Bright Falls 2. Astrid Parker Doesn't Fail - Ashley Herring Blake - E-Book

Bright Falls 2. Astrid Parker Doesn't Fail E-Book

Ashley Herring Blake

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Beschreibung

Was sich liebt, das neckt sich – spicy Romcom für alle Bright Falls TikTok-Fans. Für die Interior Designerin Astrid Parker ist Versagen keine Option. Seit sie sich vor einem Jahr von ihrem Verlobten getrennt hat, konzentriert sie sich voll und ganz auf ihre Karriere. Als Pru Everwood sie bittet, die Renovierung des "Everwood Inn" zu übernehmen, die auch noch in der Heimwerker-Show "Innside America" ausgestrahlt werden soll, zögert Astrid keine Sekunde und stürzt sich in die Arbeit. Allerdings hat sie nicht mit Jordan Everwood gerechnet, Prus Enkelin, die als Schreinerin die Renovierung des Lokals leitet. Pru und Jordan geraten ständig aneinander und stehen der Arbeit des jeweils anderen, wo es nur geht, im Wege. Für die Produzent:innen der Reality-Show sind die beiden Frauen bestes Entertainment. Doch dann muss Astrid entscheiden: Wie weit ist sie bereit, für ihre Karriere zu gehen? Erfüllt sie weiter die Erwartungen der anderen oder beginnt sie endlich ein Leben, das nur sie glücklich macht? Zurück in Bright Falls: Astrid Parker Doesn't Fail – Band 2 der TikTok-Sensation. - Rekord-Aufsteiger im US-amerikanischen BookTok-Ranking: die "Bright Falls"-Stories von Ashley Herring Blake. - Finde deine Liebe in Bright Falls und erlebe das Abenteuer deines Lebens! - Queer, romantisch, charmant und prickelnd: Frauen lieben Frauen – pures New Adult Lesevergnügen nicht nur für die LGBTQI+ Community. - Für alle, die Romance Novels im Stil von Alice Oseman und Casey McQuiston lieben. 

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Über dieses Buch

EINE INNENARCHITEKTIN, DIE IMMER DEN PERFEKTEN PLAN HAT.

EINE SCHREINERIN, DIE GERADE ABSOLUT KEINEN PLAN FÜR IHR LEBEN HAT.

GEMEINSAM SOLLEN SIE EIN FAMILIENHOTEL RENOVIEREN, FÜR DAS BEIDE GANZ UNTERSCHIEDLICHE PLÄNE HABEN.

 

Zurück in Bright Falls

Für die Interior Designerin Astrid Parker kommt Versagen nicht infrage. Als sie gebeten wird, die Renovierung des Everwood Inn zu übernehmen, die auch noch für eine bekannte TV-Show gefilmt werden soll, stürzt Astrid sich in die Arbeit. Das Projekt soll sie nicht nur von ihrer gescheiterten Verlobung ablenken und ihrem Geschäft auf die Sprünge helfen, sondern auch ihre ewig unzufriedene Mutter beschwichtigen. Allerdings hat sie nicht mit Jordan Everwood gerechnet, der Enkelin der Besitzerin und die leitende Schreinerin der Renovierung. Die beiden bekommen sich bei jeder Gelegenheit in die Haare und stehen der Arbeit der jeweils anderen ständig im Weg. Doch während der Dreharbeiten kommen sie sich zwangsläufig näher und aus der anfänglichen Abneigung entwickelt sich schnell etwas ganz anderes …

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Für alle, die erst etwas später im Leben darauf gekommen sind.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

»Es fühlt sich verdammt gut an, wenn man endlich erkennen kann, was einen glücklich macht.«

 

Lucille Ball (zugeschrieben)

1

Astrid

Astrid Parker sah einfach perfekt aus.

Zumindest sah sie so perfekt aus, wie sie aussehen konnte – schließlich benötigte sie inzwischen jede Menge Concealer, um die dunklen Ringe zu kaschieren, die sich unter ihren Augen angesiedelt hatten. Aber abgesehen von dieser kleinen Täuschung war sie tadellos.

Sie hastete über den Gehweg, wobei das April-Morgenlicht ihren Schatten auf den Pflastersteinen der Innenstadt von Bright Falls verlängerte. Sie konnte kaum glauben, dass die Sonne endlich wieder schien, dass sie die Wärme auf ihrer blassen Haut fühlte und dass sie tatsächlich ihren Regenschirm und ihre Gummischuhe zu Hause hatte lassen können. Immerhin war heute der erste Tag seit zwei Wochen ohne Regen.

Astrid war in Oregon, also im Pazifischen Nordwesten, zur Welt gekommen und aufgewachsen und deshalb an Regen, graue Wolken und Nebel gewöhnt. Aber dass die Wolken sich ausgerechnet heute gnädigerweise verzogen hatten … na ja, das ließ sich durchaus als vielversprechend bezeichnen. Wenn Astrid an so etwas wie gute Vorzeichen geglaubt hätte, wäre sie wahrscheinlich ein wenig rührselig geworden. Stattdessen blieb sie vor der Wake Up Coffee Company stehen und betrachtete ihr Spiegelbild im großen Ladenfenster.

An diesem Morgen war sie eine Stunde früher aufgestanden als nötig, hatte sich die Haare gewaschen und geföhnt und ihren vor Kurzem geschnittenen Pony genau so frisiert, wie ihre Stylistin Kelsey es ihr gezeigt hatte. Das Ergebnis war … tja, einfach perfekt. Ihre blonden Locken fielen ihr bis kurz über die Schultern, ihre Ponyfransen wirkten stylish zerzaust, elegant und glänzend. Dazu kamen ein Minimum an Make-up – wenn man mal vom Concealer absah – und ihr schlichter, aber geschmackvoller Schmuck: nur ein Paar Goldcreolen an den Ohren.

Ihr Kleid war der eigentliche Star der Show – ihr Lieblingsoutfit und das teuerste Kleidungsstück, das sie besaß. Bis heute hatte sie sich nicht getraut, ihren besten Freundinnen Iris und Claire zu erzählen, wie viel sie im letzten Jahr nach der Trennung von Spencer dafür bezahlt hatte. Aber es war eine notwendige Anschaffung gewesen. Ein Powerkauf, der ihr half, sich selbstsicher und schön zu fühlen. Prüfend betrachtete sie das ärmellose elfenbeinfarbene Etuikleid, und ihr Spiegelbild bestätigte ihr, dass es jeden Cent wert gewesen war. Zusammen mit ihren Lieblingsschuhen, den schwarzen Riemchenheels, sah Astrid im Fenster einen Anblick vor sich, über den sich nicht mal ihre Mutter hätte beschweren können. Sie war elegant und souverän. Auf alles vorbereitet.

Perfekt.

Also exakt so, wie es für ihr heutiges Meeting und den ersten Drehtag am Everwood Inn sein sollte. Als sie an das historische Gasthaus dachte, das man ihr überlassen hatte und dem sie neues Leben einhauchen sollte, trat ein unsicheres Lächeln auf ihre Lippen. Na ja, vermutlich war überlassen das falsche Wort. Doch als Pru Everwood, die langjährige Besitzerin des landesweit berühmten viktorianischen Anwesens, sie vor zwei Wochen angerufen und ihr erzählt hatte, dass sie bereit sei, das Inn zu renovieren – und dass Natasha Rojas’ weltweit bekannte TV-Show Innside America eine Folge über diesen Umbau drehen wollte –, hatte Astrid sich fast auf die Zunge beißen müssen, um nicht vor lauter Begeisterung aufzukreischen.

Begeisterung – und eine ganze Portion Entsetzen. Aber das war nur Lampenfieber, hatte sich Astrid zumindest im Laufe des letzten Monats ständig ermahnt. Natürlich war sie aufgeregt. Und natürlich war das eine Chance, wie es sie nur einmal im Leben gab.

Das Everwood Inn war berühmt – zahlreiche Bücher und Dokumentationen erwähnten die Legende der Blue Lady, die angeblich in einem der Zimmer im obersten Stock herumgeisterte –, und ein Bericht in Innside America könnte für Astrid alles verändern. Dies war ihre Chance, sich von einer Kleinstadt-Innenarchitektin mit einer geplatzten Verlobung in eine ganz neue Frau zu verwandeln. Eine bessere Frau. Eine Frau, die ihre Mutter wirklich mögen würde.

Außerdem war das alte in ein Inn umgewandelte Herrenhaus der Traum aller Designer*innen: drei Stockwerke mit komplexen Dachtraufen und Giebeln, eine breite Veranda und eine Außenfassade, die im Moment die Farbe von Katzenkotze hatte, aber mit ein paar zarten Pastelltönen wie Lavendelblau oder Mintgrün einfach wundervoll aussehen würde. Das Innere war ein Labyrinth aus dunkel vertäfelten Zimmern und Spinnweben. Aber Astrid sah bereits vor ihrem inneren Auge, wie sie die Räumlichkeiten heller gestalten und beleben würde: mit Schiffsdielen und Akzentwänden als Ersatz für die Kirschholzvertäfelung. Und dann erst die Verwandlung der modrigen hinteren Veranda in einen lichtdurchfluteten Wintergarten …

Kein Zweifel: Das Everwood Inn war ein Traumprojekt.

Und im Moment ihr einziges Projekt.

Sie seufzte und verdrängte alle Gedanken an ihre akuten finanziellen Sorgen – darunter auch die Tatsache, dass sie vor Kurzem ihrer Assistentin und ihrer Empfangsdame hatte kündigen müssen, weil sie ihre Gehälter nicht länger bezahlen konnte. Nicht, dass sie ihre Mutter jemals darüber informieren würde, dass Bright Designs jetzt offiziell ein Einfraubetrieb war. Lieber würde sie auf einem Kaktus herumkauen. Deshalb blieb ihr auch keine Zeit für Zweifel oder Wankelmut.

