Briefe an Eva Haldimann - Imre Kertész - E-Book

Briefe an Eva Haldimann E-Book

Imre Kertész

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Beschreibung

«Wahrscheinlich ahnen Sie gar nicht, was für ein seltenes Geschenk für mich das würdigende Interesse eines unabhängigen Geistes in meinem täglichen Kampf gegen das Schweigen ist», schreibt Kertész 1977 aus Budapest an Eva Haldimann, die Lite­raturkritikerin der «Neuen Zürcher Zeitung», die, aus Ungarn gebürtig, das Geschehen in ihrer ehemaligen Heimat mit ihren klugen Rezen­sio­nen über Jahrzehnte zuverlässig begleitete, um den Autoren «ein kleines Fenster nach dem Westen zu öffnen». Es ist der Beginn eines anhaltenden Briefwechsels, der jedoch erst nach der anderen großen Öffnung, der europäischen Wende, intensive Form gewinnt und damit zu einem höchst interessanten ­persönlichen und Zeitdokument über das Jahrzehnt zwischen Kertész' erstem literarischem Erfolg in Deutschland und dem Nobelpreis 2002 wird – seinen einzigartigen Aufstieg vom verkannten ungarischen Schriftsteller zum Weltautor. In den Briefen nach Genf berichtet Kertész unmittelbar von diesem neuen Leben. Von Auslandsreisen, Lesungen, neuen Begegnungen und neuen Projekten, aber auch vom «politischen Wahnsinn» des immer aggressiver werdenden Nationalismus und Antisemitismus in Ungarn, mit dem er sich bald persönlich konfrontiert sieht – bis er 2001 den Sprung wagt und seinen zweiten Wohnsitz in Berlin nimmt. Die Briefe an Eva Haldimann sind das Persönlichste, was wir von Kertész kennen.

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Seitenzahl: 146

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Imre Kertész

Briefe an Eva Haldimann

Übersetzt von Kristin Schwamm

Über dieses Buch

«Wahrscheinlich ahnen Sie gar nicht, was für ein seltenes Geschenk für mich das würdigende Interesse eines unabhängigen Geistes in meinem täglichen Kampf gegen das Schweigen ist», schreibt Kertész 1977 aus Budapest an Eva Haldimann, die Lite­raturkritikerin der «Neuen Zürcher Zeitung», die, aus Ungarn gebürtig, das Geschehen in ihrer ehemaligen Heimat mit ihren klugen Rezen­sio­nen über Jahrzehnte zuverlässig begleitete, um den Autoren «ein kleines Fenster nach dem Westen zu öffnen». Es ist der Beginn eines anhaltenden Briefwechsels, der jedoch erst nach der anderen großen Öffnung, der europäischen Wende, intensive Form gewinnt und damit zu einem höchst interessanten ­persönlichen und Zeitdokument über das Jahrzehnt zwischen Kertész’ erstem literarischem Erfolg in Deutschland und dem Nobelpreis 2002 wird – seinen einzigartigen Aufstieg vom verkannten ungarischen Schriftsteller zum Weltautor. In den Briefen nach Genf berichtet Kertész unmittelbar von diesem neuen Leben. Von Auslandsreisen, Lesungen, neuen Begegnungen und neuen Projekten, aber auch vom «politischen Wahnsinn» des immer aggressiver werdenden Nationalismus und Antisemitismus in Ungarn, mit dem er sich bald persönlich konfrontiert sieht – bis er 2001 den Sprung wagt und seinen zweiten Wohnsitz in Berlin nimmt. Die Briefe an Eva Haldimann sind das Persönlichste, was wir von Kertész kennen.

Vita

Imre Kertész, am 9. November 1929 in Budapest geboren, wurde 1944 nach Auschwitz deportiert und 1945 in Buchenwald befreit. Nach Kriegsende arbeitete er zunächst als Journalist, seit 1953 als freier Schriftsteller und Über­setzer in Budapest. Mit seinem schon 1975 in Ungarn erschienenen und dort zunächst kaum beach­teten «Roman eines Schicksal­losen» gelangte er nach der europäischen Wende zu welt­weitem Ruhm. 2002 erhielt er den Nobelpreis für Literatur.

Briefe 1977–2002

1

Budapest, 20. Mai 1977

Sehr geehrte Eva Haldimann!

