Brennerova - Wolf Haas - E-Book

Brennerova E-Book

Wolf Haas

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Beschreibung

Ob du es glaubst oder nicht. Zuerst wird der Brenner von einem Zehnjährigen bewusstlos geschlagen. Und dann versucht seine Freundin, ihn vor den Traualtar zu schleppen. Es läuft nämlich gerade ausgesprochen gut zwischen den beiden. Einziges Problem: Mit seiner anderen Freundin läuft es auch sehr gut. Da ist es für den Brenner ein Glück, dass noch eine dritte Frau in sein Leben tritt, indem sie verschwindet. Vermutlich ist sie von Mädchenhändlern entführt worden, und die Suche nach ihr hilft dem Detektiv bei der Lösung seiner privaten Probleme, sprich Flucht in die Arbeit. Denn nie kannst du besser über das Glück nachdenken, das ein Ehering bietet, als wenn der berüchtigtste Zuhälter der Stadt gerade dazu ansetzt, dir die Hände abzuhacken.

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Seitenzahl: 281

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Wolf Haas

Brennerova

Roman

Hoffmann und Campe

1

Früher hat man gesagt, die Russinnen. Die sind groß und muskulös wie Hammerwerfer, die arbeiten beim Straßenbau, und unter den Achseln haben sie so viele Haare, dass sich noch ein Toupet für ihren Mann ausgehen würde und ein zweites für den ersten Parteisekretär. Da hat man gesagt, Russinnen sind Mannweiber, und wenn sie ihren Diskus werfen, musst du in Deckung gehen, weil Kraft wie ein Traktor aus Minsk oder einer aus Krasnodar oder sogar ein Kirovets aus Leningrad. Dann hat es auf einmal geheißen, die Russinnen, das sind die dünnsten Fotomodelle, die teuersten Nutten, da musst du als Mann schon ein Hochhaus haben, damit sich so eine überhaupt von dir scheiden lässt, am besten mit einem Privatzoo, weil Beine wie eine Giraffe, Taille wie eine Wespe, Augen wie die Biene Maja.

Darüber hat der Nikolaus nachgedacht, während er im Computer die Damen durchgeschaut hat, die einen österreichischen Mann zum Heiraten gesucht haben. Wo liegt da die Wahrheit punkto Russinnen, und gibt es überhaupt eine Wahrheit, quasi Philosophie. Aber interessant. Da war keine einzige Traktorfahrerin dabei, sondern der Nikolaus hätte fast jede genommen, so gut waren die in Schuss.

Geschrieben hat er natürlich nie einer. Er war ja nicht blöd. Obwohl sicher auch Anständige darunter waren, aber man weiß es ja nicht im Vorhinein. Und bevor du zweimal schaust, bist du irgendwo hineingeraten, Verwicklungen und alles. Liest man immer wieder, dass die zuerst recht nett sind, brieflich und alles, da verliebst du dich schon rein brieflich, und dann soll es zum ersten Treffen kommen, und im letzten Moment tauchen sie nicht auf, weil kein Geld für die Reise. Jetzt ich schick dir das Geld für die Reise. Dann freust du dich, dass sie endlich kommt, du bist schon seit Wochen verliebt in sie, womöglich länger, als du je in eine echte Frau verliebt warst, du zählst die Tage, bis deine Olga endlich ankommt, deine Natascha, deine Ivana, du fährst zum Flughafen, und wer ist nicht da? Die Olga. Die Natascha. Die Ivana, vollkommen egal, wenn eine nicht da ist, kann sie heißen, wie sie will, eine Nichtdafrau braucht überhaupt keinen Namen.

Hört man immer wieder, dass so ein armer Depp umsonst auf die Dame gewartet hat, der er das Fahrgeld geschickt hat und womöglich noch Proviantgeld für unterwegs, und drück dir am Flughafen nach der Sicherheitskontrolle noch ein Wasser aus dem Automaten. Dann enttäuscht heim, und dort eine Nachricht. Leider die Tante krank geworden. Kein Geld fürs Krankenhaus. Und siehst du, weil der Nikolaus nicht blöd war, hat er nicht geschrieben, das war komplett ausgeschlossen.

Geschaut natürlich schon. Immer wieder! Und das ist eben das Verhexte am Menschen. Da ist er nicht gescheiter als die Maus, die glaubt, dass sie gescheiter als die Falle ist. Wenn die Maus schon ihre Kolleginnen in der Falle enden gesehen hat, dann denkt sie mit ihrem Maushirn, den Käse möchte ich trotzdem, ich muss es nur geschickter anstellen. Ich muss mehr so seitlich hin, und dann schnappe ich mir den Käse, ohne dass die Falle mich erwischt. Und der Nikolaus hat sich gesagt, ein persönliches Profil ausfüllen kann ich eigentlich schon, nur zur Unterhaltung, was soll da passieren mit dem falschen Namen. Ist sogar absolut korrekt, dass man einen falschen Namen angibt, weil Nickname, und da ist er eben auf die Idee mit dem Nikolaus gekommen, wegen dem Nicknamen. Er hat sich gewundert, dass ihm das nicht früher klar gewesen ist, wie harmlos es dadurch ist. Wahrscheinlich schreibt mir sowieso keine. Und wenn, bin ich immer noch unter dem falschen Namen.