Seit sie vor neun Jahren Lindy Westbrooks Innenarchitekturgeschäft übernommen hatte, weil die ältere Dame in den Ruhestand gehen wollte, hatte Astrid eigentlich immer genügend Arbeit gehabt, um sich mühelos über Wasser zu halten. Aber in letzter Zeit waren die Aufträge ausgeblieben … oder furchtbar langweilig gewesen. In einer Kleinstadt wie Bright Falls gab es nun mal nicht viele Aufträge für Designer*innen, und sie würde sich lieber die eigenen Wimpern ausreißen, als noch eine einzige weitere Arzt*innenpraxis, Rechtsanwalt*innenkanzlei oder Immobilienagentur mit ungemütlichen Sitzgelegenheiten und abstrakten Gemälden auszustatten.

Abgesehen davon: Wenn sie jetzt zuließ, dass ihr Geschäft pleiteging – vor allem nach dem Desaster ihrer gescheiterten Verlobung im letzten Sommer –, dann würde Astrids Mutter ihr nicht nur eigenhändig die Wimpern ausreißen, sondern auch dafür sorgen, dass Astrid wusste, dass dieser berufliche Fehlschlag einzig und allein ihre eigene Schuld war, und sie würde Astrids professionelle Unzulänglichkeiten als persönliche Schwäche auslegen.

In letzter Zeit hatte diese liebenswerte Eigenschaft ihrer Mutter ganz neue Ausmaße angenommen: Isabels Lippen verzogen sich mittlerweile schon angewidert, wenn bei Astrid auch nur ein Haar nicht an seinem Platz lag oder wenn sie nach einem Bagel griff. Astrid war erschöpft; sie schlief seit Monaten miserabel, denn die ständige Kritik und die unerfüllbaren Erwartungen ihrer Mutter spielten sich wie ein Film vor ihr ab, sobald sie die Augen schloss. Aber wenn irgendetwas Isabel zufriedenstellen und vielleicht sogar eine stolze Umarmung oder eine enthusiastische Aussage wie Ich habe nie an dir gezweifelt, Liebes aus ihr herauslocken und Astrid dadurch ein paar Monate Ruhe verschaffen konnte, dann war es ein Auftritt als Chefdesignerin in einer renommierten Fernsehsendung, kombiniert mit der Verwandlung des geliebten Everwood Inn in ein modernes Boutiquehotel.

Sie lächelte ihr Spiegelbild noch ein letztes Mal an und glättete den seidenweichen Stoff ihres Kleids, als eine Faust von innen gegen die Fensterscheibe hämmerte. Erschrocken wich Astrid zurück, wobei sie in ihren hohen Schuhen fast umgeknickt wäre.

»Du siehst total heiß aus!«

Eine hübsche Rothaarige grinste sie durch die Scheibe an, begutachtete Astrids Aussehen und wackelte übertrieben mit den Augenbrauen.

»Himmel, Iris«, stöhnte Astrid und presste sich die Finger gegen die Brust, um ihr rasendes Herz zu beruhigen. »Kannst du das nicht mal einen Tag lang lassen?«

»Was soll ich lassen?«, brüllte Iris durch die Scheibe, die Arme auf die Rückenlehne eines türkisfarben lackierten Holzstuhls gelegt.

»Das …« Astrid wedelte mit einer Hand, auf der Suche nach den passenden Worten. Wenn es um ihre beste Freundin Iris Kelly ging, fehlten ihr meistens die Worte. »Ach, vergiss es.«

»Schwing deinen niedlichen Hintern hier rein«, rief Iris. »Claire und Delilah flüstern sich die ganze Zeit irgendwelche Schweinereien zu …«

»Stimmt doch gar nicht!«, hörte Astrid ihre andere beste Freundin Claire irgendwo im Café protestieren. Dann erschien auch sie am Fenster, das braune Haar zu einem unordentlichen Knoten hochgesteckt. Die Gläser ihrer violetten Brille spiegelten das Sonnenlicht.

»… und ich verliere langsam meinen Lebenswillen«, fuhr Iris fort und drängte Claire mit der Schulter zur Seite.

»Tu doch nicht so – in Wirklichkeit liebst du jede Sekunde.« Diese Worte kamen von Delilah, Astrids Stiefschwester und seit zehn Monaten Claires Partnerin, an deren Gegenwart in ihrem Leben Astrid sich erst noch gewöhnen musste. Delilah und sie hatten eine schwierige Kindheit durchlebt, voller Verbitterung und Missverständnisse. Der Heilungsprozess war lang und, ehrlich gesagt, ziemlich anstrengend. Allerdings hatten sie seit letztem Juni ganz ordentliche Fortschritte gemacht, als Delilah aus New York nach Bright Falls gekommen war, um Astrids zum Scheitern verurteilte Hochzeit zu fotografieren und sich stattdessen in Astrids Brautjungfer verliebt hatte. Danach war Delilah wieder nach Bright Falls gezogen und hatte dafür gesorgt, dass Claire glücklicher war, als Astrid sie je erlebt hatte.

Und als ob Delilah diesen Aspekt noch zusätzlich betonen wollte, erschien sie jetzt am Fenster und legte einen tätowierten Arm um Claire – die prompt zu strahlen begann, als hätte Delilah den Kaffee höchstpersönlich erfunden. Astrid spürte einen Schmerz tief in der Brust. Nicht unbedingt Eifersucht, denn sie war sich schon seit Langem klar darüber, dass sie an den Problemen, die Delilah und sie als Teenagerinnen miteinander gehabt hatten, genauso viel Mitschuld trug wie ihre Stiefschwester. Deshalb handelte es sich auch nicht um Unbehagen oder um die Sorge um das Wohl ihrer besten Freundin.

Nein, das Gefühl erinnerte sie eher an … Brechreiz. Natürlich würde sie das niemals gegenüber Claire – oder Iris und deren neuer Partnerin Jillian – zugeben, doch der Anblick eines glücklichen Paars löste bei ihr Übelkeit aus. Und ihr aufgewühlter Magen war der Beweis dafür. Seit Spencer und sie sich im vergangenen Jahr getrennt hatten, wurde ihr allein beim Gedanken an Dates und Liebe schlecht.

Weshalb sie ganz bewusst nicht an Dates und Liebe dachte und sich schon gar nicht darauf einließ – weder jetzt noch in Zukunft.

»Komm rein, Liebes«, sagte Claire und klopfte sanft gegen die Scheibe. »Der große Tag ist da!«

Astrid lächelte, und langsam legte sich ihre Übelkeit. Als sie Claire und Iris von Pru Everwoods Anruf erzählt hatte – von Innside America, von Natasha-der-reine-Wahnsinn-Rojas und davon, dass Prus Enkelkinder nach Bright Falls kommen würden, um die alte Dame in dieser ganzen Angelegenheit zu unterstützen –, hatten ihre besten Freundinnen prompt vor Begeisterung gequietscht und ihr danach geholfen, sich auf das heutige Treffen mit der Familie Everwood und den ersten Drehtag vorzubereiten. Zugegeben, tatsächlich hatte diese Vorbereitung mehrere Abende in Astrids Haus umfasst, mit jeder Menge offener Weinflaschen auf dem Sofatisch, während sie an ihrem Computer gearbeitet hatte und Iris und Claire immer alberner und nerviger geworden waren. Aber trotzdem – der gute Wille zählte.

Für den heutigen Tag hatten sie darauf bestanden, sich mit ihr zum Frühstück im Wake Up zu treffen, um sie – wie Iris es ausdrückte – »mit Bageln und Badassery« zu versorgen. Und Astrid musste zugeben, dass sie ein wenig Badassery heute durchaus gebrauchen konnte. Sie nickte Claire kurz zu, ging zur Eingangstür und streckte die Hand nach der angelaufenen Messingklinke aus. Doch bevor sie diese ergreifen konnte, flog die türkisfarbene Holztür auf, und irgendetwas krachte gegen sie, presste ihr die Luft aus der Lunge und riss sie rückwärts von den Füßen.

Sie landete hart auf dem Hintern, ihre Handflächen schürften über die Pflastersteine, und ein brennendes Gefühl breitete sich in der Mitte ihrer Brust aus und floss dann hinunter in Richtung Bauch.

»O mein Gott, es tut mir so leid!«

Sie hörte die Stimme direkt vor sich, aber sie saß wie erstarrt da, die Beine äußerst undamenhaft gespreizt. Der rechte Absatz ihrer Lieblingsschuhe war in der Mitte gebrochen und hing im wahrsten Sinne des Wortes nur noch am seidenen Faden, und …

Sie schloss die Augen. Zählte bis drei und öffnete sie dann wieder. Vielleicht war es nur ein Traum. Ein Albtraum. Ganz sicher saß sie nicht auf ihrem Hintern auf dem Gehweg, am hellichten Tag, mitten in der Innenstadt von Bright Falls. Und ihr Etuikleid – ihr exquisites, Glück bringendes, fast einen Riesen teures Etuikleid, in dem ihr Hintern anbetungswürdig aussah – war ganz sicher nicht von sehr heißem, sehr nassem und sehr dunklem Kaffee durchtränkt. Und neben ihr auf dem Boden drehten sich auch keine drei durchfeuchteten Kaffeebecher, und sie hatte auch kein Papptablett auf dem Schoß, von dem noch mehr Kaffee auf den empfindlichen Leinenstoff tropfte. Und vor ihr stand auch definitiv keine Frau mit heller Haut, wirren, kurzen goldbraunen Haaren, einer unten umgestülpten Jeanslatzhose und braunen Arbeitsschuhen und starrte sie entsetzt an.

All das konnte nicht passiert sein.

Nicht, wenn sie gleich ein Meeting mit Natasha Rojas hatte. Und definitiv nicht, wenn sie in wenigen Stunden für das wichtigste Projekt ihres Lebens vor der Kamera stehen würde.

Nein. Auf keinen Fall.

»Alles okay?«, fragte die Frau und streckte Astrid eine Hand entgegen. »Ich hatte es eilig und hab Sie gar nicht gesehen, und wow, das Kleid hat aber ordentlich was abgekriegt, hm?«

Astrid ignorierte ihr Geschwätz, ignorierte die Hand. Stattdessen konzentrierte sie sich auf ihre Atmung. Ein und aus. Ruhig und langsam. Denn eigentlich hätte sie jetzt am liebsten geschrien. Laut. Der Frau direkt ins Gesicht, begleitet von einem schönen kräftigen Stoß mit der Schulter. Aber sie wusste, dass sie all das nicht tun durfte, also atmete sie … und atmete.

