Briefwechsel Erasmus Schöfer-Rüdiger Scholz -  - E-Book

Briefwechsel Erasmus Schöfer-Rüdiger Scholz E-Book

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Beschreibung

Der vorliegende Briefwechsel zwischen dem Literaturwissenschaftler Rüdiger Scholz und dem Schriftsteller Erasmus Schöfer, entstanden zwischen 2004 und 2021, gibt Einblicke in das Denken der Verfasser, in die Ansichten, Standpunkte und Meinungen, in das Leiden am Zustand der Gesellschaft und in die Versuche der Gegenwehr. In seinen Briefen mit ihren witzigen, ganz eigenen Formulierungen wird Erasmus Schöfer noch einmal lebendig.

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Briefwechsel Erasmus Schöfer-Rüdiger Scholz

Die publizistische Arbeitsgemeinschaft und Freundschaft zweier westdeutscher Sozialisten

Herausgegeben vonRüdiger Scholz

Dem Gedenken an Erasmus Schöfer

© Dittrich Verlag ist ein Imprint

der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2023

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-97-0

eISBN 978-3-910732-07-0

www.dittrich-verlag.de

Satz: Gaja Busch, Berlin

Coverdesign: Helmi Schwarz-Seibt, Leverkusen, unter Verwendung einer Aufnahme von Eramus Schöfers kleinem Haus auf Ithaka, das er »Gripslust« nannte

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

© Hans Peter Schaefer, 15.6.2008

Vorwort

Briefwechsel in der Gegenwart sind selten. Die Kommunikation über Telefon, vor allem Mobiltelefon, hat das Briefe Schreiben fast zum Erliegen gebracht. Die schnell hingeworfenen elektronischen Briefe, neudeutsch »Emails«, sind eher zum schnellen Verbrauch bestimmt und werden meist nach einiger Zeit gelöscht. Daher ist der folgende Briefwechsel als ein Dokument der letzten zwei Jahrzehnte eher die Ausnahme. Erasmus Schöfer und ich gehören der älteren Generation mit ihrem Sinn für Gespräche in Briefen an. Als wir uns kennen lernten, waren wir beide schon im Pensionsalter, Schöfer schon 73. Hinzu kommt, dass ich kein Freund von langen Telefongesprächen bin und lieber Briefe schreibe.

Die Briefe sind Resultate einer fast ununterbrochenen Arbeitsbeziehung, basierend auf ständiger publizistischer Tätigkeit. Als der Kontakt begann, waren erst zwei der vier Sisyphos-Romane erschienen. Das Erscheinen der letzten beiden Bände und die Verbreitung des Gesamtromans waren auf Schöfers Seite das Hauptfeld seiner Publizistik.

Die Briefe sind für die Entstehungsgeschichte des vierten Bandes eine wichtige Quelle. Dass Schöfer die Absicht hatte, über die Behandlung von Bliss in der Charité zwei Kapitel über die DDR in den vierten Band einzufügen, dieses Vorhaben aber aufgab, erfährt man in seinem Brief vom Januar 2008.

Die Herausgabe früherer Texte sollten das Gesamtwerk Schöfers dokumentieren und damit sichern.

Ich selbst habe frühere, liegen gebliebene Manuskripte zu Ende geführt. Neben Rezensionen zu Schöfers Sisyfos erschienen seit 2004: die Herausgabe der Akten zu drei Kindesmordfällen und Goethes Beteiligung an der Hinrichtung von Johanna Höhn 1783, 2020 in wesentlich erweiterter zweiter Auflage; die zweibändige Geschichte der Faust-Forschung, die Neuauflage meines Buches über Goethes Faust, ein Buch über Lessing, ein weiteres über Heine. Bei der Höhn-Geschichte nahm Schöfer Kontakt zu Karl Otto Conrady, dem Goethe-Biographen, auf, der an dem Fall Höhn sehr interessiert war, Vorträge hielt und Aufsätze veröffentlichte. Conrady lebte in Köln, Schöfer kannte ihn persönlich. Zur Geschichte der Faust-Forschung schrieb Schöfer eine Rezension. Bei meinem Buch über Max von der Grün war der Arbeitskontakt durch das Gespräch von Schöfer und Wallraff über Max von der Grün intensiv.

Die Briefe spiegeln die Versuche, die Erfolge und die Niederlagen bei der Durchsetzung eines öffentlichen sozialistischen Blicks auf unsere Gesellschaft. Der private, familiäre Anteil ist sehr gering, beschränkt sich neben ein paar Bemerkungen zu Schöfers Lebensgefährtin der letzten 36 Jahre, Paula Keller, auf Berichte über Reisen und die Beeinträchtigungen der Gesundheit. Ganz selten finden sich Bemerkungen über die zahlreichen Kinder, Enkelkinder und Urenkel von Schöfer.

Ein Zeitdokument sind die Absagen von Vorschlägen zu Rezensionen und das Scheitern bei den Versuchen, Schöfer für Literaturpreise vorzuschlagen. Die Gründe für das Übergehen von Schöfer sind natürlich vielschichtig, aber es ist unverkennbar, dass die gesellschaftspolitischen Einstellungen und Handlungen Schöfers dazu führten, dass er geschnitten wurde, sein linker Makel, wie er selbst sagte. Gegen den Haupttrend der unermüdlich, ja monomanisch immer wieder vorgetragenen Verdammung der DDR, einer Literatur, deren Autoren und Autorinnen die Preise abräumten, kam Schöfers Kritik der westdeutschen Bundesrepublik nicht an.

Die Möglichkeiten telefonischer und elektronischer Kommunikation blieben auch zwischen uns nicht ohne Folgen. 196 Briefe sind erhalten, 100 von Schöfer, 96 von mir. Der Briefwechsel hat leider Lücken. Bei meinem Auszug 2016, der Auslagerung unserer gesamten Habe in Containern bis zum Einzug in eine neue Wohnung 2018 ging eine dicke Mappe mit Materialien zu Schöfer verloren. Außerdem kollabierte eines Tages mein Email-System, bei dem ich viele gespeicherte Briefe verlor. Die Lücken konnten durch den Nachlass von Schöfer verringert werden. Für die Suche nach Briefen danke ich Paula Keller. Die Lücken sind aber nicht allzu groß, das Bild eines kontinuierlichen Gesprächs in Briefen bleibt erhalten.

In den letzten anderthalb Jahren gewannen Telefongespräche gegenüber Briefen den Vorrang, da Schöfer das Briefe Schreiben schwerfiel. Mein Heine-Buch 2021 hat er nur telefonisch enthusiastisch gelobt, sofort das erste Kapitel von Heines Börne-Denkschrift gelesen.

Im Anhang wurden nur wenige Texte von Schöfer ausgewählt, die sein Selbstverständnis dokumentieren. Meine Bemühungen um Rezensionen und Literaturpreise für Schöfer und meine Aufsätze zu den Sisyfos-Romanen sind nicht dokumentiert, da es sich um einen Gedächtnisband für Erasmus Schöfer handelt. Sie sind im Literaturverzeichnis aufgeführt.

Die ausgewählten Texte von Schöfer und meine Veröffentlichungen zu Schöfer dokumentieren nicht nur unsere Zusammenarbeit, sondern die Orte der Veröffentlichung sind auch Dokumente linker Zeitschriften: Junge Welt, Wiener Zeitung, Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte, RotFuchs, KunstundKultur, Das Argument, Tarantel.

Um den Stil einer wissenschaftlichen Arbeit zu vermeiden, finden sich die Sachanmerkungen jeweils vor dem Brieftext. Die fehlenden Briefe sind nach ihrem Datum in die Sammlung eingefügt und der Inhalt, wenn möglich, ist mit einem Regest-Text erschlossen.

Die Briefe geben Einblicke in das Denken der Verfasser, in die Ansichten, Standpunkte und Meinungen, in das Leiden am Zustand der Gesellschaft und in die Versuche der Gegenwehr. In seinen Briefen mit ihren witzigen Formulierungen wird Erasmus Schöfer noch einmal lebendig. Daher veröffentliche ich sie.

Januar 2023

Rüdiger Scholz

Inhalt

Vorwort

Erinnerungen an Erasmus Schöfer

Die Briefe

Ergänzende Texte

Nachruf

Interview mit der »jungen welt« 2005

Interview mit der »Wiener Zeitung« 2008

Schöfer, Rede zur Regler-Preisverleihung 2009

Schöfer, Rede auf der Verdi-Tagung 2013

Bibliographie der erwähnten Schriften

Personenverzeichnis

Rüdiger Scholz

Erinnerungen an Erasmus Schöfer

Ich kannte Schöfer als Schriftsteller lange aus meiner Tätigkeit als Hochschullehrer seit 1968, da ich mich für Arbeiterliteratur engagierte, nach der Habilitation meine Antrittsvorlesung 1981 über Günter Wallraff hielt. Der Kontakt kam aber erst spät zustande, über meinen Aufsatz über den Stand der Arbeiterliteratur von 2003 in der Festschrift für Rainer Noltenius, dem Leiter des Fritz Hüser-Instituts für Arbeiterliteratur in Dortmund. Schöfer suchte Kontakt zu mir wegen meiner guten Kenntnisse in der Geschichte des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt. Persönlich kennengelernt habe ich ihn bei der Beerdigung von Max von der Grün, der am 7. April 2005 starb, wo ich auch Wallraff persönlich begegnete.

Schöfer war ein mittelgroßer, schmaler Mann mit einem beeindruckenden Charaktergesicht, von Statur kleiner als Wallraff mit seinen langen Beinen. Er sprach entgegen meiner Erwartung ganz milde und freundlich, mit eher leiser Stimme. Wallraff, der mit einer seiner Töchter zur Trauerfeier für Max von der Grün gekommen war, und Schöfer waren Weggefährten schon in der Gruppe 61, betrieben gemeinsam die Gründung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt 1969. Beide wohnten in Köln und hatten öfter Kontakt. Auf dem Weg von der Trauerhalle zu dem Lokal, in dem Jenny von der Grün zu Kaffee und Kuchen eingeladen hatte, flachsten die beiden ein wenig über ihre Frauengeschichten. Wallraff, der aus drei Ehen fünf Töchter hat, schränkte schalkhaft ein, das wären die Kinder, von denen er wüsste. Er und Schöfer, der aus drei Ehen vier Kinder hatte (was ich damals noch nicht wusste), sollten doch ehrlich sein: Schriftsteller wären sie nur geworden, um bessere Chancen bei Frauen zu haben.

