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Eigentum E-Book

Wolf Haas

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„Alles hin.“ Die Mutter, das Geld, das Leben. – Der neue Roman von Wolf Haas

„Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen." Mit liebevoll grimmigem Witz erzählt Wolf Haas die heillose Geschichte seiner Mutter, die, fast fünfundneunzigjährig, im Sterben liegt. 1923 geboren, hat sie erlebt, was Eigentum bedeutet, wenn man es nicht hat. „Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin." Für sie bedeutete das schon als Kind: Armut, Arbeit und Sparen, Sparen, Sparen. Doch nicht einmal für einen Quadratmeter war es je genug. Endlich wieder ein neuer Roman von Wolf Haas. Ein großes, berührendes Vergnügen.

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Das ist das Cover des Buches »Eigentum« von Wolf Haas

Über das Buch

»Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen.» Mit liebevoll grimmigem Witz erzählt Wolf Haas die heillose Geschichte seiner Mutter, die, fast fünfundneunzigjährig, im Sterben liegt. 1923 geboren, hat sie erlebt, was Eigentum bedeutet, wenn man es nicht hat. »Dann ist die Inflation gekommen und das Geld war hin.« Für sie bedeutete das schon als Kind: Armut, Arbeit und Sparen, Sparen, Sparen. Doch nicht einmal für einen Quadratmeter war es je genug. Endlich wieder ein neuer Roman von Wolf Haas. Ein großes, berührendes Vergnügen.

Wolf Haas

Eigentum

Roman | Hanser

DER WEG DER BESSERUNG

Drei Tage vor ihrem Tod, sie war fast fünfundneunzig Jahre alt und nicht mehr ganz da, erkundigte sich meine Mutter bei mir nach ihren Eltern: »Dort, wo meine Leute jetzt sind«, sagte sie, und als ich nicht gleich verstand, wovon sie sprach, präzisierte sie: »Meine Mami und mein Tati, wo die jetzt sind, ich weiß nicht, wie es da heißt, aber kannst du dort vielleicht mit dem Handy anrufen und ihnen sagen, dass es mir gut geht.«

Ich war angefressen. Mein ganzes Leben lang hat mir meine Mutter weisgemacht, dass es ihr schlecht ging. Drei Tage vor dem Tod kam sie mit der Neuigkeit daher, dass es ihr gut ging. Es musste ein Irrtum vorliegen. Wir waren die, denen es schlecht ging! Ich hatte mich daran gewöhnt, ich hatte mir die ewig gleiche Platte seit dem Tag meiner Geburt angehört. Schon in der Fruchtblase hatte ich mich eingeschwungen: Schlecht geht es uns. Jetzt ging es ihr auf einmal gut.

Am nächsten Tag überlegte ich, ob ich ihr erzählen sollte, dass ich angerufen hätte. Vielleicht freute es sie, also warum sollte ich hölzern bei den Fakten bleiben. Ich könnte ja einfach sagen, liebe Grüße zurück, ihnen geht es auch gut. Deinen Eltern geht es gut, und deinen verstorbenen Geschwistern geht es auch gut. Besonders gut geht es dem Kleinen, der schon als Kind von einem Ross erschlagen wurde. Was solls, sie würde voraussichtlich nicht mehr lange leben (tatsächlich starb sie zwei Tage später), die Lüge würde von ihr mitgenommen werden und nicht mehr existieren. Ich durfte nur nicht zu dick auftragen, sonst würde ich mich noch irgendeiner Sache schuldig machen. Am Ende hieß es noch, ich hätte mich über sie lustig gemacht. Man schuldet ja allen einen gewissen Respekt. Auch jenen, die es vielleicht nicht wahrnehmen, wenn man ihn nicht zeigt. Man kann auch den Verlöschenden und vor sich hin Dämmernden nicht irgendwas erzählen, nur weil es langweilig ist mit ihnen. Man darf unterlegene Menschen nicht auf die Schaufel nehmen. Man darf Schwachsinnige nicht verarschen, man darf kleine Kinder nicht verarschen, man darf Behinderte nicht verarschen. Im Prinzip darf man überhaupt niemanden verarschen, fürchte ich. Schon gar nicht seine sterbende Mutter. Die alles für einen getan hat huhu. Und so eine schwere Kindheit hatte. Wie gut ich dagegen dastand. Mich musste man nicht wegen Not und Elend schon als Säugling auf einen Pflegeplatz geben. Ich wurde nicht als zehnjähriger Arbeitssklave endgültig zu einem Bauern ins Nachbardorf geschickt. Ich musste nicht eine Stunde durch den Tiefschnee in die Schule waten, im Sommer Kühe hüten und dann noch die Strümpfe der vier Bauernsöhne ausbessern. Die haben immer so weiße Strümpfe zu den kurzen Lederhosen gehabt, weiße Kniestrümpfe. Und die haben da ein Muster gehabt, nit, dann wars da herauf schon ein bissl kaputt, dann hab ich das alles, das gleiche Muster herausfinden müssen, nachstricken bis zur Ferse, und nachher mit dem schönen, dem feinen weißen Garn die Ferse stricken. War viel Arbeit mit dem feinen Garn, das alles so genau stricken, hat alles schön sein müssen.