»Sind … Hyperventilieren Sie?«, fragte die Frau. »Soll ich jemanden anrufen?« Sie kniete sich hin und schaute Astrid prüfend ins Gesicht, die haselnussbraunen Augen leicht zusammengekniffen. Ihr Gesicht erinnerte an das einer Elfe – feine Gesichtszüge, das Kinn und die Nase scharf geschnitten. Sie hatte kurze Haare, die auf einer Seite abrasiert waren und ihr auf der anderen in die Stirn fielen und dabei so zerzaust aussahen, als wäre sie gerade erst aufgestanden. Dazu trug sie einen Nasenring – ein winziger Silberreif durch ihre Nasenscheidewand.

»Wie viele Finger halte ich hoch?«, fragte sie und zeigte Astrid zwei Finger.

Astrid hätte ihr statt einer Antwort am liebsten einen ganz bestimmten Finger entgegengehalten. Aber bevor sie dazu kam, stürzten Iris, Claire und Delilah aus dem Café und starrten sie mit großen Augen an, als sie sie auf dem Boden vorfanden.

Gott – saß sie etwa noch immer auf dem Gehweg?

»Was ist passiert, Süße?«, fragte Claire und hastete zu ihr, um ihr aufzuhelfen.

»Ich bin passiert«, antwortete die Frau. »Es tut mir wirklich leid. Ich bin gerade durch die Tür gekommen und hab nicht geguckt, wo ich hingehe, was echt typisch für mich ist, und ich fühle mich schrecklich und …«

»Herrgott noch mal, halt bitte die Klappe!«

Die Worte drängten sich aus Astrids Mund, bevor sie sie zurückhalten konnte. Die Augen der Frau wurden groß, ihre perfekt geschwungenen Lidstriche wanderten nach oben, und ihr himbeerroter Mund verformte sich zu einem kleinen O.

»Wenigstens hat sie bitte gesagt«, murmelte Iris. »Astrid in Hochform: auch dann noch höflich, wenn sie unhöflich ist.«

Claire räusperte sich und zupfte Astrid am Arm, doch Astrid schüttelte sie ab. Sie würde verdammt noch mal allein aufstehen und sich das bisschen Würde bewahren, das ihr noch geblieben war. Fußgänger auf dem Weg zur Arbeit oder in die Kaffeepause starrten sie an, die meisten dankten vermutlich ihrem Schutzengel, dass ihr Morgen nicht so miserabel verlaufen war wie der dieser armen Frau mit dem ruinierten Kleid und den aufgeschürften Handflächen.

Sie rappelte sich auf. Die andere Frau erhob sich mit ihr, rang die Hände und zuckte zusammen, als Astrid sich den ruinierten Schuh vom Fuß riss und den gebrochenen Absatz inspizierte.

»Es tut mir wirklich …«

»Leid, jaja. Ich hab’s gehört«, sagte Astrid. »Aber deine Entschuldigung reinigt weder mein Kleid noch repariert sie meinen Schuh, oder?«

Die Frau schob sich die Haare hinters Ohr, wodurch eine Reihe von Piercings in ihrer Ohrmuschel zum Vorschein kam. »Äh. Nein, vermutlich nicht.«

Ein plötzlicher Anflug von Verzweiflung stieg in Astrid auf und ließ sie erröten – so irrational das auch erscheinen mochte. Dieses eine Mal. Mehr hatte sie doch gar nicht gewollt. Nur dass dieser eine Morgen perfekt verlief. Aber nein, diese Frau, diese Katastrophe auf zwei Beinen mit ihrem angesagten Haarschnitt und dem Nasenring, musste unbedingt im denkbar schlechtesten Moment buchstäblich in ihr Leben platzen und jede Chance auf Perfektion vernichten. Ihre Fingerspitzen prickelten, ihr Magen war vor Anspannung verkrampft, und die Worte strömten aus ihr heraus, in einer Mischung aus Gehässigkeit und Wut: »Wie kann es sein, dass du mich übersehen hast?«

»Ich …«

»Ich stand genau vor der Tür, noch dazu in Elfenbein.« Astrid deutete an ihrem eindeutig nicht mehr elfenbeinfarbenen Kleid herab. »Ich habe förmlich geleuchtet.«

Die Frau runzelte die Stirn. »Also, ich …«

»Ach, vergiss es«, knurrte Astrid. »Du hast eh schon alles ruiniert.« Sie holte ihr Handy aus der Tasche, öffnete ihr Adressbuch und schob es der Frau unter die Nase. »Gib einfach deine Nummer hier ein, dann schick ich dir die Rechnung.«

»O shit«, murmelte Iris.

»Die Rechnung?«, fragte die Frau.

»Lauf weg«, flüsterte Iris ihr zu, aber die Frau blinzelte sie nur verblüfft an.

»Die Rechnung für die Reinigung«, sagte Astrid, das Handy noch immer in der ausgestreckten Hand.

»Süße«, setzte Claire an, »müssen wir wirklich …«

»Und ob wir müssen, Claire«, erwiderte Astrid. Ihr Atem ging noch immer stoßweise, aber sie ließ diesen wandelnden Wirbelsturm nicht aus den Augen, der anscheinend durch keine Tür gehen konnte, ohne völliges Chaos anzurichten.

Schließlich griff die Frau nach dem Handy und schluckte schwer, während sie ihre Nummer eintippte. Als sie fertig war, gab sie Astrid das Handy zurück und machte sich daran, die inzwischen leeren Kaffeebecher und das Tablett aufzusammeln, um sie anschließend in einen großen Abfalleimer neben dem Eingang des Wake Up zu werfen.

Dann ging sie ohne ein weiteres Wort davon.

Astrid starrte ihr nach, während sie eilig etwa einen halben Block die Straße entlanglief, an einem mintgrünen Pick-up stehen blieb, der deutlich bessere Tage gesehen hatte, und förmlich hineinhechtete. Dann zog sie mit quietschenden Reifen aus der Parklücke auf die Straße und fuhr mit dröhnendem Motor in Richtung Norden, bis sie außer Sicht verschwand.

»Tja«, sagte Delilah.

»Genau«, sagte Iris.

Claire schwieg, nahm nur Astrids Hand und drückte sie – was Astrid ruckartig wieder daran erinnerte, was gerade passiert war.

Sie blickte an sich hinab und betrachtete ihr Kleid, auf dem der Kaffee zu einem matten Braun angetrocknet war, und den Schuh, der an einem ihrer Finger baumelte. Erneut packte sie Entsetzen, aber dieses Mal lag es nicht an ihrem ruinierten Outfit oder der Tatsache, dass ihr perfekter Morgen am wichtigsten Tag ihres Berufslebens zunichtegemacht worden war. Nein – schließlich war sie Astrid Parker, verdammt noch mal. Sie würde das alles wieder hinbiegen.

Was sie nicht wieder hinbiegen konnte, war die Tatsache, dass sie einer völlig Fremden gerade den Arsch aufgerissen hatte – und das wegen eines verschütteten Kaffees. Diese Erkenntnis legte sich über sie wie eine Teerschicht, zäh und klebrig und widerlich.

»Komm, lass uns reingehen und dich frisch machen«, sagte Claire und versuchte, Astrid ins Wake Up zu ziehen. Aber Astrid rührte sich nicht.

»Ich habe exakt so geklungen wie meine Mutter«, sagte sie leise und versuchte, den Kloß hinunterzuschlucken, der sich in ihrem Hals gebildet hatte. Dann sah sie ihre Freundinnen der Reihe nach an, bis ihr Blick schließlich an Delilah hängen blieb. »Das stimmt doch, oder?«

»Nein, ganz und gar nicht«, widersprach Claire.

»Wenn man es genau bedenkt, was heißt schon exakt so?«, meinte Iris.

»Ja, das hast du«, bestätigte Delilah.

»Hör auf«, sagte Claire und schlug ihrer Freundin mit der flachen Hand auf den Arm.

»Was denn? Sie hat schließlich gefragt«, erwiderte Delilah.

Astrid rieb sich die Stirn. Früher hätte sie liebend gern so wie Isabel Parker-Green geklungen: Es war ein erstrebenswertes Ziel gewesen, das ihr die Macht verliehen hätte, die ganze Welt nach ihren Vorstellungen zu gestalten. Astrids Mutter war selbstsicher, perfekt gekleidet, elegant, gebildet und kultiviert.

Und die kälteste, gefühlloseste Frau, die Astrid kannte. Sie hatte oft die Befürchtung, dass die übermäßige Einmischung ihrer Mutter in ihr Leben ernsthafte Konsequenzen nach sich ziehen würde … dass Isabels Wesen ihr Blut und ihre Knochen durchdringen und zu einem Teil von ihr werden würde, über den Astrid keine Kontrolle hatte. Und jetzt hatte sie den Beweis: Wenn irgendetwas schiefging, war Astrid Parker ein rechthaberisches, arrogantes, unverbesserliches Miststück.

»Shit«, fluchte sie und massierte sich mit Daumen und Zeigefinger die Schläfen. »Ich habe ihr mit einer Reinigungsrechnung gedroht, verdammt noch mal. Ich muss mich unbedingt bei ihr entschuldigen.«

»Der Zug ist abgefahren«, sagte Delilah und deutete auf die Straße, wo der Geruch nach verbranntem Gummi von den Autoreifen der Frau noch immer in der Luft hing.

»Du wirst sie wahrscheinlich nie wiedersehen – wenn dir das irgendwie hilft«, sagte Iris. »Ich hab sie nicht erkannt. Und an eine so heiße Frau würde ich mich sicher erinnern.«

»Himmel noch mal – Iris!«, tadelte Claire.