Jetzt was schreibt man da am besten? Da stellen sich ja grundlegende Fragen, soll ich mich jünger machen, soll ich mich reicher machen, soll ich mich interessanter machen, soll ich gleich falsche Versprechungen machen oder erst später, falls es ernst wird. Ernst werden im rein spielerischen Sinn natürlich. Weil ernst nehmen muss man es, auch wenn man weiß, dass man sich nie mit einer treffen wird.

Seine Überlegungen haben ihn noch misstrauischer gemacht, als er sowieso schon war. Weil er hat sich gesagt, wenn schon ich, als von Grund auf ehrlicher Charakter, solche Gedanken habe, dann womöglich die Russinnen auch solche Einfälle. Die machen sich vielleicht auch jünger, interessanter und und und. Bei den Fotos kann man sowieso nie ganz sicher sein. Und hinter den Fotomodellfotos womöglich Wahrheit: Kugelstoßerin! Hammerwerferin! Straßenwalzenfahrerin! Jetzt hat er das Profilausfüllen aufgegeben, bevor er richtig angefangen hat, weil Verstand eingeschaltet. In letzter Sekunde.

Ein paar Tage ist er mit seinem Verstand gut ausgekommen, aber dann ist ihm doch wieder langweilig geworden. Und wieder die Fotos. Wieder die Träume. Wie wäre es mit der, und wie wäre es mit der. Viel zu jung sollte sie auch nicht sein, weil es soll auch irgendwie zusammenpassen. Zu alt auch nicht, weil. Falls das Alter überhaupt stimmt. Im Grunde darfst du da keiner einzigen Angabe trauen. Er hat sich aber gesagt, man kann es schon ein bisschen am Inseratentext erkennen, ob es eine ehrlich meint oder nicht. Weil wozu bin ich neunzehn Jahre bei der Polizei gewesen? Wozu habe ich bei der Kripo Verhörtechnik studiert? Da hat der Nikolaus sich gesagt, wenn es einer einschätzen kann, ob eine lügt oder nicht, dann ich.

Jetzt ist er die Fotos noch einmal durchgegangen, aber nicht mehr mit dem privaten Blick, sondern mit dem polizeilichen, quasi Fahndungscomputer. Schuldig oder nicht schuldig, da hast du ja als Kripomann gleich so ein Gefühl bei der Liebe. Dann gibt es welche, die wirken ehrlich, aber das sind oft die Gefährlichsten, und ein Schuldiger wirkt vielleicht sympathischer als ein Unschuldiger, das ist eine Wissenschaft, da musst du jedes kleinste Zeichen in die Rechnung mit aufnehmen. Und letzten Endes kannst du es nicht lernen. Letzten Endes Gespür, das sagt dir jeder, der eine Ahnung hat.

Natürlich musst du wahnsinnig aufpassen, dass dir nicht die Sympathie in die Quere kommt. Pass auf, was ich dir sage. Lass dir von keinem Kripomann erzählen, dass ihm die Sympathie noch nie in die Quere gekommen ist. Alles gelogen! Weil mit dem einen sympathisierst du, mit dem anderen sympathisierst du nicht. Da musst du dich bei der Polizeiarbeit immer wieder zurückpfeifen. Hauptgefahr Sympathie! Das ist genau wie bei der Partnerwahl. Jetzt hat der Nikolaus sich bei der Fotosichtung zu einer extremen Objektivität gezwungen. Verbrecheralbum nichts dagegen. Am Schluss hat er zehn in der engeren Auswahl gehabt. Die ehrlich geklungen haben. Gut aussehend auch natürlich. Bis zu einem gewissen Grad. Du musst es aufnehmen in die Rechnung, aber du darfst dich nicht blenden lassen.

Für das Ausfüllen hat der Nikolaus wahnsinnig lange gebraucht, weil natürlich noch ohne Computer aufgewachsen. Eine Zeit lang hat es so ausgeschaut, als würde er es überhaupt nicht mehr lernen. Und ehrlich gesagt, alles, was über das Ein- und Ausschalten hinausgegangen ist, immer noch mit viel Überlegung verbunden. Aber am längsten nachgedacht hat er beim Passwort. Soll ich jetzt Puntigam nehmen, weil Heimat immer gutes Passwort, oder soll ich Kriminalpolizei nehmen? Über solche Sachen, die vollkommen egal waren, hat der oft lange nachdenken können, wo jeder andere sagt, Nikolaus, da nehme ich Krampus als Passwort, das vergesse ich nicht. Aber er war nicht so ein Typ, der so gedacht hat, weil mehr der unberechenbare Typ, jetzt hat er Brennerova als Passwort genommen, weil er hat sich vorgestellt, dass so eine hübsche Russin Brennerova heißen würde, wenn sie ihn heiratet.

