Galeerentagebuch - Imre Kertész - E-Book

Galeerentagebuch E-Book

Imre Kertész

0,0
9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

In einer Gesellschaft, «in der man nur leben kann und darf, wenn man ihr den Rücken kehrt», führte Imre Kertész jahrzehntelang, gleichsam als Gefangener seiner Erfahrungen, eine Geheimexistenz: zurückgezogen, ganz und gar ausgerichtet auf das Schreiben, jene Zwangsarbeit, ohne die das Sein unerträglich war. Sein «existentielles Tagebuch» will weder Arbeitsjournal noch Chronik der laufenden Ereignisse sein. Gleichwohl hält es Beobachtungen fest, etwa anläßlich einer Reise in die DDR 1980, in denen sich Kertész als einer der sensibelsten und klügsten Zeugen seiner Zeit erweist. «Tagebuchroman» nennt Imre Kertész seine Sammlung von Beobachtungen, Aphorismen und philosophischen Exkursionen aus dreißig Jahren. Im inneren Dialog mit Nietzsche, Freud, Camus, Adorno, mit Musil, Beckett, Kafka und anderen versucht er, Holocaust und Modernität, Totalitarismus und Freiheit zu Ende zu denken.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 325

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Imre Kertész

Galeerentagebuch

Roman

Aus dem Ungarischen von Kristin Schwamm

Rowohlt E-Book

Inhaltsübersicht

ZitateI Fährt hinausII TreibtIII Lässt los – holt herein – ist glücklichAnmerkungen
[zur Inhaltsübersicht]

Que diable allait-il faire dans cette galère?

Molière

 

… offenbar war dieses Zurückverfolgen eines Weges ein Teil der großen Prüfung; und selbst in diesem Augenblick wußte Martin, daß es kein Traum war, sondern ein seltsam symbolisches Bild der Zukunft.

Malcolm Lowry

 

Jeder Künstler ist heutzutage auf die Galeere seiner Zeit verfrachtet.

Camus

 

Nature will be reported.

Emerson

[zur Inhaltsübersicht]

IFÄHRT HINAUS(aufs offene Wasser)

1961 Vor einem Jahr habe ich mit der Arbeit am Roman angefangen.

Alles muß weggeworfen werden.

Ich bin im Park spazierengegangen, über brüchiges, dürres Laub. Auf dem Gras, das innen noch grün ist, rote und gelbe Blätter, auch die noch übriggebliebenen an den Eichen rundum sahen schon aus wie lauter verzagte Hände. Ich fühlte, wenn ich Geduld habe mit mir, wird das Wunder geschehen.

 

 

1963. WEIHNACHTEN Welche Möglichkeit hat die Kunst, wenn der Menschentyp, den darzustellen sie nie müde geworden ist (der tragische), nicht mehr existiert? Der Held der Tragödie ist der sich selbst hervor- und zu Fall bringende Mensch. Der Mensch heute jedoch paßt sich nur noch an.

Der funktionale Mensch. Die Ausprägungen und Organisationen der modernen Daseinsstruktur, innerhalb deren das Leben des funktionalen Menschen abläuft wie der Kolben in einem gut isolierten Glaszylinder. Aber Vorsicht: Der funktionale Mensch ist ein entfremdeter Mensch, er ist dennoch nicht der Held der Zeit: Der entfremdete, der funktionale Mensch hat ja gewählt, auch wenn seine Wahl im wesentlichen eine Absage ist. Woran? An die Wirklichkeit, die Existenz. Denn er bedarf ihrer nicht: Die Wirklichkeit des funktionalen Menschen ist eine Pseudowirklichkeit, ein das Leben ersetzendes Leben, eine ihn selbst ersetzende Funktion. Zwar ist sein Leben meistens ein tragisches Vergehen oder ein tragischer Irrtum, jedoch ohne die notwendigen tragischen Folgen; oder eine tragische Folge ohne das notwendige tragische Vorgeschehen, da die Folgen nicht durch die Eigengesetzlichkeit von Charakter und Handlung auferlegt wurden, sondern durch das – für den Einzelnen immer absurde – Bedürfnis nach Ausgewogenheit der gesellschaftlichen Organisation. Das Leben des Einzelnen ist nur Symbol eines vergleichbaren Lebens, ihm ist im voraus ein Platz bestimmt und zugewiesen, den er nur noch auszufüllen hat. So lebt niemand seine eigene Wirklichkeit, sondern jeder nur die eigene Funktion, ohne das existentielle Erlebnis seines Lebens, das heißt ohne ein eigenes Schicksal, das für ihn Gegenstand von Arbeit – einer Arbeit an sich selbst – bedeuten könnte. Der Horizont des funktionalen Menschen ist nicht der «bestirnte Himmel über ihm» und auch nicht das «moralische Gesetz in ihm», sondern die Grenzen seiner eigenen organisierten Welt: die schon erwähnte Pseudowirklichkeit.

Wie dies alles in der Kunst als technisches Problem erscheint: Das realitätslose, funktionale Leben eignet sich nicht als künstlerischer Stoff. Das Nichts durchflimmert dessen Schicksal, da diesem Schicksal jener Sinn fehlt, in dem die Möglichkeit der Tragödie steckt.

Die Krise der «Humanität», die Falle der «Humanität», die dem «Künstler» vor die Füße geworfen wird – worum handelt es sich dabei überhaupt? Moralische Gemeinschaft – «Engagement» –, oder da stehen, wo «Gut und Böse sich scheiden»? Wenn die Gesellschaft alle ihre moralischen Ängste im Kollektiv auflöst, dann bleibt nur strikter Vorbehalt. Das Gebot: Du kannst dich mit allen Problemen des Lebens beschäftigen, nur mit dem Leben selbst als Problem kannst du dich nicht beschäftigen. Das Leben ist nämlich – sozusagen – ein Diktat. Darüber zu diskutieren ist von der Zensur streng verboten. Der Selbstmord ist Desertion. Unter diesen Umständen wird die Kunst (Literatur), die statt des Problems des Lebens nur noch Lebensprobleme sehen will, selbst zu einer funktionalen, angepaßten Kunst, zu einer Pseudokunst. Was ist hier Begabung wert? Sie ist eher ein Nachteil, eine Bürde. Noch nie war «Methode» so dringend erfordert.

 

 

1964 «Ein Bild muß mit demselben Gefühl gemacht werden, mit dem ein Verbrecher seine Tat ausführt»: Degas. – Das ist die eine Seite des Problems; die andere ist, daß die Behörden mit den besseren Künstlern heute geradeso wie mit Verbrechern umgehen.