»Ach, hör schon auf, sie war ganz objektiv umwerfend«, entgegnete Iris. »Hast du die Latzhose gesehen? Die Haare? Definitiv Soft Butch.«

Delilah lachte, und selbst Claire musste grinsen. Astrid dagegen spürte nur ein dumpfes Gefühl der Einsamkeit, das sie sich nicht erklären konnte.

»Wir haben alle mal einen schlechten Tag«, fuhr Claire fort. »Ich bin mir sicher, dass sie das verstehen wird.«

»Du bist zu gut für diese Welt, Claire Sutherland«, sagte Iris.

Claire rollte mit den Augen, während Delilah grinste und ihrer Freundin einen Kuss auf die Schläfe drückte. Die ganze Szene sorgte dafür, dass sich Astrid erst recht der Magen umdrehte – der Austausch von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, Claires gnadenlos positive Einstellung, Iris’ bissige Kommentare. Die Einzige, die ihr gegenüber kein Blatt vor den Mund nahm, war Delilah. Aber Astrid konnte ihr im Moment nicht in die Augen schauen – nicht, nachdem sie sich gerade kurz in Isabel Parker-Green verwandelt hatte.

»Ich muss nach Hause und mich umziehen«, sagte sie und schlüpfte aus ihrem anderen Schuh, damit sie nicht auf einem acht Zentimeter hohen Absatz über den Gehweg humpeln musste.

»Ich komme mit und helfe dir«, sagte Claire.

»Nein, ist schon in Ordnung«, sagte Astrid, löste ihren Arm aus Claires Griff und setzte sich in Bewegung, um zu ihrem Wagen zu gehen. Sie brauchte jetzt etwas Zeit für sich, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen. Trotz des katastrophalen Morgens war sie noch immer die Chefdesignerin für das Everwood Inn, würde noch immer bei Innside America auftreten und stand noch immer kurz davor, Natasha Rojas kennenzulernen. Und weder ein Zusammenstoß mit einer tollpatschigen Kaffeetrinkerin noch ein Moment extremer Gehässigkeit würden daran auch nur das Geringste ändern.

Sie verabschiedete sich von ihren Freundinnen und war schon halb auf dem Weg zu ihrem Wagen, als ihr der Gedanke kam, in ihrem Handy nach dem Namen der Frau zu suchen. Vielleicht konnte sie ihr ja eine Entschuldigung schicken und ihr wenigstens mitteilen, dass sie keine Reinigungsrechnung zu zahlen brauchte. Sie entsperrte das Gerät, doch als sie die Kontaktinformationen der Frau sah, blieb sie wie angewurzelt auf ihren nackten Füßen stehen.

Dort befand sich kein Name.

Nur eine Nummer, abgespeichert unter den Worten:

Charmante Person, die deinen hässlichen Fummel ruiniert hat.

2

Jordan

Jordan Everwood schaffte es etwa eine Meile aus der Stadt hinaus, bevor sie an den Straßenrand fahren musste. Sie versuchte, die Tränen zurückzuhalten und den Kloß in ihrem Hals hinunterzuschlucken, aber scheiß drauf – für wen riss sie sich hier eigentlich zusammen? Ganz bestimmt nicht für sich selbst. Schon seit über einem Jahr war sie völlig am Ende – noch länger eigentlich, wenn sie von Merediths Diagnose an rechnete. Also war sie längst an diesen Zustand gewöhnt.

Sie war noch gut fünf Meilen vom Cottage ihrer Großmutter entfernt, wo sie zurzeit wohnte. Simon hatte inzwischen ihr Handy zum Glühen gebracht mit seinen ständigen Fragen, wann sie endlich mit seinem heiß geliebten Hipsterkaffee zurück sein werde. Aber sie wollte dort nicht auftauchen, während ihr ganzes Gesicht von Mascaratränen verschmiert war.

Also parkte sie ihren Pick-up Adora am Rand der Straße, die aus Bright Falls herausführte – eine zweispurige Fahrbahn, umgeben von nichts als regendurchnässtem Grün, so weit das Auge reichte, und dazu im Hintergrund ein Gebirge, das sie noch nicht mal mit Namen kannte.

Ganz anders als Savannah.

Obwohl das im Grunde ja der entscheidende Punkt war.

Sie stellte Adoras Automatik auf Parken, auch wenn sich der Gang nur widerwillig einlegen ließ – die Fahrt vor einer Woche quer durch das Land hatte ihren geliebten Truck ziemlich mitgenommen. Meredith und sie hatten ihn nach der Superheldin ihrer Lieblingszeichentrickserie She-Ra benannt, damals vor vier Jahren, als Jordan bei Dalloway and Daughters als Schreinerin angefangen hatte.

Himmel, war das wirklich erst vor vier Jahren gewesen?

Es schien ein ganzes Leben her zu sein.

Jordan lehnte den Kopf gegen den Kunstledersitz und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Ganze war ein Desaster – dieser Umzug, diese »zweite Chance«, wie Simon es gern nannte. Ihr Zwillingsbruder hatte sie gut sechs Monate lang bequatscht, aus Savannah wegzuziehen.

»Es spukt in dieser Stadt«, hatte er mehr als einmal gesagt.

»Ja, klar«, war ihre Standardantwort gewesen. »Savannah ist eine der am meisten heimgesuchten Städte Amerikas.«

»Du weißt genau, was ich meine, Klugscheißerin.«

Damit hatte er zwar recht, aber sie würde einen Teufel tun und es zugeben. Und dennoch war in den Monaten danach – seit er angefangen hatte, ständig Postkarten von irgendwelchen aufregenden Großstädten zu schicken (San Francisco! New York! Chicago! Los Angeles!) – ihr Leben in Savannah immer weiter den Bach runtergegangen. Die Qualität ihrer Arbeit bei Dalloway and Daughters hatte stetig nachgelassen, was zu einigen Kund*innenbeschwerden und Dutzenden von handgearbeiteten Schränken und einzelangefertigten Möbelstücken führte, die sie mit ihren Kalkulationsfehlern ruiniert hatte – einfach weil sie den Nebel in ihrem Kopf nicht mehr loswurde.

Selbst ihre Therapeutin hatte gesagt, dass es Zeit für eine Veränderung war.

»Ich dachte, der Sinn einer Therapie besteht darin, sich seinen Problemen zu stellen, statt vor ihnen davonzulaufen«, hatte Jordan vor zwei Monaten bei einer ihrer Sitzungen gesagt. Damals hatte Angela endlich, wenn auch sehr vorsichtig, angedeutet, dass Simon vielleicht recht haben könnte.

»Man kann vor etwas davonlaufen«, hatte Angela geantwortet, »oder auf etwas Neues zulaufen. Du brauchst etwas Neues, Jordan. Du lebst nicht dein jetziges Leben, sondern ein Leben, das vor einem Jahr gestorben ist. Oder du versuchst es zumindest, und das funktioniert ganz offensichtlich nicht. Dieses alte Leben kann nicht mehr gelebt werden.«

Nach dieser Perle der Weisheit war Jordan förmlich aus Angelas Praxis gestürmt, ohne Auf Wiedersehen zu sagen oder Fick dich oder irgendein anderes Wort. Dennoch hatten die Worte ihrer Therapeutin sie nicht losgelassen – sie hatten sie wesentlich mehr verfolgt als Savannahs angebliche Geister. Und dann hatte sich die Situation auf der Arbeit zugespitzt.

Okay, vermutlich war zugespitzt ein wenig zu diplomatisch ausgedrückt – wenn man bedachte, dass sie in einem Multimillionen-Dollar-Renovierungsprojekt am Chatham Square ein Feuer gelegt hatte.

Mit Absicht.

Immerhin war es nur ein kleines Feuer gewesen.

Sie hatte gerade den Einbau einer Reihe von wunderschönen Eichenschränkchen versaut gehabt … wobei versaut bedeutete, dass sie ein Eckstück hatte fallen lassen, nachdem sie sich geweigert hatte, Hilfe von ihrer Assistentin Molly anzunehmen. Das wunderbare Holzelement war auf dem Boden in tausend Stücke zerbrochen, und das hatte sie ziemlich »frustriert«, um es einmal vorsichtig auszudrücken. Denn anscheinend hatte sie danach – zumindest nach Aussage von Zeugen – eine Schachtel Streichhölzer in ihrer Werkzeugkiste entdeckt, einige davon entzündet und sie auf den Haufen Holzsplitter fallen lassen, wobei sie gleichzeitig in voller Lautstärke so etwas geschrien hatte wie Fuck, fuck, fuck!

Die Splitter hatten kaum Feuer gefangen. Niemand konnte professionell bearbeitete Schränke in ein wütendes Flammenmeer verwandeln, Holz hin oder her. Aber der Gedanke, der hinter der Tat steckte, hatte Jordans Schicksal besiegelt. Bri Dalloway, Matriarchin des Unternehmens und Jordans hochgradig verständnisvolle Chefin, hatte genug von ihr gehabt, genau wie ihre beiden Töchter Hattie und Vivian.

Frisch gefeuert – Wortspiel beiseite – und ohne etwas, mit dem sie ihre Tage füllen konnte, hatte sie die nächsten beiden Wochen gemeinsam mit ihrer Tuxedo-Katze Catra auf dem Sofa verbracht, ihr Handy ignoriert, Fertiggerichte gegessen und sich jede Liebeskomödie auf Netflix angeschaut, die sie hatte finden können. Sie hätte liebend gern endlos so weitergemacht, doch dann war Simon vor der Tür ihres winzigen Ranch-Style-Hauses in Ardsley Park aufgetaucht, in dem sie mit Meredith gewohnt hatte. Er war den ganzen Weg von Portland aus hergekommen, hatte sein Handy am Ohr gehabt – und am anderen Ende der Leitung war die Person gewesen, die Jordan mehr liebte als alles andere auf der Welt.

Ihre Großmutter.