Ich war von Schöfers erstem Sisyfos-Roman, »Ein Frühling irrer Hoffnung«, begeistert. Die vielen Anspielungen auf Zeitereignisse woben ein dichtes historisches Netz, die Mischung aus Fiktion und geschichtlicher Realistik fand ich gelungen. Auch der zweite Roman »Zwielicht« über Betriebskämpfe und die intellektuelle Diskussion über die Zukunft der bundesrepublikanischen Gesellschaft erschien mir ein wichtiges literarisches Dokument zur Zeitgeschichte. Entscheidend war für mich Schöfers politische Einstellung zu den Protestbewegungen, seine Sympathie für den Kampf für eine andere Gesellschaft, den er mit seiner Teilnahme an Protesten seit den Demonstrationen gegen die Notstandsgesetze auch handelnd unter Beweis gestellt hatte, und für sein großes Engagement für die Erneuerung der Arbeiterliteratur.

Ich hatte im Februar 2004 meine aktive Laufbahn als Hochschullehrer mit einer Abschiedsvorlesung beendet, an deren Ende ich die Internationale gesungen hatte. Diese Abschiedsrede ließ ich auch im Privatdruck erscheinen. Aus ihr erfuhr Schöfer meine Einstellung und meine Teilnahme an der Protestbewegung. Hier trafen zwei sozialistische Publizisten aufeinander, es eröffnete sich die Möglichkeit einer Zusammenarbeit.

Ich wollte etwas für diese Romane tun und bot an, einen wissenschaftlichen Aufsatz darüber zu schreiben, was ich dann auch tat, der 2005 im Peter Weiss Jahrbuch erschien.

Ab da gab es einen kontinuierlichen Briefwechsel. Wir teilten uns gegenseitig unsere Projekte und deren Fortschritte mit, diskutierten Texte, berichteten über Kontakte zu anderen Mitstreitern und Mitstreiterinnen, formulierten Meinungen und Urteile zum Zeitgeschehen. Ich veröffentlichte zwei weitere Aufsätze, je einen über die Sisyfos-Romane drei und vier, dazu mehrere kleinere Rezensionen in verschiedenen Zeitschriften, schlug Schöfer für Preisverleihungen vor. Schöfer rezensierte meine 2011 erschienene Geschichte der Faust-Forschung und wirkte an meinem Buch über Max von der Grün mit, das 2015 erschien.

Schöfer kam zweimal zu Lesungen nach Freiburg, einmal im November 2005, wo er aus seinem zweiten Sisyfos-Roman »Zwielicht« las, und 2009, nach Erscheinen des 4. Bandes. Schöfer lernte dabei einige der linken Kollegen von mir kennen. Bei einem Gespräch in einer Kneipe nach seiner Lesung erzählte Schöfer über die Anfänge seiner Protesthaltung. Als ein Professor während seines Studiums in den 1950er Jahren in einer Vorlesung sich gegen den Plan einer atomwaffenfreien Zone in Europa aussprach, sei er aufgestanden und hätte heftig widersprochen. In einem späteren Interview hat Schöfer das so erzählt:

Als Ende der fünfziger Jahre der Plan des polnischen Außenministers Adam Rapacki für eine atomwaffenfreie Zone in Europa vorgelegt wurde, erlebte ich an der Universität in einer großen Philosophievorlesung, wie sich der Professor darüber verbreitete, daß man das nicht akzeptieren könne. Da bin ich aufgestanden und habe gesagt, daß ich eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa für sehr sinnvoll hielte und Adenauer unbedingt darüber verhandeln müßte. Das war eine Mutprobe für mich. Denn das war zu einer Zeit, als kein Student sonst in so einer großen Vorlesung etwas gegen den Professor gesagt hätte. (Gespräch des Chefredakteurs Arnold Schölzel in der »jungen Welt«, am 22. 10. 2005 mit Erasmus Schöfer)

Schöfer war über die beiden Lesungen hinaus mehrfach mit Freiburg verbunden. Sein Studium hatte er 1960 in Bonn mit der Promotion über Martin Heideggers Sprache abgeschlossen. Er hatte vor, sich bei dem Freiburger Sprachwissenschaftler Johannes Lohmann zu habilitieren. Versuche, sich als Schriftsteller zu profilieren und zu etablieren, begannen in Freiburg. In der Juni-Ausgabe 1962 der Freiburger Studentenzeitung erschien ein Text von ihm mit dem Titel »Der Gang durch die Bombe«, ein offenbar aus einem größeren Text stammender Ausschnitt über die bedrohliche Anlandung eines Fischerbootes im Krieg, dessen Zusammenhang nicht erklärt wird. Im Dezember 1963 fand eine Literaturveranstaltung der Freiburger Studentenzeitung statt, dessen erster Vortragender Erasmus Schöfer war, der Gedichte vortrug und seine hörspielartige szenische Satire »Durch die Wüste«, von der im Juni 1964 berichtet wird, dass die »Uraufführung« auf der Studiobühne vorbereitet werde. Nach Schöfers Aussage hat diese Aufführung stattgefunden. Die Diskussion über dieses Stück nach Schöfers Vortrag 1963 wird im Bericht der Freiburger Studentenzeitung als lahm beschrieben, Schöfer habe die Einwände gegen seine satirischen Angriffe nicht gut pariert.

Wie klein die Welt ist, beweist meine Biographie als Student und Hochschullehrer. Ich begann mein Studium 1959 in Freiburg und blieb dort bis 1961, ging dann nach Saarbrücken, wo ich 1966 das erste Staatsexamen machte, die Referendarzeit im Saarland absolvierte und 1968 an der Freiburger Universität Hochschullehrer wurde. Schöfer kehrte 1975 wieder, als Agitator und Journalist gegen das geplante Atomkraftwerk Wyhl am Kaiserstuhl. In seinen zweiten Sisyfos-Roman »Zwielicht« montierte er eine Liebesgeschichte zu einer Badenserin. Eine ehemalige Liebschaft von ihm lebte in Freiburg, und Schöfer trug sich nach dem Abschluss der Sisyfos-Romane mit dem Gedanken, nach Freiburg zu ziehen. Er bat mich, nach einer Wohnung für ihn Ausschau zu halten.

Die Zusammenarbeit mit Schöfer bestand achtzehn Jahre lang, kontinuierlich, bis zum Schluss. Hier trafen zwei Interessen aufeinander, die sich ergänzten. Schöfer suchte für die Verbreitung seines Hauptwerkes, »Die Kinder des Sisyfos«, Unterstützung. Ich selbst wollte etwas mehr für die Geschichte der Arbeiterliteratur tun. Ich hatte seit 1970 einen Schwerpunkt meiner Lehre auf diesem Gebiet, im Rahmen eines meiner Seminare kam einmal Max von der Grün zu einer Lesung mit Diskussion. Trotz meiner Antrittsvorlesung 1981 über Günter Wallraff hatte ich nichts zur Arbeiterliteratur veröffentlicht und empfand das als Manko, dem ich abhelfen wollte. Aus diesem Grund kam der Aufsatz in der Noltenius-Festschrift über den gegenwärtigen Stand der Arbeiterliteratur zustande. Mein Engagement für Schöfers Roman-Tetralogie war also keine altruistische Freundlichkeit gegenüber dem Autor, sondern entsprach meinem eigenen Interesse. Als pensionierter Professor hatte ich jetzt mehr Zeit für wissenschaftliche Publikationen.

Beiderseitiges Interesse war es auch, die zu dem Plan eines gemeinsamen Hauptseminars über die Literatur 1968er Jahre führte. Im Wintersemester 2005/06 hielt ich mit Schöfer zusammen ein Seminar über ’68er Literatur an der Universität Freiburg ab, d.h. ich wollte mehrere Sitzungen mit ihm gemeinsam machen. Daraus wurde aber nichts, weil die Fakultät Schöfer keinen bezahlten Lehrauftrag erteilen wollte. So blieb es bei einer Sitzung, in der Schöfer über seinen Weg in die linke Opposition sprach. Großes Interesse bei den SeminarteilnehmerInnen löste Schöfers Erzählung über die Bedeutung des Vietnam-Krieges für linke Intellektuelle aus. Der Vietnamkrieg war für viele eine historische Zäsur, weil damit die USA ihr humanistisches Image verloren und wir gezwungen waren, uns von den USA, die ja als Garanten für die Unmöglichkeit der Wiederkehr des deutschen Faschismus galten, zu distanzieren. Der Vietnamkrieg war das Menetekel der USA und auch ihrer Verbündeten. Es sei an Günter Wallraffs Recherche über die Befürwortung des Napalm-Einsatzes in Vietnam durch einen westdeutschen katholischen Würdenträger erinnert. In der Folge verstärkte sich zwangsläufig die Kritik am imperialen Kapitalismus, mit größerer Intensität und Schärfe. Unser Verlust eines verbündeten humanen Staates kann kaum überschätzt werden. Schöfer hat das für die Studentinnen und Studenten mit seiner privaten wie literarischen Biographie plausibel gemacht. Dieses Seminar, das bereits in meine Pensionärszeit fiel, ist das letzte gewesen, das ich gehalten habe.

