumelte, doch jemand fing sie sanft auf und stützte sie. Sie hielt sich an dem Fremden fest, das drehende Gefühl in ihrem Kopf beruhigte sich ein wenig. Als sie die Augen öffnete, sah sie, dass sie sich am jungen Lorson festhielt. Er hatte seinen Arm um ihren Rücken gelegt und stützte sie mit seiner Hand an ihrem Ellbogen.

Vater drehte sich zu den beiden um. Er schien von dem sich bietenden Anblick nicht sonderlich erfreut zu sein, ignorierte Lorson und fasste Honeymaw sanft an den Schultern.

„Alles in Ordnung, mein Liebling?“ Der Geruch des Branntweins, der in Vaters Atem wogte, ließ Honeymaws Übelkeit mit einem Schlag aufs Unerträgliche anschwellen. Sie versuchte sich abzuwenden, schaffte es aber nicht mehr. Oh Mutter.

* * *

Das Unmögliche war geschehen. Eindringlinge. Diebe. Mörder.

Ihre Schwester war auf ihrer Wacht grausam erschlagen worden und der Samen der Götter, über den sie seit neunhundert Jahren gewacht hatten, war entführt worden. Generationen von Priesterinnen hatten in der Pyramide der Sonne das letzte Ei der weißen Saat bewacht, gehütet und gepflegt. Eines von vier Eiern der Göttlichen, in denen noch das Leben schlug.

Priesterin Ssoleenssaa war eine große Schlange. Sie war weiß geschuppt, mit türkisfarbenen Augen. Ihr Kopf war breit und rund, ihr Körper gut zwanzig Fuß lang. Ihre Arme waren schlank und ihre dreifingrigen Hände langgliedrig. Über ihren Rücken lief ein Muster aus hellgelben Schuppen. Diese Zeichnungen liefen ebenfalls an der Außenseite ihrer Arme bis zu den Händen herab. Auf dem Kopf trug sie ein silbernes Diadem, in das ein gelber Sonnenstein eingelassen war.

Es war eine Tragödie. Am lichten Tag war das Drachenei aus ihrer Obhut gestohlen worden. Nicht von einer Armee aus unbezwingbaren, in Eisen gehüllten Greifen. Nein, drei Ratten waren es gewesen. Ratten. Sie waren unvorsichtig geworden. Sie hatten das Erbe ihrer Ahnen verraten. Ihren heiligen Auftrag. Das Imperium hatte sich auf sie verlassen. Den Schwestern der Sonne war es auferlegt, die Dracheneier zu hüten und zu bewahren, bis sie schlüpften. Aber eines nach dem anderen war nach dem Großen Fall erkaltet, das Leben darin erloschen, ohne dass je ein Drache geschlüpft wäre. Nur noch in vier der großen Pyramiden war je ein lebendes Ei zu finden gewesen, behütet durch die Priesterinnen der Sonne. Jetzt waren es bloß noch drei.

Eine der Ratten hatten sie erwischt, aber zwei waren entkommen. Diese beiden hatten den Kopf ihrer lieben Schwester mitgenommen und das letzte weiße Ei.

Neunhundert und achtzehn Jahre gab es keinen Konflikt. Gut, die Greife töteten hin und wieder Wachposten der Kaltherzen. Geringe Verluste, die leicht zu ersetzen waren. Aber es gab nie einen Angriff auf imperiale Städte. Es war, als hätten die Greife nie Interesse an den Sümpfen, dem Smaragdwald oder den zerbrochenen Inseln gehabt.

Hätten sie gewusst, dass es noch Eier gab, hätten sie gewisslich versucht, das Leben darin zu ermorden. Die ersten Jahrhunderte nach dem Krieg versteckten die Priesterinnen der Sonne die Eier an dunkeln Orten unter der Erde. Doch die Eier schlüpften nicht aus. Vor dreihundert Jahren verteilte man sie dann in den Pyramiden. Man hoffte, dass die alten Stätten der Macht die Eier mit Energie füllen und das Leben darin zum Wachsen bringen würden.

Viel Wissen war im Krieg verloren gegangen. Die Drachen waren tot und auch viele Hohepriesterinnen gefallen, ohne ihr Wissen an ihre Nachfolger weiterzugeben. Die Erzählungen an den Wänden waren zum Teil unklar oder doppeldeutig. Es gab nur noch einen, der aus sicherer Quelle Wissen schöpfen konnte. Etwas zog sich in ihr zusammen, als sie an ihn dachte. Der Herzlose. Hüter der Toteninsel. Bewahrer des vergessenen Wissens. Er, der den Großen Fall selbst miterlebt hatte. Sie hatte ihn nur einmal getroffen und sie wäre glücklich gestorben, wenn sie ihn nie wieder hätte sehen müssen. Er sollte schon seit über tausend Jahren leben. Er war schon stark, als die Drachen noch herrschten. Nach ihrem Fall wurde er noch stärker. In Körper, Geist und Einfluss. Nun war er wahrlich mächtig.

Die Schlangen waren langlebig, einhundertfünfzig Jahre waren nicht ungewöhnlich. Einige wurden sogar über zweihundert Jahre alt. Abereintausend?

Sie erinnerte sich, wie sie ihn vor all den Jahren auf dem Platz vor der Großen Pyramide erblickte. Er war größer als die Matriarchin, Führerin des Sonnenkultes. Seine körperliche Gestalt war schon furchterregend, aber was die Angst in Ssoleenssaas Herzen auslöste, war sein Blick. Ihr war, als ob er sie erforschte, als er ihr damals in die Augen sah. Als könnte er in sie hineinblicken, bis in ihr tiefstes Inneres. Ihre Seele prüfen, ihr Herz wiegen. Ssoleenssaa war sich seit diesem Tage sicher, dass er sich über die Priesterinnen und ihre Lehren erhaben wähnte. Er brach zwar keine heiligen Regeln, doch säte er seit Jahrzehnten Zweifel an den Prophezeiungen. Legte sie neu aus. Scharte Anhänger um sich.

