Briefe - Sigmund Freud - E-Book

Briefe E-Book

Sigmund Freud

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Beschreibung

Das E-Book enthält alle überlieferten Briefe Freuds an Wilhelm Fließ, Oskar Pfister, Arnold Zweig, Edoardo Weiß, James Jackson Putnam und C.G. Jung. Außerdem enthält es die vollständigen Korrespondenzen mit Karl Abraham, Lou Andreas-Salomé und Georg Groddeck und diverse weitere Briefe Freuds (insbesondere eine größerer Anzahl von Briefen an seine Frau).

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Seitenzahl: 2717

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Impressum

Veröffentlicht im heptagon Verlag Berlin 2013 ISBN: 978-3-934616-69-1 www.heptagon.de

Die Briefe sind ursprünglich erschienen auf der CD-ROM: »Sigmund Freud: Das Werk, herausgegeben von Thomas Müller. Berlin 2010.« Insgesamt sind in diesem E-Book über 1600 Briefe von und an Freud versammelt. Die zu Grunde liegenden Briefe sind ursprünglich erschienen in:

Aus den Anfängen der Psychoanalyse. Briefe an Wilhelm Fließ, Abhandlungen und Notizen aus den Jahren 1887–1902, hrsg. von Marie Bonaparte, Anna Freud und Ernst Kris, London 1950.Sigmund Freud / Oskar Pfister. Briefe 1909–1939, hrsg. von Ernst L. Freud und Heinrich Meng, Frankfurt am Main 1963.Sigmund Freud / Karl Abraham: Briefe 1907–1926, hrsg. von Hilda C. Abraham und Ernst L. Freud, Frankfurt am Main 1965.Sigmund Freud / Lou Andrea Salomé: Briefwechsel, hrsg. von Ernst Pfeiffer, 2. Auflage, Frankfurt am Main 1966.Sigmund Freud / Arnold Zweig. Briefwechsel, hrsg. von Ernst L. Freud, Frankfurt am Main 1968.Sigmund Freud – Edoardo Weiss: Briefe zur psychoanalytischen Praxis, Frankfurt am Main 1970.Sigmund Freud / Georg Groddeck: Briefe über das Es, hrsg. von Margaretha Honegger, Wiesbaden 1970.James Jackson Putnam and Psychoanalysis. Letters between Putnam and Sigmund Freud, Ernest Jones, William James, Sándor Ferenczi and Morton Prince, 1870–1917, hrsg. von Nathan G. Hale, Cambridge 1971.Sigmund Freud / C. G. Jung: Briefwechsel, hrsg. von William Mc Guire und Wolfgang Sauerländer, Frankfurt am Main 1974.Sigmund Freud. Briefe 1870–1939, herausgegeben von Ernst und Lucie Freud, Frankfurt am Main 1968.

Briefe an Wilhelm Fließ

Briefe 1–11

1. Wien, 24.11.87

I. Maria Theresienstraße 8

Verehrter Freund und Kollege!

Mein heutiger Brief hat zwar einen geschäftlichen Anlaß; ich muß ihn aber mit dem Bekenntnis einleiten, daß ich mir Hoffnung auf Fortsetzung des Verkehrs mit Ihnen mache, und daß Sie mir einen tiefen Eindruck zurückgelassen haben, der mich leicht dazu führen könnte, Ihnen frei heraus zu sagen, in welche Rangordnung von Männern ich Sie stellen muß.

Frau A. hat mich seit Ihrer Abreise konsultiert und mir einige Pein des Entschließens verursacht. Ich bin endlich dazu gelangt, ihren Fall als keine Neurose anzusehen. Nicht sowohl wegen des (jetzt nicht nachweisbaren) Fußklonus, sondern weil ich die mir wertvollsten Kennzeichen der Neurasthenie (um andere Neurosen kann es sich doch nicht handeln) bei ihr nicht wiederfinde. Ich habe mich bei der oft so schwierigen Unterscheidung zwischen beginnenden organischen und neurasthenischen Affektionen stets an ein Merkmal gehalten: der Neurasthenie darf die hypochondrische Alteration, die Angstpsychose nicht fehlen, welche – ob sie geleugnet oder zugestanden wird – sich durch das Übermaß neu auftauchender Empfindungen, also durch Parästhesien verrät. An solchen Symptomen ist unser Fall recht arm. Sie konnte plötzlich nicht gehen, gibt aber von Sensationen nichts an als die Schwere der Beine, nichts von dem Ziehen und Drücken in der Muskulatur, den vielfachen Schmerzen, den korrespondierenden Sensationen in anderen Körperteilen usw. Sie wissen, was ich meine. Der sogenannte Schwindel, der Jahre vorher auftrat, stellt sich als ein ohnmachtsartiger Zustand, nicht als ein wirkliches Vertigo heraus; ich kann auch ihn nicht mit dem neurasthenischen Taumel beim Gehen zusammenbringen.

Nach der anderen Seite der Diagnose – gegen die organische Erkrankung – ist mir folgendes eingefallen. Die Frau hatte vor 17 Jahren eine postdiphtheritische Lähmung der Beine gehabt. Eine solche überstandene Infektionserkrankung des Rückenmarks mag trotz anscheinender Heilung einen schwachen Punkt im Zentralorgan zurücklassen, den Anstoß zu sehr langsamen Systemerkrankungen geben. Ich denke mir das ähnlich wie die Beziehung des Tabes zur Syphilis. Sie wissen ja auch, daß Marie in Paris die multiple Sklerose auf vorausgegangene akute Infektionen zurückführt. Frau A. befand sich allem Anschein in der langsamen Decadence der Ernährung, welche das Los unserer Stadtfrauen nach mehreren Entbindungen ist. Das punctum minimae resistentiae im Rückenmark begann unter solchen Verhältnissen zu revoltieren.

Es geht ihr übrigens recht gut, besser als je seit Beginn der Erkrankung. Dies ist das Resultat Ihres Speisezettels, mir bleibt wenig zu tun übrig. Ich habe eine galvanische Behandlung des Rückens begonnen. Nun von Anderem! Meine Kleine gedeiht, meine Frau erholt sich langsam. Ich bin gleichzeitig mit drei Arbeiten beschäftigt, unter welchen auch die Gehirnanatomie ist. Der Verleger ist bereit, sie zum nächsten Herbst auf den Markt zu bringen.

Mit herzlichem Gruß

Ihr Dr. Sigm. Freud.

2. Wien, 28.12.87

Geehrter Freund und Kollege!

Ihr herzlicher Brief und Ihr prächtiges Geschenk haben mir die angenehmsten Erinnerungen wachgerufen, und die Gesinnung, welche ich aus beiden Weihnachtsgaben erkenne, erfüllen mich mit Hoffnung auf einen regen und teilnahmsvollen Verkehr zwischen uns für die Zukunft. Ich weiß noch immer nicht, wodurch ich Sie gewonnen habe; das bißchen spekulative Hirnanatomie hat Ihrem strengen Urteil wohl nicht lange imponiert. Aber ich freue mich sehr darüber. Ich habe bisher immer das Glück gehabt, meine Freunde unter den Besten zu finden, und war immer besonders stolz auf dieses Glück. Ich danke Ihnen also und bitte Sie, nicht verwundert zu sein, wenn ich für Ihr reizendes Geschenk gegenwärtig nichts zu erwidern habe.

Ich höre gelegentlich über Sie, natürlich zumeist Wunderdinge. Eine meiner Quellen ist Frau A., die sich, nebenbei gesagt, als gemeine zerebrale Neurasthenie entpuppt. Ich selbst habe mich in den letzten Wochen auf die Hypnose geworfen und allerlei kleine, aber merkwürdige Erfolge erzielt. Ich gedenke auch das Buch von Bernheim über die Suggestion zu übersetzen. Raten Sie nicht ab, ich bin bereits kontraktlich verpflichtet. Die beiden Arbeiten: Gehirnanatomie und allgemeine Charaktere hysterischer Affektionen laufen als Erholung daneben her, soweit der Wechsel der Stimmung und der Beschäftigung es gestattet. Meine Kleine entwickelt sich prächtig und schläft jede Nacht durch, was der größte Stolz jedes Vaters ist.

Leben Sie recht wohl, lassen Sie sich von der Arbeit nicht überwältigen, und wenn Sie Muße und Anlaß haben, denken Sie an Ihren

treu ergebenen

Dr. Sigm. Freud.

Meine Frau war von Ihrem Gruß sehr erfreut.

3. Wien, 4.2.88

Verehrter Freund und Kollege!

Ich bitte Sie, den Empfang dieses Briefes vorzudatieren, ich hätte ihn längst schreiben sollen, kam nicht dazu vor Arbeit, Müdigkeit und Spielen mit meiner Tochter. Ich soll Ihnen zunächst einige Nachrichten über Frau A. geben, deren Schwester sich gegenwärtig bei Ihnen befindet.

Der Fall hat sich recht einfach aufgehellt, als gemeine zerebrale Neurasthenie, was die Weisen chronische Hyperaemie des Schädelinhalts heißen. Es wurde immer klarer und klarer, dann auf Galvanisation und

Halbbäder immer besser; ich dachte daran, sie durch Muskelarbeit vollends herzustellen – da geschah etwas Unerwartetes, die Periode blieb aus, bald darauf wurde es schlechter, bei der zweiten Periode blieb auch die Behandlung aus und der Zustand ist gegenwärtig ein sehr hoffnungsvoller, wiewohl nicht sehr guter. Ich meinerseits hätte gerne die Behandlung fortgesetzt, fühle deren Erfolg aber nicht sicher genug, um gegen die Ängstlichkeit der Frau, der ganzen Familie und gegen die Meinung Chrobaks aufzutreten, ich habe mich also der Prophezeiung angeschlossen, daß die Sache nach dem vierten Monat von selber gut sein wird, und halte meine starken Zweifel daran geheim. Besitzen Sie Erfahrungen über den Einfluß der Schwangerschaft auf solche Neurasthenien?