War kein Egomane. Er hat mehrere meiner Bücher und Aufsätze gelesen und sich dazu geäußert, meist zustimmend. Schöfer gefielen meine drei Aufsätze im Peter Weiss-Jahrbuch, er überschüttete mich mit Lob, schmeichelte mir über meine weiteren Veröffentlichungen, setzte sich auch mit einer Rezension meiner Geschichte der Faust-Forschung öffentlich für mich ein. Von ihm ging im wesentlichen aus, dass aus der Zusammenarbeit eine Freundschaft wurde, die aber kaum in den privaten familiären Bereich hineinragte. Über seine Kinder, dann auch Enkel und sogar Urenkel haben wir nie gesprochen. Nebenbei kam heraus, dass er offenbar ein sehr gutes Verhältnis zu seinen Kindern hatte. Ich interessierte mich so wenig für Schöfers Familienverhältnisse, dass Schöfer einmal anfragte, ob mich auch Privates interessiere. Ich hatte Einzelheiten über Schöfer Lebensverhältnisse so ungenau im Kopf, dass mir im Nachruf zwei Fehler unterliefen. Die Briefe enthalten daher wenig Privates, verzeichnen aber die Reisen, etwa von Schöfer nach Griechenland und Irland, nach Sardinien, in die Bretagne und nach Schweden. So berichtet Schöfer von einer Reise zum Jahreswechsel 2009/10 »nach Nordfriesland, zu einem Teil meiner selbstgezeugten Verwandtschaft, mit allein fünf Enkelfrauen.«

Ich bewunderte Schöfer auch wegen der Leichtigkeit, mit der er Fremdsprachen erlernte. Er selbst sah das anders. Für und in seinem einjährigen Aufenthalt in Griechenland erlernte er Neugriechisch und veröffentlichte eine deutsche Übersetzung von Gedichten von Janis Ritsos. In seinen Briefen finden sich gelegentlich Worte in griechischen Buchstaben. Er konnte auch Schwedisch, las Selma Lagerlöf im Original.

Die Altersfreundschaft basierte auf der weitgehenden Übereinstimmung in der Beurteilung der gesellschaftlichen Verhältnisse und der Rolle der Literatur in den gesellschaftspolitischen Kämpfen. Differenzen gab es in der Beurteilung des Konfliktes zwischen Israel und den Palästinensern. Schöfer ist ja mit seinem vierteiligen Roman der Chronist der Protestbewegung seit den 1960er Jahren. Seine politische Parteilichkeit für die Kämpfenden ist besonders glaubwürdig durch seine aktive Teilnahme. Schöfers »Sisyfos« ist der einzige große Roman über die inneren Kämpfe in Westdeutschland von den Notstandsgesetzen bis zum Ende der DDR.

Mein Enthusiasmus für diesen Roman war auch deswegen verständlich, weil die Protestbewegung für mich der große Glücksfall in meiner eigenen Lebensgeschichte gewesen ist. Sie bot mir die Möglichkeit, meine vielen Versuche, mich seit meinen Kindertagen gegen angemaßtes autoritäres Gehabe von Erwachsenen der Vorgeneration zu wehren, in der Familie, als Schüler, Klassensprecher, Referendarsprecher, in eine politisch öffentliche und berufspraktische Form zu überführen und darin tätig zu werden.

Der knapp acht Jahre ältere Schöfer und ich hatte insofern eine ähnliche Biographie, als wir beide aus dem Akademikerbürgertum stammten, ich aus einer übernormalen Kleinfamilie mit Mutter, Vater und zwei Geschwistern. Auch dass mein Vater 1945 aus dem Krieg nicht mehr zurückkam und in russischer Gefangenschaft starb, war damals nichts Besonderes. Erasmus Schöfers Start dagegen war chaotisch. Ein uneheliches Kind, dessen Vater die Vaterschaft leugnete (DNA-Analysen gab es noch nicht), eine allein erziehende Mutter, eine künstlerische Lehrerin, die durch eine Blutvergiftung früh dahingerafft wurde, als Erasmus gerade mal elf Jahre alt war, mitten im Krieg, von den Großeltern mütterlicherseits aufgezogen. Der Beginn seines Lebens war schwierig. »1931 von einer Berliner Lehrerin geboren, die malte, ritt und Motorrad fuhr, aber ihr uneheliches Kind in der Mark Brandenburg zur Welt bringen und ein Jahr in einem Heim vor den Menschen verstecken musste« – so schilderte Schöfer einmal seinen Start in die Welt. Aufgewachsen ist er dann in der Wohnung des Großvaters und Kaiserlichen Rechnungsrates a. D. Wilhelm Schöfer im bürgerlichen Berliner Westen.« (Emanuel van Stein im Kölner Stadtanzeiger)

Der Großvater starb einen Tag nach dem Abitur des Enkels. Die frühe Ehe mit zwei Kindern dürfte das Resultat der Sehnsucht nach einer normalen Familie sein.

Warum wurden wir beide Linksoppositionelle? Die Ursache lag nicht in familiären Traumata, sondern in der Entwicklungsgeschichte des westdeutschen Teilstaates unter der Oberherrschaft der USA. Seit 1964 verbanden sich unsere langjährigen alltäglichen Erfahrungen in dem westdeutschen restaurativen Herrschaftssystem mit dem moralischen Zusammenbruch der USA durch den größten Chemiewaffeneinsatz der Weltkriegsgeschichte in Vietnam. Die Lebensgeschichten von uns beiden basieren trotz des Altersunterschieds auf der Identifizierung mit dem in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre immer öffentlicher werden politischen Protest.

Es war aber nicht nur der politische Protest. Die alltägliche nervende Erfahrung von uns Heranwachsenden der 1940er und 1950er Jahre war das autoritäre, unterdrückende und strafende Gehabe der Elterngeneration. In der Schule war die Erziehung zum Gehorsam vorrangig vor dem Erwerb von Kenntnissen. Wir Kinder und erst recht als Jugendliche fühlten uns – jedenfalls ich – als latente Verbrecher behandelt. In meiner Stelle als Hochschullehrer seit März 1968 hatte ich die Möglichkeit, in einer Gruppe Gleichgesinnter die autoritären Strukturen universitärer Lehre zu verändern.

Warum Schöfer freier Schriftsteller und nicht Gymnasiallehrer oder Dozent für Sprachwissenschaft wurde, kann hier nicht erschöpfend geklärt werden. Anders als etwa Max von der Grün, der nach der Veröffentlichung seines Romans »Irrlicht und Feuer« keine Stelle als Industriearbeiter mehr erhielt und daher fast zwangsläufig Berufsschriftsteller wurde, ist Schöfer nicht durch äußere Zwangsumstände in diese Existenz getrieben worden. In einem Brief an mich hat er gesagt, er habe vorgehabt, sich in Sprachwissenschaft zu habilitieren, dann aber den Plan aufgegeben.

Ich verweise nur auf zwei Dinge: Schöfer hat nach eigenen Angaben schon als Kind viele Geschichten verfasst. Das Schreiben war also schon sehr früh eine Form der Lebensbewältigung. Die frühen Texte hat er später vernichtet. Das zweite Merkmal ist die künstlerische Tätigkeit der Mutter, die nicht nur Zeichenlehrerin, sondern auch Malerin war. Sie hat sich möglicherweise weniger als Gymnasiallehrerin denn als Künstlerin verstanden. Der Sohn identifizierte sich mit der idealen Existenz seiner Mutter. Das Streben nach einer freien Schriftstellerexistenz hat Schöfer nach seinem Studium energisch und erfolgreich betrieben; sie war ersichtlich lebensnotwendig für ihn.

Wie es Schöfer gelang, genug Geld zu verdienen, ist mir ein Rätsel geblieben. Er hat sich ein Ferienhaus in Griechenland, auf Ithaka, gekauft, das er dann spät verkauft hat. Das kleine Häuschen mit Garten, das er liebevoll pflegte, war sein griechischer Sehnsuchtsort, den er »Gripslust« nannte. Hier sind viele Kapitel seiner Romane entstanden.

Auch seine Kölner Wohnung war eine Eigentumswohnung, die er unter der Bedingung lebenslangen Wohnrechts aus Geldnot wenige Jahre vor seinem Tod verkaufen musste. Er hat mir zwei Jahre vor seinem Tod gesagt, dass er auch finanziell von seiner Lebensgefährtin Paula Keller, einer pensionierten Lehrerin, abhängig sei.

Warum Schöfer sein Studium unterbrach und drei Jahre lang – 1956–1958 – zunächst in Schweden in der Landwirtschaft tätig war, dann als Hilfsarbeiter in Industriebetriebe ging – u. a. bei Osram und beim Heizungshersteller Schwank in Köln –, kann man nur vermuten. Die lange Unterbrechung des Studiums hatte offenbar zu tun mit seiner Flucht aus der frühen Ehe, mit einer Identitätskrise. Finanzielle Gründe kamen hinzu, um den Rest seines Studiums selbst zu finanzieren. Ich habe versäumt, ihn nach seinen wirklichen Motiven zu fragen. Das müsste in einer ausführlicheren Biographie recherchiert werden.

Erasmus Schöfer wurde zweifellos durch die Erfahrungen seiner Industriearbeit geprägt. Dass er sein Studium zu Ende führte und mit der Promotion einer sprachwissenschaftlich-philosophischen Arbeit über Martin Heidegger abschloss, begründete eine Identität in zwei Welten. Er hat nach der Promotion noch einen sprachwissenschaftlichen Aufsatz veröffentlicht. Sein innerer Weg vom Bildungsbürgertum zum Interesse an Arbeiterwirklichkeit verlief über Proteste gegen die bürgerliche Gesellschaft, die zum Engagement für den Sozialismus führten.

Darin war Schöfer nicht der einzige. Die Identität in zwei Welten hat auch die Biographie von Günter Wallraff geprägt, dem als Sohn eines Arbeiters bei Ford in Köln und einer Mutter aus eine Klavierbauerfamilie die doppelte Identität in die Wiege gelegt wurde. Wallraff begann seine Karriere als Reporter mit seiner Tätigkeit als Hilfsarbeiter bei Ford, um seinen damals schon verstorbenen Vater kennen zu lernen, der sich in der »Lackhölle« bei Ford eine Erkrankung der Nieren zuzog und starb, als Günter 16 Jahre alt war. Aus solchen Biographien entstanden dann Schriftsteller, die einen Neubeginn der Arbeiterliteratur mit politischem Engagement durchsetzten.

Meine Erfahrungen mit der Arbeitswelt ergaben sich aus dem Zwang zum Geldverdienen. Ich habe mein Studium nach dem fünften Semester für gut ein Jahr und dann nach dem sechsten Semester noch einmal für ein halbes Jahr unterbrochen, weil ich finanziell unabhängig sein wollte. Meine Arbeit in Industriebetrieben und verschiedene Tätigkeiten durch den Schnelldienst des Arbeitsamtes haben mir Erfahrungen vermittelt, die ich bei einem glatten Studium nie gemacht hätte, die mich geprägt haben und mein Engagement als Germanist an der Universität für die Literatur der Arbeiterschaft verständlich machen. Meine Gespräche mit Arbeitern haben mir auch bessere Einblicke in die Realität der Soldaten im Krieg und ihre Ansichten vermittelt.