Dafür muss ich jetzt ihr Leben nachstricken. Aus einem inneren Zwang heraus. Bis zum Begräbnis bin ich fertig, und dann bin ich es los, die Erinnerung und alles. Ein schneller Text. Und weg damit. Ein Text, der davon lebt, dass er mit dem Tod um die Wette rennt (nur noch zwei Tage). Keine Zeit für Formulierungen. Oder Selbstzensur. Gratuliere, super Idee. Das gab mir noch lange nicht das Recht, ihr zu sagen, ich hätte angerufen, liebe Grüße zurück, es geht ihnen auch gut. Andererseits ist so eine strenge Gesetzesauslegung auch hinderlich, wenn man seiner verdämmernden Mutter noch schnell eine kleine Freude machen will. Konnte man Auf-den-Arm-Nehmen nicht als lustige Schwester von In-den-Arm-Nehmen gelten lassen? Wo ist da genau der Übergangsbereich, wo verläuft die Grenze, wo stehen die Grenzsoldaten des guten Geschmacks? Über die richtige Liebe kann man so lange nachdenken, bis man einen faltigen Hitlerschnurrbart im Gesicht kriegt. Wenn ich mich im Zaum hielt, konnte ich ihr die Freude vielleicht machen, aber mich noch vor der Verhöhnungsschwelle abstoppen. Ich konnte einfach sagen: »Liebe Grüße zurück, ihnen geht es auch gut.« Punkt. Ich durfte nur nicht davongaloppieren und mich in Details verausgaben. Keine Ausschmückungen. Ich durfte also nicht sagen: »Nur dein Vater hat einen Schnupfen. Aber er ist schon auf dem Weg der Besserung.« Solche Sachen wären wahrscheinlich respektlos.

Als ich mit diesen Überlegungen im Kopf ihr Altersheimzimmer betrat, war meine Mutter gerade am Esstisch vor dem Panoramafenster eingeschlafen. Ich bewunderte die Pflegekräfte, die, solange es nur ging, die alten Menschen aus dem Bett in einen Rollstuhl hievten, sie dann zwei Meter weit quer durch das Zimmer schoben, damit die Greise ihr Essen aufrecht sitzend am Tisch einnehmen konnten. Sie fütterten einen Menschen nicht im Bett, solange es ihm noch möglich war, dieses zu verlassen. Und es wurde einem nicht als mangelnder Eifer vorgeworfen, wenn man am Tisch nach dem dritten Löffel vor dem vollen Suppenteller einschlief. (»Vorsicht, die meisten Menschen ertrinken in seichten Gewässern!« Alte englische Werbung aus den Sechzigerjahren für mehr Vorsicht am Strand — illustriert durch einen Betrunkenen, der am Tisch einschläft und in seinem Suppenteller ertrinkt.) Respekt und Würde, interessante Begriffe, die ich im Angesicht des Sensenmannes mit mir selbst diskutierte (ihn interessierte es nicht). Wahrscheinlich gab es pro Patient drei Bandscheibenvorfälle beim Pflegepersonal. Sonst war ich gar nicht so, sondern tendenziell auf der Verdrängerseite unterwegs, aber an diesem Tag gingen mir viele grundsätzliche Überlegungen durch den Kopf. Mir fiel ein, dass ich als Student sogar einmal eine Ethikvorlesung besucht hatte am philosophischen Institut. War es denn richtig, dass eine junge Pflegerin sich das Kreuz ruinierte, damit ein Mensch, der ohnehin lieber im Bett bleiben wollte, noch einmal respektvoll aus dem Bett gehoben und in Würde an den Tisch geschoben wurde? Bestimmt war es richtig. Und bestimmt sollte man seiner geistig erstmals seit fünfundneunzig Jahren unterlegenen Mutter keine blöden Märchen auftischen.