Vielleicht hat die Sache mit dem falschen Namen bei ihm ein Heimweh nach seinem richtigen Namen ausgelöst, weil auffällig ist es schon, dass der ihn schon beim Passwort wieder eingeholt hat. Das menschliche Ich ist ja etwas Hartnäckiges, das lässt sich nicht gern ausradieren. Ich sage zwar immer, aus einer gewissen Entfernung sind alle gleich, da ist einer wie der andere und muss sich keiner so viel auf sein bisschen Ich einbilden. Aber das gilt nur aus einer gewissen Entfernung, und zu sich selber hat niemand die gewisse Entfernung. Schau dir nur einmal den Brenner beim Ausfüllen seines Profils an. Gegen die Frage nach seinem Beruf war das Passwortfinden ein Kinderspiel. Wenn die Leute bei ihrer echten Berufswahl so viel überlegen würden wie der Brenner bei der Frage, welchen Beruf er auf der Russinnenseite angeben soll, hätten wir alle miteinander ein viel besseres Leben, frage nicht. Soll ich jetzt Kriminalpolizist schreiben oder Detektiv oder Frührentner? Oder soll ich schreiben, Kriminalpolizist in Ruhe? Oder: Detektiv in Ruhe? Darüber hat er ewig nachgedacht. Oder soll ich überhaupt schreiben, Bundesbeamter in Ruhe? Das gibt der Russin am meisten Sicherheit, hat er überlegt. Aber auch ein falsches Bild von mir. Und eine, die den Beamten in Ruhe sucht, ist vielleicht nicht so vital wie eine, die einen Kriminalpolizisten sucht. Jetzt ist er so ins Überlegen hineingekommen, dass er einen wichtigen Punkt ganz übersehen hat. Der Akku ist ausgegangen, und ohne Vorwarnung alles gelöscht.

Das hat ihn so geärgert, dass er spazieren gegangen ist. Und dann natürlich Realitätsschock doppelt und dreifach. Das ist ihm schon ein bisschen wie die Strafe vorgekommen für seine Russinnen. Weil manchmal geht es wirklich verflucht blöd her. Pass auf. Ausgerechnet bei diesem Spaziergang ist ihm die Herta begegnet. Zum ersten Mal seit einem halben Jahr! Aber da möchte man schon auch fast an das Unbewusste glauben. Sonst ist der Brenner immer extra einen Umweg gegangen, nur weil er gewusst hat, hier geht die Herta einmal pro Tag zu ihrer Vollkornbäckerei, und lieber nicht das geringste Risiko eingehen. Und heute ein einziges Mal unvorsichtig, und schon kommt die Herta daher.

Sie ist aber genauso erschrocken wie er. Das hat man daran erkannt, dass sie in dem Moment, wo sie den Brenner gesehen hat, von einer gewaltigen Sturmböe abgebremst und an die äußerste Gehsteigkante versetzt worden ist. Gleichzeitig hat der Brenner sich an die Hausmauer gedrückt, damit er in größtmöglichem Abstand an ihr vorbeikommt. Und ob du es glaubst oder nicht. Genau an der Stelle, wo sich ihre Wege gekreuzt hätten, wo sie gerade grußlos aneinander vorbeigegangen wären, wenn sie nicht vor Schreck abgebremst und die Richtung geändert hätten, ist jetzt zwischen ihnen etwas vom Hausdach heruntergefallen.

Von den Häusern fällt ja andauernd etwas herunter, im Grunde ist es ein Wunder, dass nicht viel öfter wer erschlagen wird. Dem einen fällt ein Glas vom Balkon oder eine Bierflasche, dem anderen fällt das Telefon aus der einen Hand und das Grillbesteck aus der anderen, dem nächsten weht es den Sonnenschirm übers Geländer, und den Dachdeckern kommt eben auch manchmal das Werkzeug aus, wenn sie sich zu sehr auf das Vorführen ihrer nackten Oberkörper konzentrieren.

Durch die Detonation der Blechschere vor seinen Füßen war der Brenner wieder nicht mehr hundertprozentig sicher, ob die Person auf der anderen Seite des Blechscherenkraters wirklich die Herta war. Womöglich hat sie gar nicht wegen ihm abgebremst, sondern eben weil sie die Blechschere schon heruntersausen gesehen hat, oder nicht einmal gesehen, nur gespürt. Und du darfst eines nicht vergessen. Die Herta hat sich in dem halben Jahr wahnsinnig verändert. Keine Brille, Fahrradhelm nicht mehr am Kopf festgeschraubt, Haare nicht mehr gefärbt, und trotzdem viel jünger ausgesehen als vorher. Aber das kann nicht nur am Äußeren gelegen sein, sondern von der ganzen ding her eine andere Person. Die griesgrämige Lehrerin ist förmlich aus der Herta entwichen, Dämon nichts dagegen. Und an ihrer Stelle ist da eine gestanden, wo man sagen muss, Russinnen schön und gut, aber die einheimischen Weiber auch nicht zu verachten.

Diese Gedanken sind dem Brenner durch das Hirn geschossen, nachdem die Blechschere vor seinen Füßen in den Gehsteig eingeschlagen ist, als müsste sie der Erde persönlich den Blinddarm herausschneiden. Das war so knapp, dass er später immer zur Herta gesagt hat, sie hat ihm das Leben gerettet. Aber die Herta hat das nicht gelten lassen, sondern genau umgekehrt, der Brenner ihr das Leben gerettet.

So weit, dass sie miteinander geredet haben, waren sie aber noch lange nicht. Sie haben sich ja immer noch angestarrt, als hätte ihnen wer den Stecker herausgezogen. Weil das Wissen, dass du nur einen Schritt von deiner letzten Sekunde entfernt warst, macht dich irgendwie ratlos. In dem Moment, wo der Brenner die Herta trotz ihrer gewaltigen Veränderung mit letzter Sicherheit identifiziert hat, ist der prächtig tätowierte Dachdecker halb nackt aus der Tür gestürmt und hat die Teile, in die sein Mordwerkzeug zerbrochen ist, im Laufschritt eingesammelt.