 

Snows berühmter Essay über die «zwei Kulturen». Nur daß Kunst nicht Wissenschaft und Wissenschaft nicht Kunst ist und sie heute beide zu verschiedenen Seiten gehören, zu – wie immer wir sie nennen – auf jeden Fall gegensätzlichen Seiten.

Wenn die Kunst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Leben als etwas Einheitliches, zu Beherrschendes, in das Joch der reinen, naturwissenschaftlichen und humanistischen Vernunft zu Spannendes zu betrachten sucht, so entsteht daraus (um euphemistisch zu sein:) schlechte Kunst. Die Zeit der Frömmigkeit ist endgültig vorüber. Der Kult der Lebensfreude ist nicht mehr ehrlich, und wo er hervortritt, trägt er stets aggressiven und wütenden Charakter. Leben unter allen Umständen – das ist das Problem, vielleicht das Problem.

 

Das Unmoralische am Kunstgenuß. Das Publikum erleidet das Werk nicht, sondern ergötzt sich an ihm.

 

Die Kunst kann das Leben nicht mehr als System logischer Zusammenhänge zeigen. Auf der anderen Seite ist jeder Kunstgegenstand (jedes Kunstwerk) ein System logischer Zusammenhänge.

 

Ein schwüler Sommervormittag. In der Kirche. Kühle Marienstatuen, Wachsbabys, einige Betende. Die Gebärden, die Kniefälle, die Verbeugungen, die den anderen verstohlen beobachtende, eitle Andacht. Ist es möglich, die Sinnlosigkeit der Welt, den Gedanken an die totale Vernichtung, die auf unser einmaliges Leben folgt, anzunehmen, ohne daß wir verzweifeln, ja, so daß wir sogar noch Kraft schöpfen aus diesem Gedanken? Hier würde die Freiheit beginnen. In gewissem Sinne auch die Andacht.

 

 

JULI Zwei Wochen in Deutschland. Ich war in Buchenwald und in Zeitz bei der Fabrik. Habe den Sandweg wiedererkannt. Ein junger Bursche radelte in Arbeitskleidung darüber, er musterte mich aufmerksam. Sicher kam ich ihm fremd vor. Er ist schmaler, als ich ihn in Erinnerung hatte (der Weg, meine ich). Die Fabrik grüßte herüber: Die großen Kühltürme husteten; auch diesen Laut hatte ich vergessen, doch ich erkannte ihn sofort, und welche Erinnerungen rief er wach! Ich glaube (bin sogar fast sicher), auch den Platz des Zeitzer Lagers gefunden zu haben. Ein Staatsgut und ein riesiger Viehstall stehen an dieser Stelle. Die großen Momente des Wiedersehens habe ich nicht erlebt. Die Zeit, die gute alte Zeit, und wie deren Meister, Proust, sagt: «Die Wirklichkeit, die ich einst kannte, existierte nicht mehr.» Und: «… Häuser, Straßen, Avenuen sind flüchtig, ach! wie die Jahre.»

 

Varianten des Pessimismus. – Der dogmatische Pessimist. Zumeist der verirrte Kleinbürger. Dogmatischer Pessimismus mündet gewöhnlich in dogmatischem Weltverbesserertum. Der dogmatische Pessimismus als Kunst: immer Moralismus. Sein häufigster Gegenstand ist die Freudlosigkeit (die unangenehme, jeder Erlösung ermangelnde Beschreibung einer empörenden gesellschaftlichen Ungerechtigkeit oder eines langen Todeskampfes etwa, wie bei Simone de Beauvoir, «Ein sanfter Tod»). Der moralisierende Künstler bleibt letztlich immer beim persönlichen Fall und bei der fruchtlosen Empörung.

Romantischer Pessimismus. Er weist die Welt ab, flüstert uns dabei aber seine Geheimnisse ins Ohr. Wie der Gelegenheitsschwindler erschleicht er sich unsere knausrig versteckte Sympathie. Seiner unterschwelligen Tendenz nach ist dieser Pessimismus nämlich Klage, Ergebenheit und Flehen. In den schlimmsten Formen ein verhülltes Appellieren an den «nüchternen Verstand». Dieser Appell an die triumphierende Welt findet immer Gehör. Ergebnis: ein sentimentales Sichumarmen, der Henker verzeiht dem Opfer. – Aufpassen also, nach einer geschlossenen Form streben, den Inhalt gleichsam hinter eine Glasscheibe stecken, gut sichtbar, aber unantastbar.

Mein letztes Argument gegen den Moralisten, daß er sich stets im Kreis des Gegebenen bewegt. Man läßt ihn seine Rolle spielen, während er glaubt, daß er es ist, der sie spielt. Der Moralist kann kein Künstler sein, weil er die Welt nicht schafft, sondern über sie richtet und so eine völlig überflüssige Arbeit erledigt. Um sich selbst zu rechtfertigen und als Entschädigung, wenn nicht gar aus Rache, zeigt er sein Opfer, den Menschen, als einen ewig moralisch Leidenden, wofür ihn dieser in der Realität natürlich kräftig auslacht. Denn in der Realität ist die Moral ein zwar unabdingbares, zugleich jedoch auch das biegsamste Element menschlichen Verhaltens, und mir ist noch kein moralischer Mensch begegnet, der nicht seine eigene moralische Wahrheit, ja Überlegenheit empfunden hätte. Nicht die Moral: die Spiele, die mit ihr getrieben werden, im Spiegel des Bewußtseins und des Lebenswillens, das ist das Interessante, vornehmlich unter den Bedingungen der totalitären Diktatur.

Totalitarismus und Theater: ein seit langem latent bestehender Zusammenhang. Das Theater als Unterhaltungsbetrieb. Die Degradierung des Publikums zur Masse. Entfremdeter Kunstgenuß als Freude und Entzücken des zur Masse gewordenen Publikums: Man genießt nicht den künstlerischen Gehalt, sondern die Hinterhältigkeit und die Technik, mit der man beherrscht wird. Die behaarte Hand, die ihr Opfer in Zuckersirup ertränkt. Die Geburt des Terrors aus dem Geist der Komödie.

 

Auch das Böse besitzt eine Ethik. Das Ethische ist jenes transzendente Licht, das jeden Stoff durchstrahlt; ohne dieses Licht wird alles zweifelhaft und unannehmbar, seine Gegenwart jedoch läßt jeden Widerspruch verstummen: Offensichtlich steht es in einem engen und tiefen Zusammenhang mit dem Tod.