Für mein Buch über Max von der Grün, das 2015, zehn Jahre nach seinem Tod, erschien, konnte ich Erasmus Schöfer und Günter Wallraff dazu überreden, ein auf Tonband aufgezeichnetes Gespräch über Max von der Grün zu führen, das ich dann in meinem Max von der Grün-Buch abgedruckt habe. Mit diesem Gespräch waren die drei wichtigsten Autoren der jüngeren Literatur der Arbeitswelt und drei der wichtigsten Gesellschaftskritiker vereint.

Die letzten Jahre waren hart für Schöfer. Als seine lange befürchtete Krebserkrankung manifest wurde, bekam er Medikamente, die er schlecht vertrug und die ihn schwächten. Obwohl Schöfer nicht lamentierend klagte, spiegeln seine späten Briefe die Lebensbedrohung. Er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Mit großer Energie hat er den Kommentarband zu seinem Hauptwerk, den ich in meinem ersten erhaltenen Brief an ihn im August 2004 für die nächste Generation als notwendig erachtete, verfasst und herausgebracht. Das Vorwort ist meine letzte Publikation zu Lebzeiten von Schöfer. Er wollte unbedingt 90 Jahre alt werden – was er geschafft hat, sogar ein Jahr darüber.

Von dem im Folgenden abgedruckten Briefwechsel haben sich die ersten Briefe nicht erhalten. Der erste mittelbare Kontakt kam durch Rainer Noltenius zustande, der mir berichtete, Erasmus Schöfer sei von meinem Essay über den Stand der Arbeiterliteratur in seiner Festschrift begeistert und wolle mich kennen lernen. Der erste erhaltene Brief von mir an Schöfer vom 19. August 2004 formuliert meine Eindrücke über die damals bereits erschienenen ersten beiden Bände des vierteiligen Sisyfos-Romans, ein weiteres Motiv, mich dafür einzusetzen.

In der fast zwei Jahrzehnte kontinuierlich andauernden Arbeitsgemeinschaft gab es nur vier persönliche Begegnungen. Bei der zweiten Lesung in Freiburg 2009 lernte ich auch seine Lebensgefährtin Paula Keller kennen. Sie übernachteten bei Erwin Riekert, einem ehemaligen Autohändler und anhänglichen Seniorstudenten von mir, der DKP-Mitglied war. Schöfer lud mich mehrmals nach Köln ein, aber es kamen keine weiteren persönlichen Begegnungen zustande.

Dieser Mangel an persönlichen Treffen ist aber dem Briefwechsel förderlich gewesen. Da ich eher eine Abneigung gegen Telefongespräche habe, war der Austausch von Briefen die eigentliche Ebene des Gesprächs. Erst in den letzten beiden Jahren wird der Briefwechsel geringer, weil Schöfer lieber telefonierte als Briefe schrieb, was ihm zunehmend schwerer wurde. Seine enthusiastische Reaktion auf mein Heine-Buch hat Schöfer nur telefonisch formuliert.

Schöfer war ein angenehmer Gesprächspartner, keiner, der nur von sich redet. Er ging auf mich ein, nahm meine Veröffentlichungen so sorgfältig wahr wie ich die seinen, verteilte Lob und Tadel in begründenden Argumenten; er ging auch auf Privates ein. Er war sich nicht zu schade, meine umfangreiche Geschichte der Faust-Forschung zu rezensieren, sein Text hat mir ebenso gefallen hat wie Schöfer meine Rezensionstexte zu seinen Werken. Die Wertschätzung basierte auf gleichen Urteilen über der Rolle der Literatur in der Gesellschaft. Die Differenzen in politischen Ansichten waren geringer als die Übereinstimmung. Schöfer war auch nicht so eitel, dass er nicht Kritik vertragen konnte. Meine Einwände gegen sein spätes Lyrik-Buch hat er mir nicht übel genommen.

Schöfer war an einem kontinuierlichen Gespräch mit mir sehr interessiert. Er forderte Zuwendung ein. Mehrmals finden sich Klagen über mein Schweigen. Einmal hat er berichtet, dass seine Lebensgefährtin Paula ihn beruhigen musste, als ich lange nichts von mir hören ließ. Ein anderes Mal schrieb er einen dringenden Mahnbrief, weil ich auf seinen Brief nicht sofort antwortete.

Welch große Bereicherung die Freundschaft mit Erasmus Schöfer für mich gewesen ist, kann ich nur andeuten. Befreundet zu sein mit jemandem wie Schöfer, dessen Lebensleistung als oppositioneller sozialistischer Autor beeindruckend ist und meinen Respekt verdient, der wie auch ich seine Höhepunkte in dem Aufbruch aus der durch den Nationalsozialismus geprägten reaktionären westdeutschen Gesellschaft erlebte und darin agierte, ist ein sehr großer Glücksfall gewesen.

Es ist zwar nicht so, dass ich vereinsamt bin, wie z.B. Thomas Metscher mir gegenüber einmal geklagt hat, dass er isoliert sei und keine gleich gesinnten Gesprächspartner habe, denn ich war und bin in Kontakt mit den Mitstreitern am Deutschen Seminar in Freiburg seit den 1970er Jahren, von denen die meisten noch leben. Die Zusammenarbeit und Freundschaft mit Schöfer hat in den letzten beiden Jahrzehnten aber einen wesentlichen Teil meines Lebens ausgemacht, sie hat meine publizistische Tätigkeit ins Lot gebracht. Meine Veröffentlichungen zu Schöfer betrachte ich als gesellschafspolitisch wichtige Taten. Dass alle meine Anstrengungen (und die anderer Freunde), Schöfer für Literaturpreise vorzuschlagen, nur in einem einzigen Fall zum Erfolg führten, sagt etwas über das Ansehen von sozialistischer Literatur in unserem Staat aus. Das hat sich bei Schöfers Tod bestätigt. Viele bürgerliche Tageszeitungen brachten nicht einmal die Meldung, geschweige denn einen Nachruf über das Ableben des bedeutenden Erneuerers der Literatur der Arbeitswelt und dichterischen Chronisten des besseren Teils der westdeutschen Zeitgeschichte.

Die Briefe

Im November 2003 erschien die Festschrift Noltenius mit meinem Aufsatz zum Stand der Arbeiterliteratur, der Erasmus Schöfer so gut gefiel, dass er mich kennen lernen wollte. Sein Brief an mich vom Januar oder Februar 2004 ist nicht erhalten, wie auch der Briefwechsel bis Juli 2004 insgesamt fehlt. In seinem ersten Brief zeigte Schöfer sich von meinem Text begeistert und fragte mich, woher ich so genaue Kenntnisse in der neueren Geschichte der Arbeiterliteratur habe. Er setzte sich mit meinem Text aber auch kritisch auseinander. Er kritisierte, dass ich das Anliegen der Gründer und der Gründerin des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt nicht genau genug dargestellt habe. Es sei ihnen nicht darum gegangen, aus jedem Arbeiter und jeder Arbeiterin einen Schriftsteller / eine Schriftstellerin zu machen, sondern sie wollten denjenigen, deren Texte vor der Gruppe 61 infolge von deren Begriff literarischer Qualität keine Gnade fanden, ein Forum für die öffentliche Präsenz ihrer Texte geben. Aus einem späteren Brief (vom 7. August 2008) geht hervor, dass Schöfer auch mit dem Begriff »Ausplünderung« für die russischen Demontagen mitteldeutscher Industrieanlagen nicht einverstanden war. Schöfer fragte außerdem wegen einer Rezension seiner beiden erschienenen Sisyfos-Romane an.

Ich antwortete mit dem Verweis auf meine Proseminare zur Arbeiterliteratur als Dozent für Neuere deutsche Literatur an der Universität Freiburg in den 1970er Jahren; meine Antrittsvorlesung hielt ich über Günter Wallraff. Zu seiner Information schickte ich ihm die gedruckt veröffentlichte Fassung meiner Abschiedsvorlesung von Anfang Februar 2004, aus dem mein beruflicher Werdegang hervorgeht. Ich sagte zu, eine Rezension seiner beiden Sisyfos-Bände zu schreiben, bat mir aber eine längere Zeit zur Lektüre aus, da ich mit der Herausgabe der Akten zu den drei Kindesmordfällen in Weimar 1783 beschäftigt war.

Nach der Lektüre meiner Abschiedsvorlesung schrieb mit Schöfer, er stimme meiner politischen Einstellung zu. Ich hätte in meinem Berufsleben offenbar viel auszuhalten gehabt.

Ich antwortete, dass dies eigentlich nicht der Fall gewesen wäre, da den Pressionen gegenüberstanden die Erfolge unserer Gruppe am Deutschen Seminar bei der Veränderung der Inhalte der Lehre und der Reform des Hochschulunterrichts. Ich hatte das Glück, meine Stelle am Deutschen Seminar in einer Phase der entschiedenen Veränderung der Germanistik und der Selbstverwaltung der Hochschulen anzutreten.

In eine Postkarte vom Juli 2004 äußerte Schöfer die Hoffnung, dass wir uns noch zu Lebzeiten treffen.

Brief Nr. 1

Rüdiger Scholz an Erasmus Schöfer 19. August 2004, Papierpost getippt

meine kleine Schrift: Der Privatdruck meiner Abschiedsrede vom Februar 2004

Anmerkungsapparat: Der Begleitband erschien 2018

Heinz Ludwig Arnold 1940–2011: Publizist

Hanno Beth, geb. 1944: Journalist, Germanist

Töteberg, Michael, geb. 1951: Publizist

Prof. Dr. Rüdiger Scholz

Dreikönig-Str.50 79102 Freiburg

Herrn

Dr. Erasmus Schöfer

Trajan-Str. 5

50678 Köln

Freiburg 19. August 2004

Lieber Erasmus Schöfer,

herzlichen Dank für Deine Karte (ich bleibe beim Du). Ich habe mir die ersten beiden Bände Deines großen Werkes besorgt und gelesen (mit dem zweiten bin ich noch nicht ganz zuende), auch in der Vorstufe von 1986 (Tod in Athen) mit Viktor Bliss herumgelesen; alles hat einige Zeit gedauert. Ich schließe mich den abgedruckten Lobreden an. Ein ganz großes Werk, das erste über die 68er Bewegung in dieser Ausführlichkeit und aus dieser Perspektive. Die Fülle der dargestellten Einzelheiten in der lesbaren Form eines Erzählstrangs wird das Werk zu einem der besten historischen Darstellungen machen. (Mir ist schleierhaft, wie jemand aus der Erinnerung heraus eine solche Materialdichte in einem Roman schaffen kann; ich bewundere das grenzenlos.) Ich habe natürlich mit besonderem Interesse gelesen, weil die Zeit und die Ereignisse meine eigene Lebensgeschichte umfassen. Für mich sind die meisten der vielen Anspielungen ohne Mühe verständlich.