Vielleicht daß ich an dem neuen Weltbürger mitschuldig bin. Ich habe vor der Patientin nicht absichtslos einmal sehr ernst über die Schädlichkeit des Coitus reservatus gesprochen. Vielleicht irre ich mich dabei. Von anderem, geehrter Freund, wenig. Meine kleine Mathilde gedeiht sehr gut und macht uns viel Spaß. Die, wie Sie wissen, nicht sehr ansehnliche Praxis hat in letzter Zeit durch Charcots Namen einige Bereicherung erfahren. Der Wagen kostet viel und das Besuchen und Ein- und Ausreden, worin meine Beschäftigung besteht, raubt die schönste Zeit für die Arbeit. Die Gehirnanatomie ruht, aber die Hysterie schreitet vor und ist in der ersten Bearbeitung fertig.

... Gestern gab es einen Hauptskandal in der Gesellschaft der Ärzte. Sie wollten uns zwangsweise auf ein neues Wochenblatt abonnieren, welches den geläuterten, exakten und christlichen Standpunkt einiger Hofräte, die das Arbeiten längst verlernt haben, behaupten soll. Sie setzen es natürlich durch; ich habe große Lust auszutreten.

Ich muß zu einem höchst überflüssigen Konsilium mit Meynert eilen. Leben Sie wohl und lassen Sie mich an einem Sonntag ein paar Worte über Sie hören.

Ihr treu ergebener

Dr. Sigm. Freud.

4. Wien, 28.5.88

I. Maria Theresienstraße 8

Lieber Freund und Kollege!

Ich habe einen kleinen Anlaß, Ihnen zu schreiben, was ich längst ohne Anlaß hätte tun können. Also zuerst von diesem Anlaß. Frau A., die seit ihrer Demaskierung als chronische zerebrale Neurasthenie (wenn Sie es auch so heißen wollen), seit ihrem Abortus etc. bei einem Minimum von Behandlung eine prächtige Rekonvaleszenz durchgemacht hat und sich heute sehr wohl befindet, sieht den Sommer herannahen. Ihre alten Sympathien ziehen sie nach Franzensbad, ich rate zu einer Wasserkur im Gebirge; da bat sie mich, Ihnen die Entscheidung zu übertragen, was ich, mit allem Bedauern für Sie, hiermit tue. Ich hatte den Vierwaldstättersee, Axenstein usw. ins Auge gefaßt. Bitte, wenn Sie einverstanden sind, schreiben Sie mir umgehend eine Karte, auf der Sie einen Namen eines Ortes nennen, und seien Sie versichert, dieser Ort wird Frau A. im Sommer beherbergen. Nur bitte tun Sie es mir nicht an, daß Sie die Entscheidung mir überlassen, das würde doch nicht befriedigen, denn die Gewalt über die Geister, die Ihnen gebührt, läßt sich nicht übertragen. Ich bitte umgehend, weil mein Versprechen, Ihnen zu schreiben, um 10 Tage älter ist als dieser Brief.

... Wir leben ziemlich glücklich in stets wachsender Anspruchslosigkeit weiter. Wenn unsere kleine Mathilde lacht, bilden wir uns ein, sie lachen zu hören sei das Schönste, das uns widerfahren kann, sind sonst nicht ehrgeizig und nicht sehr fleißig. Die Praxis hat im Winter und Frühjahr etwas zugenommen, nimmt jetzt wieder ab, erhält uns grade am Leben. Die Zeit und Muße für Arbeiten ist auf einzelne Artikel bei Villaret, Stücke der Übersetzung von Bernheims Suggestion und ähnliche nicht rühmenswerte Dinge aufgegangen. Halt, die erste Ausarbeitung der »hysterischen Lähmungen« ist auch fertig, unbestimmt, wann es die zweite wird. Kurz man lebt, und das Leben ist bekanntlich sehr schwierig und sehr kompliziert und es gibt viele Wege zum Zentralfriedhof, heißt es bei uns.

Ich grüße Sie herzlich, in aller Eile Ihr

ganz der Ihrige Dr. Freud.

5. Wien, 29.8.88

Verehrter Freund!

Ich habe lange geschwiegen, aber meine endliche Antwort fällt sehr effektvoll aus: Buch, Abhandlung und Photographie; Sie können nicht mehr Begleitung eines Briefes erwarten. Ihr Schreiben enthielt vieles, was mich für lange Zeit zum Nachdenken angeregt hat und worüber ich gerne mit Ihnen gesprochen hätte. Ich habe Ihnen rückhaltlos Recht gegeben und kann doch nicht tun, was Sie fordern. Arzt sein anstatt Spezialist, mit allen Untersuchungsmitteln arbeiten und sich des Kranken ganz bemächtigen, das ist gewiß die einzige Methode, die eigene Befriedigung und materielle Erfolge verspricht, aber für mich ist es damit vorbei. Ich habe nicht genug gelernt, um Mediziner zu sein, in meiner medizinischen Entwicklung gibt es einen Riß, der später mühsam geknüpft worden ist. Ich konnte gerade noch so viel lernen, daß ich Neuropathologe wurde. Und jetzt fehlt mir allerdings nicht die Jugend, aber die Zeit und Unabhängigkeit, um nachzuholen. In diesem Winter war ich recht beschäftigt, da konnte ich mit meiner sehr großen Familie gerade davon leben und behielt keine Zeit übrig, etwas zu lernen. Der Sommer war recht schlecht, ließ mir Zeit genug, aber brachte auch Sorgen, die mir die Stimmung raubten. Außerdem stört mich beim Lernen die Forschergewohnheit, der ich ziemlich viel geopfert habe, die Unzufriedenheit mit dem, was dem Lernenden geboten wird, die Nötigung ins Detail zu gehen und Kritik zu üben. Die ganze Atmosphäre Wiens ist auch wenig dazu angetan, einen Willen zu stählen oder jene Zuversicht des Erfolges aufkommen zu. lassen, die Euch Berlinern eigen ist, und ohne welche ein erwachsener Mensch nicht daran denken darf, die Basis seiner Existenz zu verändern. So muß ich wohl bleiben, was ich bin; nur daß ich mich nicht über die Unzulänglichkeit des Zustandes täusche. Von den Sendungen rechtfertigt sich die Photographie durch eine Erinnerung an Ihren in Wien ausgesprochenen Wunsch, dem ich damals nicht nachkommen konnte. Was es mit der Suggestion für Bewandtnis hat, wissen Sie. Ich habe die Arbeit sehr ungern unternommen, nur um bei einer Sache, welche in den nächsten Jahren gewiß die Praxis der Nervenärzte tief beeinflussen wird, eine Hand im Spiel zu behalten. Ich teile Bernheims Ansichten, die mir einseitig scheinen, nicht, und habe in der Vorrede den Standpunkt Charcots in Schutz zu nehmen versucht. Mit welcher Geschicklichkeit, weiß ich nicht; aber ich weiß bestimmt, mit schlechtem Erfolg. Die suggestive, d.h. introsuggestive Theorie Bernheims hat einen common-place Zauber für die deutschen Ärzte, welche keinen großen Sprung zu machen brauchen, um aus der Simulationstheorie, bei der sie jetzt stehen, in die Suggestionstheorie hineinzukommen. In der Kritik Meynerts, der sich hier in seiner gewohnten frech-boshaften Manier autoritativ über ein Thema hat hören lassen, von dem er nichts weiß, mußte ich mich gemäßigt halten, weil die Stimmung aller meiner Freunde es verlangt hat. Was ich geschrieben, erscheint ihnen auch so als Wagnis. Ich habe der Katze die Schelle angehängt. Jetzt geht es endlich an die Vollendung der hysterischen und organischen Lähmungen, die mir ziemlich behagen. Meine Beteiligung an Villaret ist minder ausgiebig geworden, als zu erwarten war. Der Artikel Gehirnanatomie ist sehr zusammengestrichen worden, viele andere schlechte Nervenartikel sind nicht von mir. Der wissenschaftliche Wert des Ganzen ist kein sehr hoher.

Die Gehirnanatomie keimt noch immer wie zur Zeit Ihrer Anregung. Das ist meine wissenschaftliche Tätigkeit. Im Übrigen Gutes. Ich habe Weib und Kind seit Anfang Juli in Maria-Schutz am Semmering, wo ich jetzt auch eine Woche zu verbringen gedenke. Die Kleine gedeiht vortrefflich.

Daß Sie einen Assistenten haben, hat mich herzlich gefreut. Vermutlich trifft Sie dieser Brief auch nicht in Berlin. Arbeiten Sie nicht zuviel, möchte ich Ihnen jeden Tag sagen lassen. Leben Sie recht wohl und gedenken Sie freundschaftlich

Ihres aufrichtig ergebenen

Dr. Sigm. Freud.

6. Reichenau, 1.8.90

Verehrter Freund!

Herzlich ungern schreibe ich Ihnen heute, daß ich nicht nach Berlin kommen kann – es ist mir gar nicht um die Stadt oder den Kongreß –, sondern daß ich Sie nicht in Berlin sehen kann. Es ist nicht ein einziges großes Motiv, das meinen Entschluß umgestoßen hat, sondern jene Vereinigung kleiner Gründe, die bei einem Praktiker und Familienvater so leicht zustande kommen kann. Es geht mir von keiner Seite zusammen, nicht ärztlich, wo meine Hauptklientin gerade eine Art nervöser Krise durchmacht ... nicht in der Familie, wo allerlei mit den Kindern los war (ich habe jetzt Tochter und Sohn), und meine Frau, die sonst niemals ein Hindernis für kleine Reisen sein will, gerade diese Reise sehr ungern sieht, u. dgl. mehr. Kurz, es geht nicht zusammen, und da ich die Reise im Sinne eines großen Vergnügens sehe, das ich mir bereite, bin ich veranlaßt worden, auf dieses Vergnügen zu verzichten. Sehr ungern, denn ich hatte mir von dem Verkehr mit Ihnen sehr viel erwartet. Sonst recht zufrieden, glücklich wenn Sie wollen, bin ich doch sehr vereinsamt, wissenschaftlich abgestumpft, faul und resigniert. Wenn ich mit Ihnen sprach und merkte, daß Sie so von mir denken, pflegte ich sogar selbst was von mir zu halten, und das Bild der überzeugungsvollen Energie, das Sie boten, war nicht ohne Eindruck auf mich. Auch ärztlich hätte ich gern viel von Ihnen und vielleicht von der Berliner Atmosphäre profitiert, da ich seit Jahren ohne Lehrmeister bin und so ziemlich ausschließlich in der Behandlung der Neurosen stecke. Kann ich Sie nicht anders sehen als zur Kongreßzeit in Berlin? Reisen Sie nicht nachher? Oder kommen Sie nicht im Herbst zurück? Verlieren Sie die Geduld nicht, nachdem ich Sie ohne briefliche Antwort gelassen und jetzt Ihre nicht an Herzlichkeit zu übertreffende Einladung abgelehnt habe. Lassen Sie mich etwas von einer Aussicht hören, Sie mehrere Tage zu sehen, um Sie nicht als Freund zu verlieren.