Das Gesetz sah vor, dass er den Priesterinnen dienen sollte, aber es war, als wäre es andersherum. Seine Ehrerbietungsbekundungen an die Matriarchin klangen damals wie Lippenbekenntnisse. Wie konnten die anderen Priesterinnen ihm nur Glauben schenken? Selbst die Matriarchin schien sein wahres Wesen nicht zu erkennen und stützte sich sogar auf ihn. Ssoleenssaa wurde übel, denn ihr war klar, dass er nun noch einflussreicher werden würde.

Die junge Priesterin fürchtete um die letzten Strukturen des alten Imperiums. Um den Kult der Sonne. Er würde versuchen, jeden Gläubigen auf seinen Pfad zu lenken. Fast der gesamte Süden hatte sich schon seinen Lehren gebeugt. Ihm, der Grausamkeiten zum heiligen Ritus verklärte. Ihm, der keine Liebe kannte.

Aber das Wohl der Eier stand über jeder Befindlichkeit. Wenn er obsiegte, wo sie versagt hatten, wäre sein Weg vielleicht doch der richtige, so dunkel er ihr jetzt auch erscheinen mochte.

Ssoleenssaa seufzte frustriert. Es half alles nichts, sie musste gehorchen. Sie rief einen Botenläufer zu sich. „Eine Botschaft an den Hüter der Toteninsel.“

* * *

Der Seneschall konnte es nicht glauben. Der Assassine hatte es tatsächlich geschafft. Er hatte damit gerechnet, dass er ihn nie wieder sehen würde. Entweder weil er die Geschäftsbeziehungen abbrechen oder weil er in den Sümpfen sterben würde.

Aber dieser gewitzte Mordgeselle hatte einen Schlangenkopf dabei und etwas, das ihn an das Bild in seinem Kopf erinnerte. Der Seneschall war das erste Mal in seinem Leben durch und durch überrascht und fast beeindruckt. Was diese Expedition zu Tage gebracht hatte. Es gab also tatsächlich noch Dracheneier. Wo eines war, gab es sicherlich noch weitere. Dass diese Eier über Jahrhunderte mit Leben erfüllt sein konnten. Vielleicht gab es doch so etwas wie Echsenmagie?

Die Erkenntnis, dass die Reptilien über florierende, organisierte Städte verfügten. Wenn es eine gab, musste es noch mehr geben.

Und wenn die Beschreibungen des Giftmörders hier stimmten, lebten sie eine Kultur, die der des Reiches gar nicht so unähnlich war. Es gab Krieger und Arbeiter, Führer und Diener, Baumeister und Fährmänner. Und es gab wohl so etwas wie Zeremonien oder Feiern. All das hatte die Drachen überlebt.

Der Seneschall hatte sich alles mehrere Male berichten lassen. Demnach hatten einige der Echsen Angst gezeigt, als die Ratten zum Angriff übergegangen waren. Sie waren wohl doch nicht so hohlköpfig, wie man seit jeher berichtete. Die Alligatoren und Warane hatten sich wiederum sofort in den Kampf geworfen. Sie dienten auch als Spähposten oder Grenzwacht. Sie bildeten vermutlich die Kriegerklasse. Das heißt, die Schlangen waren, wie vermutet, die Anführer, aber es gab auch so etwas wie Handwerker und Fischer. Einige Echsen sollen auch Früchte gegessen haben, vielleicht gab es also sogar Bauern.

Der Assassine vermutete, dass die Echsen Gefangene gesammelt und bei einer Zeremonie getötet und verspeist hatten, aber er hatte nichts dergleichen beobachten können. Das schätzte der Seneschall an ihm: Er erfand nichts, um die Erzählungen dramatischer zu machen, und räumte Unwissen ein. Das machte es leichter, die Situation zu bewerten.

Was eine erfolgreiche Mission. Vielfach das Gold wert, das er ausgelobt hatte. Er musste nun über die Möglichkeiten nachsinnen, die sich hieraus ergaben.

* * *

Honeymaw hatte den Tag nach dem Mittsommerfest in ihrem Bett verbracht. Ihr ging es elend. Vater hatte bis zum Mittag geschlafen und war danach munter auf den Beinen. Jeder seiner Schritte dröhnte, und jedes Topfklappern klang, als ob er mit einem Hammer auf den Kessel schlüge.

Vater schob den Wollfilz beiseite und fragte mit fröhlicher Stimme, ob sie denn keinen Hunger hätte. Wie sollte sie etwas essen können? Wie hatte sie je irgendetwas essen können? Honeymaw zog sich die Decke über den Kopf und rollte sich zusammen. Mit Vaters donnernder Stimme schoss auch das Licht der Sonne in die Höhle und der Lachsgeruch brandete auf sie ein.

„Keinen Hunger?“, fragte Vater. Seine Überraschung klang unglaublich schlecht gestellt. So, als wollte er, dass sie den Sarkasmus erkenne. „Dabei gibt es auch so viel Neues zu berichten. Es heißt ja, die Drachen seien ausgestorben. Heute Morgen ging das Gerücht im Dorfe um, dass gestern Nacht, in unserem kleinen Klipphaven, drei junge Drachen flüssiges Feuer gespien haben sollen. Das muss man sich einmal vorstellen.“

Honeymaw wollte eine verärgerte Antwort geben, allerdings kam nur ein unklares, krächzendes Geräusch aus ihrer Kehle. Wie konnte Vater nur so gemein sein. Nach der Weissagung war er so lieb und verständnisvoll, und jetzt schien es ihn geradezu zu belustigen, dass es ihr schlecht ging.