 

Im Leben des Menschen kommt der Moment, in dem er sich plötzlich seiner selbst bewußt wird und seine Kräfte frei werden; von diesem Moment an können wir uns als uns selbst betrachten, in diesem Moment werden wir geboren. Der Keim des Genies steckt in jedem Menschen. Aber nicht jeder Mensch ist fähig dazu, aus seinem Leben sein eigenes Leben zu machen. Die wahre Genialität ist die existentielle Genialität. Ich wage zu behaupten: Nahezu alles Wissen, das nicht unmittelbar Wissen über uns selbst ist, ist umsonst.

 

He was a loneley ghost uttering a truth that nobody would ever hear. But so long as he uttered it, in some obscure way the continuity was not broken. It was not by making yourself heard but staying sane that you carried on the human heritage.

(Er war eine einsame Spukgestalt, die eine Wahrheit verkündete, die niemand jemals hören würde. Aber solange er sie verkündete, war auf unergründliche Weise die Kontinuität nicht unterbrochen. Nicht indem man sich Gehör verschaffte, sondern indem man bei gesundem Verstand blieb, bewahrte man das Erbe der Menschheit.) Shakespeare[1]

 

Burckhardt über Giotto: er habe «jeder Tatsache ihre bedeutendste Seite abgewonnen».

 

Konformismus: Wenn der Mensch nicht Einklang mit der Wirklichkeit sucht, sondern mit den Tatsachen. Was ist Wirklichkeit? Verkürzt gesagt: wir selbst. Was sind Tatsachen? Verkürzt gesagt: Absurditäten. Die Verbindung von beiden, verkürzt gesagt: ein moralisches Leben, Schicksal. Oder: keine Verbindung, das Akzeptieren von Tatsachen, eine Reihe von Zufällen und die Anpassung an sie. So wird auch der Konformist selbst zu einer Tatsache, zu einer Absurdität. Er verliert seine Freiheit, sprengt seinen Mittelpunkt und zerstreut sich in der Leere der Tatsachen. Aus den unbekannten, in heillose Ferne entgleitenden Teilchen kann er sein ihm selbst fremd gewordenes Leben niemals wieder zusammensetzen. Der Mensch wandelt sich in sein Gegenteil: in eine Maschine, in einen Schizophrenen, ein Ungeheuer. Er wird Opfer und Henker.

 

 

1965. FEBRUAR Hemingway: «Manchmal hatte ich Glück und schrieb besser, als ich schreiben kann.»

Sartre: Es gibt keine Charaktere, nur «in die Falle gegangene Freiheiten», und die Art des gefundenen Ausweges macht den Wert des Menschen aus. – Der typische Moralist. Doch unter dem Gesichtspunkt der Romantechnik eine wichtige Bemerkung.

 

Schließlich lenkt ein freiwillig und ganz nach Belieben gewähltes Element: der Stil, die Aufmerksamkeit auf die philosophischen Ansprüche, die der Gegenstand erhebt. Wenn das Leben so ist, wie der Stil es will, kann das Urteil, das darin latent enthalten ist, nur Ablehnung sein. Die sich, da von totalitärer Diktatur die Rede ist, paart mit der gut organisierten Unmöglichkeit der Tat: Beides zusammen bildet die Grundlage von Ekel und Traumempfinden.

 

 

1. MAI «Roman einer Schicksalslosigkeit» – als möglicher Titel, unbedingt aber als Untertitel.

Was bezeichne ich als Schicksal? Auf jeden Fall die Möglichkeit der Tragödie. Die äußere Determiniertheit aber, die Stigmatisierung, die unser Leben in eine durch den Totalitarismus gegebene Situation, in eine Widersinnigkeit preßt, vereitelt diese Möglichkeit: Wenn wir also als Wirklichkeit die uns auferlegte Determiniertheit erleben statt einer aus unserer eigenen – relativen – Freiheit folgenden Notwendigkeit, so bezeichne ich das als Schicksalslosigkeit.

Wesentlich ist, daß die Determiniertheit immer im Gegensatz stehen muß zu den natürlichen Ansichten und Neigungen, denn so tritt die Schicksalslosigkeit in chemisch reinem Zustand auf.

Die beiden Möglichkeiten des Schutzes: Wir verwandeln uns, gewissermaßen aus freien Stücken, in unsere Determiniertheit (in Kafkas Tausendfüßler) und versuchen so, diese Fremdbestimmung dem eigenen Schicksal anzuverwandeln; oder wir revoltieren dagegen und werden so zu Opfern unserer Determiniertheit. Keines von beiden ist demnach eine wirkliche Lösung: In beiden Fällen sind wir gezwungen, unsere Determiniertheit (eine ganz und gar äußere Willkür, die wir gleichsam als Naturgegebenheit akzeptieren müssen, wohl wissend, daß sie theoretisch unserer menschlichen Macht untersteht, es aber dennoch nicht in unserer Macht steht, etwas daran zu ändern) als Realität aufzufassen, während die determinierende Kraft, diese absurde Macht, in gleicher Weise über uns triumphiert: Sie erfindet uns einen Namen, der nicht unser Name ist, und macht uns zu ihrem Objekt, obgleich wir zu anderem geboren sind. Das Dilemma meines «Muselmans»[2]: Wie kann er ein Schicksal aus der eigenen Determiniertheit gestalten. Diese Determiniertheit läßt sich ja nicht fortsetzen: Sie verliert ihre historische Gültigkeit und wird von allen geleugnet. So daß von ihr nichts bleibt außer der Erinnerung an körperliches Leid. Nun, und die Aussicht auf neue Determiniertheiten, die einem bevorstehen.

 

 

JUNI Gide führte die action gratuite, die «zweckfreie Tat», ein. Ich entdecke deren Gegenteil: «zweckfreies Dulden».

 

Seit vier Jahren arbeite ich an dem Roman – oder eher an mir selbst? Um sehen zu können? Und reden zu können, nachdem ich gesehen habe?

 

Vielleicht macht nicht irgendeine Begabung den Menschen zum Schriftsteller, sondern die Tatsache, daß er die Sprache und die fertigen Begriffe nicht akzeptiert. Am Anfang ist er, glaube ich, einfach nur dumm, dümmer als alle anderen, die alles sofort verstehen. Dann beginnt er zu schreiben, wie jemand, der von einer schweren Krankheit genesen und seinen Wahnsinn bezwingen will – wenigstens so lange, wie er schreibt.

 

Die unglaubliche Blindheit des menschlichen Bewußtseins kann mich noch immer erschüttern. Sie reden vom Essen und von der Mittagsruhe und merken nicht, daß das Kanapee, auf das sie sich niederlegen, ihr Sarg ist.

 

Niemals könnte ich eines anderen Menschen Vater sein.