Einem glücklichen Zufall verdanke ich, daß ich Ihren Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung vom 18. März lesen konnte.[*]

Die verständnisvolle Rezension, mit der Sie Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) würdigen, ermutigt mich, Ihnen heute mein neuestes Buch zu schicken.

Ich wäre Ihnen überaus dankbar, wenn Sie mich wissen ließen, ob Sie die Sendung erreicht hat.

Mit vorzüglicher Hochachtung

Imre Kertész

2

Budapest, 2. Juni 1977

Liebe Eva Haldimann,

vielen, vielen Dank für Ihren Brief. In der Tat haben sich die Zeitschriften hier mit Sorstalanság (Roman eines Schicksallosen) nicht beschäftigt. Der Grund dafür ist wahrscheinlich – neben einer «gewissen Unsicherheit»[*] – die literarische Inzucht hierzulande. Die Schublade ist noch nicht gezimmert, in die man mich mit der Zeit hineinstopfen könnte. Die Tageszeitungen haben sich allerdings damit befaßt, wobei jedoch eine so kluge, das Wesentliche erfassende Besprechung wie die Ihre natürlich nicht herausgekommen ist.

An Ihren Artikel bin ich übrigens gelangt, weil jemand im Schwimmbad eine Bemerkung darüber gemacht hatte. Von jemand anderem erfuhr ich das Datum des Blattes. Und ein Londoner Freund schickte mir schließlich den Zeitungsausschnitt. Deutsch lese ich zum Glück.

Kommen Sie manchmal nach Budapest? Wenn ja, lassen Sie uns bitte nicht die Gelegenheit einer persönlichen Bekanntschaft versäumen. Meine Telefonnummer: 161–382.

Es grüßt Sie herzlich

Imre Kertész

3

Budapest, 14. Dezember 1977

Liebe Eva,

ich danke Ihnen herzlich für den Artikel und daß Sie ihn mir zugesandt haben. Über Umwege hatte ich gerade am Vortag erfahren, daß in der NZZ «etwas» erschienen sei: Sie können also – trotz der Entfernung – etwas bewirken, weil Sie auch hier in Budapest Leser haben.

Ihr Artikel ist voll erregender, spannender Gedanken. Auch dieses «Wenige», das mir gewidmet ist, ist in diesem Zusammenhang eine große Auszeichnung: Bedenken Sie doch, wie wenig verwöhnt ich bin. Zunächst schienen Sie A nyomkereső (Spurensucher) gegenüber etwas abgeneigt, jetzt haben Sie in wenigen Sätzen genau das Wesentliche erfaßt. Wahrscheinlich ahnen Sie gar nicht, was für ein seltenes Geschenk für mich das würdigende Interesse eines unabhängigen Geistes in meinem täglichen Kampf gegen das Schweigen ist.

Ich hoffe, wenn Sie das nächste Mal nach Budapest kommen, erübrigen Sie wieder etwas Zeit für mich. Solange grüßt Sie sehr herzlich

Imre Kertész

4

Budapest, 26. Februar 1983

Liebe Eva,

ich danke Ihnen für Ihren Brief und freue mich sehr, daß Ihnen A kudarc (Fiasko) gefallen hat. Sie haben vollkommen recht, mit einer Besprechung sollten wir warten, bis der Roman fertig ist (wegen der vielen «Nebensachen» sicher noch zumindest zwei Jahre). Ich habe Ihnen die Zeitschrift mit dem Vorabdruck sozusagen ganz «privat» geschickt; irgendwie ist mir der Gedanke wichtig, daß Sie wissen, es gibt mich, ich arbeite – und das tue ich dann auch manchmal kund.

Ob auf das Fiasko ein Erfolg folgen wird? Was den Roman betrifft, wird es ein saurer «Erfolg» werden, Luzifer wird sicher Freude daran haben. Was aber die Realität betrifft: Ich würde lügen, wollte ich behaupten, daß mich die Verlage (also die beiden, die es hier gibt) mit Angeboten bombardieren. Auf jeden Fall hat mir der «Verlag für Schöne Literatur» – auf meine Bitte – einen Vertrag zugesichert, ich erwarte ihn in diesen Tagen. Außerdem gab es eine kleine, enthusiastische Ankündigung in der Magyar Nemzet vom 27. Februar, ich lege sie bei.