Mit herzlichem Gruß

Ihr herzlich ergebener

Dr. Sigm. Freud.

7. Wien, 11.8.90

Liebster Freund!

Herrlich! Und wissen Sie etwas Schöneres als Salzburg für diesen Zweck? Dort treffen wir uns und steigen einige Tage herum, wohin Sie wollen. Die Zeit ist mir ganz gleichgültig, bitte bestimmen Sie, es wird wohl gegen Ende August werden. Infolge der Ihnen angedeuteten Verhinderungen können es nicht mehr als drei oder vier schöne Tage werden, aber die sollen es werden und ich werde alles tun, um nicht wieder abgehalten zu sein. Sie reisen, wenn Sie Salzburg annehmen, wohl nicht über Wien, sondern München.

In herzlich froher Erwartung Ihr Sigm. Freud.

8 Wien, 2.5.91

Lieber Freund!

Auf den Referenten und auf dies Ergebnis bin ich allerdings stolz. Ich denke mir, der Schwung des Referates wird nicht wenig zum Erfolg beigetragen haben. In wenig Wochen werde ich mir die Freude machen, Ihnen ein Heft über Aphasie zu schicken, an dem ich selbst mit größerer Wärme beteiligt bin. Ich bin darin sehr frech, messe meine Klinge mit ihrem Freund Wernicke, mit Lichtheim, Grashey und kratze selbst den hochthronenden Götzen Meynert. Ich bin recht neugierig, was Sie zu der Leistung sagen werden. Infolge Ihres bevorzugten Verhältnisses zum Verfasser wird Ihnen einiges bekannt vorkommen. Es ist übrigens mehr suggestiv als ausgeführt.

Was machen Sie sonst, außer daß Sie meine Arbeit referieren? Bei mir bedeutet das »sonst« einen zweiten Jungen, Oliver, jetzt drei Monate alt. Sehen wir uns heuer?

Mit freundlichem Gruß

Ihr Dr. Freud.

9. Wien, 28.6.92

Liebster Freund!

Anlaß zum Schreiben bietet mir das Ereignis, daß Breuer sich bereit erklärt hat, die Theorie vom Abreagieren und unsere sonstigen gemeinsamen Mitteilungen über Hysterie auch gemeinsam zum öffentlichen ausführlichen Ausdruck zu bringen. Ein Stück davon, das ich erst allein schreiben wollte, ist fertig und wäre Dir unter anderen Verhältnissen sicherlich mitgeteilt worden.

Die Lieferung Charcot, die ich Dir heute schicke, sonst wohlgelungen, kränkt mich durch mehrere stehengebliebene Akzent- und Sprachfehler in den wenigen französischen Worten. Schlamperei! Ich höre, daß Du jetzt Gegenbesuch erwartest. Ich hoffe, Du wirst die Gnade haben, mir einen Wink zu geben, mit welchem Ding in Deiner neuen Einrichtung ich meine und meiner Frau herzlichen Wünsche für das ganze Haus assozieren darf.

Herzlichsten Gruß für Dich, Deine Ida und die Eltern, die mich so unverdient freundschaftlich aufgenommen haben, von Deinem

Sigm. Freud.

10. Wien, 4.10.92

Liebster Freund!

Anbei Bogen 1 Deiner Reflexneurosen. Da es in Teschen gedruckt wird, trittst Du vielleicht besser mit der Druckerei in direkte Verbindung. Ich habe nur hie und da hineingeblickt und hoffe nur, daß Du mir die für mich interessanteste Vorrede zum Lesen schickst.

Mein Volk ist seit acht Tagen in Wien damit beschäftigt, sich zu entwickeln; ich schreibe Kinderlähmungen II. Teil, auch so ein zweiter Teil si parva licet etc.

Herzliche Grüße von Haus zu Haus, darf ich jetzt schreiben

Dein Sigm. Freud.

11. Wien, 18.12.92

Liebster Freund!

Freue mich Dir mitteilen zu können, daß unsere Hysterietheorie (Reminiszenz, Abreagieren etc.) am 1. Januar 93 im Neurologischen Zentralblatt zu lesen sein wird, und zwar in Gestalt einer ausführlichen vorläufigen Mitteilung. Es hat Kämpfe mit dem Herrn Kompagnon genug gekostet.

Was macht Ihr Glückverschollenen? Sieht man Euch zu Weihnachten hier, wie es die Fama will?

Herzlichsten Gruß

Dein Sigm. Freud.

(Manuskript A) Probleme

1. Rührt die Angst der Angstneurosen von der Hemmung der Sexualfunktion oder von der mit der Ätiologie verbundenen Angst her?

2. Inwiefern verhält sich der Gesunde gegen die späteren sexuellen Träume anders als der durch Masturbation Disponierte? Nur quantitativ oder qualitativ?

3. Ist der einfache Coitus reservatus (Kondom) überhaupt eine Schädlichkeit?

4. Gibt es eine angeborene Neurasthenie mit angeborener sexueller Schwäche oder ist diese immer in der Jugend erworben? (Kinderfrauen, Masturbierung durch andere.)

5. Ist die Heredität etwas anderes als ein Multiplikator?

6. Was gehört zur Ätiologie der periodischen Verstimmung?

7. Ist die sexuelle Anästhesie der Frau etwas anderes als Folge der Impotenz? Kann sie allein Neurosen machen?

Sätze

1. Es gibt keine Neurasthenie oder analoge Neurose ohne Störung der Sexualfunktion.

2. Diese wirkt entweder direkt kausal oder disponierend für andere Momente, immer aber so, daß ohne sie die anderen Momente keine Neurasthenie zu Stande bringen.

3. Die Neurasthenie des Mannes geht der Ätiologie zufolge mit relativer Impotenz einher.

4. Die Neurasthenie der Frau ist die direkte Folge der Neurasthenie des Mannes durch Vermittlung dieser Potenzverminderung.

5. Die periodische Verstimmung ist eine Form der Angstneurose, die sich sonst in Phobien und Angstanfällen äußert.

6. Angstneurose ist zum Teil Folge der Hemmung der Sexualfunktion.

7. Einfacher Exzeß und Überarbeitung sind keine ätiologischen Momente.

8. Hysterie bei neurasthenischer Neurose deutet auf Unterdrückung der begleitenden Affekte.

Reihen

1. von gesund gebliebenen Männern und Frauen;

2. von sterilen Frauen, wo die ehelich präventiven Träume wegfallen;

3. von mit Gonorrhöe behafteten Frauen;

4. von gonorrhöisch, daher nach jeder Richtung geschützten Lebemännern, die um ihre Hypospermie wissen;

5. von gesund gebliebenen Mitgliedern schwer belasteter Familien.

6. Beobachtungen aus Ländern, in denen gewisse sexuelle Abnormitäten endemisch sind.

Ätiologische Momente

1. Erschöpfung durch abnorme Befriedigung.

2. Hemmung der Sexualfunktion.

3. Begleitende Affekte dieser Praktiken.

4. Sexuelle Träume vor der Zeit des Verständnisses.

(Manuskript B, 8.2.93) Die Ätiologie der Neurosen

Ich schreibe die ganze Geschichte für Dich, lieber Freund, und unsere gemeinsame Arbeit zum zweiten Mal. Vor Deiner jungen Frau wirst Du das Manuskript ja doch verwahren.

I. Daß Neurasthenie eine häufige Folge abnormen Sexuallebens ist, darf als bekannt gelten. Die Behauptung aber, die ich aufstellen und an den Beobachtungen prüfen möchte, ist die, daß die Neurasthenie überhaupt nur eine sexuelle Neurose ist.

Mit Breuer habe ich für die Hysterie einen ähnlichen Standpunkt vertreten. Die traumatische Hysterie war bekannt; wir sagten dann: jede Hysterie, die nicht eine hereditäre ist, ist eine traumatische. So nun für die Neurasthenie; jede Neurasthenie soll eine sexuelle sein. Wir lassen zunächst dahingestellt, ob hereditäre Disposition und in zweiter Linie toxische Einflüsse echte Neurasthenie erzeugen können, oder ob auch die scheinbar hereditäre Neurasthenie auf frühzeitige sexuelle Abnützung zurückgeht. Wenn es hereditäre Neurasthenie gibt, erheben sich die Fragen, ob der Status nervosus der Hereditären nicht von Neurasthenie noch zu unterscheiden ist, was es überhaupt mit den entsprechenden Symptomen des Kindesalters für Bewandtnis hat u. dgl. Die Behauptung sei also zunächst auf die erworbene Neurasthenie eingeschränkt. Dann will obige Behauptung etwas sagen, was man auch so fassen kann: In der Ätiologie einer nervösen Affektion sind zu unterscheiden 1. die notwendige Bedingung, ohne die der Zustand überhaupt nicht zu Stande kommt, und 2. die veranlassenden Momente. Das Verhältnis der beiden kann man sich so vorstellen: Hat von der notwendigen Bedingung genug eingewirkt, so stellt sich die Affektion als notwendige Folge ein; hat von derselben nicht genug eingewirkt, so resultiert aus der Einwirkung zunächst eine Disposition zu jener Affektion, die aufhört latent zu sein, sobald ein genügendes Maß eines der Momente zweiter Ordnung hinzutritt. Also, was an der ersten Ätiologie zur vollen Wirkung fehlt, kann durch Ätiologie zweiter Ordnung ersetzt werden, die Ätiologie zweiter Ordnung ist aber entbehrlich, die erster Ordnung unentbehrlich.