 

In ihm ist weder Aufruhr noch Haß. Ein gefügiger Soldat in den Händen der ärztlichen Obrigkeit. Im anderen Bett der haßerfüllte junge Mann. Nach langem Schweigen sagt er beinahe zähneknirschend zu seiner Frau: «Es wird wieder Frühling.» – Welchen Nutzen hat das eine oder das andere Verhalten? Was bewegt den Menschen? Was hält ihn im Zaum, und was bringt ihn zur Raserei? Nutzlose, unfruchtbare Beobachtungen.

In diesem Stadium des Todeskampfes stellte sich Wut ein. Er lag mit geschlossenen Augen da und hickste. So als sei er nicht bei Bewußtsein: Es war jedoch nur ein Spiel. In dem Moment, wo meine Mutter sich von ihm abwandte, um etwas auf dem Tisch zurechtzurücken, öffnete er die Augen halb und blickte sofort zu ihr. Eine unerhörte Verschlagenheit lag in diesem Blick. Seine Schwägerin, die er nicht ausstehen kann, empfing er wieder mit geschlossenen Augen. Zur Seite hin, zu meiner Mutter und mir, machte er rasche, Ruhe gebietende Bewegungen mit der Hand. Später wiederholte er diese Bewegung mehrmals, als sei er in eine Arbeit vertieft, die außerordentliche Konzentration verlange und bei der er nicht gestört werden dürfe. Auf jedes Stuhlscharren, jedes Geräusch reagierte er mit unerhörter Gereiztheit, und zwar nicht, als bereiteten ihm diese Geräusche Pein, vielmehr als störten sie ihn bei seiner Arbeit. Er konzentrierte alle Aufmerksamkeit auf seine Atmung, seine Herzschläge und seine Schmerzen, bemüht, irgendwie Ordnung zwischen ihnen zu halten, und er bedurfte zu dieser Arbeit augenscheinlich der Einsamkeit. Als mit lautem Knall die Papiertüte mit den Bananen zerplatzte. Gequält, doch mit heimlichem Triumph, wandte er den Kopf ab: Alles bestätigte ihn.

 

 

1966 Der Schriftsteller darf keine unvernünftigere Welt schaffen als Gott.

1. Proportionen: Das Problem von Maß und Material. Kafka und Faulkner (besonders «Licht im August»). Fülle und Überangebot von surrendem Lebensstoff zeigen ihn als finsteren Herrn des Lebens. Dennoch weiß Kafka mehr über das Leben, kennt dessen dunkle Geheimnisse besser. Wieso ist er erhabener, also trotz allem heiterer und trostreicher? – Der das Gesetz kennt, läßt den, der Bilder schnitzt, verstummen.

2. Die Persönlichkeitsfalle, Psychologie, Leidenschaft. Wieviel haben wir wirklich zu tun mit unseren Leidenschaften, wie groß ist unser Anteil daran genau? – Swanns Welt. Meursaults Revolverschuß. Näher betrachtet: In den Folterkammern des totalitären Staates individuelle psychologische Tatmotive aufzeigen. Vergeblich allerdings, denn hier ist nur die Rolle wesentlich, die Tatsache, daß der Mensch fähig ist, Henker oder Opfer zu sein, und im Getriebe der Todesmaschinerie wie ein Rädchen funktioniert: keinesfalls unter Berücksichtigung des Einzelfalls. Das Individuum kann hier, wenn es überhaupt in jemandem zu Wort kommt, höchstens seine Vergangenheit betrauern. Unter diesem Aspekt gibt es also keine vielgesichtige Menschheit, keine komplizierten und vielschichtigen Charaktere und keine besonderen Persönlichkeiten, ist das Wesen des Totalitären doch gerade die Gleichförmigkeit.

3. Romanheld. Wie aber, wenn der Mensch nicht mehr ist als seine Situation, die Situation im «Gegebenen»? – Vielleicht ist nichtsdestotrotz etwas zu retten, eine kleine Ungereimtheit, etwas letztlich Komisches und Hinfälliges, das vielleicht ein Zeichen von Lebenswillen ist und das immer noch Sympathie erweckt. Schließlich die Frage der Undarstellbarkeit des funktionalen Menschen. Übernehmen wir seine Darstellung jedoch, so bleibt immer noch die Frage, aus welchem Blickwinkel haben wir ihn darzustellen? Sehen wir seine Situation als tragisch an, so beklagen wir ohne Zweifel etwas Nichtexistentes, das falsche Bewußtsein der Kulturwelt, das vor Auschwitz bestand (und zu Auschwitz führte); einen Humanismus, der niemals existierte. Ist das nicht absurd anachronistisch? Ist das nicht absurd harmlos? Das heißt: Ist das nicht Lüge?

Die daraus folgende und die größte Frage also: Wie können wir eine Darstellung aus dem Blickwinkel des Totalitären vornehmen, ohne den Blickwinkel des Totalitären zum eigenen Blickwinkel zu machen?

 

Nicht die Juden, sondern der Mensch, der gelegentlich Jude ist: «Jude» als Situation im Totalitarismus.

 

Schopenhauer: «Denn nicht in der Weltgeschichte … ist Plan und Ganzheit, sondern im Leben des Einzelnen.» Und «… die Einzelnen sind das Reale.» Und insbesondere: «Weder unser Thun, noch unser Lebenslauf ist unser Werk; wohl aber Das, was Keiner dafür hält: unser Wesen und unser Daseyn.»

 

Der Gedanke, daß auch nur irgend jemand mein heimliches Tun und die damit verbundene Lebensweise verstehen könnte, ist mir so fremd, daß ich imstande bin, mit wem auch immer völlig ungezwungen über mich selbst zu witzeln, ohne mir dabei auch nur im geringsten Maße lächerlich vorzukommen.

 

Werde ich fähig sein, das Konzentrationslager so, wie es erforderlich ist, wiederaufleben zu lassen? Kann es sein, daß vielleicht darin der tiefere Sinn meiner seltsamen Lebensweise, meiner freiwilligen Einkerkerung besteht? Und kann es sein, daß mit der Beendigung des Romans meine gesonderte, eigene Befreiung erfolgt?

 

Kierkegaard: Das «Gegebene» zu akzeptieren bedeutet nichts anderes, als Konventionen und verhängnisvolle Zufälle zu akzeptieren. – Nicht wahr?!

 

Robbe-Grillet: «Da der Begriff Welt nicht in Frage gestellt war, konnte das Erzählen auch kein Problem bedeuten» (im letzten Jahrhundert). Dann: «Letztlich gibt es nichts Phantastischeres als die Genauigkeit» – über Kafkas «Schloß» (wenngleich natürlich auch die Genauigkeit nur Fiktion ist, das heißt eine Frage der Wahl).