Ja, sicher, ich habe auch Lustspiele geschrieben, mit Musik – was tut man nicht alles im Leben! –, es war eine lustige Zeit und hat schön etwas eingebracht. Das ist lange her, inzwischen bin ich «seriös» geworden.

Oglütz und die Oglützer sind ziemlich aktiv, doch solange es Ohrenstöpsel gibt, werden auf dieser Erde noch Romane geschrieben!

Alles Gute und herzlichste Grüße,

Imre

5

Budapest, 27. Januar 1990

Liebe Eva Haldimann!

So lange schon haben wir einander nicht geschrieben. Artisjus schickte mir Ihren Artikel aus der NZZ: Ich danke Ihnen für Ihre Würdigung, es bestärkt und ermutigt mich, daß A kudarc (Fiasko) eine so beifällige Aufnahme bei Ihnen gefunden hat.

Vielleicht ist eine niederdrückende und unterjochende Epoche zu Ende gegangen. 40 Jahre! Was ist das für uns? Alles in allem mein Leben … – Zur Buchwoche erscheint mein neuer Roman. Der Titel ist Kaddis a meg nem született gyermekért (Kaddisch für ein nicht geborenes Kind). (Sie wissen, was das Kaddisch ist? Ein Totengebet, so wie in der katholischen Liturgie das Requiem.) Der vollständige Text war in der November- und Dezembernummer von Kortárs abgedruckt. Aber Sie sollten ihn lieber in Buchform lesen: Ich schicke Ihnen das Buch sofort, wenn es erschienen ist.

Mit herzlichen Grüßen,

Imre Kertész

6

Budapest, 16. Februar 1990

Liebe Eva,

Ihr Brief hat mich erreicht, haben Sie Dank. Ich glaube, ich muß auf Ihre Frage eingehen, weil sie mich sehr berührt hat – warum aus den Hainen der ungarischen Literatur ausschließlich Klagetöne zu Ihnen dringen und was die Menschen mit so viel Pessimismus erfüllt. Es ist in der Tat bestürzend, daß man das, was, wenn auch noch nicht die Freiheit, so doch wenigstens eine Befreiung ist, hier als Zusammenbruch erlebt. Wenn ich natürlich auch keine genaue Antwort darauf weiß, so dürfen Sie doch nicht vergessen, daß die Intellektuellen hier nie durch die Schule der Ernsthaftigkeit gegangen sind: Sie wurden in einer infantilen Vaterabhängigkeit gehalten, es nützte ihnen nichts, zu wissen, daß die ihnen angelegte Meßlatte kein wirklicher Maßstab war, sie haben trotzdem mit ihr gelebt, das war ihre Existenz. Und nun, so mein Eindruck, hat sie der Horror vacui gepackt. Ob sie wollen oder nicht, sie blicken in einen Abgrund – der sich nicht vor, sondern hinter ihnen auftut, und dieser Abgrund ist ihr Leben. Ja, wenn auch nicht zu befürchten ist, daß Wahrheit und Werte wieder zu Geltung kommen, so steht doch fest, daß die Lüge und das falsche Wertesystem nicht mehr funktionieren, und das ist eben für viele erschreckend. Vergessen Sie nicht, was Sándor Márai einmal gesagt hat: daß die Lüge noch nie eine so geschichtsbildende Kraft gewesen ist wie im 20. Jahrhundert. – Nach meiner Ansicht ist die wirtschaftliche Lage noch nicht einmal so katastrophal, wie sie dargestellt wird, doch mit dem Antisemitismus treiben Manipulatoren im Interesse der Macht – jenseits aller Realität – ein häßliches und gefährliches Spiel. Aus demselben Grund schüren sie die Stimmung einer ausweglosen Katastrophe und untergraben damit, gewollt oder ungewollt, auch noch den Rest an Aufbauwilligkeit. Es ist eine Tatsache, daß dieses Land 40 Jahre lang in eine furchtbare moralische, geistige und materielle Lage hineingetrieben wurde, aber daß man den Menschen nun auch noch den Rest ihres Selbstbewußtseins raubt, halte ich für ein herzloses und unverantwortliches Machtspiel; dazu kommt, daß nirgendwo eine «charismatische Persönlichkeit» in Sicht ist, die in diesem allgemeinen Schwanken, oder besser Taumel, einen gewissen seelischen Halt bieten könnte. Doch vielleicht werden die Wahlen die Luft reinigen. Und vielleicht empfängt Sie, wenn Sie Budapest im Spätsommer besuchen, eine etwas zuversichtlichere Stimmung.