Sie war erst nach Einbruch der Nacht fähig, aufzustehen und ein Stück gesalzenes Brot zu essen, das Vater für sie mit einem Krug Wasser bereitgestellt hatte. Morgen würde ihre Reise beginnen und sie war komplett erschöpft.

„Keine Sorge, mein Liebling. Morgen bist du wieder auf den Beinen. Wir legen erst am frühen Nachmittag ab und ich habe schon alles vorbereitet.“ Vater saß vor dem Haus, auf der kleinen Holzbank, sprach aber laut genug, dass Honeymaw ihn gut verstand.

„Ich habe mich so auf meine Reise gefreut und jetzt sitze ich hier am Tag zuvor und kann kaum aufstehen“, beschwerte sich Honeymaw aus dem Inneren des Hauses.

„Warum hast du uns den Branntwein ausgeschenkt? Es war so schön bis dahin.“

„Nun, ich will ehrlich mit dir sein. Du bist nun erwachsen und wirst bald in ferne Länder ziehen. Du hast noch wenig Erfahrung mit dem Alkohol, doch der birgt mehr Gefahren, als du glaubst. Der Met schmeckt süß und köstlich, nimmt dir aber die Fähigkeit, das, was um dich herum geschieht, richtig einzuschätzen. Es ist besser, wenn du die erste negative Erfahrung hier in deiner Heimat machst, wo es jemanden gibt, der auf dich aufpasst. Wo du zu Hause aufwachst. In deinem Bett.“

„Du sagst das so, als ob man sich in tödlicher Gefahr befände, sobald man einen Schluck Met trinkt“, fuhr Honeymaw auf. Ihr Ärger klang allerdings recht kraftlos.

„Wenn die Runde lustig ist, trinkt man gerne noch einen weiteren Schluck, und dann noch einen. Ich nehme mich selbst davon gar nicht aus, aber für dich ist dieser Genuss neu und er fordert einen Tribut – wie du selbst gerade merkst“, fügte Vater an. Er war inzwischen aufgestanden und trat bei den Worten ins Haus. „Die Gefahren sind aber nicht nur ein schwerer Schädel und ein klagender Magen am nächsten Tag, sondern das, was man im Rausch des Weines tut. Da wurden schon oft die falschen Entscheidungen getroffen. Ich möchte nur, dass du daran denkst. Ich glaube, der heutige Tag wird dich noch einige Zeit daran erinnern. Und bevor du mich schimpfst: Met und Branntwein hast du aus eigenen Stücken getrunken. Vermutlich wäre es bis zum Morgengrauen mehr gewesen, wäre ich nicht hinzugekommen, und du würdest dich noch elendiger fühlen.“

Typisch. Ihr ging es schlecht und Vater hielt ihr eine Standpauke. Honeymaw war sich sicher, dass sie schon noch zur rechten Zeit aufgehört hätte zu trinken.

Aber sie war jetzt zu müde, um sich mit Vater zu streiten. Der Schlaf des Tages hatte keine Erholung gebracht. Sie fühlte sich nach dem Krug Wasser und dem Bissen Brot etwas besser, wollte sich jedoch lieber wieder hinlegen. Vielleicht ginge es ihr bis zum Morgen tatsächlich wieder gut. Sie brauchte morgen all ihre Kräfte. Sie würde sich den Tag des Aufbruches nicht verderben lassen.

* * *

Jorl hatte kein schlechtes Gewissen. Er meinte, was er sagte. Honeymaw wäre in der Tat in großen Schwierigkeiten, wenn sie sich in der Fremde derart betrinken würde. Außerdem, wer weiß, was passiert wäre, wenn die jungen Bären allein weiter getrunken hätten. Gerade dieser Lorson – mit seiner kleinen Tochter. Jorl seufzte und schenkte sich nun selbst etwas Wasser ein. Der gestrige Abend hatte es ganz schön in sich gehabt. Vielleicht hatte er es mit dem Branntwein doch übertrieben. Auch die Mütter jener Jungs, denen er eingeschenkt hatte, hatten ihn am Nachmittag geschimpft, als er kurz im Dorf gewesen war. Deren Väter allerdings hatten gelacht und ihm zugezwinkert, als ihre Frauen nicht hinsahen.

Wenn sie morgen in den Süden segelten, musste Jorl sich weniger Gedanken um junge Männer machen. Es gab praktisch keine Bären im Reich. Es würde also niemand Honeymaw umwerben oder betrunken machen, um sie in sein Bett zu bekommen.

Obwohl es in den großen Städten allerlei unzüchtige Vorgänge zwischen den Völkern gab, wie er selbst schon in Telkar gesehen hatte. Er musste nun wieder an das Ponymädchen denken, das vor so vielen Jahren in der Taverne zur wilden Musik der Fahrensleute getanzt hatte. Er verscheuchte den Gedanken. Eine derartige Beziehung zwischen zwei verschiedenen Völkern gehörte sich nicht. Freundschaften, gewiss, aber körperliche Liebe zwischen Mann und Frau? Es konnte aus so einer Beziehung nie ein Kind entspringen, somit wäre es nur Fleischeslust.