 

Kain und Abel. Höhepunkt, zweifellos, der Dialog zwischen Kain und dem Herrn. Die fast aufwieglerische Mahnung, dann das blinde Schweigen Gottes bis zur Tat. Anschließend hält er seine schützende Hand über den Mörder. Was für ein Seelenschacher! Wie ein Diktator.

 

 

1968. 28. JULI Wie interessant doch Einleitungen sind! In einer umfänglichen Einführung zur «Kritik der Urteilskraft» von 1966 (die dem Leser im wesentlichen dringlich von Kant abrät) können wir lesen, daß die Ästhetik, der Sinn für Ästhetik, alles Ästhetische «natürlich (!) keine anthropologisch bedingte Eigenschaft des Menschen ist». Jawohl: Dem Menschen alles nehmen, was ewig und unabänderlich, was Gesetz in ihm ist, um ihn so betrachten zu können, wie man ihn haben will: als ein dem Totalitären ausgeliefertes, substanzloses Wesen, als funktionalen Menschen.

 

Gilberts «Nürnberger Tagebuch», die seltsamen Bezüge zu meiner Arbeit. Zum Beispiel die Worte Keitels, nach denen Hitler versuchte, Dinge als «unumgängliches Schicksal» erscheinen zu lassen, die durchaus nicht unumgänglich waren, die auch ganz anders hätten geschehen können oder sogar überhaupt nicht hätten geschehen müssen. Das ist die Erfahrung von «Schicksalslosigkeit» auf anderer Ebene. Alles treibt im Totalitarismus im Zeichen von Verhängnis und Schicksal. Diese Begriffe sind dazu berufen, das Nichts zu verhüllen, das absolute NICHTS, das trotzdem Leichenberge, Verwüstung und Schande erzeugt.

Über den Lagerkommandanten von Auschwitz, Rudolf Höß, schreibt Gilbert: «Man bekommt den allgemeinen Eindruck eines Menschen, der intellektuell normal ist, doch versunken in schizoider Apathie, Unempfindlichkeit und fehlendem Einfühlungsvermögen …» Eine treffende Diagnose, nicht nur für Höß, sondern für die Krankheit, mit der der Totalitarismus den Menschen infiziert. Ebendarum finde ich auch G.s spätere Bemühungen, bei Höß spezielle Motivationen (Eltern, Erziehung, Ehe, Sexualleben usw.) aufzuzeigen, uninteressant. Schließlich hat jeder Mensch seine Geschichte, die besagte schizoide Apathie aber ist kein individuelles Produkt: Sie läßt sich bei Untergebenen und Vorgesetzten von Höß und Häftlingen in Auschwitz ebenso aufzeigen wie bei Höß selbst, während ihre individuellen Motivationen völlig voneinander abweichen.

 

Sie werden erniedrigt, damit man von ihnen sagen kann: Sie haben sich erniedrigt.

 

Bis ins Innerste der Figuren und Begriffe eindringen – mit den Mitteln des Äußeren. Nur das Sagbare sagen und darauf vertrauen, daß das nur aus Sagbarem bestehende fertige Werk in seiner Geschlossenheit – und seiner Wortlosigkeit – mehr über das Unsagbare sagen wird, als versuchte ich, es direkt zu fassen. Die Geschichte eines Persönlichkeitsverlustes, sich ebenso langsam und unerbittlich entfaltend wie die vom Werden einer Persönlichkeit. Die alten Worte der Moralität benutzen, um deren Absurdität aufzuzeigen. Man muß dabei nicht an Nietzsche (den «ersten Immoralisten») denken: sondern an eine Welt, in der es weder den Glauben an Gott noch dessen Verleugnung gibt und die Tat sich in ihrer Besonderheit, ihrer Einmaligkeit zeigt, ohne jede verpflichtende Wertordnung, in dem allgemeinen Konflikt der Eventualität des Verlaufs und dem allgemeinen des Systems der Verläufe, diesem tiefgehenden, quälenden Geheimnis gemäß. – Aus diesem Grunde übrigens ist die Erfahrung des Staatstotalitarismus für die Existenz und Persönlichkeit europäischer Prägung, die eine bestimmte ethische Kultur und Tradition sozusagen als Trauma erfahren hat, wichtiger geworden als alles andere; denn diese Erfahrung hat nicht nur den Mythos der Persönlichkeit völlig entkräftet, sondern fast schon den Begriff.

 

Jene falsche Behaglichkeit, mit der ein so skandalöses und nicht im geringsten natürliches Ereignis wie die Geburt eines Kindes aus dem Leib der Mutter durch deren Geschlechtsorgane hindurch behandelt wird.

 

 

1969. OKTOBER Im nächsten Kapitel komme ich in Auschwitz an.

 

Nichts können wir uns vorstellen ohne einen Himmler, der sich bei den Minsker Massenhinrichtungen und – angeblich – auch am Guckloch der Gaskammer von Auschwitz übergeben muß. Ohne Zweifel: er hat den kategorischen Imperativ Kants so interpretiert. – Delarues ausgezeichnete Charakteristik Himmlers: Er habe die Ethik ernst genommen. Der Analyse des Doktor Bayle kann ich nicht mehr zustimmen: «… von Geburt an besaß er keinen Sinn für abstrakte Begriffe» – im Gegenteil, ich meine, er besaß nur Sinn für abstrakte Begriffe, litt dagegen unter einem grundlegenden Phantasiemangel, den wir, nebenbei bemerkt, an fast sämtlichen «Führern» beobachten können. Das «gleichsam mechanische Funktionieren seines fast schon als pathologisch zu betrachtenden Denkens» ist dagegen völlig zutreffend beobachtet, und mit dieser Krankheit ist das Fehlen des einfachen Realitätssinns, das Fehlen von Phantasie verwandt. Im wesentlichen ist es die gleiche «schizoide Apathie», die Gilbert bei Höß diagnostiziert hat.