Für die Jüngeren kann und wird Dein Werk eine hervorragende historische Quelle sein. Allein schon aus der Reaktion auf meine kleine Schrift weiß ich, daß Jüngere und Jüngste, also die 1960 ff. und die Anfang der 80er Jahre Geborenen ein brennendes Interesse an der 68er Bewegung haben. Je mehr Zeit seit 1968 verstreicht, desto wertvoller wird Deine Studie.

Für die Jüngeren allerdings ist die Lektüre schwieriger, denn sie müssen sich historische Kenntnisse aneignen, die es in der notwendigen Ausführlichkeit in keinem Geschichtsbuch gibt. Es müßte für die später Geborenen zu Deinen Romanen eigentlich einen Anmerkungsapparat mit der Verifizierung der angespielten Fakten, Personen und Literatur geben.

Würden wir uns länger kennen, würde ich mit Dir über die Erzählerfigur (eigentlich die Erzählhaltung) streiten, dessen Überlegenheit mir zu groß ist. Es werden nur die Figuren gebrochen und relativiert bis in die Paralleldarstellung von Lena und Viktor Bliss in Ein Frühling (S. 422 ff.), nicht aber der Erzähler, der mit fast olympischer Überlegenheit sagt, was wirklich geschieht und im Inneren der Figuren vor sich geht.

Es müßte noch mehr für die Verbreitung getan werden. Du bist immer noch nicht in Arnolds Kritischem Lexikon der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aufgeführt. Ich werde Arnold schreiben und einen Artikel über Dich verlangen. Hast Du ein Verzeichnis aller Deiner Werke?

In Arnolds KLG sind sozialistische Autoren unterrepräsentiert, und die Artikel, etwa über Max von der Grün von Hanno Beth, auch über Wallraff von Michael Töteberg, sind schlecht oder unzulänglich. Dringend benötigt wird eine Fortsetzung des Lexikons sozialistischer Literatur, das nur bis 1945 reicht, für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Du hoffst, daß wir uns noch zu Lebzeiten sprechen. Ich auch. Wenn Du mal in Freiburg bist, melde Dich. Wir könnten vielleicht auch gemeinsam ein germanistisches Seminar über 68er Literatur machen und Deine beiden Romane in den Mittelpunkt stellen. Wir hätten es mit 21–25jährigen (Hauptseminar-) Studentinnen und Studenten zu tun, deren Reaktion auf Deine Bücher mich sehr interessieren würde. Nach einer Pause von Forschungsfreisemestern, die ich mir genommen habe, weil sie mir zur regulären Berufszeit vorenthalten wurden, will ich im Wintersemester 2005/06 wieder lehren (ich behalte meine Lehrbefugnis an der Freiburger Universität bis ans Lebensende). Ich würde mich um eine Finanzierung für Dich bemühen.

Herzliche Grüße

Rüdiger Scholz

Brief Nr. 2

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz 9. Oktober 2004,

Papierpost getippt

Zeitungen: Von den überregionalen Zeitungen besprach nur die »Süddeutsche Zeitung« den ersten Sisyfos-Roman »Ein Frühling irrer Hoffnung«: Heribert Hoven, »Münchner Mai. Erasmus Schöfers ’68er Roman«, Süddeutsche Zeitung Nr. 127, 5. Juni 2001

UniSchwanengesang: Rüdiger Scholz, Ende. Germanist am Deutschen Seminar der Universität Freiburg 1968–2004. Blick zurück, eher im Zorn, Freiburg 2004. Text auch im Internet

Werner Jung, geb. 1955: Germanist

Freiburger Jos Fritz: linker Buchladen, der auch Lesungen veranstaltete

Jürgen Lodemann, geb. 1936: Literaturredakteur des Südwestfunks

Badischen: Badische Zeitung, Freiburg

FR und DLF: Frankfurter Rundschau und Deutschlandfunk

Erasmus Schöfer, Trajanstr. 5 50678 KÖLN

Köln 9. Oktober 2004

Professor Dr. Rüdiger Scholz Dreikönigstr.50, 79102 Freiburg

Lieber Rüdiger Scholz,

ich hab mich natürlich mächtig gefreut, als mich Dein Brief vom 19. 8. schließlich auf Ithaka erreichte, wo ich einige Wochen gearbeitet und geschwommen habe. Zwar haben einige der Rezensenten ähnlich geurteilt wie Du, aber durch den kleinen Verlag und wahrscheinlich auch meinen linken Makel haben die großen, Aufmerksamkeit und Kaufinteresse bewirkenden Zeitungen sich so zurückgehalten wie früher schon die entsprechenden Verlage. Das muss ich Dir nicht erläutern, nachdem ich Deinen UniSchwanengesang gelesen habe.

Allerdings hat mich gewundert, dass Du von zukünftigen Seminaren an der Universität sprichst, nachdem Du mit derselben abgeschlossen zu haben schienst. Wie immer sich das erklärt – ich kann mir gut und lebhaft vorstellen, mit Dir ein gemeinsames Seminar in Freiburg zu machen, sofern ich aus dem Fundus schöpfen kann. Denn ich werde im WS 2005/6 sicher mit dem vierten Band des Epos noch nicht fertig sein. (Ich habe eben den dritten Band fertig, der eine erheblich umgearbeitete Neuauflage von »Tod in Athen« sein wird – in der Chronologie der vier Romane 1980 spielend).

Deine kritische Bemerkung den allwissenden Erzähler betreffend darf ich darauf hinweisen, dass mein Erzähler jeweils in eine Person schlüpft und mit ihr verschmilzt. Ich habe also grade den allwissenden Erzähler, der jederzeit und überall, wie es dem Autor grade passt, dabei und drin ist, zu vermeiden getrachtet. Es gibt wohl einige Stellen, wo ich diese Praxis nicht ganz streng durchgehalten habe. Letzten Endes, sage ich mir, weiß jeder Leser, dass ihm vom Autor eine mehr oder weniger wahre, plausible Geschichte erzählt wird, egal aus wievielen Perspektiven das geschieht. Abhold bin ich allerdings jenen Autoren oder Autorinnen, die sich immer wieder mit ihren Reflexionen an den Leser wenden, um sein Wohlwollen und Verständnis buhlend.

Aber ich bin gern bereit, über diese Probleme weiter zu sprechen – sie haben mich immer beschäftigt.

Ja, die Verbreitung der Romane! Tiefer Stoßseufzer. Der Duisburger Litwiss. Werner Jung schreibt gegenwärtig an einem Artikel für Arnolds KLG. Wenn Du Arnold deswegen auf die Zehen trittst, wird er vielleicht endlich mal schlechtes Gewissen kriegen, wegen seines jahrelangen Boykotts. Im nächsten Heft der Horen gibt es einen Schwerpunkt zu meinen Sachen. Könntest Du noch woanders was aus Deinem Hirn unterbringen? in der Frankfurter »Kommune«?

Ich hoffe weiter auf eine Lesung im Freiburger Jos Fritz, mit dem seit längerem Gespräche laufen. Aber nach der zynischen und entstellenden Rezension von »Zwielicht« durch Jürgen Lodemann in der Badischen haben die Buchhändler vielleicht kalte Füße bekommen. Vielleicht wäre dort eine Intervention von Dir sinnvoll? FR und DLF kommen zu Lodemann völlig entgegengesetzten Urteilen.

Einen schönen Restherbst wünschend, in freundlicher Verbundenheit grüßend!

Erasmus Schöfer

Brief Nr. 3

Rüdiger Scholz an Erasmus Schöfer 28. Oktober 2004 – Papierpost, getippt.

Universitätsjubiläum 2007: Rüdiger Scholz veröffentlichte auf seiner Internetseite einen alternativen Festschriftartikel: »Die Misere der Freiburger Universität«

Sigrid Löffler, geb. 1942: Literaturkritikerin

Prof. Dr. Rüdiger Scholz

Dreikönig-Str.50 79102 Freiburg

Herrn

Dr. Erasmus Schöfer

Trajan-Str. 5

50678

Freiburg, den 28. Oktober 2004

Lieber Erasmus Schöfer,

herzlichen Dank für Deinen Brief vom 9. Oktober. Es freut mich, daß Du eventuell ein Seminar mit mir machen willst. Es wären überhaupt keine Vorbereitungen für Dich nötig. Ich stelle mir vor, daß ich ausgewählte 68er Literatur thematisiere, insbesondere eben Deine zwei, drei Bände der Sisyfos-Tetralogie, und daß Du bei den Sitzungen über Deine Bücher da bist. Du brauchtest also keineswegs alle 15–16 Sitzungen anwesend zu sein und damit auch keine weitere Literatur lesen. Es macht auch nichts, daß der 4. Band nicht vorliegt, denn für die Studierenden werden die ersten beiden Bände am interessantesten sein. – Schwierig wird die Finanzierung für Dich, da muß ich erst sehen, was zur Zeit geht.

Daß ich wieder etwas lehren will, ist so unverständlich nicht. Ich bin ja nicht mit »der« Universität zerfallen, sondern mit einigen Kollegen und der Universitätsleitung, sicher auch mit dem sog. herrschenden Geist dieser Universität. (nebenbei: 2007 ist ein großes Universitätsjubiläum, der Herausgeber der Bände zur Geschichte der Freiburger Universität aus diesem Anlaß ist ein befreundeter Historiker-Kollege. Ich versuche, da mitzumischen oder Alternatives zu veröffentlichen). »Die Universität« bin ich aber auch selbst, und mit mir und mit den Studies habe ich nicht abgeschlossen.