Grimhilda nannte ihn einst prüde. Andererseits hielt sie auch nichts von der Idee, mit einem Angehörigen eines anderen Volkes das Bett zu teilen. Jorl vertrieb auch diesen Gedanken. Er sollte sich lieber um die Reise seiner Tochter sorgen, anstatt über die Abwandlungen der Fleischeslust nachzusinnen. Er grollte niemandem, der sich zu solchen Lebensweisen entschied, befand es aber für sich als nicht richtig.

Zeit, ins Bett zu gehen. Morgen gab es noch einiges zu erledigen und letzte Dinge vorzubereiten.

* * *

Der kleine Ort am Rande des Sumpfes hatte keinen wirklichen Namen. Sechs krude, hastig errichtete Hütten, die ursprünglich als befestigte Schlafstätten für die Torfbauern dienen sollten. Schließlich fingen die ständig wechselnden Bewohner an, die Verschläge etwas zu verbessern, bis schlichte Schuppen aus dem ursprünglichen Regenschutz entstanden waren.

Heute lebte hier tatsächlich eine kleine Familie. Ein armer Torfbauer hatte sich mit seiner Frau und seinen vier kleinen Kindern niedergelassen. Er schlug Holz im nahen Sumpf. Das wagten sich so nahe am Tiefen Sumpf die wenigsten. Man fürchtete, dass die lauten Geräusche der Axt Echsen anlocken könnten. So hatte er aber keine Konkurrenz und der Händler, der mit seinen Karren den von Tagelöhnern gestochenen Torf einsammelte, nahm auch seine kleine Ausbeute Mangrovenholz mit.

Der winzige Ort, der es nicht verdiente, Dorf genannt zu werden, hatte darüber hinaus einen kleinen Meldeposten der Grenzwache. Nur zwei Soldaten. Doch es waren Pikeniere des Schwarzen Bataillons – wehrhafte Männer, die auch nicht so leicht ihre Nerven verloren.

So konnte der Bauer Geldan, der zurzeit im Grunde Holzfäller war, seine junge Frau und die vier Kleinen ohne Sorge zurücklassen. Keine Strauchdiebe würden seine Familie ausrauben oder ihr sogar Gewalt antun. In der Wildnis jenseits der Mauer dagegen brauchte es keine Echsen, um Frau und Kind zu verlieren.

Die jetzigen Wachen waren ein alter Haudegen und ein junger Hund. Der Junge war zwar groß, wirkte aber nicht halb so gefährlich wie der kurze Veteran. Der alte Hund würde sich vermutlich selbst vor einem Alligator nicht scheuen, so grimmig, wie er manchmal wirkte. Ein wahrer Mann der Grenzwacht.

Die meisten Ratten hassten die Hunde. Sie waren der Stiefel der Macht, der dem geschundensten Volk im Reich am brutalsten im Nacken stand. Bei jedem Verbrechen, egal wie klein, wurden zuerst die Ratten verdächtigt und entsprechend behandelt. Nur wenigen gelang der soziale Aufstieg. Und von denen, die es schafften, hatten die allerwenigsten einen guten Leumund.

Geldan hasste die Hunde nicht. Ja, es stimmte, ohne die Armee und die Gendarmen würden die anderen Bürger es nicht wagen, die Ratten so schlecht zu behandeln. Aber wenn man jenseits der Mauer lebte und Frau und Kind hatte, waren die Hunde auf einmal nicht mehr die Faust der Unterdrückung. Im Gegenteil, da konnten sie einem gar nicht verwegen und stark genug sein.

Geldan hatte einmal einen Alligator gesehen. Es war erst einige Wochen her. Er hatte sich weit in den Sumpf gewagt, um nach gutem Holz zu suchen. Bestimmt zwei, vielleicht sogar drei Meilen hinein. Dort, wo es kaum noch festen Grund zu finden gab. Geldan ruhte sich gerade, vollkommen mit Schlamm besudelt, an einer Mangrovenlagune aus, als er die Echse sah. Sie kam nahezu lautlos aus dem Unterholz und glitt fast elegant in die Lagune. Vier Mal so groß wie er selbst und bestimmt zwanzig Mal so schwer. Das brutale Gesicht war zum Fürchten und die Augen glühten mit dem unheiligen Feuer des Abgrunds. Der Alligator hatte eine seltsame Waffe dabei. Das grausam aussehende Schwert hatte eine Klinge aus scharfkantigem schwarzen Stein, die bestimmt so groß war wie der junge Holzfäller und sicherlich das Doppelte wog.

Geldan war vor Angst wie erstarrt. Der Alligator war im Wasser verschwunden. Es gab jetzt keinen Hinweis darauf, dass ein solches Monster in der kleinen Lagune lauerte. Nur kurze Zeit später tauchte die Echse auf der anderen Seite wieder in aller Stille auf und glitt aus dem Wasser, um ihren Weg fortzusetzen. Geldan verharrte noch mehrere Minuten, nachdem der Alligator weitergezogen war. Dann hastete er los, so schnell nach Norden, wie es ihm die Angst vor einem zu lauten Voranschreiten erlaubte.

Der Nachtkönig hatte an diesem Tage über ihn gewacht, da war Geldan sich sicher. Der große Geist der Ratten, der seinen Millionen Kindern half – solange sie sich selbst auch halfen. Er hatte nicht den Mond oder gar die Sonne, um seinen Kindern zu leuchten. Aber er hatte für jede einzelne Ratte ein kleines Licht in der Nacht entzündet. Die Sterne, die das dunkle Tuch der Nacht mit ihrem sanften Schein durchbrachen: Das waren die ungezählten Kerzen des Nachtkönigs. Er entzündete sie jede Nacht aufs Neue, so sehr liebte er seine Kinder. Und er war voller List und Schläue. Was ihm an Kraft und Macht fehlte, glich er mit Klugheit, Geschick und Witz aus.