Dieses ätiologische Schema auf unseren Fall angewendet besagt: Sexuelle Abnützung kann für sich allein Neurasthenie provozieren; wo sie allein dazu nicht hinreicht, hat sie das Nervensystem so weit disponiert, daß jetzt körperliche Erkrankung, depressiver Affekt und Überarbeitung (toxische Einflüsse) nicht ohne Neurasthenie vertragen werden. Ohne sexuelle Abnützung sind aber alle diese Momente nicht im Stande, Neurasthenie zu erzeugen, sie machen normal müde, normal traurig, normal körperschwach, aber sie liefern immer nur den Beweis, was »an diesen schädlichen Einflüssen ein gesunder Mensch vertragen kann«. Behandeln wir gesondert die Neurasthenie der Männer und der Frauen. Die Neurasthenie der Männer wird erworben im Pubertätsalter und tritt in den zwanziger Jahren in Erscheinung. Ihre Quelle ist die Masturbation, deren Häufigkeit der Neurasthenie der Männer parallel läuft. Man kann in seinem Bekanntenkreise die Erfahrung machen, daß jene Personen der Neurasthenie entgangen sind, denen frühzeitig weibliche Verführung genaht ist, wenigstens in der Stadtbevölkerung. Wo nun diese Schädlichkeit lange und intensiv eingewirkt, da macht sie den Betreffenden zum sexuellen Neurastheniker, der auch an seiner Potenz Schaden gelitten hat, der Intensität der Ursache entspricht der lebenslange Verbleib des Zustandes. Ein fernerer Beweis für den Kausalzusammenhang liegt auch darin, daß der sexuelle Neurastheniker immer gleichzeitig ein allgemeiner Neurastheniker ist.

Wo die Schädlichkeit nicht intensiv genug war, hat sie nach vorstehendem Schema disponierend gewirkt, um später unter Zutritt der provozierenden Momente Neurasthenie zu produzieren, welche diese Momente allein nicht produziert hätten. Kopfarbeit – Cerebrasthenie, normale Sexualarbeit – Spinalneurasthenie u. dgl.

In Mittelfällen entsteht die typisch mit Dyspepsie etc. beginnende und ablaufende Neurasthenie der Jugendjahre, die dann mit der Heirat abschließt.

Die zweite Schädlichkeit, welche ein anderes Alter der Männer trifft, stößt entweder auf ein intaktes oder auf ein durch Masturbation zur Neurasthenie disponiertes Nervensystem. Es ist die Frage, ob sie auch im ersteren Falle schädliche Wirkungen entfalten kann; wahrscheinlich ja. Manifest ist ihr Einfluß im zweiten Falle, wo sie die Neurasthenie der Jugend wieder aufleben läßt und neue Symptome schafft. Diese zweite Schädlichkeit ist der Onanismus coniugalis, der unvollständige Beischlaf zur Verhütung der Konzeption. Für den Mann scheinen hier alle Arten desselben nebeneinander zu rangieren, je nach früherer Disposition verschieden intensiv wirksam, aber nicht eigentlich qualitativ verschieden. Von stark Disponierten oder fortlaufend Neurasthenischen wird bereits der normale Koitus nicht vertragen, dann rächt sich die Intoleranz gegen Kondom, äußerlichen Koitus, und Coitus interruptus.

Der Gesunde verträgt alles das recht lange, aber auch nicht auf die Dauer, nach längerer Zeit verhält er sich wie der Disponierte, er genießt vor dem Onanisten nur das Vorrecht der größeren Latenz oder bedarf jedesmal der provozierenden Ursachen. Coitus interruptus erweist sich hier als die Hauptschädlichkeit, die auch beim nicht Disponierten ihre charakteristische Wirkung erzeugt.

Die Neurasthenie der Frauen: Das Mädchen ist normalerweise frisch, nicht neurasthenisch. Auch die junge Frau ist es trotz aller sexuellen Träume dieser Zeit. In selteneren Fällen zeigt sich Neurasthenie bei Frauen und alten Mädchen rein, und ist dann als spontan entstandene, auf die gleiche Art entstandene Neurasthenie anzusehen. Weit häufiger ist die Neurasthenie der Frauen von der der Männer abgeleitet oder mit ihr zugleich erzeugt. Sie ist dann fast immer mit Hysterie gemengt, die gewöhnliche gemischte Neurose der Frauen.

Die gemischte Neurose der Frauen entsteht aus der Neurasthenie der Männer in all den nicht seltenen Fällen, wo der Mann als sexueller Neurastheniker Einbuße an seiner Potenz erlitten hat. Die Beimengung der Hysterie resultiert direkt aus der zurückgehaltenen Erregung des Aktes. Je schlechter die Potenz des Mannes, desto mehr wiegt die Hysterie der Frau vor, so daß der sexuelle Neurastheniker seine Frau eigentlich nicht so sehr neurasthenisch als hysterisch macht.

Sie entsteht mit der Neurasthenie der Männer bei dem zweiten Schub sexueller Schädlichkeit, welche für die als frisch angenommene Frau die bei weitem größere Bedeutung hat. So daß man im ersten Dezennium der Pubertät weit mehr Männer, im zweiten weit mehr Frauen nervös sieht. Sie resultiert hier aus den Schädlichkeiten zur Verhütung der Konzeption. Die Reihe derselben aufzustellen ist nicht leicht, im allgemeinen dürfte nichts als ganz harmlos für die Frau gelten, so daß diese als der anspruchsvollere Teil der leichten Neurasthenie auch im günstigsten Falle (Kondom) kaum entgehen dürfte. Viel wird hier selbstverständlich auf die beiden Dispositionen ankommen 1. ob sie selbst vor der Ehe neurasthenisch war, 2. ob sie in der Zeit des freien Verkehrs hysterisch-neurasthenisch gemacht wurde.

II. Die Angstneurose: Eine gewisse Herabsetzung des Selbstbewußtseins, pessimistische Erwartung, Neigung zu peinlichen Kontrastvorstellungen gehört wohl jeder Neurasthenie an. Es ist aber die Frage, ob man nicht das Hervortreten dieses Moments ohne besondere Entwicklung der übrigen Symptome als eigene »Angstneurose« abtrennen soll, besonders da sich diese bei Hysterie nicht minder häufig findet als bei Neurasthenie. Die Angstneurose tritt in zwei Formen auf, Dauerzustand und Angstanfall. Beide kombinieren sich leicht, der Angstanfall nie ohne Dauersymptome. Der Angstanfall gehört mehr zu den mit Hysterie verbundenen Formen, also häufiger bei Frauen. Die Dauersymptome mehr bei neurasthenischen Männern. Dauersymptome sind 1. auf Körper bezügliche Angst: Hypochondrie, 2. auf körperliche Leistung: Agoraphobie, Claustrophobie, Höhenschwindel, 3. auf Entschlüsse und Gedächtnis (also eigene Vorstellungen psychischer Leistung) bezüglich: folie de doute, Grübelzwang u. dgl. Ich babe bis jetzt keinen Anlaß, diese Symptome anders als gleichzustellen. Es ist wieder die Frage, inwieweit dieser Zustand 1. bei Hereditären vorkommt ohne sexuelle Schädlichkeit, 2. ob er bei Hereditären auf beliebige sexuelle Schädlichkeit ausgelöst wird, 3. ob er zur gewöhnlichen Neurasthenie als Intensitätssteigerung hinzutritt. Keine Frage ist, daß er akquiriert wird und zwar von Männern und Frauen in der Ehe, in der zweiten Periode der sexuellen Schädlichkeiten durch den Coitus interruptus. Ich glaube nicht, daß es hiezu der Disponierung durch frühere Neurasthenie bedarf, doch ist im Falle mangelnder Disposition die Latenz größer. Dasselbe Kausalschema wie bei Neurasthenie.

Die selteneren Fälle von Angstneurose außerhalb der Ehe trifft man besonders bei Männern, sie lösen sich auf als Congressus interruptus bei starker psychischer Beteiligung mit Frauen, auf die Rücksicht genommen wird, und diese Prozedur unter diesen Verhältnissen ist für die Männer eine größere Schädlichkeit als der Coitus interruptus in der Ehe, der ja häufig auch durch normalen Koitus außer dem Hause gleichsam korrigiert wird. Als dritte Form der Angstneurose muß ich die periodische Verstimmung, einen Wochen bis Monate lang fortgesetzten Angstanfall betrachten, der fast jedesmal zum Unterschied von echter Melancholie eine anscheinend rationelle Anknüpfung in einem psychischen Trauma hat. Dies ist aber nur die provozierende Ursache. Auch ist diese periodische Verstimmung ohne psychische Anästhesie, die für Melancholie charakteristisch, ist. Eine Reihe von solchen Fällen habe ich auf Coitus interruptus zurückführen können, der Beginn derselben war ein später, in der Ehe, nach dem letzten Kind. In einem zur Pubertät beginnenden qualvoll hypochondrischen Fall konnte ich ein Attentat im achten Lebensjahr nachweisen. Ein anderer Kindheitsfall erklärte sich als hysterische Reaktion auf Masturbationsattentat. Ich weiß also nicht, gibt es hier wirklich hereditäre Formen ohne sexuelle Ursachen, anderseits nicht, ob hier nur Coitus interruptus anzuschuldigen, ob hier hereditäre Disposition jedesmal zu entbehren ist.

Die Beschäftigungsneurosen streiche ich infolge des Nachweises veränderter Muskelpartien, wie ich Dir erzählt habe.

Schlußfolgerungen: Aus dem Vorstehenden ergibt sich die volle Verhütbarkeit wie die volle Unheilbarkeit der Neurosen. Die Aufgabe des Arztes verschiebt sich ganz in die Prophylaxis.

Das erste Stück derselben, die Verhütung der sexuellen Schädlichkeit der ersten Periode, fällt zusammen mit der Prophylaxis der Syphilis und des Trippers, da dies die Noxen sind, welche dem drohen, der sich Masturbation entzieht. Der einzig andere Weg wäre freier sexueller Verkehr der männlichen Jugend mit Mädchen freien Standes, er ist aber nur zu betreten, wenn unschädliche Mittel da sind, die Konzeption zu verhüten, Sonst lautet die Alternative – Onanie, Neurasthenie des Mannes, Hystero-Neurasthenie der Frau oder Lues des Mannes – Lues der Generation, Gonorrhöe des Mannes, Gonorrhöe und Sterilität der Frau.