An Arnold habe ich geschrieben und die Antwort erhalten, daß demnächst ein Artikel erscheinen wird. Zu Deiner Information die ganze email-Antwort:

Sehr geehrter Herr Scholz,

vielen Dank für Ihr Schreiben an Herrn Arnold und Ihren Hinweis auf Erasmus Schöfer. Wir haben einen Beitrag über Schöfer verabredet, die Bibliografie liegt uns bereits vor, den Essay sollen wir noch in diesem Jahr erhalten, so dass wir Schöfer im kommenden Jahr ins KLG aufnehmen können.

Mit freundlichen Grüßen, auch von Herrn Arnold, Axel Ruckaberle Redaktion KLG

An die Frankfurter Zeitschrift »Kommune« werde ich mich wenden. Der Ort erscheint mir zu abgelegen. Notwendig wären eher bürgerliche Zeitungen, Rundfunk, Sigrid Löffler Zeitschrift »Literaturen«, an die ich mich wegen eines Artikels über 68er Literatur wenden werde.

Das Heft der Horen habe ich noch nicht gesehen (in Freiburg hat nur die Pädagogische Hochschule die »Horen« abonniert). Ist es erschienen?

Mit der Lesung im Jos Fritz wird es wohl nichts. Ich habe lange mit der Organisatorin, Heidemarie Schlenk, gesprochen. Bis Ende des Jahres haben sie ihr Programm voll und gedruckt verschickt, bis März geschieht nur wenig, weil im April die Buchhandlung ein Jubiläum feiert und alle Aktivität darauf gerichtet ist. Anschließend will Schlenk die Reihe AutorInnenlesungen einstellen, weil in Freiburg zu viel läuft und trotz großem Aufwand an Ankündigungen zu wenig Leute kommen. – Ich konnte mich mit meinen Gegenargumenten nicht durchsetzen. Wenn wir das Seminar machen, kann im Herbst nächsten Jahres sicher eine Lesung, eventuell im Rahmen der Uni, organisiert werden. (Ankündigung über das studium generale, Projektierung im Sommer 2005).

Zu Deinem Erzähler. Es ist keine gravierende Sache, und einen Erzähler mit eigenen Reflexionen an den Leser habe ich nicht gemeint. Daß der unzeitgemäß ist, darin bin ich mit Dir einig. Es geht um das sichere Wissen in Passagen, wo Aussagen über Innenleben und Motive für Verhalten ex cathedra gesprochen werden, z.B. Seite 64 in »Ein Frühling«: das ist nicht mehr die Perspektive von Bliss, sondern auf Bliss.

Soweit für heute. Herzliche Grüße

Rüdiger Scholz

Brief Nr. 4

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz, 7. Dezember 2004, Papierpost, getippt

Jos Fritz: Linker Buchladen in Freiburg

Gustav Regler 1898–1963: Schriftsteller

Prof Benseler und Noltenius: Frank Benseler 1929–2021,

Rainer Noltenius, geb. 1938

FR: Frankfurter Rundschau

P.W: Peter Weiss 1916–1982

Erasmus Schöfer

Trajanstr. 550678 KÖLN

Köln, 7. Dezember 2004

Professor Dr. Rüdiger Scholz

Dreikönigstr.50, 79102 Freiburg

Lieber Rüdiger Scholz,

großen Dank für Deinen Brief vom 28. 10 und für Deine Bereitschaft, meinem Buch bei der Stiftung Kunst und Kultur und dem Regler-Preis zu helfen. Dank auch, dass Du dem sehr hoch sitzenden Herrn Arnold noch einen Anstoß gegeben und bei Jos Fritz für mich gesprochen hast.

Für die Stiftung habe ich meinem Verleger eine Handreichung zur Begründung seines Antrags aufgesetzt, aus der Du entnehmen kannst, dass es vor allem darum geht, dem Kuratorium klarzumachen: es handelt sich um vier Teile eines einheitlich und umfassend konzipierten Werkes, dessen Förderung als Ganzes sinnvoll ist. Und nicht um die viermalige Förderung einzelner Bücher eines Autors (womit sie Schwierigkeiten hätten). Dabei solltest Du Dich nicht an die Stiftung direkt wenden, sondern eben ein germanistisches Gutachten über die Bedeutung des Werks abgeben, dessen weitere Publikation Du befürwortest. Wenns geht mit universitärem Briefkopf. Die Berührung von Reglers Leben und Werk mit meinem ist Dir sicher bekannt. Der Redakteur vom Saarländischen Rundfunk schickte mir vor drei Jahren die Preisausschreibung. 2002 hat es mit zwei unabhängigen Vorschlägen (Prof Benseler und Noltenius) nicht geklappt. Vielleicht besinnt sich die Jury 2005 eines Besseren? Nach Saarbrücken müsstest Du Deinen Vorschlag noch vor Jahresende schicken, die Adresse steht in den Unterlagen. Ich leg Dir, auch zu Deiner Kenntnis, eine grobe Bibliografie bei.

Die erstgenannte Expertise schick doch bitte an mich – die muss der Verleger seinem Förderungsantrag beilegen.

Anbei außerdem die Besprechung aus der FR.

Vielleicht hast Du Lust und Grund, die Leipziger Buchmesse zu besuchen? Dann könnten wir uns leibhaftig kennenlernen, da besagter Dr. Sarelka von der Peter Weiss Gesellschaft dort mit mir und einer Professorin über die Bedeutung des P.W. für den Autor Schöfer öffentlich diskutieren will. Und die Horen erscheinen Ende Dezember. Und schlussendlich grüße ich Dich, herzlich Erasmus Schöfer

Rüdiger Scholz an Erasmus Schöfer, Dezember 2004, Papierpost, getippt, nicht erhalten.

2004 war erschienen: »Das kurze Leben der Johanna Catharina Höhn. Kindesmorde und Kindesmörderinnen im Weimar Carl Augusts und Goethes. Die Akten zu den Fällen Johanna Catharina Höhn, Maria Sophia Rost und Margaretha Dorothea Altwein, hg. v. R Scholz, Würzburg«. Der vollständige Abdruck aller Akten bewies, dass Goethe für die Hinrichtung plädiert hatte. »Bild am Sonntag« führte ein Interview mit mir, in dem ich mich dafür aussprach, dass der Name »Goethe-Institut« für die repräsentativen Kulturinstitute der Bundesregierung im Ausland geändert werden sollte. In meinem Buch waren auch Texte zur Rezeption des seit langem bekannten Falles Höhn und Goethes Rolle dabei abgedruckt, u. a. von Lion Feuchtwanger.

Brief Nr. 5

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz, 9. Januar 2005, Papierpost, getippt

Zum Höhn-Buch siehe Regest des vorigen Briefes.

Hannes Krauss, geb. 1945, Akademischer Rat i. R. im Fachbereich germanistische Literaturwissenschaft an der Universität Duisburg-Essen.

Conrady, Karl-Otto 1926–2020: Germanist

Rezensionen von Horst Hensel und Manfred Heigenmoser zu Schöfers Sisyfos in den Horen 2004, Heft 4

Horst Hensel, geb. 147: Schriftsteller

Manfred Heigenmoser: Germanist

Sigrid Löffler, geb. 1942: Literaturkritikerin. Sigrid Löffler rezensierte den Sisyfos nicht

Ein Heft: siehe Brief Nr. 6

Erasmus Schöfer

Trajanstr. 550678 KÖLN

Köln, 9. Januar 2005

Professor Dr. Rüdiger Scholz

Dreikönigstr.50, 79102 Freiburg

Lieber Rüdiger Scholz,

Deinen freundlichen Vorweihnachtsbrief kontere ich nun mit nachgetragnen neujährlichen Wünschen für ein ergiebiges und gesundheitlich tadelloses Jahr 2005, gleichzeitig doch wieder dankend: nämlich für das übersandte Forschungsergebnis.

Die Kühnheit, muss ich feststellen, ist bei Dir trotz Emeritierung offenbar noch nicht zum Erliegen gekommen – dem Goethe seine weltweiten Häuser abzuerkennen! Das hat schon was. Gestaunt habe ich auch über dieses Dokument philologischen Fleißes, wie es sich nicht nur in der Aufarbeitung der spärlichen Quellen, sondern auch in der Auseinandersetzung mit allen einschlägigen Fachleuten zeigt. Karl Otto Conrady hatte mir schon vor längerem von dieser ministerialen Entgleisung erzählt, mit Hinweis auf die Ambivalenz in der Existenz des dichtenden Höflings. Ich werde ihm Dein Buch bei Gelegenheit zeigen, falls er es noch nicht kennt. Deine Rückschlüsse auf die zwiespältige Haltung bürgerlicher Humanisten generell, wie Du sie in dem Fall G. vorgebildet siehst, kann ich gut nachvollziehn. Und Feuchtwanger ist ein kundiger Mitwisser. Das Thema ist für Dich wohl eher die Verschleierung und Verharmlosung des Vorgangs durch die beflissnen Proselyten als die Tatsache, dass auch der Geistesriese seine Schwächen und Abgründe hatte –die er selbst ziemlich gut kannte.

Aha, Du hattest also ebenfalls nichts dagegen, Dir die Arbeitswelt handgreiflich bekannt zu machen, statt Nachhilfestunden zu geben. Sympathisch. Ich hab auch ziemlich viel Zeit in der Landwirtschaft verbracht, nicht ganz freiwillig, aber doch recht gern.

Dein Kollege Hannes Krauss von der Univ. Essen macht ein Hauptseminar mit dem Titel »High Infidelity – Ehebruch in der Literatur« und hat mich eingeladen, zur letzten Seminarsitzung aus »Frühling irrer Hoffnung« zu lesen, als letzte Variante des Themas. Witzig, nicht?

Die beiden Rezensionen im Horen-Heft find ich nicht besonders kompetent. Horst Hensel, der mich aus dem Werkkreis kennt, kennt natürlich meine Biografie, aber das trifft auf normale Leser ja nicht zu und so könnten sie seine Schlussfolgerung auch nicht ziehen. Und welcher realistische Autor nutzt denn nicht die Erfahrungen seines Lebens? Heigenmosers Einwand, dass bestimmte, faktenorientierte Textteile weniger hintergründig und psychologisch grundiert sind, ist zwar richtig, aber kann man ernsthaft dagegen sein, dass einem soziale Vorgänge als solche erzählt werden? Ich vermute bei ihm eher ein persönliches renegatisches Schutzbedürfnis gegenüber den Inhalten der erzählten Vorgänge.