Die Frau, die Jordan zu fast allem überreden konnte – beispielsweise zu einem Umzug ans andere Ende des Landes, um ihr bei der Renovierung des Everwood Inn zu helfen, dem Gasthaus, das sich seit über einem Jahrhundert im Besitz ihrer Familie befand. Pru hatte nur »Komm nach Hause, Liebes« gesagt, in ihrer sanften, lieben Stimme, und plötzlich war Jordan wieder zwölf Jahre alt gewesen und hatte wie jeden Sommer im Everwood gesessen, dem einzigen Ort, an dem sie sich je wirklich wohlgefühlt hatte. Hier gab es keine kranke Mutter, um die sie sich Sorgen machen musste. Keine Mitschülerinnen aus der nordkalifornischen Kleinstadt, in der sie aufgewachsen war, die sie schief anschauten, weil sie sich mit elf Jahren als queer geoutet hatte. Hier gab es nur die knarzenden Treppenstufen und geheimen Durchgänge des Hauses, wilde Rosen, den sanften von Wolken durchzogenen Himmel Oregons und den süßen Duft von Prus Rosenwasserlotion, wenn ihre Großmutter sie in die Arme nahm.

Und jetzt hockte sie hier – dreitausend Meilen von dem Zuhause entfernt, das sie sich mit der Liebe ihres Lebens geteilt hatte – heulend am Rand einer Landstraße, ohne den bestellten Kaffee, aber dafür mit der Erinnerung an eine extrem wütende Frau, deren Kreischen ihr noch immer in den Ohren schrillte.

Ein toller Plan, Simon. Wirklich.

Himmel, was für ein Desaster. Sie schaffte es nicht mal, einen Kaffee holen zu fahren. Pru trank nur Tee, und in ihrer winzigen Cottageküche gab es keine Kaffeemaschine. Daher die Kaffeefahrt, daher die Katastrophe. Sie hätte einfach eine verdammte Kaffeemaschine kaufen sollen, als sie vergangene Woche in der Stadt eingetroffen war. Oder sie hätte Simon dazu zwingen sollen – schließlich konnte er sich das mit den Einnahmen aus seinen Büchern ja weiß Gott leisten. Aber nein, ihr überfeiner Bruder bestand darauf, jeden Tag mit einem Kaffee von Wake Up zu beginnen. Angeblich gab es nichts Besseres – und blöderweise hatte er damit auch noch recht: Es war wirklich der beste Kaffee, den sie je getrunken hatte.

Aber leider verfärbte Simons Göttertrank – und der dritte Becher, den sie für die Designerin gekauft hatte, mit der sie sich wegen der Renovierung des Everwood Inn treffen würden, gemeinsam mit der Moderatorin und Fernsehcrew von Innside America (sie hatte einen Teufel getan, auch noch Kaffee für alle mitzubringen) – stattdessen gerade die edle Baumwolle oder das Leinen oder woraus auch immer Little Miss Bitchs Kleid bestand.

Sie holte hicksend Luft. Eigentlich gefiel es ihr nicht, andere Leute als Bitch zu bezeichnen – schon gar nicht, wenn es negativ gemeint war. Normalerweise benutzte sie das Wort nur, wenn sie mit ihren Freundinnen zusammen war. Nicht, dass ihr noch viele geblieben waren. Ihr Freund*innenkreis daheim in Savannah bestand aus gemeinsamen Freund*innen von Meredith und ihr, und sie wusste schlicht und einfach nicht, wie sie ohne ihre Partnerin mit ihnen umgehen sollte. Und umgekehrt galt offenbar das Gleiche.

Anscheinend wusste sie überhaupt nicht mehr, wie man mit irgendjemandem umging.

Und natürlich war die Frau, in die sie wie ein Kampfstier hineingekracht war, auch noch hübsch gewesen. Nein, nicht hübsch. Eine verdammte Schönheit. Sanfte Rundungen und zerzaustes Haar, dichte Augenbrauen – natürlich perfekt geformt – und gerade so viel Schatten unter den dunkelbraunen Augen, um sie interessant wirken zu lassen. Sie hatte einfach hinreißend ausgesehen, und zum ersten Mal seit über einem Jahr war Jordan einen Moment lang wie benommen gewesen, während sich ein federleichtes Gefühl in ihrem Bauch ausgebreitet hatte.

Bis zu dem Moment, als die Frau den Mund aufgemacht und sich alle zarten Federn in Stein verwandelt hatten.

»Fuck«, sagte Jordan jetzt laut und umklammerte Adoras Lenkrad, während eine Woge neuer Tränen über sie hinwegschwappte. Sie heulte doch tatsächlich wegen eines Streits mit einem Mean Girl – als ob sie wieder das queere Mädchen mit dem seltsamen Haarschnitt in der Highschool wäre. Plötzlich fühlte sie sich uralt. Dabei war sie gerade mal einunddreißig. Doch sie hatte schon die Liebe ihres Lebens kennengelernt, geheiratet und verloren. Sie war viel zu jung, um sich so verdammt alt zu fühlen.

Sie schniefte, rieb sich die Augen und schüttelte den Kopf, um wieder einen klaren Gedanken zu fassen. Dann griff sie nach ihrer ledernen Messengertasche, die Meredith immer »das Fass ohne Boden« genannt hatte, und wühlte darin herum, bis sie den Seidenbeutel mit ihren Tarotkarten fand. Sie lockerte das Zugband und ließ die Karten in ihre Hand fallen. Sie liebte dieses Deck. Die Karten wirkten farbenfroh und modern, und was noch viel besser war: Sie waren feministisch und queer. Jede Karte, selbst die Könige in jeder Serie, zeigte entweder eine Frau oder eine nichtbinäre Person. Jordan hatte die Karten gekauft, kurz nachdem sie sich allein und ohne Meredith wiedergefunden hatte – ein Trostkauf. Seitdem hatte sie die Karten jeden Tag benutzt. Sie waren ihre einzige gute Angewohnheit. Die Karten erdeten sie und hielten sie davon ab, völlig abzudriften.

Es gab nur ein Problem: In letzter Zeit gingen sie ihr verdammt auf die Nerven.

»Mach schon«, flüsterte sie, während sie die glänzenden Karten mischte. »Mach schon, mach schon, mach schon.« Sie wusste, dass sie beim Mischen der Karten eigentlich bedeutsame und tiefsinnige Fragen stellen sollte, wie etwa Was muss ich heute wissen, um das Beste aus meinem Leben zu machen? Aber das hatte sich in letzter Zeit nicht als sonderlich erfolgreich herausgestellt.

In Wahrheit hatten die Karten sie im letzten Monat schlicht und einfach im Stich gelassen.

Nachdem sie die Karten gemischt hatte, unterteilte sie sie in ihrem Schoß in drei Stapel und legte sie dann wieder zu einem Kartenstapel zusammen. Dann schob sie ihre Tasche zur Seite und fächerte die Karten auf der Sitzbank auf. Sie betrachtete das leuchtend blaue Muster auf der Rückseite der Tarotkarten, fuhr mit der Hand darüber und wartete darauf, dass eine sie besonders ansprach.

Eine tat ihr den Gefallen. Sie zögerte nicht, ließ sich von ihrem Instinkt leiten und zog die Karte aus dem Stapel. Einen Moment lang presste sie sie gegen die Brust und atmete tief durch. Im Tarot gab es achtundsiebzig Spielkarten: Die großen Arkana umfassten zweiundzwanzig und die kleinen Arkana sechsundfünfzig. Wie groß war die Chance, dass sie wieder dieselbe Karte gezogen hatte?

Nicht sehr groß.

Und dennoch …

Sie drehte die Karte um.

Die Zwei der Kelche starrte sie an, so wie an den meisten Tagen des letzten Monats. Das raffinierte kleine Biest kam ihr langsam vor wie ein schlechter Scherz. Höchst selten hatte sie eine andere Karte gezogen, irgendeinen Stab oder eine Münze oder den Narren, den Hierophanten oder den Mond.

Heute hätte sie sich sogar über den unseligen Turm gefreut. Zumindest hätte das zu ihrem Gemütszustand gepasst. Alles wäre besser gewesen als dieses kleine Mistding, diese leuchtende Abbildung von zwei Frauen an einem Strand, die jeweils einen großen Kelch in den Händen hielten. Sie standen einander gegenüber, lächelnd, glücklich, voller Hoffnung und Möglichkeiten. Die Zwei der Kelche versprach Romantik und Liebe und neue Beziehungen.

Ein perfektes Paar.

Seelenverwandte.

Am liebsten hätte sie die verdammte Karte zerrissen. Sie konnte einfach nicht fassen, dass sie sie schon wieder in der Hand hielt. Und jedes Mal, wenn das passierte, war sie aufs Neue geschockt, wütend und – ehrlich gesagt – zu Tode erschrocken. Das Tarot sollte keine Prophezeiungen treffen, sondern Einsicht, Selbsterkenntnis bringen. Die Karten sollten sie zu einem besseren Verständnis ihrer eigenen Wünsche führen, zur Einsicht in ihre Situation, in ihre Bedürfnisse. Also bedeutete diese Karte nicht, dass ihre Seelenverwandte schon hinter der nächsten Ecke wartete.

Wie hätte das auch sein können?

Ihre Seelenverwandte war längst Vergangenheit.

Sie wusste beim besten Willen nicht, was diese Karte bedeuten sollte. Nicht für sie. Die Zwei der Kelche konnte Freundschaft andeuten, ein tiefes inneres Bedürfnis, sich mit jemandem, irgendjemandem zu verbinden.

Aber sie hatte bereits bewiesen – wieder und wieder und heute Morgen ein weiteres Mal –, dass sie darin nicht besonders gut war.

Zitternd holte sie Luft und schob die Zwei der Kelche in den Stapel zurück. Als sie den Seidenbeutel wieder in die Tasche steckte, begann ihr Handy im Becherhalter laut zu brummen. Sie griff danach und las die Nachricht, die ihr Bruder vor einer Sekunde geschickt hatte.

Wo zum Teufel steckst du?

Sie wollte gerade eine Antwort eintippen, als eine weitere Nachricht auf dem Display erschien.

Jordie?

Und gleich noch eine.

Alles okay mit dir? Mal ehrlich, das ist nicht mehr witzig. Du bist schon über eine Stunde weg.

Sie rollte mit den Augen und rief ihn an.