Dieselbe Aufgabe, schadlose Beherrschung der Konzeption, stellt das sexuelle Trauma der zweiten Periode, da das Kondom eine weder sichere noch für den bereits Neurasthenischen annehmbare Lösung des Problems erbringt.

Beim Ausbleiben dieser Lösung zeigt sich die Gesellschaft als bestimmt, den unheilbaren Neurosen zu verfallen, welche den Lebensgenuß auf ein Minimum herabsetzen, das eheliche Verhältnis zerstören und die ganze Generation durch Heredität ruinieren. Die tieferen Volksschichten, die Malthusianismus nicht kennen, drängen nach, um naturgemäß, angekommen, demselben Verhängnis zu verfallen.

Daraus stellt sich für den Arzt das Problem her, das zu lösen aller seiner Kräfte wert ist.

Ich habe als Vorarbeit eine Sammlung begonnen: 100 Fälle von Angstneurosen, desgleichen möchte ich entsprechende Zahlen von männlicher und weiblicher Neurasthenie und die selteneren periodischer Verstimmung sammeln. Notwendiges Gegenstück wäre eine zweite Reihe 100 Fälle von Nervösen.

Wenn sich herausstellen sollte, daß dieselben Störungen der Nervenfunktion, die durch sexuellen Abusus erworben werden, auch auf rein hereditärer Grundlage zustande kommen, so gäbe das Anlaß zu den bedeutsamsten Spekulationen, die wir heute erst ahnen.

Mit herzlichem Gruß

Dein Sigm. Freud

Brief 12

12. Wien, 30.5.93

Liebster Freund!

Daß Dich die Leute überlaufen, zeugt dafür, daß sie doch im Ganzen wissen, was sie tun. Ich bin neugierig darauf, ob Du die Diagnose in den von mir geschickten Fällen anerkennen wirst. Ich mache die Diagnose jetzt sehr oft und stimme Dir ganz bei, daß die nasale Reflexneurose zu den häufigsten Störungen gehört. Leider bin ich der Exekutive nie sicher. Auch das Band mit der Sexualität schlingt sich immer enger, schade daß wir nicht dieselben Fälle bearbeiten können.

... In der sexuellen Ätiologie der Neurosen sehe ich eine gute Möglichkeit, wieder eine Lücke auszufüllen. Die Angstneurosen jugendlicher Personen, die man für virginal ansehen muß, die nicht dem Mißbrauch unterworfen waren, glaube ich zu verstehen. Ich habe zwei solcher Fälle analysiert, es war das ahnungsvolle Grausen vor der Sexualität, dahinter Dinge, die sie gesehen oder gehört und halb verstanden hatten, also reine Affektätiologie, aber doch sexueller Art.

Das Buch, das ich Dir heute schicke, ist nicht sehr interessant. Die hysterischen Lähmungen, kleiner und interessanter, erscheinen anfangs Juni.

Herzlichste Grüße an Dich und Ida von unserem ganzen Haus.

Dein Sigm. Freud.

(Manuskript C) Etwas Motivenbericht

Liebster Freund! Welch großes Vergnügen es mir macht, unsere Ostergespräche so fortsetzen zu können, brauche ich nur anzudeuten. Im ganzen bin ich kaum unbefangen genug, um der richtige Kritiker für Deine Arbeiten zu sein. Also nur das eine, es gefällt mir sehr gut, und ich glaube nicht, daß der Kongreß etwas Wichtigeres bringen wird. Sollen Dir aber die Anderen alle die Schönheiten sagen, die dieser Vortrag verdient, ich werfe mich von jetzt ab auf Ausstellungen und Vorschläge zur Abänderung, nach Deinem eigenen Wunsch.

Es ist doch nicht an einem ganz kopfschmerzfreien Tag geschrieben, denn es hat nicht die Prägnanz und Kürze, mit der Du schreiben kannst. Einzelnes ist entschieden zu lang, z.B. »Formes frustes«. Das was zum Barbier soll, habe ich blau angestrichen. Einige Gelenke habe ich versucht schärfer unter dem Gewebe herauszuarbeiten.

Den Vergleich mit der Menière'schen Krankheit kann ich Dir empfehlen. Hoffentlich heißt man die nasale Reflexneurose bald allgemein die Fliess'sche Krankheit.

Nun zur sexuellen Frage. Ich glaube, man kann sich da mehr als literarischer Geschäftsmann gebärden. Wie Du die sexuelle Ätiologie bringst, schiebst Du dem Publikum eine Kenntnis zu, die es doch nur latent besitzt. Es weiß und macht sich nichts wissend. Preyer, dessen Verdienst ich sehr anerkenne, hat doch keinen Anspruch auf Hervorhebung in solch eiliger Erwähnung. Soweit ich seine Arbeiten kenne ... bleibt er in zwei principiellen Punkten zurück. 1. Er löst die Neurasthenie auf in einzelne reflektorisch vermittelte Magen-, Darm-, Blasenbeschwerden usw., d.h. er kennt nicht unsere ätiologische Formel, er kennt nicht neben der direkten Wirkung der sexuellen Noxe ihre disponierende, die die latente Neurasthenie ausmacht. 2. Er leitet die Reflexe von leichten anatomischen Veränderungen der Genitalien ab anstatt von der Veränderung im Nervensystem. Dabei mag immer noch die Urethra nostica ein ähnliches Reflexorgan sein wie die Nase. Er schneidet sich doch die Anknüpfung an die großen Gesichtspunkte weg.

Ich denke mir, umgehen kannst Du die Erwähnung der sexuellen Ätiologie der Neurosen nicht, ohne aus dem Kranz das schönste Blatt zu reißen. So tue es gleich in der den Verhältnissen entsprechenden Weise. Kündige die bevorstehenden Untersuchungen an, gib das antizipierte Resultat für das aus, was es eigentlich ist, für etwas Neues, zeige den Leuten den Schlüssel, der alles erschließt, die ätiologische Formel, und wenn Du mir dabei durch Aufnahme einer Bemerkung wie der vom befreundeten Kollegen einen Platz schaffst, so bin ich sehr erfreut anstatt böse zu sein. Ich. habe einen solchen Passus über die Sexualität Dir vorschlagsweise hinzugeschrieben.

In Betreff der Therapie bei den neurasthenischen Nasalneurosen würde ich mich nicht zu absprechend äußern. Es kann auch hier Resterscheinungen geben, die prompt weichen, und wenn es reine Fälle von vasomotorischen Reflexneurosen gibt, so sind vielleicht die rein organischen Fälle nicht sehr häufig, die Mischfälle vielleicht der Typus. So denke ich mir's.

Nun, »Go where glory waits thee«. Mit herzlichem Gruß an Dich und Ida

Dein Sigm. Freud

Kein Mißverständnis. Keine Namensnennung! Du hältst mich doch nicht für so ehrsüchtig.

Briefe 13–18

13. Wien, 10.7.93

Liebster Freund!

Hätten wir uns nicht volle Freiheit des Verkehrs vorbehalten, so müßte ich mich heute sehr eindringlich entschuldigen. Du machst aber nicht einmal eine Bemerkung über meine Nachlässigkeit, die in einer hypernormalen Schreibmüdigkeit nach einer argen Schreibkampagne begründet ist.

Mit der Anfrage, wann und wo heuer, bist Du mir nur um wenige Tage zuvorgekommen. Also so: um dieselbe Zeit, Mitte August oder etwas früher, beginnen auch die Ferien, die ich mir diktiere. Daß wir uns also sehen, unterliegt keinen Schwierigkeiten ...

Hysterische Lähmungen sollten schon längst erschienen sein, wahrscheinlich kommen sie in der August Nummer, es ist ein ganz kurzer Aufsatz ... Du erinnerst Dich vielleicht, daß ich die Sache schon hatte, als Du mein Schüler warst, und daß ich dem Publikum im Kurs damals darüber vortrug. Mit den Neurosen möchte ich Dein Gemüt nicht belasten, ich sehe jetzt soviel Neurasthenien, daß ich die Arbeit ganz wohl im Verlauf von zwei bis drei Jahren auf mein Material beschränken kann. Ich löse unsere Gemeinschaft darum nicht auf. Erstens hoffe ich, daß Du den physiologischen Mechanismus meiner klinischen Feststellungen auf Deinem Weg aufklären wirst, 2. will ich das Recht weiterhin haben, Dir mit allen meinen Neurosentheorien und Funden zu kommen, 3. hoffe ich noch auf Dich als auf den Messias, der das von mir aufgezeigte Problem durch eine technische Verbesserung löst.

Deine Nasalreflexsache ist keineswegs ins Wasser gefallen, das merkst Du ja auch selbst. Die Leute brauchen nur zu allem Zeit ... Unsere Hysteriearbeit hat in Paris von seiten Janets endlich die gebührende Würdigung erfahren. Es war seither mit Breuer nicht viel zu machen. Hochzeiten, Reisen, Praxis haben ihn ausgefüllt. Ich merke, ich kann kaum leserlich weiterschreiben, schließe also rasch mit den Versicherungen, daß wir uns alle wohlbefinden, daß ich trotz mangelnder Auskunft dasselbe von Dir und Ida hoffe und daß ich mich riesig darauf freue, die Absicht schon heuer zu verwirklichen. Mit herzlichstem Gruß

Dein Sigm. Freud

14. Wien, 6.10.93

Liebster Freund!

Dein Urteil über den Charcot und die Nachricht, daß Du ihn Ida vorgetragen hast, hat mich sehr entzückt ... Es ist inzwischen lebhafter geworden, die sexuelle Geschichte zieht Leute an, die sämtlich frappiert und überzeugt von dannen gehen, nachdem sie ausgerufen haben »danach hat mich noch niemand gefragt«. Es kompliziert sich immer mehr, während es sich bestätigt. Gestern z.B. sah ich vier neue Fälle, deren Ätiologie nach den Zeitverhältnissen nur Coitus interruptus sein konnte. Es wird Dir vielleicht Spaß machen, wenn ich sie kurz charakterisiere. Sie sind weit entfernt von Gleichförmigkeit.