»Ich hab angerufen«, sagte ich, nachdem ich sie geweckt hatte. »Liebe Grüße von allen, es geht ihnen auch gut. Nur dein Vater hat einen Schnupfen. Aber er ist schon auf dem Weg der Besserung.«

Sie ließ die Nachricht eine Zeit lang einsickern. Dann lehnte sie sich in einer langwierigen Anstrengung in ihrem Rollstuhl zurück, hebelte sich an der linken Armlehne hoch, bis ihr magerer Oberkörper in die gewünschte Haltung zurückschnellte. Oder auch weiter, der Rollstuhl hatte seinen eigenen Willen. Sie war jetzt ein sehr dünnes Vogerl und hatte durch die übertriebene Rollstuhl-Zurückgelehntheit die obersten Bergspitzen im Visier. Mit der besseren Hand schirmte sie ihre Augen gegen das blendende Tageslicht ab und erinnerte mich ein bisschen an Stephen Hawking, der skeptisch ein schwarzes Loch begutachtet.

Sie räusperte sich und schaute nachdenklich in die Ferne. Das kannte ich gut von ihr. Während sich harmloses menschliches Räuspern dadurch auszeichnet, dass es dem ersten Wort einer Äußerung unmittelbar vorangeht, legte sie nach dem Räuspern noch eine alarmierend lange Nachdenkpause ein. »Schnupfen?«, sagte sie schließlich und seufzte. Dann bekam sie den gefürchteten Gesichtsausdruck Nummer 1. Ich wusste schon, was jetzt kommen würde, ich hätte wie ein Synchronsprecher mitreden können, und vielleicht bewegte ich sogar ein bisschen die Lippen, während sie sagte:

»Weil er nie aufpasst!«

Vorsichtshalber sagte ich nichts dazu. Beschwichtigungsversuche machten das Ganze immer nur schlimmer. Meine Hoffnung war, dass sie das Thema wieder fallen ließ und mir so ermöglichte, mich wie ein Kundschafter unbemerkt aus der Gefahrenzone zurückzuschleichen. Den Schnupfen hätte ich mir wirklich sparen können. Ich war ein unbeherrschter Mensch. Diese schlechte Eigenschaft hatte ich von ihr. Jetzt kam die gerechte Strafe. Das einmal berührte Thema konnte nicht mehr gestoppt werden. Es musste abgehandelt werden nach Punkt und Beistrich. Mein Gegner war diesbezüglich ein harter Knochen.

»Hat er Husten auch?«

»Nein nein. Er ist eh schon auf dem Weg der Besserung.«

Der Ausweg aus allen Lebenslagen, der Pfad des Heils, der Notausgang aus allen Kriegsschauplätzen trug für mich immer diesen Namen: Weg der Besserung. Als Kind war es mein größter Trumpf. Um nicht jedes Mal wegen nichts zum Pflegefall erklärt zu werden, immer sofort sagen: Bin schon auf dem Weg der Besserung. Selbst mit Lungenentzündung, mit dem eingeschlagenen Schädel, selbst während man noch mit abstehenden Knochen in die Wohnung getragen wurde, verzichtete ich nie auf diesen Segensspruch: Bin schon auf dem Weg der Besserung. Und ehe ichs vergesse, möchte ich die Worte auch als meine künftige Grabinschrift festlegen.

BIN SCHON AUF DEM WEG DER BESSERUNG

»Halsweh?«

»Was?«

»Hat er Halsweh auch?«

»Nein, gar kein Halsweh. Nur ein bisschen Schnupfen. Und der ist auch schon vorbei.«

»Bestimmt hat er sich in der Werkstatt verkühlt«, sagte sie in einem gemischten Tonfall. Halb vorwurfsvoll, halb mitfühlend. Wobei auch die mitfühlende Hälfte wiederum aus zwei Hälften bestand. Ich musste an die berühmte Tractatus-Nummerierung denken, die einen mit so viel Klarheit umnebelt:

1.  Der Tonfall der sterbenden Mutter kommentiert die Erkältung ihres längst verstorbenen Vaters.

1.1.  Der Tonfall der sterbenden Mutter ist zur Hälfte vorwurfsvoll (gegen den Erkälteten).

1.2.  Zur anderen Hälfte ist der Tonfall der Mutter mitfühlend (zugunsten des Erkälteten).

1.2.1.  Die mitfühlende Hälfte besteht ihrerseits aus zwei Hälften.

1.2.1.1.  Zur einen Hälfte ist die mitfühlende Hälfte mitfühlend.

1.2.1.2.  Zur anderen Hälfte ist die mitfühlende Hälfte abermals vorwurfsvoll. (Prinzip der Rekursivität)

Vermutlich war es ihre Stephen-Hawking-Pose, die mich zu solchen Höhenflügen anregte. Außerdem war sie wieder kurz eingeschlafen, und ich musste mir irgendwie die Zeit vertreiben. Jedenfalls konnte man nicht einfach sagen, der Tonfall wäre zu drei Vierteln vorwurfsvoll gewesen. Die vorwurfsvolle Haupthälfte richtete sich ja gegen den Vater, der in der ungeheizten Werkstatt nicht aufgepasst hat (Hauptvorwurf). Der Vorwurf, welcher in der mitfühlenden Hälfte eingelagert war, richtete sich aber gegen wen anderen. Gegen die Leute (Nebenvorwurf). Meine Mutter hatte mit den Leuten eine Rechnung offen. Eigentlich war der Nebenvorwurf der Hauptvorwurf, wenn man länger mit dem schlafenden Stephen Hawking und dem stummen Sensenmann diskutierte.

»Weißt du noch, welchen Beruf dein Vater hatte?«

»Sicher!«, sagte sie mit geschlossenen Augen und tupfte sich in einer langwierigen Prozedur mit der Serviette den linken Mundwinkel ab. »Wieso soll ich das nicht wissen?«

Als ich in das Zimmer kam, wusste sie nicht einmal, dass sie mich an diesem Wochenende schon fünfmal mit den Worten begrüßt hatte, ich sei schon lange nicht mehr da gewesen. Sie wusste nicht, dass ich eine Stunde vorher auch schon einmal da gewesen war. Und letztes Wochenende. Und davor und danach war mein Bruder da (»den hab ich schon lang nicht mehr gesehen«). Aber den Beruf ihres kurz nach dem Weltkrieg (voriges Jahrtausend) verstorbenen Vaters wusste sie natürlich.

»Wagnermeister!«

Mir hatte es immer gefallen, dass mein Großvater Wagner war. Soweit ich meine Vorfahren überblickte, war er der einzige mit einem erlernten Beruf. Und dann gleich Wagnermeister. Zwar ist er schon Jahre vor meiner Geburt gestorben, aber es warf doch noch etwas für mich ab. Wagnermeister. Als Kind fand ich, dass es für mich sprach. Auch war es im Dorf so, dass der Familienname kaum verwendet wurde — die Bauernkinder trugen ihre Hofnamen, die Kinder der Handwerker die Zunftnamen ihrer Väter. Darum war meine Mutter als Tochter des Wagners die Wagner Marianne. Selbst meinen Bruder und mich nannte man noch manchmal, während im Fernsehen schon Ringo Starr auf einem Hausdach Schlagzeug spielte, Wagnerbuam. Obwohl die Holzräder schon längst aus der Welt verschwunden waren, fand ich Wagner irgendwie gut. Es ist ein Handwerk, das besonders klingt. Wer kann schon Räder bauen? Bestimmt musste man handwerklich ziemlich was draufhaben. Wenn ich einmal so alt wie meine Mutter bin, werde ich vielleicht glauben, mein Großvater hätte das Rad erfunden. Darauf freue ich mich schon. Für meine Mutter war aber der zweite Teil des Wortes entscheidend: Meister! Ihr Vater war nicht nur einfach Wagner, kein Wagnergeselle oder gar Wagnergehilfe, er war Wagner Meister. Auch wenn er offenbar immer allein und in größter Armut von Hof zu Hof ziehend und um Arbeit bettelnd sein Handwerk betrieb (zumindest kamen niemals Lehrlinge oder Gesellen in den Erzählungen meiner Mutter vor, sondern immer nur Hunger, Kälte, Not, vorübergehende Unterkünfte, notdürftige Baracken und Unterschlupfe, nicht bezahlende Bauern, das ganze Heimatromanelend), war es ihr doch eine erzählerische Genugtuung, dass er Meister war. Ein viersilbiges Wort, das einen gewissen Raum einnahm. Wagnermeister. Mein Vater zum Beispiel (ihr Mann) hatte keinen Beruf gelernt, ihr Vater aber war — hab ich es schon erwähnt? — Wagnermeister gewesen. Sie hätte vielleicht schon auch einen Meister erwischen können oder gar einen Lehrer oder gleich einen Arzt oder überhaupt einen Rechtsanwalt. Aber leider sind in ihrer Generation alle Männer erschossen worden, dadurch war nicht viel Auswahl. Man musste mit einem viel jüngeren Strolch ohne Schulabschluss zufrieden sein. Jetzt machte es ihr aber nichts mehr, sie hatte ihren schon lange verstorbenen Mann schnell vergessen gehabt. Meinen Vater wusste sie im Prinzip schon ein paar Tage nach der Beerdigung nicht mehr. Ihren Vater aber wusste sie noch gut. Von ihm erzählte sie gern.