Bin gespannt, ob es Dir gelingt, die Festung Löffler einzurammen. Vermutlich eher nicht. Was sie gegen mich hat, müsste sie auch gegen Dich im Schild führen.

Im Zuge unsres Austausches von Lebenszeichen leg ich Dir noch ein Heft aus einer Dir sicher nicht unbekannten Reihe bei, ad usum delphini.

Herzliche Grüße Dir

Dein

Erasmus Schöfer

Brief Nr. 6

Erasmus Schöfer schenkte Rüdiger Scholz im November 2004 seine Schrift »›Die Wahrheit ist die Veränderung‹« Flugschrift 2 der Ça Ira Presse, 9. November 1968, 28 Seiten mit folgender Widmung:

für Rüdiger Scholz,

36 Jahre später,

mit Gruß an Faust!

Erasmus Schöfer

Brief Nr. 7

Im Januar folgt das Geschenk eines Exemplars von: Erasmus Schöfer, Zeitgedichte, kürbiskern 4 – 1982, Damnitz Verlag München, 32 plus 2 Seiten, DM 2,00 mit folgender Widmung:

Noch ein Gedicht

aus den bewegten Jahren –

Für Rüdiger Scholz!

Erasmus Schöfer

Januar 2005

Das Heft enthält an den Innenseiten des Buchdeckels zwei Seiten Autobiographisches von Erasmus Schöfer.

Brief Nr. 8

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz, 26. Januar 2005 Papierpost, getippt

Rezension: Rüdiger Scholz, Goethe und die Menschenrechte im Staate Weimar. Ein Lehrstück zur politischen Parteilichkeit der Klassik, in: Colloquia Germanica, Bd. 33, 2000, S.367–385.

Horst Hensel, Manfred Heigenmoser: Die Horen, 49. Jg. 2004, Heft 4, Band 216: Vom langen Atem der Erzähler des Einmaligen, hg. v. Johann P. Tammen

IM: Informeller Mitarbeiter. Bezeichnung für Spitzel bei der Staatssicherheit der DDR

Conrady: Karl-Otto Conrady, 1926–2020, Professor für Neuere deutsche Literatur

Sigrid Löffler sagte die Prüfung meines Vorschlags, Schöfers Sisyfos-Romane zu rezensieren, zu. Eine Rezension erschien aber nicht.

Johann P. Tammen, geb. 1944, Schriftsteller

Hensel: Horst Hensel, geb. 1947: »Werkkreis oder Die Organisierung politischer Literaturarbeit. Die Entstehung des Werkkreises Literatur der Arbeitswelt als Modell kultureller Emanzipation von Arbeitern. Köln, Pahl-Rugenstein, 1980

PDS: Partei des Demokratischen Sozialismus

Beilage: Bericht der Freiburger Studentenzeitung über Schöfers Drama »Durch die Wüste« und seine Rede bei der Literaturveranstaltung im Dezember 1963. Sie oben Einleitung

NRW: Nordrhein-Westfalen

Erasmus Schöfer

Trajanstr. 5 50678 KÖLNKöln, 26. Januar 2005

Beim Barte des Profeten, Rüdiger, is ja irre, was Du da im Konzert mit dem Wilson über den Schutzpatron der deutschen Humanisten zu berichten weißt! Ich hab diese Rezension gleich gelesen, mit einem lachenden und einem tränenden Auge, und vor allem Deine Schlussfolgerungen im Hinblicken auf das deutsche Bildungsbürgertum und seine Bewußtseinsspaltung zwischen dem humanistischen Ethos und dem politischen Dulden oder Mitwirken beim Nazismus erklären einiges über sein antiaufklärerisches Verhalten generell und speziell in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Auch sich Goethe als IM bei seinen Kollegen und in den Geheimgesellschaften (von denen ich wenig weiß) vorzustellen, ist mehr als pikant: bitter. Ich habe Conrady gleich von Deinen Sachen berichtet, und er war so interessiert, dass ich ihm Buch und Rezension postwendend schicken musste. Ich habe Dein Einverständnis angenommen, da er ja nicht zu den kniefälligen Bewunderern gehört.

Schön, dass die Löffler so freundlich geantwortet hat. Vielleicht bist Du bereit, im Frühsommer schon mal die Druckfahnen als Grundlage für eine Rezension zu nehmen, so dass die nicht erst ein halbes Jahr nach Erscheinen des Buches in den Literaturen stünde. Ich weiß, dass es ziemlich lästig ist, ein Buch aus ungebundenen Seiten zu lesen, so dass ich verstehen könnte, wenn Du lieber ein gebundnes Exemplar haben willst. By the way – wie klingt Dir der Titel Sonnenflucht für einen Roman, der in Griechenland mit dem aus seiner deutschen Misere geflüchteten Bliss und dem ihn zurückholenden Betriebsrat Anklam spielte? Der Ausbruch wäre zwar nicht falsch, ist aber doch sehr farblos und vermutlich unattraktiv. In der 1986er Erstfassung hieß der Roman Tod in Athen, welchen Titel ich auch wegen der Überarbeitung nicht wieder benutzen will.

Johann P. Tammen ist der mir ziemlich wohlgesonnene Redakteur der Horen, der in diesem Fall wohl die bestellte Rezension des Heigenmoser nicht ablehnen wollte, welcher im übrigen den Frühling irrer Hoffnung weitgehend positiv besprochen hatte. Horst Hensel ist ein alter Werkkreis-Mitstreiter, der übrigens das beste Buch über die ersten Werkkreis-Jahre geschrieben hat. Seine Diss, bei Pahl-Rugenstein gedruckt. Kennst Du es nicht? Apropos: Gabs das nicht – moralische Überheblichkeit bei den Linken?

Für die Annalen der Freiburger Universität hätt ich schon noch ein Schmankerl. Aus den auch schon ganz hübsch heftigen Jahren vor 68. Lies mal die Beilage. Das hat aber nur anekdotischen Charakter.

In Leverkusen sind die gar nicht so neuen Faschisten auch weitgehend gelitten, haben eine Demo für den 29. Januar angemeldet (zum 30.1.33.) und der Polizeipräsident rät »den Linken« auf ihre antifaschistische Gegendemonstration zu verzichten, während der OB von Lev. »die aufrechten Demokraten zu einer friedlichen Demonstration am 27. 1. im Forum aufruft, was sinnvoller sei als eine Gegendemonstration am 29.«!

Letzten Samstag bin ich zum Landesparteitag der PDS in Hagen gefahren, einesteils um mir ihr Programm anzuhören, andernteils um ihnen 5 Minuten was über Autor und Bücher zu erzählen, was sie mir durch den Kauf von 24 Romanen gelohnt haben. Eigentlich müsste ich solche Gelegenheiten öfter wahrnehmen, um die Siyfos-Bücher unters linke Volk zu bringen, aber der Eigenproduktion ist das sehr abträglich. Hier in NRW wollen nun DKP, PDS und die linke SPD-Gruppe als Parteien zum Landtag kandidieren – ich find das doch den sichersten Weg zu einer CDU-Mehrheit. Und die wird, zumindest im Bundestag, den Atomausstieg (so schleichend er ist) und das EnergieEinspeisungsgesetz sofort kippen. Ich weiß nicht, ob wir das riskieren sollen, aus Wut über die sonstigen Anpassungsleistungen der aktuellen Regierungsparteien an die Bedürfnisse des Kapitals.

Schluss für heute! Einen herzlichen Gruß Dir,

Erasmus Schöfer

Brief Nr. 9

Rüdiger Scholz an Erasmus Schöfer 25. [eher 29] März 2005, Papierpost, getippt.

Aufsatz über die Sisyfos-Romane: Rüdiger Scholz, Intellektuellenrevolte und Betriebskämpfe in der Bundesrepublik Deutschland 1968 bis 1989. Erasmus Schöfers

Sisyfos-Romane, in: Peter Weiss Jahrbuch, Bd. 14, 2005, S. 157–181.

frühe Freiburger Aufführung von »Durch die Wüste«. Sie vorigen Brief.

Albert-Ludwigs-Universität

Prof. Dr. Rüdiger Scholz

Herrn

Dr. Erasmus Schöfer

Trajan-Str. 5

50678 Köln

24. [recte: 29.] März 2005

Lieber Erasmus,

Du bist sicher wieder von der Buchmesse zurück; hoffentlich war sie ein Erfolg für Dich. Ich habe derweil meinen Aufsatz über die Sisyfos-Romane fertiggestellt. Ich schicke Dir den Text zu. Wenn grobe sachliche Fehler oder sonst Unverträgliches darin ist, schreib es mir; ich ändere das dann noch.

»Sonnenflucht« scheint mir ein guter Titel zu sein, sehr passend.

Sehr interessant ist mir die frühe Freiburger Aufführung von Durch die Wüste.

Horst Hensels Buch kenne ich und habe es in meinem Aufsatz in der Noltenius-Festschrift zitiert.

Sicher gab es »moralische Überheblichkeit bei den Linken«, aber bei welchen? Und war das nicht peripher? Überheblich war eher der Philosophiejargon, den aber auch nur ein Teil pflegte.

Herzliche Grüße

Dein Rüdiger

Anlage

Brief Nr. 10

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz, Ende März 2005, Email

Ästhetik des Widerstands: Peter Weiss (1916–1982). Die Ästhetik des Widerstands, 3 Bände, Frankfurt, Suhrkamp, 1975–1981

DKP: Deutsche Kommunistische Partei

TiA: »Tod in Athen«

Z: »Zwielicht«

BRV: Betriebsratsvorsitzender

FischerSchilySchröder: Mitglieder der Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder 1998–2005: Joschka Fischer, Außenminister, Otto Schily, Innenminister

Günter Giesenfeld, geb. 1938: Germanist

SA: Sturmabteilung, militärisch organisierte Abteilung der NSDAP, Nationalsozialistische deutsche Arbeiterparttei

Erasmus Schöfer, Trajanstr.5, 50678 KÖLN

Professor Rüdiger Scholz, Freiburg

Lieber Rüdiger,

Kannst Du nicht mal eben vorbeikommen, dass ich Dich kräftig ans Herz drücke? War, und ist, eine mächtige Freude, Dein Manuskript! Mal wieder zu erleben, was ein Literaturprof aus einem Werk herausholen kann, und dann auch noch aus dem eignen! Ich will nicht behaupten, dass ich lauter Neuigkeiten erfahren habe, zumal nach Deinem Gutachten, das ja Deine Wertschätzung des Sisyfos Epos schon sehr deutlich gemacht hatte, aber diese ausführliche Analyse des Werks ist doch noch eine andre, eine neue Form von Anerkennung meiner Arbeit. Also bin ich sehr froh darüber.