1. Frau von 41 Jahren, Kinder 16, 14, 11 und 7. Nervös seit 12 Jahren, in Gravidität gut, nachher wieder begonnen, durch letzte Gravidität nicht verschlechtert. Anfälle von Taumel mit Schwächegefühl, Agoraphobia, ängstliche Erwartung, nichts Neurasthenisches, wenig Hysterie. Ätiologie bestätigt, rein.

2. Frau von 24 Jahren, Kinder vier und zwei Jahre, seit Frühjahr 93 nächtlicher Schmerzanfall (vom Rücken zum Sternum) mit Schlaflosigkeit, sonst nichts, tagsüber wohl. Mann Reisender, war im Frühjahr sowie jetzt längere Zeit zu Hause. Im Sommer während Reise des Mannes völligstes Wohlsein. Coitus interruptus und große Angst vor Kindern, also Hysterie.

3. Mann 42 Jahre. Kinder 17, 16, 13. Bis vor sechs Jahren gesund, dann bei Tod des Vaters plötzlicher Angstanfall mit Herzversagen, hypochondrische Sorge um Zungenkrebs, mehrere Monate später zweiter Anfall von Cyanose, Aussetzen des Pulses, Todesangst etc., seither schwach, schwindlig, agoraphob., etwas Dyspepsie. Hier reine mit Herzerscheinungen versetzte Angstneurose nach Gemütsbewegung, während scheinbar Coitus interruptus durch zehn Jahre gut vertragen wurde.

4. Mann von 34 Jahren, seit drei Jahren appetitlos, seit einem Jahr Dyspepsie mit Verlust von 20 Kilo, Obstipation, nach Aufhören derselben heftigster Kopfdruck bei Scirocco, Anfälle von Schwäche mit assoziierten Sensationen, hysteriforme Schüttelkrämpfe. Hier wiegt also die Neurasthenie vor. Ein Kind, fünf Jahre. Seither Coitus interruptus wegen Krankheit der Frau; etwa gleichzeitig mit Heilung der Dyspepsie wurde der normale Koitus wieder aufgenommen.

Angesichts solcher Reaktionen auf dieselbe Noxe die Spezifität der Wirkungen in meinem Sinne festzuhalten, dazu gehört Mut. Und doch muß es so sein und es ergeben sich selbst in diesen vier Fällen (reine Angstneurose – reine Hysterie – Angstneurose mit Herzsymptomen – Neurasthenie mit Hysterie) gewisse Anhaltspunkte. Bei

1. einer sehr klugen Frau, fällt die Angst vor Kinderhaben weg, sie hat die reine Angstneurose;

2. nettes dummes Frauchen ist die Angst sehr ausgebildet, sie hat nach kurzer Zeit zuerst Hysterie;

3. mit Angst und Herzsymptomen ist ein hochpotenter Mann, der ein starker Raucher war;

4. im Gegenteil ist (ohne Abusus) mit einer nur mäßigen Potenz ausgestattet, frigid.

Jetzt denke Dir, daß einer ein Arzt wäre wie Du, etwa gleichzeitig Genitalien und Nase untersuchen könnte; das Rätsel müßte sich binnen kurzer Zeit lösen lassen.

Ich bin aber zu alt, faul und überhäuft mit Pflichten, um selbst noch etwas zu lernen. Mit herzlichstem Gruß von Haus zu Haus

Dein Sigm. Freud Frau und Kinder sind im besten Wohlbefinden vorgestern eingerückt.

15. Wien, 17.11.93

Teurer Freund!

Das Sexualgeschäft konsolidiert sich sehr, die Widersprüche verstummen, aber das neue Material ist recht spärlich infolge einer geradezu ungewöhnlichen Armseligkeit meiner Ordinationsstunde. Wo ich einen Fall zur gründlichen Reparatur übernommen habe, bestätigt sich alles, und manchmal findet der Sucher mehr, als er zu finden wünschte, besonders die Anaesthesia sexualis ist recht vieldeutig und zuwider. Die Angst Typus X hat sich wohl erklärt. Ich habe einen vergnügten alten Junggesellen gesehen, der sich nichts abgehen läßt und der einen klassischen Anfall produziert hat, nachdem er sich von seiner dreißigjährigen Dame zu einem dreimaligen Koitus hinreißen ließ. Ich bin überhaupt darauf gekommen, die Angst nicht an eine psychische, sondern an eine physische Folge der sexualen Mißbräuche zu knüpfen. Ein wunderbar reiner Fall von Angstneurose nach Coitus interruptus bei einer ruhigen und ganzfridigen Frau hat mich darauf gebracht. Es geht auch sonst gar nicht zusammen.

... Mit Breuer stehe ich gut, sehe ihn wenig. Er hat sich für meine Samstagsvorlesung inskribiert! ... Beilage (Enuresis) ist ein Schmarrn ... Mit herzlichstem Gruß ans ganze Haus

Dein Sigm. Freud.

16. Wien, 7.2.94

Liebster Freund!

Ich bin auch gegenwärtig so überhetzt, daß ich Deinen Brief gleich beantworte, um ihn nicht zu lange unbeantwortet zu lassen. Deine Anerkennung der Theorie der Zwangsvorstellungen tut mir sehr wohl, fehlst Du mir doch während einer solchen Arbeit die ganze Zeit. Wenn Du im Frühjahr nach Wien kommst, mußt Du ein paar Stunden der Familie entreißen und dem Austausch mit mir schenken. Ich habe noch etwas in petto, was mir erst dämmert. Du siehst, die letzte Arbeit handelt von Affektverwandlung und -versetzung, außerdem gibt es noch Vertauschung. Weiter lüfte ich den Schleier noch nicht.

Du hast Recht, der Zusammenhang der Zwangsneurose mit dem Sexuellen liegt nicht immer so klar zu Tage. Ich kann Dir versichern, er war bei meinem Fall II (Harndrang) auch nicht leicht zu finden; wer ihn nicht so monoideistisch wie ich gesucht hätte, hätte ihn übersehen. Und das Sexuelle beherrscht in diesem Fall, den ich in mehrmonatlicher Mastkur gründlich kennen lerne, einfach die ganze Szene! – Dein Fall der degoutierten und geschiedenen Frau trägt wohl die Eignung in sich, bei näherer Analyse dasselbe Ergebnis zu liefern.

Ich bin gegenwärtig mit der Analyse mehrerer Fälle beschäftigt, die wie Paranoia aussehen und die nach meiner Theorie zugegangen sind. Die Hysteriearbeit mit Breuer ist halb fertig, es fehlt die bei weitem kleinere Zahl von Krankengeschichten und zwei allgemeine Kapitel.

Ich weiß nicht, ob ich Dir schon geschrieben habe, daß ich bei der Naturforscherversammlung im September als 1. Schriftführer der neurologischen Sektion fungieren muß. Hoffentlich sehe ich Dich auch dabei und manchmal bei uns.

Hier ist jetzt Billroths Tod Tagesereignis. Beneidenswert, sich nicht überlebt zu haben.

Mit herzlichsten Grüßen von uns allen an Dich und Deine liebe gute Frau

Dein Sigm. Freud

17 Wien, 19.4.94

Liebster Freund!

Dein lieber Brief macht meiner Zurückhaltung und Schonung ein Ende. Ich fühle mich berechtigt, Dir von meinem Befinden zu schreiben. Die wissenschaftlichen und persönlichen Nachrichten folgen dann hinterher. Da jeder Mensch irgendwen haben muß, von dem er sich suggerieren läßt, um sich von seiner Kritik auszuruhen, habe ich tatsächlich von damals an (es sind heute drei Wochen) nichts Warmes mehr zwischen den Lippen gehabt und kann heute bereits andere ohne Neid rauchen sehen, mir auch wieder Leben und Arbeit ohne diesen Beitrag vorstellen. Lange ist es nicht her, daß ich so weit bin, auch war das Elend der Abstinenz von einer ungeahnten Größe, aber das ist ja selbstverständlich. Minder selbstverständlich ist vielleicht mein sonstiges Befinden. Bald nach der Entziehung kamen leidliche Tage, in denen ich auch anfing, den Stand der Neurosenfrage für Dich niederzuschreiben; da kam plötzlich ein großes Herzelend, größer als je beim Rauchen. Tollste Arrhythmie, beständige Herzspannung – Pressung – Brennung, heißes Laufen in den linken Arm, etwas Dyspnoe von verdächtig organischer Mäßigung, das alles eigentlich in Anfällen, d.h. über zwei zu drei des Tages in continuo erstreckt und dabei ein Druck auf die Stimmung, der sich in Ersatz der gangbaren Beschäftigungsdelirien durch Toten- und Abschiedsmalereien äußerte. Die Organbeschwerden sind seit zwei Tagen gemildert, die hypomanische Stimmung besteht fort, ist nur so freundlich (wie gestern abend und heute Mittag) plötzlich zu weichen und einen Menschen zurückzulassen, der sich wieder langes Leben und unverringerte Rauchlust zutraut.

Es ist ja peinlich für den Medicus, der sich alle Stunden des Tages mit dem Verständnis der Neurosen quält, nicht zu wissen, ob er an einer logischen oder an einer hypochondrischen Verstimmung leidet. Man muß ihm dabei helfen. Ich habe mich auch wirklich gestern abend an X. gewendet und ihm gesagt, nach meiner Idee stimmten die Herzbeschwerden nicht mit einer Nikotinvergiftung, sondern ich hätte wohl eine chronische Myocarditis, die das Rauchen nicht verträgt. Ich erinnere mich auch sehr gut, daß die Arrhythmie ziemlich plötzlich 1889 nach meinem Influenzaanfall aufgetreten ist. Ich hatte die Genugtuung, daß er erwiderte, das könnte so oder auch so sein, und ich sollte mich nächstens untersuchen lassen. Ich versprach, weiß aber, daß man dabei meist nichts findet. Ich weiß nicht, inwieweit die Unterscheidung heider Dinge überhaupt möglich ist, denke mir aber, es müßte aus subjektiven Symptomen und Verlauf wohl gehen und Ihr wüßtet wohl, was davon zu halten. Speziell Du bist mir diesmal verdächtig, denn meine Herzangelegenheit ist die einzige, in der ich widersprechende Äußerungen von Dir gehört habe. Das vorige Mal erklärtest Du es für nasal und sagtest, es fehle der perkutorische Befund des Nikotinherzens, heute zeigst Du eigentlich große Unruhe um mich, versagst mir das Rauchen. Ich kann das nur verstehen, wenn ich annehme, Du wolltest mir den eigentlichen Stand der Sache verdecken, und bitte Dich, es nicht zu tun. Wenn Du etwas Sicheres sagen kannst, teile es mir nur mit. Ich habe weder von meiner Verantwortlichkeit noch von meiner Unentbehrlichkeit eine übergroße Meinung und werde die Unsicherheit und die Lebensabkürzung, die mit der Diagnose der Myocarditis verbunden ist, sehr würdevoll ertragen, vielleicht im Gegenteil für die weitere Einrichtung meines Lebens Vorteil daraus ziehen und mich über alles sehr freuen, was mir verbleibt. Schmerzlich war mir die Wahrnehmung, daß ich im Falle einer chronischen Krankheit nicht auf die Wissenschaft zu rechnen hätte, da ich so ganz arbeitsunfähig war. Deine schönen Krankengeschichten habe ich nicht angesehen, der »gegenwärtige Stand der Lehre von den Neurosen« ist mitten im Satz abgebrochen, alles ist wie in Dornröschens Schloß, als plötzlich die Katalepsie eintrat. Bei der unzweifelhaft lösenden Tendenz dieser letzten Tage hoffe ich bald nachgeholt zu haben und werde Dir dann berichten ...