»Den ganzen Tag nur Arbeit Arbeit Arbeit«, fluchte sie. Obwohl die zurückgelehnte Haltung eigentlich Entspannung suggerierte. »Und kein Geld, um die Werkstatt zu heizen. Und die eisige Zugluft. Die Kälte im Winter. Und geschwitzt bei der harten Arbeit. Und die Bauern haben ihn ja nicht bezahlt! Und dann —« Dieser Sermon war es, der hinter der mitfühlenden Hälfte als Nebenvorwurf (Hauptvorwurf) lauerte. Der niemals ruhende Generalsopran des Vorwurfs galt nicht ihrem Vater (nichts angezogen, kein Schal, keine Haube, keine Handschuhe, nicht aufgepasst!), sondern den schlimmen Umständen, in denen er existieren musste, seinen verfluchten Kunden, die nicht bezahlten. Den Leuten. Die Leute, das war die unüberschaubare Masse aller Menschen, die meiner Mutter etwas angetan hatte. La gente. (Ich lernte gerade Spanisch aus Angst vor dem geistigen Verfall, der einen angesichts des Elternsterbens erfasst. La gente. Die Leute als teuflischer Massensingular, als vielköpfiges Ungeheuer, das gefiel mir. La gente wollte ein Rad. Aber bezahlt hat la gente nicht.)

»Wenn ein Radl hin war« (jetzt sprach sie in der Vergangenheit von ihm, als wäre ihr vollkommen klar, dass er schon lange tot war), »hat er es sofort richten müssen. Da haben die Herrschaften keine Zeit gehabt. Mitten in der Nacht haben die Bauern ans Fenster geklopft. Das Radl ist hin, haben sie geschrien und alle aufgeweckt. Du musst uns das Radl richten, Wast. Wir müssen Holz ziachn, Wast. Oder pflügen. Oder Heu führen. Wast, wir brauchen das Radl.«

Dem Gesetz der Artikulationserleichterung folgend, wird aus »Sebastian« ein verschlampter »Sewastian«, aus diesem wiederum ein Wast. Und die Räder, die der Wast wieder zum Laufen bringen sollte, waren die Räder von Pferdewägen. So alt bin ich auch noch nicht, und doch hat mein Opa Holzräder von Karren und Kutschen repariert, nicht die Räder von Traktoren oder Autos. Gibt es überhaupt noch Traktoren oder nur noch E-Scooter? Mir geraten die Zeitalter auch schon durcheinander. So unwirklich kommt mir das Reparieren von Kutschenrädern vor, dass der Wast genauso gut gleich bei der Tür hereinkommen könnte mit seinem Schnupfen, um seinem Enkel anzuschaffen: »Hol mir ein Nasivin aus der Apotheke, Bua!«

»Keine Heizung und dafür nichts zu essen«, klagte meine Mutter weiter. »Sie haben ja nicht gezahlt! Arbeiten darfst du für sie. Den ganzen Tag nur arbeiten arbeiten arbeiten. Aber zahlen tun sie nicht! Nichts! Denen bist du komplett egal. Du zählst nicht mehr als ein Viech. Weniger als ein Viech!« Wieder einmal wurde ich mit einer Schwachstelle meines Charakters konfrontiert. Ich mag es gar nicht, wenn mir jemand von einem Ärger erzählt, den er mit Dritten hatte, Konflikte mit abwesenden Personen, und sich bei seiner detailgenauen Erzählung so stark involviert und derart in Wut entbrennt, dass plötzlich ich, der geduldige Zuhörer, es bin, der angebrüllt wird. Ich, der Zugewandte, der Aufmerksame, werde zusammengestaucht, weil die Person unfähig ist, sich die erzählte Geschichte vom Leib zu halten. Ich bin nicht Manns genug, das wegzustecken und mir zu sagen, ach die Arme, es belastet sie so sehr, dass sie sogar mich, den verständnisvollen Zuhörer, anbrüllt, mich sekundenweise mit dem Feind verwechselt. Vielmehr bin ich in solchen Situationen immer angefressen und nahe daran zurückzubrüllen: »Was brüllst du eigentlich mich dafür an, dass die Bauern ihr Radl vor hundert Jahren nicht bezahlt haben!«

Fast verstieg ich mich dazu, die Bauernposition zu übernehmen, die Landwirte zu verteidigen, ihre vielleicht auch sie bedrückende Not ins Treffen zu führen, was meine Mutter mir ihr gesamtes Leben lang (also noch zwei Tage) nicht verziehen hätte.