Du hast mich zu Korrekturen oder Vorschlägen aufgefordert. Gut, da gibts noch ein paar Kleinigkeiten, vielleicht Verbesserungen, die ich jetzt anführen werde, zu gefälliger Benutzung. Auch gibt es etwa ein Dutzend Tippfehler, die ich Dir aber der Einfachheit halber lieber am Telefon sagen würde.

Zu Seite 1 frage ich lediglich, ob der nüchterne Titel in dieser Form vorläufig oder Absicht ist? Für jemand, der die Arbeit und den Autor nicht kennt, bringt er wenig Information, Durch eine inhaltlich-wertende Überschrift, evtl mit Untertitel, könnte das Leseinteresse stärker gekitzelt werden.

S. 2 unten frage ich mich, ob Du bei der Aufzählung der Vorgänger hier absichtlich die Ästhetik des Widerstands weggelassen hast? Sie wird später ausführlich in Beziehung gesetzt zum Sisyfos, aber mir scheint eine Erwähnung und Hinweis auf die spätere Berücksichtigung für die Leser des Jahrbuchs ratsam.

Auf S. 6 3.Absatz verstehe ich die »zum Studienrat und WKLektor verkleinerte Ausgabe« nicht, da doch der interviewte »Schöfer« klar als Schriftsteller und Werkkreis Mitgründer angesprochen wird? Übrigens habe ich das Interview mit Schöfer auch eingefügt um zu zeigen, wie ein richtiger autobiografischer KlarText aussähe. Im Unterschied zu den Romantexten, die zwar aus meinen (Lebens-)Erfahrungen genährt sind, aber doch im Interesse der Romanhandlung (zum Typischen) modifiziert.

S. 7, 1. Zeile: Bliss und Anklam so ähnlich?? Lena schläft mit Anklam doch eher, weil er kein Intellektueller ist – und sich wie sie fürs Theater interessiert. Am Ende dieses Absatzes: DKP-Mitgliedschaft – Schöfer sagt eigentlich klar, dass er drin war, an der zitierten Stelle. Aber vielleicht willst Dus den Leuten nicht auf die Nase binden?

S. 8, 1. Absatz: Kolenda liest keine Rede vor, sondern die Erzählung der Brückenbesetzung, die er grade geschrieben zu haben behauptet.

S. 9, 2. Absatz: Die Rede von Bliss ist für den Roman geschrieben. Bei den Gedichten vermutest Du richtig, die meisten andern Texte hast Du kundig entdeckt.

S. 10 Mitte: Der Bus fährt die Schichtarbeiter nach Hause. 3. Absatz letzte Zeile: Dahinter steckt meine Prägung als Dialogschreiber und meine Skepsis gegenüber den realistisch unausgewiesenen Erzähltexten aus den Autorenköpfen, die in der erfahrenen Wirklichkeit nicht überprüft werden können. Dramatis personae erfährst du nur in ihrer Sprache und musst dir die Psyche dazureimen. Insofern tatsächlich eine »Absage«. Vorletzte Zeile würde ich lieber sagen: Bliss wurde in 2. Instanz freigesprochen. Und nächste Zeile: Aber Anklam wird nachdrücklich gefeuert, TiA 360!

S. 11 – 13: Mehrere Tippfehler, vor allem 1. Absatz letzte Zeile (Z S. 578ff)! Mir gefällt nicht so gut Deine starke Betonung des Scheiterns der Protagonisten. Das liegt vielleicht daran, dass Du nicht (in meinem Sinne) hinreichend deutlich machst, dass sie an den gesellschaftlichen Verhältnissen scheitern, also sozusagen weitgehend schuldlos. Ich meine, es gehört zu meinem realistischen Schreiben über unsre Wirklichkeit, dass meine engagierten Helden in dieser Gesellschaft nicht reüssieren können, es sei denn sie lassen sich korrumpieren (wie FischerSchilySchröder). Und ich finde, das Resultat ist nicht ganz so düster wie Du es liest: der Werkkreis hat 60 Bücher mit Millionenauflage rausgebracht, Anklam ist BRV, Kolenda hat sich zum Journalisten entwickelt. Also sie verwirklichen sich schon auch. Am wenigsten Bliss. Vielleicht wolltest Du das überstrapazierte »kämpfen« vermeiden, aber im Grunde ist (für mich) das Positive, dass diese Menschen nicht resignieren, sondern kämpfen. Später klingt das in Deinem Text auch an. Ich würde allerdings weniger betonen, dass resignative Stimmungen durch das Scheitern des Sozialismus (das auch) veranlasst sind als durch die wachsende Einsicht in die Stärke des weltzerstörenden Raubkapitalismus. –

Das Wort »Protestler« (S. 12 unten) ist konservativer Jargon, oder?

S. 14 Mitte: schreib doch lieber »Kampftext gegen die Notstandsgesetze-Ge setze. Selber Absatz: »AufdieNasefallen« finde ich zu salopp. Ende nächster Absatz: Kölner (nicht Wyhler) Wohngemeinschaft.

S. 15: Die Demokratische Zeitung ist nur halb fiktiv, aber aus Gründen des Persönlichkeitsrechts namentlich und örtlich verändert.

S. 17, 2..Absatz: »Waschechte« Proletarier ist in diesem Zusammenhang vermutlich kein glückliches Epitheton

S. 18: Glaubst Du wirklich, dass man die Romane als Jüngerer ohne Apparat nicht lesen mag? Ich habe da doch schon (einzelne) andere Erfahrungen. Habe darauf gesetzt, dass die Personen sich bebildern durch das was sie sagen und tun, nicht durch ihre historischen oder willkürlichen Namen. Für die Älteren käme als Surplus dazu der Wiedererkennungseffekt.

Ebd: Aha, die Liebesszenen findest Du problematisch. Wie Frank Benseler und andere ältere Herren. Arbeit, körperliche Liebe und Politik haben bzw hatten keine literarische Sprachtradition. In allen drei sozialen Bereichen habe ich »gekämpft« um literaturfähige Ausdrucksmittel, gegen die Tabus. Guck noch mal, ob da nicht doch einiges geleistet ist. Aber wahrscheinlich bist Du schon zu lang für das Jahrbuch?

S. 20 Mitte: Das Zitat spricht Bliss. Er meint Anklam und Lena. Bliss selbst hat kleinbürgerliche Herkunft.

Nachtrag S. 12, 2. Absatz: Nicht die Schaffner, sondern Kolenda hat den SA-Vater und die Püttmutter. Dass Du aber bei den Weibspersonen die Salli so nachdrücklich übersiehst, betrübt mich. Die ist doch eine stärkere Figur als Kolenda! Auch Katina und Sotiria haben sehr deutlich erzählte Schicksale.

Lieber Rüdiger. ich hoffe, Du kannst mit meinen Glossen was anfangen. Ich danke Dir, dass Du mir Gelegenheit gegeben hast, sie zu äußern. Du musst entscheiden, wie Du sie verwertest oder verwirfst. Ich werde das dann im gedruckten Text lesen. Das Ganze vielleicht auch eine Vorübung zum Wintersemester?

Apropos: Die Kulturstiftung NRW hat einen Druckkostenzuschuss für den 3. Band verweigert, trotz der tollen Gutachten von Günter Giesenfeld (Marburg) und Dir. Sie könnten nicht 3 Bände vom gleichen Autor fördern. Ich verhökere grade meinen Vorlass an das Hüser-Archiv, um die Mäuse für meinen Verleger aufzutreiben. In Leipzig die Podiumsdiskussion mit den Leuten von der Peter Weiss Gesellschaft war ein Schritt in die richtige Richtung. Die Regler-Geschichte scheint noch nicht entschieden.

Jetzt versuche ich, den Brief an Deine häusliche ImehlAdresse zu expedieren.

Herzliche Grüße und einen virtuellen österlichen Tulpenstrauß! Dein Erasmus

Brief Nr. 11

Erasmus Schöfer an Rüdiger Scholz, 10. April 2005, Papierpost, getippt

Roger Manderscheidt: 1933–2010, Schriftsteller

Ralph Schock, geb. 1952: Schriftsteller

PEN: Poets, Essayists, Novelists, Internationaler Schriftstellerverband

Jahrbuch: Peter Weiss-Jahrbuch

Erasmus Schöfer, Köln, 10. 4. 2005-04-10

Professor Rüdiger Scholz, Freiburg

Lieber Rüdiger,

seit einigen Tagen versuche ich vergeblich, Dich ans Telefon zu kriegen, um Dir weiterzugeben, was mir der Redakteur des Saarfunks, der in der Regler-Jury sitzt, mitgeteilt hat über das schiere Faktum unsres Scheiterns hinaus. Ihm war sehr gelegen daran, mir zu sagen, dass es bis ganz zuletzt große Chancen gegeben hat, dass der Preis nicht an Roger Manderscheidt, sondern an meine Arbeit verliehen worden wäre. Er und ich waren in der Endausscheidung, und letzten Endes hat offenbar der Lokalbonus des Deutsch-Luxemburgers den Ausschlag gegeben. Der Kollege ist etwa in meinem Alter, auch PEN-Mitglied und habe eine ganze Reihe sehr kritischer Bücher, aber vornehmlich auf Luxemb8urg bezogen, veröffentlicht, mit denen er immer im Schatten der deutschen Öffentlichkeit stand.

Diese Auskunft hat mich doch einigermaßen beruhigt, wenn er nun, trotz Deines und Giesenfelds Gutachten, bevorzugt wurde.