Doch Geldan war nie wieder weiter als einige hundert Fuß in den Sumpf gegangen. Lieber sechs Meilen entlang des Randes, anstatt nur eine Meile hinein. Er erzählte seiner Frau Monella nichts von seiner Begegnung. Sie war niedergeschlagen genug. Wenn er stürbe, würde sie sich selbst und vermutlich auch ihre Kinder auf den Märkten der Nacht verkaufen müssen, um überleben zu können. Sie hatten schon jetzt ein hartes Los. Es war an ihm, dass es erträglich blieb.

Er saß nun zusammen mit Monella vor ihrer bescheidenen Hütte. Er nannte sie immer Nelly, seitdem sie sich das erste Mal liebkost hatten. Sie war klein und von zierlicher Statur, hatte hellbraune Augen und trug des Tages ihr schwarzes Haar unter einem roten Kopftuch verborgen. Sie wollte es so vor Schmutz bewahren und zugleich im Zaume halten. Ihr Haar war lang und füllig und hatte Geldan verzaubert, als er sie das erste Mal in Badersweil am Marktplatz sah.

Die Dämmerung war aufgezogen und tauchte den Sumpf in ein unwirkliches Licht. Heute war der vorherrschende Farbton ein sattes Lila. Der einzig schöne Moment des schweren Tages.

Sie hatten erst im Frühjahr des vergangenen Jahres geheiratet. Sie war ein armes Sumpfmädchen, das die Wildnis gewohnt war. Sie kam aber aus der Nähe der Zitadelle, wo sich keine Echsen hinwagten. Er selbst war in der Nähe von Badersweil geboren, aber in der Stadt aufgewachsen. Geldan hoffte, mit ein paar verwegenen Beutezügen im Sumpf genug Silber zusammenzusparen, sodass sie vielleicht in eine andere Provinz ziehen konnten, um ein neues Leben zu beginnen. Vielleicht in die Hochlanden? Als Knecht auf einem Bauernhof anheuern und irgendwann ein eigenes Feld bestellen? Sie würde Kleider nähen und die Kinder würden vielleicht ein Handwerk lernen. Ja, das wäre schön.

Aber er zog zu wenig gutes Holz aus dem Sumpf. Es reichte gerade so für das tägliche Brot. Sie konnten innerhalb eines Jahres nur fünf Silber zurücklegen. Viel zu wenig, um die Reise anzutreten. Doch er durfte die Hoffnung nicht aufgeben. Es war erst das erste Jahr im Grenzgebiet. Er hatte inzwischen Erfahrung gesammelt und kannte den Sumpf schon besser als viele andere, die länger an der Grenze arbeiteten. Er war im tiefen Sumpf auf einen Alligator getroffen und hatte überlebt.

Geldan nahm seine Frau in den Arm. Sie war etwas überrascht, schmiegte sich aber gerne an ihn. Die Kinder waren eingeschlafen und nur die Geräusche des Sumpfes waren zu hören. Die Laute der schwirrenden Insekten und ein gelegentliches Plätschern in den seichten Wassern. Die brummenden Stimmen der Hunde, die etwas entfernt ein Feuer entzündet hatten.

Vielleicht würde er nächstes Jahr genug Silber haben. Proviant für zwei Wochen und eine Überfahrt zu einer der großen Städte. Es wäre nicht viel, würde aber reichen. Mit ehrlicher, harter Arbeit konnte er gewiss ein Leben für sie alle aufbauen. Er hing seinem bescheidenen Traum nach, als er merkte, das sich etwas verändert hatte. Das Brummen der Hunde war verstummt. Sie waren aufgestanden und blickten zu ihnen herüber. Spähten in die anbrechende Nacht. In den Sumpf.

Geldan hatte jetzt ein ungutes Gefühl. Auch Nelly bemerkte es. Sie standen gemeinsam auf und blickten nach Süden, in die Dolchzahnsümpfe. Die Dämmerung war inzwischen der Nacht gewichen. Jenseits des Feuerscheins war nur Schwärze. Geldan lauschte angestrengt, konnte aber außer ihrem eigenen Atem nichts hören. Nichts. Weder Insekten noch die sonst allgegenwärtigen Geräusche des Wassers. Wie es an den Ufern mit einem seichten Plätschern unter die ins Wasser wachsenden Wurzeln schwappte. Wie konnte das sein?

Das ungute Gefühl verstärkte sich. Die Hunde hatten ihre leichten Barette gegen ihre schwarzen Helme getauscht und die Piken in die Hand genommen. Sie waren vor das Feuer getreten, damit es sie nicht blendete und ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnen konnten.

Geldan musste nun unwillkürlich an den Alligator denken. Er sah ihn vor sich. Ein Schrecken aus einem anderen Zeitalter, zu entsetzlich, um sich ihm entgegenzustellen. Er war sich sicher, dass diese Bestie die beiden Soldaten hinter ihm mit einem einzigen Hieb niederstrecken und sie alle auf einmal verschlingen konnte. Die innere Unruhe wurde jetzt von Angst abgelöst. Wo soeben noch eine steinerne Faust schwer im Magen lag, glitt jetzt eine kalte Hand in Richtung Herz.

„Die Kinder“, flüsterte er so leise, dass er sich selbst kaum hörte.