»Das Radl brauchen sie gleich, aber zahlen tun sie nicht!«, brüllte meine Mutter mich hasserfüllt an. »Mitten in der Nacht kommen sie daher, wenn sie was brauchen. Um drei Uhr früh treten sie fast die Tür ein, klopfen ans Fenster, Wast, Wast, Wast, das Radl ist hin.« Meine Mutter war zeitlebens eine glühende Anhängerin der rhetorischen Trias gewesen. Nein, nicht Anhängerin. Meisterin! Den ganzen Tag nur waschen putzen bügeln. Nichts wie kochen stricken nähen den ganzen Tag. Das ganze Leben nichts wie Arbeit Arbeit Arbeit. »Wast, Wast, Wast!«, diese dreifache Anrufung meines Großvaters, des Wagnermeisters, aus längst verstorbenem Bauernmund, imitiert von meiner zirka fünfzig Stunden von ihrem Tod entfernten Mutter, erinnerte mich daran, dass ich mit zweitem Vornamen nach meinem Großvater ebenfalls Sebastian getauft bin. Es war der Name auf unserem Grab. Lesen lernte ich, indem ich mir die Buchstaben auf unserem Grabkreuz zusammensuchte: Sebastian Mayer † 1956 und Sebastian Mayer † 1957. Ein Name, zwei Personen. Ich machte mir meine Gedanken. Der älteste Sohn muss früh gestorben sein. Das war alles vor meiner Zeit. Einen wie mich hätte der Wagnermeister sowieso nicht als Lehrling genommen. Ich habe zwei linke Hände. Innerhalb von zwei Generationen können Meisterhände zu Händen werden, die für absolut nichts zu gebrauchen sind, aber den Namen hab ich ihm doch abgeluchst. Ein Name mit Leidensgarantie. Heiliger Sebastian, von Pfeilen durchbohrt.

»Dann sagen sie, ich zahl dich am Sonntag nach Kirchen.« Meine Mutter war immer noch beim liebsten Feindbild der werktätigen Bevölkerung, den Bauern. Früher war das jedenfalls so. Die Arbeiter haben die Bauern gehasst. Wen die Bauern gehasst haben, weiß ich nicht. Die Tiere? Ich weiß auch nicht genau, welche Hasse die Klassen heute aufrechterhalten — abgesehen vom stets florierenden Fremdenhass.

»Und dann gehen sie nach Kirchen mit ihm ins Wirtshaus, und da zahlen sie ihn. Im Gasthaus zahlen sie ihn! Und dann sagen sie, Wast, Wast, Wast, trinken wir noch eines, und dann kommt er ohne Geld heim und mit einem Rausch natürlich.« Meine Mutter seufzte. »Und die Mami hat wieder nicht gewusst, wie sie ihre zehn Kinder satt kriegen soll. Beim Hendl hat sie hineingegriffen und sich gefreut, wenn sie gespürt hat, dass morgen ein Ei kommt. Wir haben ja Hendl gehabt in der Stuben. Und wenn kein Ei drinnen war in der Henn, hat sie nicht gewusst, was sie kochen soll.«

Von Pfeilen der Erinnerung durchbohrt sitzen wir da und seufzen. Wir sind beide sehr alt. Ich mache ein Selfie von uns. Wir sehen aus wie der geistesgestörte Künstler August Walla und seine Mutter.

Seufzen ist eine interessante vorsprachliche Äußerung. Es gibt vorwurfsvolles Seufzen. Mitfühlendes Seufzen. Romantisches Seufzen. Lustvolles Seufzen. Sentimentales Seufzen. Schmerzerfülltes Seufzen. Eigentlich ist die Erfindung der Sprache ein übertriebener Luxus, geschmäcklerischer Schnickschnack, Kommunikationsdekor, und letzten Endes ein überflüssiger Wegwerfdreck, da man mit schlichtem Seufzen auch ganz gut über die Runden kommt.