»Mir geht’s gut«, sagte sie, bevor er seine panische Begrüßung auch nur beendet hatte. »Du kannst jetzt aufhören, mich mit Nachrichten zu bombardieren.«

»Hey, als dein älterer Bruder …«

»O ja, diese dreieinhalb Minuten, die du als Einzelkind verbracht hast, haben dich wirklich mit unvergleichlicher Weisheit erfüllt.«

»… bin ich berechtigt, dich im Auge zu behalten und darauf zu achten, dass du dich nicht verirrst oder schwer verstümmelt wirst oder …«

»Dinge in Brand stecke und die Reste meines armseligen Lebens auch noch ruiniere?«

»Eigentlich wollte ich noch hinzufügen: dafür sorgen, dass deine Katze dein Gesicht nicht frisst.«

Sie keuchte in gespieltem Entsetzen auf. »So etwas würde Catra nie tun.«

»Katzen sind geborene Jäger. Wenn du dir deinen Kopf an der Badewanne aufschlägst und sie niemanden hat, der ihr Futter gibt, wird sie nach ein paar Tagen garantiert anfangen, an deinem Gesicht herumzuknabbern.«

»Können wir aufhören, über meine Katze zu reden und darüber, dass sie sich in einen mordlustigen Psychopaten verwandeln könnte?«

»Ich will damit nur eines sagen: Wenn ich die Dreharbeiten zu dieser TV-Show, zu der unsere Großmutter uns gezwungen hat, allein durchstehen muss, würde ich das gern vorher wissen.«

Jordan seufzte. Sie konnte es noch immer nicht fassen, dass sie bei Innside America dabei sein würden. Es handelte sich um eine der beliebtesten Sendungen von HGTV und wurde von Natasha Rojas moderiert – eine Frau, die als Innenarchitektin Karriere gemacht hatte, Gründerin und Chefredakteurin eines edlen Designmagazins namens Orchid war und den Großteil ihrer Zeit mit Reisen quer durchs Land verbrachte, um überall die Renovierungen historischer Landgasthäuser zu betreuen. Die Teams für diese Renovierungen kamen immer aus der unmittelbaren Umgebung – vor allem die Designerinnen. Und Natasha war für ihr äußerst direktes Feedback genauso bekannt wie für ihren tadellosen Geschmack.

Wenn Jordan ganz ehrlich war, fühlte sie sich ein wenig eingeschüchtert. In letzter Zeit hatte sie nicht gerade tadellose Arbeit abgeliefert, und Natasha Rojas würde sich nur mit dem Besten vom Besten zufriedengeben. Immerhin hatte das Interesse des Senders am Everwood Inn dafür gesorgt, dass ihre Großmutter endlich einer Renovierung zugestimmt hatte – ein Umbau, der vor gut zwanzig Jahren hätte geschehen müssen, wenn es nach Jordan und dem Rest der Familie gegangen wäre.

»Das wird interessant«, sagte Jordan jetzt.

»Ja, so kann man das auch sagen.« Simon unterdrückte ein Lachen. »Aber jetzt mal ehrlich: Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ja«, bestätigte sie, denn das war die richtige Antwort für ihren überfürsorglichen Bruder – auch wenn sie nicht ganz der Wahrheit entsprach.

»Okay«, sagte er mit deutlich hörbarer Erleichterung in der Stimme. »Okay, prima. Nimm einen Schluck Kaffee, das wird dir helfen.«

Sie öffnete den Mund und wollte ihm gerade erklären, dass er auf seinen morgenrettenden Kaffee verzichten musste, als ihr klar wurde, dass die ganze Auseinandersetzung vor dem Wake Up nur bestätigen würde, was er bereits befürchtete … nein, bereits wusste.

Jordan Everwood war eine Katastrophe auf zwei Beinen und konnte nur mit äußerster Vorsicht behandelt werden.

»Okay«, sagte sie. »Prima Idee.«

Dann beendete sie das Gespräch und legte Adoras Vorwärtsgang ein.

***

Zehn Minuten später bog Jordan in eine einspurige Schotterstraße ein. Offiziell lag das Everwood Inn noch innerhalb der Stadtgrenzen von Bright Falls, aber in Wahrheit stand es im Niemandsland, versteckt im Wald wie ein Geheimnis. Das Gebäude im Queen-Anne-Stil war ein Original – 1910 erbaut von Jordans Urururgroßeltern James und Opal Everwood, mit eleganten Dachspitzen, Gingerbread-Verzierungen und einem halben Dutzend geheimer Gänge im Inneren, die sie als Kind zusammen mit Simon während der Sommermonate und bei anderen Ferienaufenthalten mit Begeisterung erforscht hatte.

Ihre Großmutter Prudence Everwood hatte das Gebäude gemeinsam mit ihrer jüngeren Schwester Temperance in den 1960er-Jahren in ein Gasthaus umgewandelt. Die Idee hatte sich von Anfang an als ein Riesenerfolg erwiesen – zum einen wegen der Schönheit des Inns und seiner idyllischen Lage, zum anderen wegen der berühmten Blue Lady.

Vielleicht war die Reihenfolge aber auch eher umgekehrt: Alle liebten eine Geistergeschichte – diese Verbindung mit dem großen Unbekannten. Das galt auch für Jordan, die diese Geschichten früher mit Begeisterung gehört hatte. Nach der Eröffnung des Inns war Pru in die ehemalige Remise gleich hinter dem Haupthaus gezogen, die sie in ein bezauberndes – wenn auch winziges – Dreizimmercottage hatte umbauen lassen. Doch bei jedem ihrer Besuche waren Jordan und Simon lange aufgeblieben und hatten sich ins Inn geschlichen, auf der verzweifelten Suche nach dem geisterbleichen Gesicht ihrer längst verstorbenen Vorfahrin Alice Everwood, der berühmten Blue Lady.

Sie hatten sie zwar nie zu Gesicht bekommen, aber dafür hatte es viele Momente gegeben, in denen eine Treppenstufe quietschte oder ein Windstoß durch das Dachgesims fuhr und dafür sorgte, dass die jungen Zwillinge sich die Seele aus dem Leib schrien – was wiederum jede Menge wütende Gäst*innen und extrem genervte Eltern zur Folge gehabt hatte.

Jordan musste bei diesen Erinnerungen unwillkürlich lächeln, während sie um die letzte Kurve bog und das Everwood Inn vor sich aufragen sah. Sie liebte diesen Ort, weil er ihrer Familie gehörte und weil sie darauf vertrauen konnte, dass seine Türen ihr immer offen standen. Als Simon und sie noch klein gewesen waren, hatte ihre Mutter Serena mit einer nicht diagnostizierten Depression zu kämpfen gehabt. Daher hatten die Zwillinge die meisten Sommerferien bei ihrer Großmutter verbracht, während ihr Vater versucht hatte, seiner Frau dabei zu helfen, »sich zusammenzunehmen« – so hatten sie es damals genannt. Jordan war bei ihrer Ankunft im Everwood meistens so angespannt gewesen wie eine Sprungfeder, aber ihre Großmutter und der sanfte Oregon-Regen hatten gemeinsam dafür gesorgt, dass sie sich langsam entspannte und die Art von sorgloser Heiterkeit entwickelte, die alle Kinder im August haben sollten. Schließlich, als Jordan und Simon sechzehn Jahre alt gewesen waren, war Serena endlich als hochgradig depressiv diagnostiziert worden. Sie hatte eine Therapie begonnen, die richtigen Medikamente bekommen und ihr Zustand hatte sich verbessert, aber die Zwillinge hatten auch weiterhin die Sommermonate in Oregon verbracht, bis sie aufs College gegangen waren.

Und obwohl Jordan nicht genau wusste, was sie von der Stadt Bright Falls halten sollte, und keine Ahnung hatte, was sie mit ihrem Leben anfangen wollte – zumal sie im Moment noch nicht mal in der Lage war, die einfachsten Schreinerarbeiten korrekt zu erledigen –, hatte dieser Ort für sie nichts von seinem Zauber verloren. Und daran würde sich auch nichts mehr ändern.

Zugegeben: Das Haus hatte bessere Tage gesehen. Das Holz und der Stein der Außenfassaden, die einst in strahlendem Elfenbein geschimmert hatten, besaßen heute die Farbe von ausgeblichenen gelblichen Knochen. Von den Gingerbread-Verzierungen an den Fenstern und der Veranda blätterte die Farbe ab, und der winzige Balkon des Türmchens war an der linken Seite abgesackt. Die einst üppigen, perfekt gestutzten Rosensträucher, die jeden Sommer in wahrer Farbenpracht erblüht waren, wirkten inzwischen ungepflegt und überwuchert und drohten die Veranda unter sich zu begraben. Und im Inneren sah das Evergreen auch nicht viel besser aus. In den letzten Jahren hatte das Geisterhaus deutlich die Oberhand über die bezaubernde viktorianische Pension gewonnen, mit vielen düsteren Ecken und ungemütlichen, knarzenden Möbeln. Jordan war sich ziemlich sicher, dass die Pfostenbetten in jedem einzelnen der Gäst*innenzimmer noch von den ersten Besitzern des Hauses stammten.

Inklusive der Matratzen.

Der Gedanke ließ sie erschaudern.

Als das Team von Innside America sich vor ein paar Monaten bei Pru wegen einer möglichen Renovierung im Rahmen der Sendung erkundigt hatte, hatte ihre Großmutter nur kurz gezögert. Immerhin ging sie inzwischen auf die achtzig zu. Tante Temperance war schon in den Neunzigerjahren gestorben, und danach hatte Pru das Inn gut zwanzig Jahre lang größtenteils allein geführt. Serena war Prus einziges Kind und stammte aus einer leidenschaftlichen Affäre, die Pru als Endzwanzigerin mit einem relativ bekannten Maler gehabt hatte, der eine Zeit lang in Bright Falls ansässig gewesen war. Er war jedoch kein Bestandteil ihres Lebens gewesen, und Pru hatte nie geheiratet. Jordans und Simons Eltern waren noch immer verrückt nacheinander und führten inzwischen gemeinsam ein winziges ums Überleben kämpfendes Weingut in Sonoma County – ein Projekt, in das sie sich vor zehn Jahren Hals über Kopf hineingestürzt hatten, als sie beide mit ihren Bürojobs unzufrieden gewesen waren.