Nelly löste sich aus seinen Armen und schlich zum Hauseingang. Das windschiefe Holzhäuschen hatte keine Tür und sie kroch in aller Stille hinein. Geldans Herz schlug ihm bis zum Hals. Er war sich sicher, dass das Monster gekommen war, um ihn für seine Frechheit zu strafen. Mochte es auch Wochen her gewesen sein, dass er an seinem Tümpel verweilte, nun war er wie ein böser Rachegeist gekommen, um sie alle zu holen. Er ergriff seine einfache Holzfälleraxt. Sie wog angenehm schwer in seinen Händen. Mit dem langen Holzschaft, den er selbst aus dem stabilen Holz der Mangrovenbäume geschnitzt hatte, konnte er sehr hart zuschlagen. Vielleicht hart genug, um selbst so einem Koloss wie dem Alligator eine Wunde zuzufügen. Seiner Familie Zeit zu verschaffen.

Er hörte Geräusche hinter sich. Schritte, ganz nahe. Geldan fuhr herum. Es waren zum Glück die beiden Soldaten, die sich ihm genähert hatten. Geldan konnte die Anspannung in ihren Gesichtern erkennen. Sie starrten an ihm vorbei in den Sumpf.

„Hast du etwas gesehen oder gehört?“, fragte der kleine, breite Hund mit gesenkter Stimme.

„Nein, aber ich spüre es auch“, flüsterte Geldan.

Nelly kam aus der Tür. In ihren Armen hielt sie das Einzige, was in dieser Welt für sie und Geldan einen Wert hatte. Nelly konnte ihre vier Kinder kaum umfassen. Sie hatte sie daher in ein einfaches Leinentuch gewickelt, das sie zu einem Bündel geknotet hatte. Den Knoten hatte sie sich um den Nacken gelegt, sodass die Kinder vor ihrem Körper an ihrer Brust lagen. Geldan konnte ihr Gesicht kaum erkennen, sah aber dennoch die Angst in ihren Augen. Hörte sie in ihrem Atem.

Etwas wogte plötzlich durch den sumpfigen Boden. Zuerst spürten sie ein Vibrieren unter den Füßen. Dann kam ein dumpfes Geräusch hinzu, als ob jemand schwere Steine hundert Fuß entfernt auf den morschen Torfboden würfe. Es klang, als würde der Ton aus dem Grund unter den eigenen Füßen erschallen. Der breite Veteran begriff zuerst. „Wir werden umzingelt“, bellte er und fuhr herum.

Ja, sie wurden umrannt. Weit außerhalb des Feuerscheins musste eine große Anzahl Feinde um sie herum einen Kreis ziehen, um ihnen den Weg nach Norden abzuschneiden.

Geldan schrie verzweifelt auf, packte seine Frau mit der linken Hand und rannte mit ihr los. Auch Nelly schrie nun und die Kinder wachten auf. Sie blieben aber vor Schreck still. Die erschöpften Tagelöhner, die bis eben in ihren Verschlägen geschlafen hatten, riefen verwirrt in die Nacht, was denn geschehe. Sie waren alle verloren. Geldan betete zum Nachtkönig, dass die Hunde so mutig sein mögen, wie sie es von sich selbst behaupteten. Lass sie die Stellung halten, bis seine Frau mit den Kindern entkäme.

Sie kamen keine fünfzig Fuß weit, als sich ein gewaltiger Schatten vor ihnen aus der Dunkelheit schälte. Der Weg war abgeschnitten. Eine gewaltige Echse, ein Alligator, stampfte auf sie zu. Hinter ihm und zu seinen Seiten erkannte Geldan weitere Bewegungen. Die Bestie war nicht allein.

Nelly stieß einen entsetzten Schrei aus und die vier Kleinen gaben ängstliche Geräusche von sich. In diesem Moment verflog seine Angst vor dem mächtigen Alligator. Er stoppte und stellte sich vor seine Nelly, die Axt in beiden Händen, bereit, zuzuschlagen. Hinter ihm erschollen die angsterfüllten Schreie der Tagelöhner. Aus dem Sumpf dröhnten nun die schnellen Schritte von hunderten von Feinden, die dort zuvor still auf der Lauer gelegen hatten. Nun konnte er auch wieder das Geräusch des Wassers wahrnehmen. Es war wie ein tosender Wasserfall. Wie viele Echsen waren gekommen? Es klang nach einer wahren Armee.

Die Hunde waren nun ebenfalls nach vorne gestürmt und stoppten im Angesicht des Krokodils. Links und rechts sah Geldan große Schatten lauern. Nicht so gewaltig wie der Kaiman, aber doch größer als er oder der groß gewachsene Hund. Sie alle würden heute Nacht hier sterben.

Der breite Hund brüllte eine Herausforderung und sprang nach vorne, in Richtung des Alligators. Das Krokodil fixierte den Herausforderer und wälzte sich auf ihn zu. Der Soldat stoppte in der Bewegung, stieß seine Pike nach vorne, und trat gleichzeitig von oben auf das Ende des Lanzenschafts. Der Schaft bohrte sich in den Boden und sank noch tiefer in den Grund, da der Alligator praktisch in die Pike hineingelaufen war. Die Eisenspitze des langen Speers steckte nun in dem natürlichen Schuppenpanzer, der den Körper des Alligators schützte. Durch sein eigenes Gewicht vorwärts getragen, stemmte das Krokodil sich mit dem Bauch gegen die Waffe des Soldaten. Der Pikenschaft bog sich unter der Macht der Bestie durch. Der Hund lehnte sich mit seinem gesamten Gewicht dagegen. Für den Bruchteil einer Sekunde schien es Geldan, als ob die Zeit angehalten hätte. Er sah den gewaltigen Echsenkrieger, wie er mit dem zum Schlag erhobenem Steinschwert versuchte, näher an den Hund zu kommen. Die Lanzenspitze saß fest auf dem Bauch des Krokodils. Die Pike des Hundes war fast zu einem Halbkreis gebogen. Der Hund starrte den Alligator mit wilden Augen und gefletschten Zähnen an.