 

 

1970. 26. DEZEMBER Weihnachtsmorgen. Erregt und unentschlossen. Ich benötige unbedingt eine Klärung und theoretische Untermauerung für das Romanschreiben. Was mich beschäftigt, ist: Durch die Lektüre Adornos sehe ich wieder völlig klar, daß die Technik meines Romans der Zwölfton- bzw. Reihentechnik, also einer integralen Kompositionsmethode, folgt. Sie verbietet freie Charaktere und die Möglichkeit einer freien Wendung der Erzählung. Die Charaktere sind hier thematische Motive, die innerhalb der Struktur der Totalität, welche von außen her über den Roman herrscht, auftreten; jedes dieser Themen wird von der STRUKTUR nivelliert, jeder Anschein von Tiefe des Individuums zum Verschwinden gebracht; ausschließlich in ihrer Beziehung zum kompositorischen Leitmotiv: zur Schicksalslosigkeit, können sich diese Themen «entwickeln» und variieren. Das gleiche gilt auch für die Erzählung selbst. Der Verlauf der Erzählung ist von vornherein durch die STRUKTUR festgelegt, Wendungen wie Fluchten, anekdotische Teillösungen, beruhigende oder phantastische Elemente und «Ausnahmen» können hier also nicht in Betracht kommen. Desgleichen entfällt die psychologische Bestimmung, die totalitäre STRUKTUR diktiert die Erzählung, und die Erhellung besteht in der Prüfung unseres Anteils am Zustandekommen dieser STRUKTUR. Der Handlungsverlauf, die Themen entwickeln sich linear – es gibt keine «Reprise», nichts läßt sich umkehren oder wiederholen –, und wenn die Bearbeitung beendet ist, alle möglichen Varianten innerhalb der einzigen bestehenden Möglichkeit ausgeschöpft sind, ist die Komposition abgeschlossen, und dieser Schluß läßt dennoch alles offen. – Das würde bedeuten, daß das Werk, statt «Darstellung» zu sein, sich das anverwandelt, was es darstellt: die äußere Struktur wird zur ästhetischen Struktur und gesellschaftliche Gesetze zu Gesetzen der Romantechnik. Der Text ist nicht Beschreibung, sondern selbst Ereignis, nicht Erklärung, sondern Gegenwart – besitzt immer und überall substantielle Funktion, niemals «äußerliche» oder «schriftstellerische», ist also niemals hohl. Ausgangspunkt ist nicht Charakter, Metaphysik oder Psychologie des Individuums, sondern ausschließlich jener Bereich seines Lebens, seiner Existenz, welcher – positiv oder negativ – mit der STRUKTUR verknüpft ist, den es hergegeben hat oder der ihm genommen wurde. Die übrigen Bauelemente des Individuums sieht der strukturelle Roman als zu vernachlässigende Größe an, weil sie schlicht eine zu vernachlässigende Größe sind. – Für den Roman wird demzufolge ein gewisser Mangel charakteristisch sein, der Mangel an «vollem Leben», wie die Ästheten es fordern, ein Mangel, der im übrigen in vollkommener Entsprechung zur verstümmelnden Zeit steht. – Diese Technik ist übrigens nur dann ein Sieg, wenn sie so «unhörbar» ist wie in einem dodekaphonen Musikstück. Wirken hingegen das Einmalige, Phantastische (das Phantastische der Genauigkeit), Gegenwärtigkeit und Schicksalslosigkeit wie das sich ereignende Leben, so wird das der Ertrag dieser Technik sein.

 

 

1971. APRIL Ich muß mich damit abfinden, daß ich mit einem kontrollierten und kontrollierbaren Stoff arbeite. Die Obligata des Stoffs nicht nur nicht vermeiden, sondern streng an ihnen festhalten: das Verladen in die Waggons, die Fahrt, die Ankunft in Auschwitz, die Selektion, das Baden und die Kleiderausgabe – alles eine obligatorische Folge von Momenten, genau wie die in Register gefaßten Obligata des Kreuzwegs in den mittelalterlichen Passionsspielen. Alles in allem lautet die große Frage: Wie kann man die nicht zu überbrückende Kluft zwischen Stoff und szenischem Prinzip überwinden, wie das hinter der Stilisierung alle Augenblicke listig hervorblinzelnde Drama umgehen, das in dieser Situation einfach nicht wahr ist, das nur die Retrospektive andauernd hineindrängt – die «Geschichte», diese Konstruktion, welche die ursprünglich ganz anders verlaufenden Ereignisse im nachhinein festlegt.

 

Gott (beim Hineinsehen in ein Buch von Mary MacCarthy): Es ist, um Gottes willen! doch nicht wichtig, ob es ihn gibt oder nicht, sondern einzig und allein, warum wir glauben, daß es ihn gibt oder nicht gibt.

 

Den ganzen Vormittag vergleiche ich Landkarten. Langsam komme ich dahinter: Aus meinem Blickwinkel ist alles links, was auf der Rampe als rechts bezeichnet wird und also auch für den Selektionsoffizier rechts war. Mit der Lupe habe ich die (vielleicht in Técsö bei Máramaros aufgenommenen und im Eichmann-Prozeß verwendeten?) Fotos der Neuankömmlinge in Augenschein genommen. Lächeln, Zuversicht, Vertrauen. Jawohl, vorausgesetzt, daß der Mensch auch unter den Bedingungen des Totalitarismus am Leben hängt, so trägt er mit dieser Wesenheit zum Erhalt des Totalitarismus bei: Das ist der einfache Trick der Organisation. Das Gefühl der Entfremdung, mit dem sich der Mensch dem Totalitarismus gegenüber verhält, ist ausschließlich mit dieser Erkenntnis zu beseitigen. Diese Erkenntnis und deren Akzeptanz bedeuten einen Akt der Freiheit; doch dieser Akt der Freiheit, diese Erhellung – und damit das Akzeptieren der eigenen Beteiligung – stößt immer auf das Verbot der Überlebenden. So kommt das Los der Schicksalslosigkeit zustande, so tritt der Mensch aus einer Entfremdung in die nächste, so hat nichts je ein Ende: Selbst den Toten droht man noch mit der Auferstehung.

 

Wer aus dem KZ-Stoff literarisch als Sieger, das heißt «erfolgreich», hervorgeht, lügt und betrügt todsicher: So schreibe deinen Roman.

 

Was die Sprache angeht: Die Totalität grenzt den Menschen sogar aus seinem eigenen inneren Leben aus, das ist immer zu beachten.

 

Weininger. Wie er versucht, die typischen Eigenschaften einer dünnen Kleinbürgerschicht, die aus deren typischer Situation resultierten – und mit denen er in Wien offenbar Bekanntschaft gemacht hatte –, als jüdische Eigenschaften hinzustellen. Eine tödliche Dummheit, die zahlreiche Anhänger gefunden hat; ihr abscheulichster Zug ist der brutale Selbsthaß, dieses knechtische Bewußtsein eigener Niedrigkeit, diese Krankheit, diese durchaus nicht «jüdische», sondern für eine dünne Kleinbürgerschicht typische Krankheit, dieses widerwärtige Aufgeben, dieses den Henkersknechten Entgegeneilen. In dieser Hinsicht hat Auschwitz mit seinen schrecklichen Flammen sozusagen die Luft gereinigt. Im Feuerschein von Auschwitz erscheint Weininger nur als ein besonders perverser Kapo, der außer den anderen in seiner Freizeit auch noch sich selbst quält.