Ich fürchte, ich langweile Sie schon. Den Kaddisch werde ich Ihnen, sobald er herausgekommen ist (er ist zur Buchwoche, also für Anfang Juni geplant), persönlich schicken, diese Freude lasse ich mir nicht nehmen. Wenn Sie erlauben, gebe ich Ihnen noch zwei Telefonnummern: 15-64-190, die Nummer meiner Wohnung in der Pasaréti-Straße. Und: 11-50-117, die meines Arbeitszimmers in der Török-Straße, wo ich tagsüber, etwa zwischen 10 und 16 Uhr zu erreichen bin, die letztere steht auch im Telefonbuch.

Seien Sie herzlich gegrüßt,

Imre Kertész

7

[Postkarte]

[Budapest, Sommer 1990]

Liebe Eva!

Ich freue mich sehr, Sie im Oktober wiederzusehen: Es ist mindestens zehn Jahre her, seit wir uns das letzte Mal trafen, falls Sie sich noch daran erinnern. Es gibt aber ein kleines Problem: Der Artikel, den Sie erwähnen, war nicht in dem Umschlag zu finden und auch nicht in einem eventuellen Begleitbrief. Kann es sein, daß er verlorengegangen ist? Oder daß Sie ihn vielleicht nicht in den Umschlag gesteckt haben? Bitte befriedigen Sie meine nun einmal geweckte Neugier und schicken Sie mir den angekündigten Artikel noch einmal, wenn es keine große Mühe macht. – Ich kann es kaum erwarten, wieder einmal persönlich mit Ihnen sprechen zu können.

Herzlichst,

Imre

8

[Postkarte]

[Budapest, August 1990]

Liebe Eva,

mit Dank erhielt ich Ihren schönen Artikel und freue mich sehr, daß Ihnen mein Kaddisch gefallen hat. Hier war das Buch innerhalb von drei Tagen nach Erscheinen ausverkauft. – Sie tun gut daran, nicht im Sommer, sondern lieber im Herbst nach Pest zu kommen: Bis dahin wird es weniger warm, weniger anarchisch und vielleicht sogar etwas weniger schmutzig sein. Ich warte voll Freude darauf, Sie zu sehen,

Imre

9

[Budapest, 1. oder 2. Oktober 1990]

Liebe Eva,

ja, seit meinen «Weisheiten» vom Jahresanfang sind wir nun dahin gekommen, daß ich zu der beiliegenden Erklärung gezwungen war. Wie jämmerlich die Sache auch ist, ich meine, Sie darüber unterrichten zu müssen. – Es regt sich auch sonst breiter gesellschaftlicher Protest: Miklós Mészöly hat sein Amt im Komitee des Schriftstellerverbandes niedergelegt.

Mit sehr herzlichen Grüßen,

Imre Kertész

 

Budapest, 25. September 1990

Verehrtes Präsidium!

Zu meinem größten Bedauern sehe ich mich zu der Mitteilung gezwungen, daß ich mich nicht mehr länger als Mitglied des Ungarischen Schriftstellerverbandes betrachte.

Ich bemühe mich, meine Gründe maßvoll, klar und vor allem kurz zusammenzufassen. In einer neueren Nummer der Zeitschrift Hitel ist ein Artikel von Sándor Csoóri erschienen, in dem steht, daß «die Möglichkeit des geistigen und seelischen Zusammenwachsens von Judentum und Ungartum verschwunden ist». Im selben Artikel publiziert Csoóri eine Liste der aus seiner Sicht akzeptablen jüdischen Geister. In diesem Register konnte ich zu meinem nicht geringen Erschrecken meinen eigenen Namen nicht lesen. Noch mehr hätte mich nur erschreckt, wenn ich ihn dort hätte lesen können.