»Schau uns einmal genau an!«, hat der Brenner das Muskelbilderbuch angeschrien.

Er hat sich selber gefragt, warum er gerade das sagt, er hätte auch ganz was anderes sagen können, aber nein, gesagt hat er: Schau uns einmal genau an.

»Tut leid«, war die schwachsinnige Antwort vom Dachdecker, aber ehrlich gesagt, was will man schon Sinnvolles sagen zu einem, den man aus Versehen fast umgelegt hat.

»Tut leid!«, hat die Herta angefressen wiederholt, und den Brenner hätte es nicht gewundert, wenn sie dem Spengler einen Arschtritt gegeben hätte, wie er sich nach seiner Blechschere gebückt hat. Rein vom Blick her! Sie hat eine wahnsinnige Wut im Blick gehabt. Da ist der Blechscherenattentäter jetzt seinerseits in die Brenner-Herta-Schere geraten, ja was glaubst du, so schnell ist noch nie ein Dachdecker in der Haustür verschwunden.

Der Brenner hat es immer noch nicht glauben können, wie positiv die Herta sich verändert hat, seit sie ihn hinausgeworfen hat. So richtig fertig war er aber erst, wie sie zu ihm gesagt hat: »Wenn mich das Ding erschlagen hätte, wären Sie der letzte Mensch gewesen, der mich lebend gesehen hat.«

Er war fassungslos, dass die Herta ihn siezt. In so einer Situation, wo man derartig knapp entkommen ist, muss man doch einmal versöhnlicher sein.

»Tut leid«, hat der Brenner ihr geantwortet.

Die Herta hat sich bemüht, über seinen Kommentar nicht zu lächeln.

Und wenn es ihr gelungen wäre, wenn sie noch die alte Herta gewesen wäre, die so einer Antwort nur ihr griesgrämiges Lehrerinnengesicht entgegenhält, wären ein paar Leute heute noch am Leben, die der Herta in ihrem ganzen Leben gar nie begegnet sind. Aber ich sage immer, da ist die Herta natürlich die Allerletzte, der man das zum Vorwurf machen darf.

2

Zwei Monate später hat die Herta den Brenner immer noch nicht hinausgeschmissen gehabt. Weil seit ihrer Zwangspensionierung die Herta die Ausgeglichenheit in Person. Du musst wissen, sie hat einem Schüler eine geschmiert, und da hat der Stadtschulrat in einem sehr persönlichen Gespräch zu ihr gesagt, volles Verständnis, der Fratz hat bestimmt darum gebettelt, aber die Zeitungen sitzen mir im Genick. Das war jetzt ein halbes Jahr her, und die Herta hat sich nur noch mit Staunen an ihren damaligen Auszucker erinnert. Aber das macht die Schule mit einem! Weil die Wechseljahre auf der einen Seite, die Pubertät auf der anderen, das ist ein hochexplosives Gemisch, hat die Herta dem Brenner lachend erklärt.

Sie war dem Stadtschulrat wahnsinnig dankbar dafür, dass er sie hinausgeworfen und zu einem neuen Leben gezwungen hat. Weil in diesem neuen Leben hat die Herta das Wandern entdeckt, Schulschlusspanik Hilfsausdruck. Die halbe Erde hat sie seit ihrer Kündigung schon umwandert, einmal Spanien, einmal Frankreich und einmal Südamerika. Der Brenner ist schon nervös geworden, wenn sie wieder einmal die Angebote von Weltweitwandern studiert hat, weil es war so wahnsinnig gemütlich mit der Herta, dass er sie nicht gern fortgelassen hat. Einmal hat er sogar einen Albtraum gehabt, dass die Herta aus heiterem Himmel wieder zu ihm sagt: »Irgendwie bist du nicht das, was ich suche.« Das hat ihn so erschreckt, dass er ihr den Traum nicht einmal erzählt hat.

Getroffen haben sie sich immer in ihrer Wohnung, weil seine Unterkunft war mehr eine Adresse als eine Wohnung, quasi Übergangslösung. Vorher ist es ihm gar nicht so aufgefallen, und er hätte seine Wohnung auch gegen jede weibliche Kritik verteidigt, aber gegen so einen Palast der Gemütlichkeit, wie die Herta ihn bewohnt hat, ist natürlich die schönste Wohnung vom Brenner nicht angekommen, daran hat nicht einmal der neue Rasierspiegel mit Chromrahmen etwas geändert, den er im Ausverkauf um die Hälfte bekommen hat, und der große Fernseher auch nicht. Die Herta hat es nicht gestört, dass er bei ihr mehr oder weniger stillschweigend eingezogen ist, weil, wie gesagt, seit einem halben Jahr die Herta die Gelassenheit in Person und ihre frühere Gereiztheit auf Dauerwanderschaft.