Geldan wartete auf das unweigerliche Geräusch splitternden Holzes, mit dem die Pike jeden Augenblick zerbersten musste. Und auf das darauffolgende Sausen, mit dem das brutale Schwert des Krokodils zuerst die Luft und dann den Hund zertrennen würde.

Stattdessen hörte er ein feuchtes, knackendes Geräusch. Die Pike war nach vorne geschnellt. Sie war nicht länger zu einem Bogen gekrümmt, sondern hatte sich mit Kraft durch den Schuppenpanzer der Panzerechse gebohrt. Des Alligators eigene Kraft hatte dies ermöglicht. Das Monster ließ die eigene Waffe fallen und griff sich an die Stelle, an der die Pike eingedrungen war. Durch den steilen Winkel, aus dem der kurz gebaute Hund angegriffen hatte, musste die Lanze durch den Magen und die Lunge gefahren sein. Vielleicht sogar das Herz. Der Veteran hatte die Bestie regelrecht aufgespießt. Das Krokodil riss das Maul auf, aber es kam kein Ton heraus.

„Verrecke!“,brüllte der Hund triumphierend. Geldan stimmte in den wilden Schrei mit ein.

Der Hund zog jetzt sein kurzes Schwert. Seine Pike stak fest im sterbenden Krokodil. Zusammen stürmten sie nach vorne, einen wilden Schrei auf den Lippen, ihre Waffen drohend erhoben. Nelly war direkt hinter ihnen. Sie hatten vielleicht eine Chance.

Dann sah Geldan vor sich die Masse an Echsen, die den Weg versperrt hatten. Sie waren zuvor in der Dunkelheit verborgen gewesen, aber nun, weit weg von den kleinen Feuern ihres Weilers, konnte er sie im Schein des Mondes trotz der Dunkelheit der Nacht erkennen. Es waren Hunderte. Vielleicht sogar Tausende. Sie standen still im Dunkeln und starrten sie mit gefühllosen Augen an. Der Tod ihres gewaltigen Kriegers schien sie nicht zu beeindrucken oder zu kümmern. Sie wirkten fast gelassen und machten keine Anstalten, den Soldaten oder die Familie anzugreifen. Die Echsen waren ohne Zweifel kampfbereit. Ihre Haltungen waren eindeutig Kampfstellungen und ihre grausamen Steinwaffen auf die kleine Gruppe gerichtet. Sie schienen jedoch auf etwas zu warten – oder genossen sie die Hilflosigkeit ihrer Opfer?

Jetzt fiel es ihm wieder ein. Warane. So nannte man diese Art. Er erinnerte sich auch an die schrecklichen Geschichten, die man sich über sie erzählte. Nelly schrie hinter ihm all ihre Angst und Verzweiflung heraus. Die Kinder waren inzwischen vollständig erwacht. Sie waren zuerst verwirrt und still gewesen, aber nun spürten sie die Angst der Mutter und weinten lauthals.

Nein, sie würden nicht entkommen. Aber wenn die Geschichten stimmten, würden sie nicht in dieser Nacht sterben. Der Tod würde noch lange auf sich warten lassen. Viel zu lange.

„Soldat, töte uns.“

Der Hund warf ihm einen kurzen, entsetzten Blick zu. Aber er hatte sogleich verstanden. Gewiss kannte der Veteran die Horrorgeschichten, die die Warane umrankten. Alligatoren waren brutal, aber die Warane grausam. Ihm zitterten die Hände. Der frische Mut, den ihm seine Heldentat zuerst verliehen hatte, verflog angesichts der unüberwindbaren Übermacht.

„Ich kann nicht meine eigene Frau und Kinder erschlagen, ich flehe dich an.“ Hinter ihnen hatten sich die Schreie der Arbeiter und des anderen Soldaten zu sinnlosem, von Entsetzen erfülltem Kreischen gewandelt. Nelly brach in Tränen aus und sank auf die Knie. Auch sie hatte begriffen, was sie alle erwarten würde. Sie umarmte ihre vier Kinder, sagte ihnen, dass sie sie liebe. Beugte sich über sie in dem Versuch, mit dieser hilflosen Geste ihre Kinder zu schützen. Der Hund wandte sich der jungen Familie zu. Er hatte die Zähne grimmig zusammengebissen. In seinen Augen blitzte jetzt eisige Entschlossenheit auf.

Geldan sollte nie erfahren, ob der alte Soldat sich hätte überwinden können, sie alle durch einen schnellen, gnädigen Tod mit seinem Schwert von den unvorstellbaren Qualen, die jetzt vor ihnen lagen, zu erretten. Als hätten die Warane verstanden, was der Veteran vorhatte, stürmten sie blitzschnell nach vorne. Der Hund wurde augenblicklich von drei der großen Echsen umgerissen. Auch Geldan und seine kleine Familie gingen in der über sie hereinbrechenden Flut aus geschuppten Leibern augenblicklich unter.

Oh Nachtkönig, erbarme dich. Lösche unsere Kerzen. Erlöse uns.

* * *

Honeymaw erwachte am frühen Vormittag. Sie fühlte sich erfreulich ausgeschlafen, das schreckliche Gefühl von gestern war praktisch über Nacht verschwunden. Sie hatte jedoch großen Durst, den es sofort zu stillen galt.