Nun, es wird sich nie mehr aufklären lassen, ob die Toten – so Antal Szerb, György Sárközi und andere – die ihnen durch Csoóri angebotene Ausnahmestellung akzeptieren würden, und die Lebenden schweigen. Was mich betrifft, soll mir jede Art von rationaler Erörterung fernliegen. Ich befinde mich nicht in der Lage des prominenten Ferenc Fejtő, der gelassen und weise eine Reihe rationaler Gegenargumente ins Feld führen konnte, in dem Bewußtsein, sich hinterher in die Ruhe und Sicherheit seiner Pariser Wohnung und seines europäischen Renommees zurückziehen zu können. Wir hier leben anders. Wie? Nun: gefährdeter. Ich will Sándor Csoóri auch nicht von irgend etwas überzeugen. «Judentum»: so etwas gibt es – vom statistischen Stichwort abgesehen – natürlich nicht. Falls etwa doch, weiß ich nichts davon. Ich kann mit dem großen Komponisten Schönberg sagen: «Was gehen mich die Weisen von Sion an? Für mich ist das ein Märchentitel aus Tausendundeiner Nacht.» Ich kann Sándor Csoóri versichern, daß es mir weder als Privatperson noch als ein dem «Judentum» Zugehöriger auch nur im Traum einfallen würde, das – wie er schreibt – «Ungartum in Stil und Gedanken zu assimilieren». Aus solchen Sätzen kann ich nicht herauslesen, daß hier noch Raum für eine wie auch immer geartete rationale Diskussion geboten wird. Ich zitiere an dieser Stelle – um auch noch dem Anschein einer persönlichen Bezugnahme vorzubeugen –, was ich früher in meinem Roman Kaddisch für ein nicht geborenes Kind geschrieben habe: «Der Antisemitismus ist keine Überzeugung, sondern eine Frage der Veranlagung und des Charakters. Der Antisemit war vor Auschwitz ein latenter Mörder, nach Auschwitz ist er ein manifester Mörder.»

Ich habe immer als Individuum gelebt, mich selbst immer als Individuum definiert. Ich habe keine sogenannten Identitätsprobleme. Daß ich Ungar bin, ist um nichts absurder, als daß ichJude bin; und daß ich Jude bin, ist nicht absurder, als daß ich überhaupt bin. – Nach Auschwitz ist das die einzig mögliche Definition für mich geblieben. Man glaube nicht, daß es so leicht war, zu dieser vielleicht aphoristisch, manchem vielleicht sogar witzig erscheinenden Formulierung zu kommen. Man glaube nicht, daß es so leicht war, aus den Trümmern meiner mit Stiefeln getretenen Persönlichkeit wieder eine solche Individualität aufzubauen und gegen alle Widerstände dauerhaft aufrechtzuerhalten, wovon ich auch bisher in meinen Werken Zeugnis abgelegt habe.

Ich lasse nicht zu, daß man mich aus meiner Individualität ausgrenzt; ich lasse nicht zu, daß man, seien es Juden oder Nichtjuden, mich nach den Gefängnisjahrzehnten des Totalitarismus durch «Judentum» definiert. Sowenig ich meine Herkunft – diesen himmlischen Zufall – je verleugnet habe, so wenig werde ich je zulassen, daß ich im Namen der Herkunftsdaten in meiner Geburtsurkunde verstümmelt werde, von ebendenselben, die mir explizit das Recht absprechen, daß auch ich – zum Beispiel – Trianon als Verletzung empfinden könnte. Ich lasse nicht zu, daß Sándor Csoóri mich absondert von meinen Landschaften und Wäldern, meinen Schluchten und den Berggipfeln, von denen ich in die Ferne schaue, über die Köpfe der engherzigen Rassisten hinweg. Ich habe mich nie in irgendeine Rassen-, National- oder Gruppenidentität geflüchtet und tue es auch jetzt nicht; ich bitte keine Rasse, Nation oder Gruppe, mich zum Wortführer zu ermächtigen, um in ihrem Namen auszugrenzen, zu richten und auszuweisen. Ich habe es immer für meine Aufgabe – und zugleich für mein schriftstellerisches Glaubensbekenntnis – gehalten, der Welt die Zerbrechlichkeit und Verletzbarkeit meiner Individualität darzubieten: sämtlichen Erschießungskommandos der Welt – aber auch den aufnahmebereiten Herzen der Welt.