 

 

1972 Das Phantastische und das Anekdotische: Sie sind nur zu rechtfertigen, wenn die Darstellung offenbart, daß sie auch nur Teile, ja geradezu gesetzmäßige Elemente der STRUKTUR sind. So wird der Akt der Rettung, strukturell gesehen, ebenso zur Absurdität wie der Akt der Gefangennahme und der Einlieferung ins KZ und ist als solcher, musikalisch gesprochen, nichts weiter als ein Krebsgang der Reihe, jedoch (bzw. also) im wesentlichen aus dem gleichen Stoff.

 

 

JUNI Ich glaube, meine Romanfigur ist eine mit keiner anderen vergleichbare, in der Hinsicht, daß sie nur aus Determiniertheiten, Reflexionen und Tropismen besteht: Immer und überall ist es ausschließlich die durch die Welt erlittene Qual, die sie Sprache werden läßt, sonst würde sie nicht einmal reden können; niemals ist sie es, die die Welt Sprache werden läßt. (Wie selbst Meursault es tut, zum Beispiel: «Der Himmel war grün, und ich fühlte mich wohl.» – «Ich hatte ein Fenster offengelassen, und es tat gut, die Sommernacht auf unseren braunen Körpern zu spüren.» Und so fort.)

 

 

1973. AUGUST Strand, Schwimmen. Dostojewskij, «Die Dämonen». Stawrogin ist ebenso gewaltig und überdimensioniert wie in den «Karamasows» – auf andere Art – Aljoscha. Auch in «Anna Karenina» ist alles überdimensioniert und gewaltig. Wenn ein Volk seine Berufenheit empfindet, geht daraus immer die Bibel hervor, biblische Literatur; vielleicht ist der Atheismus auch nichts anderes als die Freiheit der Nationen ohne Zukunft (und ich meine das im weitesten Sinne).

 

Macht, ins Literarische projiziert: das Privileg des Rechts auf Objektivierung.

Es wäre interessant, die Manifestationen des Geistes im Lauf der Jahrhunderte einmal aus diesem Blickwinkel zu betrachten: Das wäre die wahre Prüfung, die Geistesgeschichte der Macht, wenn ich so sagen darf.

 

Ich komme mit «diesem Thema» – so höre ich – zu spät. Es sei nicht mehr aktuell. Man hätte «dieses Thema» viel früher gebraucht, vor mindestens zehn Jahren usw. Ich dagegen mußte wieder einmal erkennen, daß mich nichts wirklich interessiert als einzig und allein der Auschwitz-Mythos. Denke ich an einen neuen Roman, denke ich wieder nur an Auschwitz. Ganz gleich, woran ich denke, immer denke ich an Auschwitz. Auch wenn ich scheinbar von etwas ganz anderem spreche, spreche ich von Auschwitz. Ich bin ein Medium des Geistes von Auschwitz, Auschwitz spricht aus mir. Im Vergleich dazu erscheint mir alles andere als Schwachsinn. Und gewiß, ganz gewiß nicht nur aus persönlichen Gründen. Auschwitz und alles, was damit zu tun hat (aber was hat schon nichts damit zu tun?), ist das größte Trauma der Menschen in Europa seit dem Kreuz, auch wenn es vielleicht Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern wird, bis sie sich dessen bewußt werden. Wenn nicht, ist sowieso alles egal. Aber warum dann schreiben? und für wen?

 

Das Wehgeschrei der geschlagenen Menschheit können die Exekutoren nicht ertragen. Wie in Folterkammern Schallplatten aufgelegt werden, um das Brüllen der Gequälten zu übertönen, so wird das dumpfe Grollen der Wahrheit mit dem billigen Radau der sogenannten humanistischen Literatur unterdrückt.

 

Wenn Gott tot ist, wer lacht dann am Ende?

 

Goethes Briefwechsel mit Schiller. Wie anmutig! Er gibt eine gewisse Vorstellung vom Paradies der Götter, aus dem wir für immer vertrieben sind.

 

Antal Szerb. Sein Ruhmesartikel auf die Kettenbrücke und seine heimliche Loyalitätserklärung 1942. Zwei Jahre später wurde er ermordet und die Kettenbrücke in die Luft gesprengt.

 

 

1974 Welche Leere! Welches Stürzen!

 

«Es stirbt ohne Tod auf den Fleck festgebannt / Wer sich nicht ermannt / Wenn des Unglücks nächtlicher Schoß ihn umspannt.» (Agrippa d’Aubigné)

 

«… als wollten die künstlerischen Verhaltensweisen reale einüben, die dem beschädigten Leben in der hereinbrechenden Eiszeit zu überwintern gestatten.» (Adorno)

 

Camus: «Alles aufschreiben – wie es kommt.» (Doch es kommt nicht.)

 

Der mir am meisten gemäße Selbstmord ist, wie es scheint, das Leben.

 

Der Klassizismus als Stilideal Hitlers (Buch von Albert Speer). Ihm graute ausgesprochen vor der Moderne. Jeder Diktator würde die Kunst ihres Ausdrucks berauben und sie zu bloßem Formalismus reduzieren: Am besten geeignet ist der Klassizismus, in dem er zugleich noch Monumentalität findet; obgleich auch ein gewisser Modernismus es tut, wenn er entsprechend leer und nicht mehr ist als Ornamentik.

 

Nietzsches Radikalismus. Dennoch konnte er es sich nicht versagen, auch ein Prophet zu sein. Paradox, aber in dieser Hinsicht ist Kant radikaler: Nichts zu wollen außer Kritik – dieses Maßhalten ist der wahre Radikalismus.

 

Auf das Unwahrscheinliche vertrauen als einen Ausgangspunkt des Weges, der zum Wahrscheinlichen, ja sogar zum Wahrhaften führt.

 

Ich staune nur und kann es kaum fassen: Sie ächzt nicht unter der eisernen Kralle der Tyrannei, sondern schnurrt.

 

Kafka. Ständige Kopfschmerzen. Schreiben, ängstlich und wütend Rechenschaft fordern, Rechenschaft ablegen über die schriftstellerische Produktivität, ohne auch nur einen Augenblick daran zu glauben, daß die Menschen ihn verstehen, ihn rezipieren, daß er überhaupt – eine im höheren Sinne verstandene – Geltung besitzt. Künstlerisch ist für ihn allein die Illegalität vorstellbar. Und für alles gibt es nur einen einzigen Grund: Prag. (Budapest.)