Natürlich, die große Liebe war es nicht, weil nach mehreren Wochen immer noch kein böses Wort, kein Schreiduell, kein Würgemal, aber der Brenner trotzdem sehr zufrieden, sprich Altersweisheit. Und darum hat er auch nicht mehr bei den Russinnen vorbeigeschaut, ganz klare Sache. Die ersten paar Wochen hat er nicht einmal an die Russinnen gedacht, das hat gar nicht mehr existiert für ihn. Nur einmal, wo die Herta ihm gesagt hat, er soll zur Abwechslung auch manchmal in seiner eigenen Wohnung übernachten, damit man nicht zu sehr in einen Trott hineinkommt, hat er aus Langeweile ein bisschen geschaut. Rein zur Unterhaltung! Ohne jede Absicht!

Und gerade weil er durch die Herta vollkommen in Sicherheit war, hat er zum Spaß sein Profil ausgefüllt, und dieses Mal ist es ihm sogar gelungen. Ich könnte mir vorstellen, dass er es mehr aus Trotz gegen die Herta getan hat als aus echtem Russinneninteresse. Was soll das heißen, damit man nicht in einen Trott hineinkommt, hat eine Stimme im Brenner gefragt, und als Antwort ist ihm sofort die perfekte Berufsbezeichnung eingefallen, hör zu. Beruf: Kriminalpolizist i.R.

Das war die Wahrheit, aber doch mit der Hoffnung verbunden, dass die Russin die Abkürzung nicht versteht oder vielleicht sogar glaubt, es ist ein besonders hoher Rang. In Regierungsfunktion! Beim Alter hat er auch nicht gelogen, sondern nur fünf Jahre jünger. Weil er hat sich gesagt, wenn ich die Wahrheit schreibe, dann glaubt sie womöglich, ich habe mich fünf Jahre jünger gemacht, und dann rechnet sie mir fünf Jahre hinauf.

Er hat es dann auch noch auf Englisch ausgefüllt, da hat er eingetragen: policeman i.r.

Geschrieben hat er aber keiner, weil er hat sich gesagt, ich schreibe bestimmt nicht, es ist nur ein Spiel, nicht Realität, und wir werden schon sehen. Vielleicht schreibt mir ja eine, dann ist es Schicksal, quasi Russisches Roulette.

Ob du es glaubst oder nicht, am nächsten Tag siebenundzwanzig Heiratsanträge im Computer. Eine schöner als die andere, da wäre man kein Mann, wenn man das nicht doch mit einem gewissen Interesse durchlesen würde. Bei den meisten ist ihm die Entscheidung nicht schwergefallen, weil da hat man gleich den Eindruck gehabt, es wäre nicht das Richtige, sie hat falsche Vorstellungen, sie hält den Brenner für einen Millionär, oder sie ist irgendwie in einer vollkommen anderen Welt, weil tanzen oder reisen. Aber bei einer, da hat er zugeben müssen, der täte ich vielleicht zurückschreiben, wenn ich total verzweifelt wäre. Nadeshda, der Name hat ihm auch gefallen. Und sie hat ihm als Einzige nicht auf Englisch geschrieben, sondern auf Deutsch. Weil ihr Vater war ein paar Jahre in Ostdeutschland stationiert, wie sie klein war. Zu der ist er immer wieder zurückgekommen. Also natürlich nicht antworten, auf keinen Fall. Aber die Nadeshda, die ist herausgestochen.

Gottseidank hat ihn dann die Herta angerufen und ihn zum Abendessen eingeladen. Seine beleidigte Frage, ob das dann nicht schon fast zu viel Trott ist, wenn er heute wieder auftaucht, hat sie mit ihrem entwaffnenden Lachen und einem »Du Depp« weggefegt. Da war es endgültig klar, dass er der Nadeshda nicht schreibt. Oder sagen wir einmal so, geschrieben hat er ihr schon, aber nur anstandshalber ein paar Zeilen als freundliche Absage. Oder im Nachhinein muss man schon fast sagen, es war weniger eine freundliche Absage, fast schon mehr eine absagerische Freundlichkeit, sprich halbe Liebeserklärung.

Du wirst sagen, warum soll die Nadeshda so etwas Besonderes gewesen sein? Was soll jetzt gerade die Nadeshda haben, das eine Olga, das eine Marta, das eine Valentina nicht hat, wo eine Jelena nicht mithalten kann und wo sich eine Galina oder eine Kira überhaupt verstecken kann? Pass auf, was ich dir sage. Im Nachhinein würde es mich nicht wundern, wenn es zum Großteil am Geständnis gelegen wäre. Weil sie hat gleich zugegeben, dass sie das Foto von ihrer jüngeren Schwester hineingetan hat. Von der Serafima. Und dass die nicht nur jünger, sondern auch viel schöner ist. Sie selber alt und hässlich, hat die Nadeshda geschrieben.

Das hat ihn natürlich neugierig gemacht, ja was glaubst du. Aber er hat ihr trotzdem abgesagt, weil die Herta das Beste, was er seit langem erlebt hat. Das hätte er nur durch seine eigene Blödheit ruinieren können. Man muss auch einmal das Hirn einschalten, hat er sich gesagt, die Vernunft, und schließlich und endlich bin ich kein dummer Polizeischüler mehr.

Bis zu dem Tag, wo die Herta ihm verraten hat, dass sie im Mai an der Wanderung Rausch der Düfte und der Farben in Marrakesch teilnehmen wird, ist er auch standhaft geblieben. Es hat ihn nicht gestört, Alleinsein noch nie ein Problem gewesen für einen Brenner, aber aus irgendeinem Grund hat er an dem Abend, wo sie ihm das angekündigt hat, noch einmal unverbindlich bei den Russinnen vorbeigeschaut. Da hat er erst entdeckt, dass die Nadeshda ihm damals doch noch einmal zurückgeschrieben hat.