Das bedeutete, dass es niemanden gab, der Pru bei der Instandhaltung dieses Monsters von einem Gebäude hätte helfen können, das im Laufe der Zeit rund um sie herum verfallen war – vom Stress einer im Fernsehen dokumentierten Renovierung ganz zu schweigen. Es gab niemanden – außer Simon, der von überall auf der Welt seiner Arbeit nachgehen konnte. Und wer wäre für ein solch gewaltiges Projekt besser geeignet, um mit kostenlosen Arbeitsstunden und Fachkenntnissen auszuhelfen, als Simons verlorene und trübsinnige kleine Schwester?

Sie seufzte schwer, als Adora in die kreisrunde Auffahrt rumpelte. Simon und ihre Großmutter standen auf der Veranda. Ihr Bruder deutete hierhin und dorthin, während Pru nickte und dabei an etwas nippte, was Jordans Erfahrung nach eine Tasse starker englischer Frühstückstee sein musste. Sie hatte das Inn vergangene Woche für Gäst*innen geschlossen und wollte es erst wieder öffnen, wenn die Renovierung abgeschlossen war – was nach Jordans Schätzungen mindestens sechs Wochen dauern würde, falls alles nach Plan verlief. Da sie den Grundriss des Hauses möglichst unverändert lassen wollten – in einem Inn waren offene Wohnflächen nicht nur unnötig, sondern wirkten sich nachteilig auf den Komfort der meisten Gäst*innen aus –, würde der Großteil der Arbeit kosmetischer Natur sein, abgesehen von ein paar Bauschäden an der Außenseite des Gebäudes. Andererseits wusste sie nicht, wie sehr die ständige Anwesenheit einer Filmcrew die eigentlichen Arbeiten verlangsamen würde. Die im Vorfeld geschickten E-Mails hatten gezeigt, dass Natasha Rojas bemüht war, die Renovierung so authentisch wie möglich ablaufen zu lassen. Doch sie konnte sich nicht vorstellen, wie das in der Realität aussehen würde. Natasha und ihre Crew mussten jeden Moment hier eintreffen, und Jordan nahm an, dass man dann über die eigentlichen Details sprechen würde.

»Da bist du ja«, sagte Simon und sprang die verwitterten Treppenstufen herunter, als sie aus dem Pick-up stieg. Er trug dunkle Jeans, ein kastanienbraunes T-Shirt und abgewetzte Vans an den Füßen. Jordan und Simon waren Zwillinge, aber sie ähnelten einander kaum. Während sie das bronzefarbene Haar ihrer Mutter geerbt hatte, stammten die tintenschwarzen Locken ihres Bruders – zerzaust auf dem Kopf und an den Seiten kurz geschnitten – eindeutig von ihrem Vater. Allerdings besaßen sie die gleiche Augenfarbe: die Everwood-Augen, haselnussfarben, mit mehr goldenen als braunen Sprenkeln.

Und jetzt weiteten sich diese Augen hinter Simons schwarz eingefassten Brillengläsern.

»Ich weiß, ich weiß«, sagte sie und hob die kaffeebecherlosen Hände. »Tut mir leid, aber –«

Simon packte ihre Handgelenke, schaute ihr prüfend ins Gesicht und schnitt ihr so das Wort ab. »Was ist passiert? Du hast doch gesagt, mit dir sei alles okay.«

Sein besorgtes Gesicht ließ sie die Stirn runzeln, aber dann erinnerte sie sich daran, dass sie gut zwanzig Minuten in Adora am Straßenrand gesessen und geheult hatte. Anscheinend hatte sie vergessen, sich die Beweise dafür aus dem Gesicht zu wischen. Ihre heiß geliebten geschwungenen Lidstriche und ihre vegane Mascara zogen sich wahrscheinlich in breiten Streifen über ihre Wangen und mussten wie das Make-up für eine Halloweenparty aussehen.

»Oh.« Sie fasste sich ans Gesicht. »Das meinst du.«

»Ja, genau, das meine ich.«

»Was ist denn passiert, Liebes?«, fragte ihre Großmutter, während sie von der Veranda aus auf sie zukam. Ihre kurzen silbernen Haare glänzten im Sonnenschein. Sie trug einen Pullover mit breiten grünen und schwarzen Streifen, eine dunkelblaue Jeans und weiße Keds. Dazu hatte sie eine grasgrüne Brille auf der Nase, die perfekt zu ihrem Oberteil passte. So lange Jordan sich erinnern konnte, waren die Brillen ihrer Großmutter immer genau auf ihre Kleidung abgestimmt gewesen. Niemand wusste, wie viele Brillen sie besaß – es mussten mindestens zwei Dutzend sein, schätzte Jordan.

»Nichts«, antwortete Jordan jetzt.

»Du hast dir deinen wunderbaren Lidstrich doch nicht wegen nichts ruiniert, Liebes«, erwiderte Pru und wischte einige schwarze Flecken von der Wange ihrer Enkelin.

Jordan seufzte und schmiegte sich an Prus Hand. Sie hatte wirklich keine Lust, die ganze Geschichte in allen Einzelheiten zu erzählen – der Zusammenprall mit Little Miss Bitch, der Anschiss, den sie dafür erhalten hatte, der Heulkrampf. Ihre ganze Familie wusste bereits, dass sie kaum in der Lage war, normal zu funktionieren. Also konnte sie gut darauf verzichten, ihnen zu erzählen, dass eine kleine Auseinandersetzung sie zum Schluchzen gebracht hatte wie ein vorpubertäres Hormonbündel.

»Ich hab beim Verlassen des Ladens sämtlichen Kaffee verschüttet«, sagte sie. »Dabei ist mir etwas Kaffee ins Gesicht gespritzt, und wahrscheinlich habe ich nicht alles weggewischt.«

»Mist! Hast du dir das Gesicht verbrannt?«, fragte Simon, fasste sie unter dem Kinn und suchte nach Verbrennungen.

Herrgott noch mal.

Sie entzog sich seinem Griff.

»Nein, es waren nur ein paar Tropfen.« Sie machte ein paar Schritte zurück auf den Kiesweg, der zum Cottage ihrer Großmutter führte. »Ich muss mich nur schnell waschen. Wann soll das Ganze losgehen?«

Bevor Simon antworten konnte, knirschten Reifen über den Kies der Auffahrt.

»Äh … jetzt sofort?«, sagte er leicht verzweifelt.

Jordan stöhnte. »Muss ich wirklich mit dabei sein?«

»Du bist die leitende Schreinerin, Jordie, und ein Mitglied der Familie. Sie brauchen dich vor der Kamera.«

Sie seufzte schwer. Das war bestenfalls ein Ehrentitel. Ihr Bruder würde ihr dieses Projekt auf keinen Fall allein anvertrauen. Sie wusste, dass er bereits einen Bauunternehmer angeheuert hatte – irgendeinen Typ namens Josh Foster aus dem Nachbarort Winter Lake. Und Bauunternehmen hatten normalerweise ihre eigenen fest angestellten Schreiner*innen.

Sie musste es wissen – schließlich hatte sie genau so einen Job gehabt.

Andererseits hatte Simon ihr gesagt, dass er bereits mit Josh vereinbart habe, dass Jordan das Projekt leiten werde. Dass Jordan eng mit der Designerin zusammenarbeiten werde und dass Jordan die Ansprechpartnerin für alle Schreinerarbeiten sei. Der Gedanke hatte sie begeistert und ihr gleichzeitig Angst eingejagt. Schließlich war die Schreinerei für sie früher mehr als nur ein Job gewesen – ihre Leidenschaft. Sie hatte die Arbeit mit Holz geliebt, gern Dinge mit ihren Händen geschaffen und davon geträumt, eines Tages ihre eigenen Möbel zu bauen und ihr eigenes Geschäft zu eröffnen.

Zumindest war das so gewesen, bis eine Elektrosäge sich in ihren Händen buchstäblich in ein Berufsrisiko verwandelt hatte.

»Also gut«, sagte sie jetzt. Sie würde mitspielen. Schließlich wollte sie an dieser Renovierung beteiligt sein. Sie wusste nur nicht, wie viel Kontrolle sie tatsächlich über die Arbeiten haben würde. Aber egal – sie würde alles tun, damit der Geht’s-dir-auch-gut-Ausdruck aus dem Gesicht ihres Bruders verschwand.

Eine silberne Limousine rollte in ihr Blickfeld, und Jordan schob sich unauffällig hinter ihren Bruder, um sich die Wangen sauber zu wischen. Dafür musste sie natürlich ihre eigene Spucke benutzen, aber in der Not …

»Hallo, meine Liebe«, sagte ihre Großmutter, während sich eine Autotür öffnete und wieder schloss.

»Wie geht es dir, Pru?«, fragte eine Stimme.

»Ganz ausgezeichnet«, sagte Pru. »Oh, du siehst wirklich bezaubernd aus.«

Ein Lachen. »Vielen Dank. Aber schau dich an! Diese Brille!«

»Grandma könnte vermutlich uns allen ein paar Modetipps geben«, meinte Simon.

Ein weiteres Lachen.

Jordan atmete tief durch, ermahnte sich, einen möglichst professionellen Eindruck zu machen, und drehte sich um.

Sie blinzelte verblüfft.

Und blinzelte noch einmal, denn …

Vor ihr, nur wenige Schritte entfernt und das lächelnde Gesicht Jordans heiß geliebter Großmutter zugewandt, stand Little Miss Bitch höchstpersönlich. Zugegeben, die Kaffeeflecken waren verschwunden, ihre Augen wirkten jetzt sanft und freundlich statt weit aufgerissen und wutentbrannt. Und sie trug einen atemberaubenden eng anliegenden, schwarzen Anzug mit weißer Bluse und dazu burgunderrote Oxford-Schuhe mit hohen Absätzen, die ihr endlos lange Beine verliehen. Aber es handelte sich eindeutig um die Frau vom Wake Up.