 

In meinem Galeerentagebuch blätternd: Wo ist mein Alltag, wo ist mein Leben? Existiert es nicht, oder ist es mir peinlich? Stilisiere ich mich vielleicht deswegen? Und wie sehr mit schwindender Überzeugung! … Was kann ich überhaupt tun? An «Literatur», an Fiktion glaube ich immer weniger. Der Mensch verbraucht nicht nur, er wird auch verbraucht; was von ihm der Kunst vorbehalten war (der beste Teil), scheint langsam verbraucht zu sein. Was bleibt? Vielleicht das Beispiel (die Existenz): mehr als Kunst und zugleich weniger. Das Verlangen, Zeugnis abzulegen, wächst dennoch, als sei ich der letzte, der noch lebt und reden kann, und ich richte meine Worte gleichsam an jene, die die Sintflut, den Schwefelregen oder die Eiszeit überleben – biblische Zeiten, große, schwere Kataklysmen, Zeiten des Verstummens. An die Stelle des Menschen tritt die Gattung, der Einzelne wird vom Kollektiv niedergetrampelt wie von einer entsetzt fliehenden wilden Elefantenherde.

 

Schweigen ist Wahrheit. Aber eine Wahrheit eben, die schweigt, und recht werden jene haben, die reden. Schweigen könnte nur dann eine wirksame Wahrheit sein, wenn es vollkommen wäre und wenn es Gott gäbe: wenn das Schweigen ein gegen Gott gerichtetes Schweigen wäre. In diesem Fall ließe sich von etwas wie einem Streik der Gattung Mensch reden, einer himmlischen Lohnforderung gleichsam an Gott.

 

Diese Stille, dieses Nichts: wie deprimierend. Doch etwas Mittelmäßiges würde mich noch mehr deprimieren. So ist es gut – noch eine Weile; und dann anders – oder gar nicht.

 

Die Philosophie der Zeit ist die Soziologie: Darin zeigt sich das Elend der Zeit.

Die Zeit aus dem Blickwinkel einer Elite beurteilen. Aber was für einer Elite? Was heißt Elite? Und wer bildet sie (falls man sie am Leben gelassen haben sollte)? Existiert eine «Rechtsnachfolge» des Geistes? («Die Dichter sind die Gesetzgeber der Welt», sagt Camus, Shelley zitierend, glaube ich.)

 

Malcolm Lowry, «Durch den Panamakanal». Eine große Entdeckung. Führt nicht der Weg des wahren Schriftstellers durch die Natur? Lese ich nicht zu viel Theorie? Bin ich nicht zu «literarisch», zu politisch, zu osteuropäisch, zu sehr aufs Rattenloch konzentriert, zu sehr von Überbaugeruch umgeben? Der Schriftsteller sollte immer vom Meer sprechen, und immer so, als sähe er es zum ersten – oder zum letztenmal: vom Meer, vom Vulkan, vom freien Menschen der Natur. (Gibt es den noch? Wir wollen ja nicht unbedingt über die Pygmäen schreiben.)

 

Meine schwere Kindheit und Jugend einmal zur Sprache bringen. Was war das Grundübel? Ekel, nein, eher ein Grauen, ein totaler Vorbehalt, die Ironie und die Kritik und die panische Unterdrückung des Grauens und des instinktiv kritischen Intellektualismus (also der einzig möglichen Gegenwehr) und das pausenlos schlechte Gewissen deswegen. Die Werte meiner Umgebung zu akzeptieren und meine eigenen für Niedrigkeiten zu halten. Daraus folgten sämtliche Debakel. Daß ich meinen Aufgaben nicht gerecht werden konnte (oder wollte?). Meine ständige Müdigkeit, Dumpfheit und Unaufmerksamkeit, das Fehlen äußerer und innerer Überzeugungen, das fortwährende Lügen, Fliehen, ja: Sichverstecken. Das Gefühl totaler Unfähigkeit. All das hielt lange, sehr lange an, bis schließlich, im Alter von etwa 26 oder 27 Jahren, das «Zerbrechen der alten Tafeln» in mir einsetzte. Immer noch jedoch begleitet von schlechtem oder doch rumorendem Gewissen und Schuldbewußtsein, das mich auch heute noch verfolgt.

 

Warum hing er trotz allem an Felice? Sie imponiert ihm auf schmerzhafte Weise. Sie repräsentiert das Über-Ich. Die Notwendigkeit, zu bewundern und zu entsagen: So müßte er leben – doch so kann er nicht leben. Sie heiraten und sich ein Kind von ihr wünschen – zugleich ständig vor ihr fliehen, ständig Kränkungen durch sie erleiden, sich verstecken, sterben. Alles das ist natürlich, nur allzu natürlich. Das Resultat des Familienlebens, die Hölle der bürgerlichen und kleinbürgerlichen Tugenden. Erziehen bedeutet: das schlechte Gewissen zunächst einpflanzen, durch sorgsames Gießen pflegen und darauf achten, daß es sich pathologisch fortentwickelt. Aber der Mensch gewöhnt sich an seine Qualen, liebt sie schließlich und hält sie zu guter Letzt noch für Tugenden.

 

Die Europäer sind diejenigen, die sich am intensivsten und am aggressivsten vor dem Tod fürchten. Die Kulturen anderer Erdteile machen das offensichtlich. Dort ist daher auch die «Selbstverwirklichung» nicht so wichtig.

 

Camus: In einer guten Tragödie haben alle Figuren recht.

 

«Sorstalanság» [Schicksalslosigkeit]: zwölf Buchstaben. Ein Zufall zwar, doch ein bezeichnender Zufall.

 

Ein Freund, den ich fünfundzwanzig Jahre nicht gesehen habe. Er sprach von irgend jemand, von mir, von dem, der ich einmal gewesen bin, den er einst kannte. Ich hörte ihm erstaunt zu und versuchte, dieser ihm vertrauten, mir aber längst fremd gewordenen Figur zu entsprechen. Endlich trennten wir uns, und ich konnte meine wiedererlangte Freiheit ungestört genießen: den, der ich schon lange nicht mehr bin, den, der noch trüb und unklar in mir im Werden dämmert, und diesen nicht zu Benennenden dazwischen, dessen änigmatisches Leben ich gerade lebe.

 

Nach Kafka erhebt die Fiktion die Forderung nach völliger Präsenz: Wie sehr unterscheidet sich das vom sogenannten «Engagement» Sartres und anderer. Der Schriftsteller, der sich «über die Schicksale beugt», das heißt der verlogene Schriftsteller, der moralisierende Schriftsteller, der tendenziöse Schriftsteller. Ein authentischer Ton kommt dagegen immer aus der Schwere des Schicksals, von einem vom Schicksal Heimgesuchten und nicht von einem, der zwischen den Schicksalen wählt.