Ich habe sonst nichts Neues in der Theorie der Neurosen; aber sammle fortwährend und es wird wohl was werden.

Wie ich arbeitsfähig werde, schicke ich Dir einmal einen Pack interessanter Krankengeschichten.

Mit vielen herzlichen Grüßen an Deine liebe Frau und Dich und vielen Dank für Deinen Brief

Dein Sigm. Freud

18. Wien, 21.5.94

Liebster Freund!

... Ich bin hier ziemlich allein mit der Aufklärung der Neurosen. Sie betrachten mich so ziemlich als einen Monomanen, und ich habe die deutliche Empfindung, an eines der großen Geheimnisse der Natur gerührt zu haben. Es ist etwas Komisches um das Mißverhältnis zwischen der eigenen und der fremden Schätzung seiner geistigen Arbeit. Da ist dieses Buch über die Diplegien, das ich mit einem Minimum von Interesse und Anstrengung zusammengestoppelt habe, fast in übermütiger Stimmung. Es hat riesigen Erfolg gehabt. Die Kritik sagt das Schönste darüber, insbesondere die französischen Würdigungen wimmeln von Anerkennung. Eben heute habe ich ein Buch von Raymond, dem Nachfolger Charcots, in die Hand bekommen, das diese Arbeit in dem entsprechenden Abschnitt einfach ausschreibt, unter ehrenvoller Erwähnung natürlich. Und von den wirklich guten Sachen, wie die Aphasie, die jetzt mit dem Erscheinen drohenden Zwangsvorstellungen, wie die Ätiologie und Theorie der Neurosen sein wird, kann ich nichts Besseres erwarten als einen achtungsvollen Durchfall. Es macht einen irre und etwas bitter. Ich habe noch hundert größere und kleinere Lücken in der Neurosensache, nähere mich aber einem Überblick und allgemeinen Gesichtspunkten. Ich kenne drei Mechanismen, den der Affektverwandlung (Konversions-Hysterie), der Affektverschiebung (Zwangsvorstellungen), und 3. den der Affektvertauschung (Angstneurose und Melancholie). Überall soll es sexuelle Erregung sein, die solche Umsetzungen eingeht, aber nicht überall liegt der Anstoß dazu im Sexuellen; d.h. überall dort, wo Neurosen erworben werden, da werden sie es durch Störungen des Sexuallebens, es gibt aber Leute mit hereditär gestörtem Verhalten der Sexualaffekte, die die entsprechenden Formen der hereditärischen Neurosen entwickeln. Die höchsten Gesichtspunkte, unter die ich die Neurosen bringen kann, sind folgende vier:

1. Degeneration,

2. Senilität. Was heißt das nun?

3. Konflikt,

4. Konflagration.

Degeneration bedeutet das angeborene abnorme Verhalten der Sexualaffekte, so daß konvertiert, verschoben, in Angst verwandelt wird, in dem Maße als die Sexualaffekte im Lauf des Lebens ins Spiel treten.

Senilität ist klar, es ist gleichsam die normaler Weise mit dem Alter zu erwerbende Degeneration.

Konflikt deckt sich mit meinem Gesichtspunkt der Abwehr, umfaßt die Fälle von erworbener Neurose bei nicht hereditär abnormen Menschen. Das Abgewehrte ist immer die Sexualität.

Konflagration ist ein neuer Gesichtspunkt, bedeutet Zustände von gleichsam akuter Degeneration (z.B. in schweren Intoxikationen, Fiebern, im Vorstadium der Paralyse), Katastrophen also, in denen ohne sexuelle Anlässe Störungen der Sexualaffekte eintreten. Vielleicht ist hier für die traumatische Neurose anzuknüpfen.

Der Kern und Haltpunkt der ganzen Geschichte bleibt natürlich die Tatsache, daß durch besondere sexuelle Schädigung auch die Gesunden die einzelnen Formen der Neurosen erwerben können. Die Brücke zur weiteren Auffassung bildet die Tatsache, daß wo Neurose ohne sexuelle Schädigung entsteht, eine ähnliche Störung der Sexualaffekte von vornherein nachweisbar ist. Sexualaffekt natürlich im weitesten Sinn genommen als Erregung von fester Quantität.

Vielleicht bringe ich Dir mein letztes Beispiel für diesen Satz. Ein 42-jähriger Mann, kräftig, schön, bekommt im 30. Jahr plötzlich eine neurasthenische Dyspepsie mit 25 Kilo Verlust, lebt seither reduziert und neurasthenisch weiter. Zur Zeit der Entstehung allerdings Bräutigam und über Krankheit der Braut gemütlich alteriert. Sonst aber keine sexuellen Schädlichkeiten. Vielleicht nur ein Jahr onaniert, 16–17, mit 17 normaler Verkehr, kaum je Coitus interruptus, keine Exzesse, keine Abstinenz. Bezeichnet selbst sein Pochen auf seine Konstitution bis zu 30 Jahren, sein vieles Arbeiten, Trinken, Rauchen, unregelmäßiges Leben als Ursache. Allein dieser kräftige, banalen Schädlichkeiten erliegende Mann war nie (von 17–30 nie) ordentlich potent, konnte Koitus immer nur einmal ausüben, dabei rasch fertig, nie sein Glück bei Frauen recht ausgenützt, fand nie rasch hinein in die Vagina. Woher diese Verkürzung? Ich weiß nicht, aber es ist doch auffällig, daß sie sich gerade bei ihm findet. Übrigens habe ich zwei Schwestern von ihm an Neurosen behandelt, eine gehört zu meinen schönsten, geheilten neurasthenischen Dyspepsien. Mit herzlichem Gruß für Dich und Ida von Deinem getreuen

Sigm. Freud.

(Manuskript D) Zur Ätiologie und Theorie der großen Neurosen

I. Gliederung

Einleitung: Historisches, Allmählige Sonderung der Neurosen – Eigener Entwicklungsgang.

A. Morphologie der Neurosen.

1. Neurasthenie und Pseudoneurasthenien.

2. Angstneurose.

3. Zwangsneurose.

4. Hysterie.

5. Melancholie, Manie.

6. Die gemischten Neurosen.

7. Ausläuferzustände der Neurosen und Übergänge ins Normale.

B. Ätiologie der Neurosen mit vorläufiger Beschränkung auf die erworbenen.

1. Ätiologie der Neurasthenie – Typus der angeborenen Neurasthenie.

2. Ätiologie der Angstneurose,

3. der Zwangsneurose und Hysterie,

4. der Melancholie,

5. der gemischten Neurosen.

6. Die ätiologische Grundformel. – Die Behauptung der Spezifität, die Analyse der Neurosengemenge.

7. Die sexuellen Momente nach ihrer ätiologischen Bedeutung.

8. Das Examen.

9. Verhalten und Beweise.

10. Verhalten der Asexualen.

C. Ätiologie und Heredität.

Die hereditären Typen – Verhältnis der Ätiologie zur Degeneration, zu den Psychosen und zur Disposition.

II. Theorie

D. Anknüpfung an die Theorie der Konstanz.

Innere und äußerer Reizzuwachs, konstante und ephemere Erregung. – Summationscharakter der inneren Erregung. – Spezifische Reaktion – Formulierung und Ausführung der Konstanztheorie – Einflechtung des Ich mit Aufspeicherung der Erregung.

E. Der Sexualvorgang int Sinne der Konstanztheorie.

Weg der Erregung beim männlichen und weiblichen Sexualvorgang. Weg der Erregung bei den ätiologisch wirksamen Sexualschädlichkeiten. – Theorie einer sexuellen Substanz. – Das Sexualschema.

F. Mechanismus der Neurosen.

Die Neurosen Gleichgewichtsstörungen durch erschwerte Abfuhr. – Ausgleichsversuche mit beschränkter Zweckmäßigkeit. – Mechanismus der einzelnen Neurosen mit Beziehung auf ihre sexuelle Ätiologie. – Affekte und Neurosen.

G. Parallelismus der sexuellen und Hungerneurosen.

H. Zusammenfassung der Konstanztheorie, Sexual- und Neurosentheorie. Stellung der Neurosen in Pathologie, Momente unter welche sie fallen. Gesetzmäßige Kombination derselben – Psychische Unzulänglichkeit, Entwicklung, Degeneration u. dgl.