Die Nadeshda hat nur geschrieben, dass sie seine Absage sehr bedauert, aber natürlich akzeptiert. Er hat der Nadeshda geschrieben, dass er ihr Akzeptieren natürlich akzeptiert, weil Gebot der Höflichkeit. Unglaublich, dass so eine Geschichte so harmlos anfangen kann! Weil natürlich hat die Nadeshda ihm auch wieder geantwortet. Dann wieder er ihr. Tagelang ist das dahingegangen, an manchen Tagen drei, vier Mal. Und wenn du es einmal übersehen hast, werden aus Tagen schnell Wochen. Er hat sich selber dabei zugeschaut, wie er immer weiter hineingeschlittert ist. Eine Freundin in der Wirklichkeit, eine im Computer. Doppelleben Hilfsausdruck.

Es wäre kein Problem gewesen, wenn die Nadeshda nicht angefangen hätte, auf ein Treffen zu drängen. Sie wollte ihn endlich persönlich kennenlernen. Und der Mai ist immer näher gekommen, sprich Rausch der Düfte und der Farben in Marrakesch. Jetzt natürlich, was machst du in so einer Situation?

3

Ob du es glaubst oder nicht. Vier Tage vor dem 3. Mai, auf den er sich mit der Nadeshda geeinigt hat, schreibt sie auf einmal, dass sie kein Geld für den Flug hat. Jetzt der Brenner natürlich aufgewacht, frage nicht. Wie blöd kann man nur sein! Er hat alle Mails von der Nadeshda gelöscht und der Herta angeboten, dass er sie zum Flughafen bringt und abholt und dass er während ihrer Abwesenheit sogar ihre Blumen gießt, quasi Totalbuße.

An dem Tag, wo die Herta abgereist ist, hat es natürlich einen Moment der Schwäche gegeben, sprich Computer. Und wie es der Teufel haben will, drei neue Nachrichten und zwei neue Fotos von der Nadeshda. Sie wollte gar nicht, dass er ihr Geld schickt, aber ob nicht er sie besuchen könnte. Sie würde ihm ihre Heimatstadt Nischni Nowgorod zeigen, und die Wolga, und das Sacharowmuseum und und und. Der Brenner ist aber eisern geblieben. Es hat keinen Sinn. Auf einmal hat er es ganz klar gesehen. Am 4. Mai immer noch eisern. Am 5. Mai hat er sich gesagt, Moskau würde ich mir noch einreden lassen, aber Nischni Nowgorod, das ist bestimmt am Ende der Welt. Am 6. Mai hat er es sich einmal auf der Karte angeschaut, Flug- und Zugverbindungen herausgesucht, aber nur zum Spaß, zum Träumen, damit er nicht andauernd daran denken muss, wie die Herta sich ohne ihn in Marrakesch vergnügt.

Jetzt was soll ich sagen, am 7. Mai kurz vor zehn ist der Brenner in das Flugzeug nach Moskau gestiegen, weil es hat gerade eine Aktion gegeben, und Flug von Wien nach Moskau nur ein Euro, mit den Zuschlägen 81 Euro, da kann man doch sagen, vielleicht fahre ich gar nicht weiter nach Nischni Nowgorod, ich vergesse die Nadeshda und schau mir nur Moskau ein paar Tage an, rein bildungsmäßig interessant, wo man früher gesagt hat, sie hauen uns die Bombe herüber, und heute kann man einfach hinfliegen um einen einzigen Euro. Wenn die Herta dann heimkommt, lässt man sie erzählen, Marrakesch, Wüste, Gewürze, Gerüche, und wenn sie dann ihr Pulver verschossen hat, dann sagt man: Und ich, Moskau.

So hat er es sich zurechtgelegt, und dann natürlich kein Halten mehr. Der Flug gar kein Problem, absolut ruhig, die Fahrt vom Moskauer Flughafen zum Bahnhof doppelt so lang wie der Flug, aber auch kein Problem. Dann ist er hinüber zu dem Bahnsteig, wo man Richtung Nischni Nowgorod abfährt, weil die Nadeshda hat ihm den Weg ganz genau beschrieben, sogar mit einer Zeichnung, damit er sich nicht verirrt, weil wenn du die Unterführung verpasst, dann kannst du lange suchen. Unglaublich, jetzt fahre ich eine Nacht mit dem Schlafwagen, und dann sehe ich wirklich die Nadeshda, das hat ihn in eine Aufregung versetzt, die er zuletzt als Zwölfjähriger erlebt hat, aber die Manuela ist damals nicht zu der Stelle im Wald gekommen, wo sie verabredet waren, weil unterwegs ist ihr der Markovic begegnet.

Mein Gott, wenn du jung bist, erlebst du bei Verabredungen die eine oder andere Enttäuschung, ich sage, das gehört zum Leben dazu. Aber das hätte sich der Brenner auch nicht träumen lassen, dass er diesbezüglich seinen Tiefpunkt noch vor sich gehabt hat. Pass auf. Wie er sechzehn Stunden nach Beginn seiner Reise aufgewacht ist, hat er ein paar Sekunden gebraucht, bis er begriffen hat, wo er war. Nicht in Nischni Nowgorod. Aber auch nicht in Moskau. Sondern so dazwischen. Nicht totgeprügelt. Aber auch nicht mehr richtig am Leben. Sondern gerade lebendig genug, dass er die Schmerzen noch gut gespürt hat, wie der Schlafwagenschaffner ihn wach gerüttelt hat.