»Astrid Parker«, sagte sie und streckte Simon die Hand entgegen. »Bright Designs. Wir haben uns ja schon einige E-Mails geschickt.«

»Ja, richtig. Hallo – schön, Sie endlich kennenzulernen«, sagte er und schüttelte kräftig ihre Hand. »Ich bin Simon Everwood. Und das hier …«, er drehte sich um und zog Jordan hinter sich hervor, »… ist meine Schwester Jordan. Sie ist die leitende Schreinerin für das Projekt und wird Ihre wichtigste Ansprechpartnerin innerhalb der Familie sein.«

Die Frau – Astrid – riss die Augen auf, öffnete die hübschen hellrosa Lippen und starrte Jordan mit offenem Mund an.

3

Astrid

Eigentlich benutzte Astrid das Wort Scheiße nur selten, aber ach du heilige Scheiße!

Die Frau aus dem Wake Up.

Die Frau.

»H-h-hi«, brachte Astrid mühsam heraus und streckte die Hand aus. Sie hatte keine Ahnung, was sie sonst hätte tun sollen.

Die Frau – Jordan Everwood – zog eine dunkle Augenbraue hoch. Astrid hielt den Atem an, setzte ein falsches Lächeln auf. Denn wenn es etwas gab, das sie hervorragend beherrschte, dann war es ein überzeugendes falsches Lächeln. Sie sorgte sogar dafür, dass es ihre Augen erreichte.

»Wie schön, Sie kennenzulernen«, fügte sie hinzu.

Jordans Mundwinkel zuckten, und Astrid wusste, dass sie dem Untergang geweiht war. Sie würde diesen Job verlieren, sie würde Natasha Rojas verlieren, und ihre Mutter würde ihr das letzte bisschen Verstand rauben. Alles nur wegen ein paar Bechern Kaffee und einem Kleid.

Einem gottverdammten Kleid.

Sie spürte, wie sich ein Kloß in ihrem Hals bildete – was bedeutete, dass sie nicht nur mit einem Schlag ihre Karriere ruiniert hatte, sondern auch noch in Tränen ausbrechen würde, genau vor dieser wunderschönen Everwood. Genauer gesagt, vor allen drei wunderschönen Everwoods.

Astrid wollte gerade die Hand sinken lassen, als kühle schwielige Finger über ihre Handfläche glitten.

»Oh, ich bin auch sehr erfreut, Sie kennenzulernen«, sagte Jordan.

Astrids Magen sackte vor Erleichterung in die Tiefe. Jordan hatte ihre Hand ein wenig länger festgehalten als nötig, aber im Moment hätte Astrid sich von dieser Frau in den Bright River werfen lassen, wenn ihr danach gewesen wäre.

»Ich kann es kaum erwarten, endlich anzufangen«, meinte Astrid, nachdem Jordan ihre Hand freigegeben hatte. »Ich träume schon seit Langem davon, das Everwood Inn neu gestalten zu dürfen.«

»Ach, tatsächlich?«, fragte Jordan mit einer vor Sarkasmus triefenden Stimme.

Astrid bemerkte, wie Simon seiner Schwester einen Was-soll-der-Quatsch?-Blick zuwarf, aber Jordan ignorierte ihn. Sie war viel zu sehr damit beschäftigt, Astrid mit einem unergründlichen Ausdruck in den Augen anzustarren. Mutwille? Interesse? Blanker, unverfälschter Hass? Astrid konnte es nicht sagen. Aber ganz gleich, was der Blick auch ausdrücken sollte, er sorgte dafür, dass sie sich am liebsten in die von Unkraut überwucherten Blumenbeete übergeben hätte.

»Aber ja«, sagte Astrid und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ich habe die technischen Angaben bekommen, die Simon mir geschickt hat, aber ich bin schon seit einiger Zeit nicht mehr im Inneren des Everwood gewesen.«

»Sie haben hier noch nie übernachtet?«, fragte Jordan und zog erneut ihre ausdrucksvollen Augenbrauen hoch.

Astrid öffnete den Mund. Schloss ihn wieder. Eigentlich hätte sie in der Lage sein sollen, auf die Frage mit »Ja« zu antworten, aber das Inn war nicht für seinen Luxus bekannt. Und inzwischen wirkte es fast wie ein Haus aus einem Horrorfilm: verblasste Spitzenvorhänge in den hundert Jahre alten Fenstern und eine von dornigen Rosensträuchern überwucherte Veranda.

»Ich …«

»Sie lebt in Bright Falls, Jordan«, warf Simon rettend ein. »Für sie bestand kein Grund, in ihrer Heimatstadt in einem Inn zu übernachten.«

Astrid lächelte und nickte.

»Hm.« Mehr sagte Jordan nicht dazu – was ihr einen weiteren Blick von ihrem Bruder einhandelte.

»Wie auch immer, ich freue mich jedenfalls total darauf, das Inn zu verjüngen«, sagte Simon, klatschte in die Hände und strahlte Astrid an. »Es wird auch langsam Zeit, dass wir den alten Kasten ins einundzwanzigste Jahrhundert versetzen. Stimmt’s, Grandma?«

Prus Augen schienen sich ein wenig zu verdüstern, doch sie nickte. »Aber ja. Natürlich.«

»Und dann noch vor der Kamera«, fuhr Simon fort. »Das dürfte zugegebenermaßen ziemlich interessant werden.«

»Wo wir gerade davon sprechen …«, sagte Jordan und deutete mit dem Kinn in Richtung Auffahrt.

Astrid wandte sich um und sah, wie zwei weiße Vans über den Kies der Auffahrt knirschten. Beide trugen die weinrote Aufschrift Innside America auf den Seitenflächen, wobei das I von Innside die Form eines Turms besaß. Ihr Magen begann zu flattern, wie damals am ersten Schultag. Die Everwoods – genauer gesagt Pru und Simon – traten neben sie, und sie spürte einen seltsamen Anflug von Kameradschaft, während Leute aus den Vans kletterten. Gleichzeitig spürte sie, dass Jordan sich irgendwo hinter ihr herumtrieb, und zwang sich dazu, zu atmen … und zu lächeln.

Die Fernsehcrew bestand aus insgesamt sieben Personen, von denen die meisten sofort zu den hinteren Türen der Vans gingen, die Ausrüstung daraus hervorholten und sich riesige schwarze Taschen über die Schultern warfen.

Nur zwei der Neuankömmlinge kamen auf die Everwoods und Astrid zu, und eine davon war Natasha Rojas.

Sie war umwerfend.

Das war das einzige Wort, das Astrid zu ihrer Beschreibung einfiel. Ihre braune Haut schimmerte in der Morgensonne, und sie hatte ihre langen, dunklen Haare zu einem tiefen seitlichen Pferdeschwanz gebunden – eine Frisur, die nur den wenigsten Frauen stand. Dazu trug sie ein dunkelblaues Maxikleid, Espadrilles und mehrere Goldkettchen um den Hals. An einem hing ein seltsamer Anhänger, der wie eine doppelte Wünschelrute aussah.

»Hallo!«, rief sie, winkte und schob sich die Sonnenbrille nach oben in die Haare. Dann schwebte sie wie auf einer Wolke auf Astrids Gruppe zu.

Okay, vermutlich war Astrid ein wenig von Rojas’ Starruhm geblendet, aber zu ihrer Verteidigung musste man sagen, dass es Simon auch nicht viel anders ging.

»Hey«, sagte Simon und streckte Natasha eine Hand entgegen. »Simon Everwood.«

»Simon, ich freue mich wirklich, Sie endlich kennenzulernen.« Natasha umfasste seine Hand kurz mit beiden Händen und wandte sich dann Pru zu. »Und Sie müssen Pru Everwood sein. Es ist mir eine Ehre. Ich bin seit Langem eine Bewunderin Ihres Inn.«

»Oh, vielen Dank, meine Liebe«, sagte Pru. »Und bitte nicht so förmlich. Wir können uns doch alle duzen.«

»Gern. Und wenn ich noch kurz hinzufügen darf: diese Brille und der Pullover …« Natasha ergriff Prus Hände und musterte ihr Outfit. »Einfach klassisch.«

Pru strahlte. »Ich versuche nur, mit den beiden hier mitzuhalten«, sagte sie und schubste Jordan, die sich zu ihrer Großmutter gesellt hatte, mit dem Ellbogen an.

»Keine leichte Aufgabe, wie ich sehe«, sagte Natasha und schüttelte Jordan die Hand.

Astrid wartete pflichtbewusst, bis sie an der Reihe war, und glättete ihre Hose so unauffällig wie möglich, bis Natasha sich ihr zuwandte.

»Damit bleibt nur noch unsere unerschrockene Designerin!«, sagte Natasha.

»Ja, hi, ich bin Astrid Parker«, sagte Astrid und war stolz, dass ihre Stimme ruhig und ausgeglichen klang. Ihre jahrelange Übung in gutem Benehmen – im wahrsten Sinne des Wortes: Sie hatte Benimmunterricht bei einer verkniffen wirkenden Frau namens Mildred gehabt – hatte sie auf Momente wie diesen vorbereitet. »Ich bin ein großer Fan deiner Arbeiten.«

Natashas Augen verengten sich leicht, aber nicht unfreundlich. »Und ich freue mich schon darauf zu erfahren, was du für uns vorbereitet hast, Astrid.«

Und damit drehte Natasha sich zu der Person um, die neben ihr stand. »Das ist Emery, unsere brillante Produktionsleitung.«

»Hallo. Schön, euch alle kennenzulernen«, sagte Emery. »They/them.«

»Gut zu wissen«, sagte Jordan und schüttelte Emerys Hand. Emery war Schwarz, und ein Ring dunkler Locken rahmte their Gesicht über dem weich aussehenden grünen Pullover, der Jeans und den robusten braunen Stiefeln ein. »Sie/ihr.« Jordan zeigte auf sich.

»Er/ihn«, sagte Simon und reichte Emery ebenfalls die Hand. »Freut mich, dich kennenzulernen.«