Natürlich erhebt sich auch in mir die Frage, von wem Csoórieigentlich die Ermächtigung erhalten hat, mit derart unbeirrter Selbstsicherheit im Namen des Ungartums zu sprechen? Von wem er die Ermächtigung erhalten hat, bei der Aufnahme der außerhalb der Landesgrenzen «in der Minderheit oder verstreut lebenden, mindestens vier Millionen Ungarn» mit der Ausgrenzung des innerhalb der Landesgrenzen lebenden «Judentums» zu beginnen? Ich denke mir nämlich, daß Ungarn – das wirkliche, das lebendige, nicht das von Csoóri imaginierte Ungartum – ihm erwidern würde, daß das doch abermals ein Katastrophenprogramm ist. Daß hier abermals ein selbsternannter, den ungarischen Namen ausschließlich und ausschließend sich selbst aneignender, zahlenmäßig recht kleiner, in der Lautstärke aber um so maßloserer enger Kreis mit dem Ungartum spielt, ein Kreis, der sich abermals dem seit der Aufklärung und der ungarischen bürgerlichen Revolution geltenden europäischen und Europa zugewandten ungarischen Geist entgegenstellt, ein Kreis, der das Volk recht wenig liebt, der seine eigene Universalität abermals negativ, zum Schaden des «Judentums» definiert und der – wie jeder konsequente Vertragsbrüchige – sich letzten Endes zum Zeichen seiner Universalität selten mit weniger als einer Weltkatastrophe zufriedengibt. Das ist meine Meinung, und ich würde mit ihrer Äußerung weder den Schriftstellerverband noch mich selbst belästigen, da das alles ja nicht der Rede wert ist. Nur daß es hier einen Haken gibt: nämlich den, daß Sándor Csoóri einer der Co-Präsidenten des Ungarischen Schriftstellerverbandes ist und dazu eine ebenfalls nicht unbedeutende öffentliche Funktion in der regierenden Partei einnimmt. Direkt gesagt: Würde ich den Inhalt des Artikels logisch und radikal zu Ende denken, müßte ich zu der Schlußfolgerung kommen, daß seine Worte im Grunde genommen das Einläuten bald zu erwartender Diskriminierungsmaßnahmen bedeuten.

Ich will nicht zu dieser Schlußfolgerung kommen. Ich willnicht glauben, daß eine solche Schlußfolgerung ernsthaft Realität sein oder werden könnte. Ich will nicht glauben, daß die rechtmäßige Volksvertretung wegzufegen ist, ich will nicht glauben, daß dieser Volksvertretung überhaupt irgend etwas Derartiges drohen könnte. Glaubte ich das tatsächlich, würde ich keine Austrittserklärung formulieren, die letzten Endes – wenn man meine Worte richtig interpretiert – doch ein positiver Schritt ist. Denn nach vielen «Worten, Worten, Worten» ist es, glaube ich, an der Zeit, daß endlich jemand existentiell, unter Aufgabe eventueller Vorteile und ein Risiko für seine Situation, seine Person eingehend, gegen das im Land wütende politische Dilettantentum protestiert. Ich wiederhole: Jawohl, es ist unerträglich, daß mitten in einer das Land belastenden moralischen Krise Personen des öffentlichen Lebens, ja sogar mit öffentlichen Ämtern, Ansichten verkünden, die auch als Privatmeinung außerordentlich fragwürdig, selbst- und gemeingefährlich sind.

Mit dem heutigen Tag trete ich also unter Bedauern aus den Mitgliedsreihen des Ungarischen Schriftstellerverbandes aus, weil ich es als unmöglich empfinde, weiterhin Mitglied eines Verbandes zu bleiben, der zwar dem Namen nach ungarisch ist, dessen – einer – Co-Präsident jedoch in einem Artikel entschieden in Zweifel zieht, daß ich als ein dem «Judentum» Zugehöriger mit den Ungarn eines Sinnes sein könnte.

Ich bitte Sie, meinen Austritt freundlichst zur Kenntnis zu nehmen; gleichzeitig bitte ich, diese Austrittserklärung den Mitgliedern freundlicherweise in vollem Umfang bekanntzumachen, wie es dem ungeschriebenen moralischen Gesetz und, soviel ich weiß, auch den geschriebenen Vorschriften entspricht.

 

Hochachtungsvoll

Imre Kertész

10

Budapest, 4. Oktober 1990

Liebe Eva,