Mit dem einen Aug, das er noch aufgekriegt hat, hat er den Schaffner angeblinzelt, quasi guten Morgen. Von Sitzen natürlich noch keine Rede, weil da hat er vorher noch mindestens fünfzig Kilometer seine Knochen zusammensuchen müssen. Aber interessant. Der Körper noch gelähmt, aber sein Kopf hat ihm schon wieder etwas vorgeturnt. Möchte man meinen, so etwas vergisst ein Hirn lieber, aber nein, alles hat der Brenner noch gewusst. Das Kind, das ihn in dem unterirdischen Gang zu seinem Bahnsteig angebettelt hat, ist ihm sofort wieder eingefallen. Der Brenner natürlich nicht auf den Bettler reagiert, die Nadeshda hat ihn davor noch ausdrücklich gewarnt, weil oft Falle, oft Banden und Überfälle. Darum hat sie ihm ja so einen genauen Plan geschickt, wie er gehen soll, nicht links und nicht rechts schauen, auf keinen Fall ansprechen lassen, sondern gehen gehen gehen. Und der Brenner hat sich auch daran gehalten. Aber nicht konsequent genug. Weil dann kommt dieser vielleicht achtjährige Rotzbub auf ihn zu, stellt sich ihm frech in den Weg und hält die Hand auf.

Ein Kind unterschätzt du natürlich gern einmal in seiner Bösartigkeit. Da kannst du in der Polizeischule noch so viel gelernt haben über die kriminelle Energie des Kindes, wenn dir dann so ein abgezwickter Gauner gegenübersteht, willst du es zuerst doch nicht glauben. Aber wie der Brenner ihm keine Antwort gibt und einfach weitergehen will, glaubst du, der Rotzlöffel geht auf die Seite und macht den Weg frei? Nichts da! Der Knilch packt ihn einfach am Handgelenk! Jetzt während der Brenner sich noch denkt, das gibt es ja nicht, und versucht, die Hand von dem Frechdachs abzuschütteln, schießt noch so ein kleiner Dreck um die Ecke und nimmt seine andere Hand. Du wirst sagen, gegen zwei kleine Kinder wird ein Brenner wohl ankommen, ein achtzig Kilo schwerer Exbulle, Muskeln, Tricks und alles. Und den Ersten, der an seiner linken Hand geklebt ist, hat er auch abgeschüttelt, den hat er weggeschleudert wie beim Zwergewerfen. Aber in Sekundenbruchteilen sind schon die nächsten dahergekommen, als wäre irgendwo ein Nest gewesen, keiner älter als vielleicht sieben, acht Jahre, Mädchen auch, wie die Ameisen sind sie an ihm gehängt, und eine Sekunde später waren sie weg. Seine Geldtasche auch weg. Pass weg, Handy weg, alles weg.

Aber das wäre noch nicht so schlimm gewesen, weil körperlich der Brenner wenigstens noch intakt. Aber dann eben erst der Fehler. Weil er ist ihnen nachgerannt, und einen hat er sogar erwischt. Krüppel sagt man ja heute nicht mehr, aber der hat sein Bein in so einem Geschirr gehabt, das war vielleicht bettlerisch dem sein Vorteil, jetzt haben sie so einen auch dabeigehabt. Den hat der Brenner sich geschnappt, aber das hat ihm gleich leidgetan, weil im nächsten Moment selber Krüppel, sprich, irgendeine Flasche oder Eisenstange muss ihn getroffen haben, und sofort komplett Licht aus.

Das unmenschlich grelle Licht, das der Schlafwagenschaffner aufgedreht hat, ist dem Brenner jetzt zugutegekommen und hat ihm geholfen, bei Bewusstsein zu bleiben. Er hat sich dann sogar auf der Liege aufgesetzt und einmal geschaut, was ihm am meisten weh tut. Die gute Nachricht zuerst, das rechte Bein komplett in Ordnung. Das linke ein bisschen blutig, ein bisschen verstaucht, aber nicht gebrochen. Die ausgekegelte Schulter natürlich, die hat schon sehr weh getan. Aber gottseidank! Das haben sie in der Polizeischule gelernt, wie man sich eine ausgekegelte Schulter selber wieder einkegelt. Das tut wahnsinnig weh, da vernarbt dir das halbe Hirn vor Schmerzen, aber wenn du Glück hast, fällst du dabei kurz in Ohnmacht.

Der Brenner aber jetzt keine Ohnmacht mehr. Im Gegenteil, er hat sogar eine ganz leise Erinnerung daran gehabt, wie er in den Zug gekommen ist, nachdem ihn die Kinder ausgeraubt und bewusstlos geschlagen haben. Pass auf, ein barmherziger Bahnhofssamariter hat ihn in den Zug geworfen, so wie man früher die Besoffenen aus Mitleid in den Zug geschmissen hat, damit sie nach Hause kommen. Da darf man dem unbekannten Samariter nicht böse sein, er hat ja nicht wissen können, um wie viel lieber der Brenner in Moskau aufgewacht wäre. Statt noch eine ganze Nachtreise weiter von der Heimat entfernt. Ohne Geld, ohne Handy, ohne Pass. Nur die Fahrkarte haben sie ihm gelassen, weil die war in der billigen Reisetasche mit den Sachen, die für die Gangster keinen Wert gehabt haben.