(Manuskript E) Wie die Angst entsteht

Mit sicherer Hand stellst Du die Frage dort, wo ich den schwachen Punkt fühle. Ich weiß darüber also nur folgendes:

Daß die Angst meiner Neurotischen viel mit der Sexualität zu tun hat, ist mir rasch klar geworden und zwar ist mir aufgefallen, mit welcher Sicherheit der an der Frau verübte Coitus interruptus zur Angstneurose führt. Ich bin nun zuerst verschiedene Irrwege gegangen. Ich dachte, die Angst, an der die Kranken leiden, sei aufzufassen als Fortsetzung der beim sexuellen Akt empfundenen, also eigentlich ein hysterisches Symptom. Die Beziehungen zwischen Angstneurose und Hysterie sind ja manifest genug. Anlaß zur Angstempfindung – beim Coitus interruptus – könnte zweierlei geben: bei der Frau die Befürchtung, gravid zu werden, beim Mann die Sorge, das Kunststück zu verfehlen. Ich überzeugte mich nun an verschiedenen Fällen, daß Angstneurose auch dort auftrat, wo von diesen beiden Momenten keine Rede gewesen war, wo es den Leuten im Grunde nicht wichtig war, ob sie ein Kind bekommen. Also eine fortgesetzte, erinnerte, hysterische Angst war die Angstneurose nicht. Ein zweiter höchst wichtiger fester Punkt zeigte sich mir durch folgende Beobachtung: die Angstneurose befällt Frauen, die beim Koitus anästhetisch sind, gerade so wie die empfindlichen. Das ist höchst merkwürdig, es kann aber nur den Sinn haben, daß die Quelle der Angst nicht im Psychischen zu suchen ist. Demnach liegt sie im Physischen, es ist ein physisches Moment des Sexuallebens, was Angst erzeugt. Welches aber?

Zu diesem Zwecke stelle ich mir die Fälle zusammen, in denen ich Angst aus sexueller Ursache stammend fand. Sie erscheinen zunächst recht disparat.

1. Angst bei virginalen Personen (sexuelle Wahrnehmungen und Mitteilungen, Ahnungen des Sexuallebens); durch zahlreiche sichere Beispiele bestätigt, beide Geschlechter, Frauen vorwiegend. Nicht selten eine Hindeutung auf ein Mittelglied, eine erektionsartige Empfindung, die in den Genitalien entsteht.

2. Angst bei absichtlich abstinenten Personen, Prüden (ein Typus der Neuropathen). Männer und Frauen, die sich durch Pedanterie und Reinlichkeitssinn auszeichnen, denen alles Sexuelle ein Greuel ist; dieselben Personen neigen zur Verarbeitung der Angst in Phobien, Zwangshandlungen, Folie de doute.

3. Angst der notgedrungen Abstinenten, Frauen, die vom Manne vernachlässigt oder wegen mangelnder Potenz nicht befriedigt werden. Diese Form der Angstneurose mit Sicherheit erwerbbar, infolge der Nebenumstände mit Neurasthenie häufig kombiniert.

4. Angst der im Coitus interruptus lebenden Frauen, oder was ähnlich ist, der Frauen, deren Männer vorzeitige Ejakulation haben, Personen also, die auf physische Reizung nicht zur Befriedigung kommen.

5. Angst der den Coitus interruptus übenden Männer, noch mehr solcher, die sich auf mannigfaltige Art erregen und die Erektion nicht zum Koitus verwerten.

6. Angst der Männer, die über ihre Lust oder Kräfte gehen, die aber doch Koitus forcieren.

7. Angst der Männer, die gelegentlich abstinieren, jüngere Männer, die ältere Frauen geheiratet haben, vor denen ihnen eigentlich graust, oder der Neurastheniker, die von der Masturbation abgezogen werden durch geistige Beschäftigung, ohne dafür zu koitieren, oder die bei beginnender Potenzschwäche in der Ehe wegen Sensationen post coitum abstinieren.

In übrigen Fällen war der Zusammenhang der Angst mit dem Sexualleben nicht augenfällig (er konnte theoretisch festgestellt werden). Wie ließen sich alle diese Einzelfälle vereinigen? Am meisten kehrt darin die Abstinenz wieder. Durch die Tatsache, daß auch Anästhetische auf Coitus interruptus Angst bekommen, belehrt, möchte man sagen, es handelt sich um eine physische Anhäufung von Erregung, also Anhäufung physischer sexualer Spannung. Die Anhäufung ist die Folge verhinderter Abfuhr, es ist also die Angstneurose eine Stauungsneurose wie die Hysterie, daher die Ähnlichkeit, und da die Angst gar nicht in dem Angehäuften enthalten ist, so drückt man die Tatsache auch so aus, die Angst ist durch Verwandlung aus der angehäuften Spannung hervorgegangen.

Eine gleichzeitig erworbene Kenntnis über den Mechanismus der Melancholie schiebt sich hier ein. Gar besonders häufig sind die Melancholischen anästhetisch gewesen, sie haben kein Bedürfnis (und keine Empfindung) nach dem Koitus, aber große Sehnsucht nach Liebe in ihrer psychischen Form, man möchte sagen psychische Liebesspannung; wo diese sich anhäuft und unbefriedigt bleibt, entsteht Melancholie. Das wäre also das Gegenstück zur Angstneurose.

Wo sich physische Sexualspannung anhäuft – Angstneurose.

Wo sich psychische Sexualspannung anhäuft – Melancholie.

Warum, aber die Verwandlung in Angst bei der Anhäufung? Da sollte man auf den normalen Mechanismus der Erledigung angehäufter Spannung eingehen. Es handelt sich hier um den zweiten Fall, den Fall endogener Erregung. Bei exogener Erregung ist die Sache einfacher. Die Erregungsquelle ist außen und schickt einen Erregungszuwachs in die Psyche, der nach seiner Quantität erledigt wird. Es reicht dazu jede Reaktion hin, die die psychische Erregung um dasselbe Quantum vermindert. Anders bei endogener Spannung, deren Quelle im eigenen Körper liegt (Hunger, Durst, Sexualtrieb). Hier nützen nur spezifische Reaktionen, solche, die das weitere Zustandekommen der Erregung in den betreffenden Endorganen verhindern, ob sie mit großem oder geringem Aufwand zugänglich sind. Man kann sich hier vorstellen, daß die endogene Spannung kontinuierlich oder diskontinuierlich wächst, jedenfalls erst bemerkbar wird, wenn sie eine gewisse Schwelle erreicht hat. Erst von dieser Schwelle an wird sie psychisch verwertet, tritt mit gewissen Vorstellungsgruppen in Beziehung, welche dann die spezifische Abhilfe veranstalten. Also physisch sexuale Spannung erweckt von gewissem Wert an psychische Libido, die dann den Koitus u. dgl. einleitet. Kann die spezifische Reaktion nicht erfolgen, so wächst die physisch-psychische Spannung (der Sexualeffekt) ins Ungemessene, er wird störend, es ist aber noch immer kein Grund zu seiner Verwandlung. Bei der Angstneurose tritt solche Verwandlung aber ein, somit taucht jetzt der Gedanke auf, es handle sich dabei um folgende Entgleisung: die physische Spannung wächst, erreicht ihren Schwellenwert, mit dem sie psychischen Affekt wecken kann, aber aus irgendwelchen Gründen bleibt die psychische Anknüpfung, die ihr geboten ist, ungenügend, es kann nicht zur Bildung eines Sexualeffektes kommen, weil es an den psychischen Bedingungen fehlt: somit verwandelt sich die nicht psychisch gebundene Spannung in – Angst.

Folgt man der Theorie so weit, so muß man fordern, daß bei der Angstneurose ein Manko an Sexualaffekt, an psychischer Libido zu konstatieren sei. Das wird nun von der Beobachtung bestätigt. Die Patientinnen sind alle über den aufgestellten Zusammenhang entrüstet, im Gegenteil, sie haben jetzt gar keine Lust usw. Männer bestätigen es oft als Wahrnehmung, seitdem sie ängstlich sind, empfinden sie gar keine sexuelle Lust.

Wir wollen jetzt die Probe machen, ob dieser Mechanismus für die einzeln aufgezählten Fälle stimmt:

1. Virginale Angst. Hier ist das Vorstellungsgebiet, das die physische Spannung aufnehmen soll, noch nicht vorhanden, oder es ist nur ungenügend vorhanden und es kommt psychische Ablehnung als sekundäres Erziehungsresultat hinzu. Stimmt sehr gut.

2. Angst der Prüden. Hier ist der Fall der Abwehr, direkte psychische Verweigerung, die die Verarbeitung der Sexualspannung unmöglich macht. Hier auch der Fall der häufigen Zwangsvorstellungen. Stimmt sehr gut.

3. Angst der erzwungenen Abstinenz ist eigentlich dasselbe, da solche Frauen meist, um nicht in Versuchung zu geraten, psychische Verweigerung schaffen. Letztere ist hier eine gelegentliche, bei 2. eine prinzipielle.

4. Angst des Coitus interruptus bei Frauen. Hier ist der Mechanismus einfacher. Es handelt sich um endogene Erregung, die nicht entsteht, sondern erzeugt wird, aber nicht in dem Maße, daß sie psychischen Affekt wecken könnte. Es wird künstlich eine Entfremdung zwischen physisch-sexualem Akt und dessen psychischer Verarbeitung herbeigeführt. Wenn dann die endogene Spannung sich aus eigenem noch steigert, findet sie keine Verarbeitung und macht Angst.

Also nach psychischer Verweigerung hier psychische Entfremdung.

endogen entstandene Spannung – zugeführte Spannung

5. Angst des Coitus interruptus oder der Zurückhaltung bei Männern. Der klarere Fall ist der der Zurückhaltung, Coitus interruptus läßt sich zum Teil als solche auffassen. Es handelt sich wiederum um psychische Ablenkung, indem der Aufmerksamkeit ein anderes Ziel gesetzt und sie von der Verarbeitung der physischen Spannung abgehalten wird.

Die Erklärung des Coitus interruptus ist aber wahrscheinlich einer Verbesserung bedürftig.

6. Angst der abnehmenden Potenz oder der unzureichenden Libido. Was hier nicht Umsetzung der physischen Spannung in Angst wegen Senilität ist, erklärt sich dadurch, daß nicht genügend psychische Lust für den einzelnen Akt aufgebracht werden kann.

7. Angst der degoutierten Männer, abstinenten Neurastheniker. Erstere fordert keine neue Erklärung, letztere ist vielleicht eine besondere abgeschwächte Form von Angstneurose, da diese sonst nur bei Potenten ordentlich ausfällt, und hat etwa damit zu tun, daß das neurasthenische Nervensystem eine Anhäufung von physischer Spannung nicht aushält, da mit der Masturbation die Gewöhnung an häufige, vollständige Spannungslosigkeit verbunden ist.