Vater war anscheinend schon aus dem Haus. Er hatte Recht behalten, sie fühlte sich richtig gut. Trotzdem war es gemein gewesen, ihr Branntwein zu geben, den sie nie zuvor gekostet hatte. Plötzlich schossen ihr Bilder durch den Kopf, die sie gestern nicht vor Augen hatte. Sie hatte vor allen gespien. Zum Teil durch die Nase. Wie peinlich.

Honeymaw seufzte tief durch. Zum Glück würde sie heute für ein paar Wochen verreisen. Aber zuerst ein Bad. Sie fühlte sich schmutzig, geradezu klebrig.

Die Sommersonne schien an diesem Morgen warm. Jetzt am Vormittag war es fast schon heiß. Honeymaw lief zum kleinen Pfuhl und ließ sich mitsamt ihrem Unterkleid hineinfallen. Perfekt. Sie zog ihr Kleid im Wasser aus und wusch es. Sie hatte es nun schon den dritten Tag in Folge an, das ging ja gar nicht.

Als sie so im Wasser saß, hörte sie eine Stimme vom Haus herrufen. Ihren Namen. Sie erkannte die Stimme zuerst nicht, es war auf jeden Fall nicht Vater. Wer käme wohl hier hoch? Wollte man sie verabschieden? Honeymaw rief dem Besucher zu, dass sie gleich kommen würde. Erst einmal das Unterkleid überstreifen. Nass war das aber gar nicht so einfach. Sie hörte Schritte näherkommen. Oh nein. Warum hatte sie nur gerufen, bevor sie bekleidet war? Die Schritte und Stimme gehörten zum jungen Lorson, der jetzt lächelnd über die Kuppe des letzten Hügels zum Badepfuhl kam. Verdammt.

„Warte bitte einen Augenblick beim Haus, ich komme gleich“, rief ihm Honeymaw entgegen.

„Hallo Hunny, ich wollte dich für deine Reise verabschieden“, rief ihr Lorson wiederum fröhlich entgegen und kam dabei näher.

Oh Mutter, ich stehe halbnackt im Wasser, das Kleid lässt sich nicht überstreifen.

Honeymaw stand kurz vor einer Panikattacke. Warum ging in den letzten Tagen alles schief? War das nicht die Warnung von Gertala gewesen? Der Runenwurf wusste es, und sie hatte nicht aufgepasst.

Fröhliche Schwester, steh mir bei.

Honeymaw tauchte bis zum Hals unter und stellte sich zum Einlass des Beckens, wo der einströmende Bach die Wasser des Pfuhls aufwirbelte. Sie war nun vor neugierigen Augen verborgen. Puh.

„Ah, da bist du ja, Hunny.“ Lorson sah frisch und gut gelaunt auf sie vom Rand des Beckens herab.

„Ein Bad? Das ist eine großartige Idee. Wie ist das Wasser?“

„Eiskalt“, platzte es aus Honeymaw hervor.

„Genau das Richtige. Es ist ja schon jetzt heiß, obwohl der Mittag noch bevorsteht“, antwortete Lorson und zog innerhalb von Augenblicken seine Tunika aus.

Honeymaw blieb gar keine Zeit, Einwände zu erheben. Der junge Mann stand nur mit einer Brouche aus weißem Leinen bekleidet am Rand des Pfuhls. Er war deutlich schlanker als Vater. Sein Bauch war flach und sie erkannte die Konturen seiner Muskeln unter seinem glänzenden braunen Fell. Er lächelte kurz zu ihr herunter und sprang ohne weitere Vorwarnung ins Wasser. Es gab einen erstaunlichen Platscher und die Hälfte des Wassers schoss in die Höhe. Honeymaw setzte sich regelrecht auf den gepflasterten Boden des Beckens, um mit ihrem Oberkörper unter Wasser zu bleiben. Das nachfließende Wasser des Bachs wusch ihr die offenen Haare über das Gesicht. Lorson setzte auf dem gepflasterten Boden des Pfuhls auf und der Großteil des aufgestobenen Wassers regnete zurück in das Becken.

„Beim großen Schreiner, was machst du denn“, schimpfte Honeymaw, während sie sich die Haare mit einer Hand zurückschaufelte.

Lorson lachte nur und schaute die junge Bärin keck an.

„Hab dich nicht so Hunny, das Wasser läuft doch sofort nach. Außerdem ist es gar nicht so kalt. Es ist geradezu perfekt. Ich sollte mir auch so ein Becken graben. Außer du hast nichts dagegen, wenn ich hier öfter vorbeikomme.“ Er grinste nun.

Wie frech. Und sie saß hier fest und musste so tun, als ob sie sich nur den Rücken vom einfließenden Wasser umspülen lassen wollte.

„Mein Vater müsste gleich zurück sein. Wenn du mir etwas sagen willst, heraus damit. Ich habe noch einiges vorzubereiten, denn heute Nachmittag läuft mein Schiff aus“, antwortete Honeymaw bestimmt. Bei der Erwähnung von Vater blickte Lorson unwillkürlich in Richtung Haus.

„Ja, schon gut. Ich wollte mich nur verabschieden, schließlich bist du nun einige Wochen unterwegs. Es hat sich herumgesprochen, dass du nach Dreistädten willst. Ich bin vor zwei Jahren nur zum Silberspiegelsee gewandert. Tolle Reise. Und doch, ich hätte gerne Telkar oder gar Dreistädten gesehen.“ In Lorsons Stimme schwang nun Begeisterung mit und sein Blick richtete sich in die Ferne.

---ENDE DER LESEPROBE---