Im Spiegel vom Zugklo hat er mehr blaue Flecken als Gesicht gesehen. Aber nach längerem Suchen hat er wenigstens sein zweites Aug unter der Schwellung wiedergefunden. Im Wasserhahn natürlich kein Wasser, jetzt war er wahnsinnig dankbar, dass ihm der Mitreisende von der gegenüberliegenden Pritsche eine halbvolle Mineralwasserflasche und eine Schnapsflasche zum Auswaschen der Wunden angeboten hat. Und obwohl der Benner in so einem schlechten Zustand war, hat er noch irgendwo einen Winkel in seiner Seele gehabt, wo es ihn noch zusätzlich geschmerzt hat, dass er sich bei diesem freundlichen Russen nicht einmal ordentlich bedanken kann, weil die Sprache.

Aber interessant. Obwohl er immer noch den Verdacht nicht losgeworden ist, dass die Nadeshda ihn in die Falle gelockt und extra durch die Unterführung geschickt hat, und obwohl er sich fast sicher war, dass sie nicht wie ausgemacht am Bahnsteig auf ihn warten wird, dass sie womöglich nicht einmal existiert und der Moskauer Bahnhofskrüppel hinter ihrer Mailadresse steckt, hat er sich beim Waschen und Fingerkämmen doch die ganze Zeit auf die Begegnung mit ihr vorbereitet. Eine halbe Stunde hat er noch gehabt, um sich halbwegs für seinen großen Auftritt bei der Nadeshda in Schuss zu bringen, und er war wahnsinnig froh, dass ihm die Kinderbande seine alte Polizeisonnenbrille gelassen hat.

Und da sieht man wieder einmal, wie im Leben oft ein kleines Unglück ein großes verhindert. Da ist man viel zu oft undankbar dem kleinen Unglück gegenüber! Weil wenn sein Gesicht nicht so zugerichtet gewesen wäre, hätte der Brenner die Sonnenbrille nicht aufgesetzt. Und wenn er ohne Sonnenbrille aus dem Schlafwagen gestiegen wäre, hätten seine Augen gleich das nächste Problem gehabt. Weil ob du es glaubst oder nicht. Auf dem Bahnsteig hat die Nadeshda mit der Morgensonne um die Wette gestrahlt, und ohne Polizeisonnenbrille Netzhautablösung Minimum.

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Aber nicht dass du glaubst, die Nadeshda den Brenner angestrahlt. Sie hat den Brenner ja gar nicht erkannt, obwohl sie sein Foto in der Hand gehalten hat. Aber die erbarmungswürdige Gestalt, die da aus dem Zug gestolpert ist, hat mit dem Brenner nicht mehr viel zu tun gehabt. Sobald er die Nadeshda erblickt hat, ist natürlich ein Ruck durch ihn gegangen, Brust heraus, Bauch hinein, aber das hat nur dazu geführt, dass ihm die Rippe einen wahnsinnigen Stich gegeben hat. Die Nadeshda zu Tode erschrocken, ja was glaubst du. Erstens schockiert vom Zustand ihres Besuchers, zweitens schockiert vom Zustand ihres Landes, wo solche Dinge passieren. Sie hat sich wahnsinnig geschämt für ihre Heimat, wo man einen Brenner so begrüßt. Und sie hat sofort selber den Verdacht ausgesprochen, den der Brenner jetzt haben muss, nämlich, dass sie ihn in eine Falle gelockt hat.

Aber dann hat es sich schon wieder gezeigt. Nichts im Leben nur Nachteile. Weil wenn du dich bei so einer Verabredung im besten Zustand triffst, hast du am Anfang eine Verlegenheit, von der du dich möglicherweise nie erholst. Da bist du oft besser dran, wenn du dich vorher halb totschlagen lässt, weil dann hast du gleich was zu reden. Und was zu tun. Weil die Nadeshda natürlich sofort das Kommando übernommen, und meine beste Freundin ist Ärztin im Krankenhaus, die wird dich wieder auf die Beine stellen.

Das Krankenhaus natürlich nicht ganz so komfortabel und steril wie zum Beispiel das Zugklo, in dem der Brenner sich die Wunden ausgewaschen hat, aber die Ärztin großartig, und die Tabletten, die sie ihm gegeben hat, frage nicht. Nur dass die beiden Russinnen sich dauernd über ihn unterhalten haben und dass die Ärztin gelacht hat, wenn die Nadeshda etwas gesagt hat, und dass die Nadeshda verschmitzt gelächelt hat, wenn der Ärztin etwas eingefallen ist, hat ihm weniger geschmeckt. Aber in so einer Situation darf man nicht empfindlich sein, und eine Stunde später war er schon wieder so weit hergestellt, dass er fähig war, mit der Nadeshda zur Polizei zu gehen, weil sie hat gesagt, du brauchst eine Bestätigung, dass sie dir den Pass gestohlen haben, sonst kommst du nie mehr heim.