Broken Saint  (Sinners of Blackwood 2) - Penny L. Chapman - E-Book
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Broken Saint (Sinners of Blackwood 2) E-Book

Penny L. Chapman

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Beschreibung

AUBREY    Vergib mir Vater, denn ich habe gesündigt. Ich habe ihn in mein Haus gelassen. Ich habe ihm erlaubt, mit mir zu spielen. Ich habe ihn in meinen Kopf gelassen. Mit jeder Sünde gleite ich tiefer in den Abgrund. So tief, dass ich den Weg zurück nicht mehr finde. Er will mir wehtun. Er will ihm wehtun. Er will uns zerstören. Ich habe unterschätzt, was passiert, wenn man mit dem Teufel spielt. Aber ich bin bereit. Die Tür steht offen, komm mich holen ...    DARIO    Ich stehe längst hinter dir, Babydoll. Dreh dich nicht um, sieh nicht hin. Lauf! Denn ich habe die Hölle gesehen und überlebt. Ich bin das Monster, das er erschaffen hat, und ich werde euch allen zeigen, zu was ich fähig bin. Ich werde dir die drei wichtigsten Dinge in deinem Leben nehmen. Deinen Glauben. Deine Unschuld. Deinen Vater.    Achtung! Das Buch enthält sensible Themen und Gewalt. Solltest du ein traumatisches Erlebnis gehabt haben oder empfindlich gegen Gewalt, Sex und viele andere Dinge sein, lies es bitte nicht. Du brauchst eine Triggerwarnung? Hiermit erhälst du sie. Überarbeitete Version. Die Protagonisten sind volljährig. Broken Saint ist der zweite Band von Penny L. Chapmans Confined (Dark Romance) Reihe. Jedes Buch ist in sich abgeschlossen, aber für das beste Lesevergnügen wird empfohlen, zuerst Band eins, Nightfall, zu lesen. Das Taschenbuch enthält 521 Seiten.

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Penny L. Chapman

Broken Saint (Sinners of Blackwood 2)

University Dark Romance / Enemies to Lovers

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

Guide to Contents

BROKEN SAINT

 

SINNERS OF BLACKWOOD #2

Penny L. Chapman

 

 

 

Alle Rechte bei Verlag/Verleger

 

Copyright © Penny L. Chapman September 2019

c/o Autorenservice Patchwork

Schlossweg 6

A-9020 Klagenfurt

[email protected]

 

 

 

 

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

PlaylistKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27EpilogTo be continued ...BonuskapitelInterview mit den SkullsDanksagungFür meine Leser

Playlist

 

Hier die Songs, die mich zu Szenen und Cha­rak­te­ren in­spi­rier­ten und mich wäh­rend des Schrei­bens von

Bro­ken Saint be­glei­tet ha­ben. Viel Spaß!

 

Milck – Ta­ke me to church

Eva­ne­scen­ce – Haun­ted

La­na Del Rey – Dark Pa­ra­di­se

Apo­ca­lyp­ti­ca – I don’t ca­re

Slip­knot – Snuff

Sa­mu­el Bar­ber – Ag­nus Dei

Lungs and Limbs – Grim Ran­ger (Acous­tic Ver­sion)

Be­yon­ce – Sweet Dre­ams

Writ­ten by Wol­ves – Not af­raid to die

Fa­mi­ly Band – Night Song

Blood­hound Gang fe­at Vil­le Va­lo – So­met­hing Dia­bo­li­cal

Drow­ning Pool – Te­ar away

Three Days Gra­ce – Chalk out­li­ne

Theo­ry of a De­ad­man – An­gel

Clint Man­sell – Lux Ae­ter­na (Dar­ios Song)

La­na Del Rey – Gods & Mons­ters

Va­le­rie Brous­sard – A litt­le wi­cked (Au­bre­ys Song)

Fo­xes – De­vils Si­de (The­me Song)

Break­ing Ben­ja­min – Dan­ce with the De­vil

Un­li­ke Plu­to – Vil­lain Of My Own Sto­ry

Hy­pno­ga­ja – He­re co­mes the rain again

Sla­ves – I’d Rat­her See Your Star Ex­plo­de (Acous­tic)

Break­ing Ben­ja­min – Feed the Wolf

Oh Land – Wolf & I (Cre­dits)

Let him that is wit­hout sin cast the first sto­ne

- Je­sus Christ

 

 

 

Widmung

Für alle, die nie Kin­der sein durf­ten.

Das, was frü­her war, hat dich ge­formt, aber es de­fi­niert dich nicht. Die Nar­ben sind ein Teil dei­ner Ge­schich­te. Sie er­in­nern dich da­ran, dass du über­lebt hast.

Was dich aus­macht, sind dei­ne Ent­schei­dun­gen und die Men­schen, die dich be­glei­ten.

Nut­ze dei­ne Wun­den und wan­de­le sie in Stär­ke. Bli­cke mit Stolz auf dei­ne Nar­ben, denn du bist stark.

Lass dei­ne Ver­gan­gen­heit hin­ter dir und sieh in die Zu­kunft.

Ei­ner Zu­kunft, über die du allei­ne be­stimmst.

- Pen­ny L. Chap­man

 

Kapitel 1

 

AU­BREY

 

 

»In der Un­schuld des Rei­nen ver­birgt sich das Pa­ra­dies. Ein­mal ver­lo­ren wird dir nie wie­der Ein­lass ge­währt. Bist du be­reit, für dei­ne Sün­den zu zah­len?«

Die sanf­te Frau­en­stim­me aus den Lauts­pre­chern er­starb. Für ei­nen Mo­ment sah ich ins Pu­bli­kum. Fast je­der Tisch an der Büh­ne war be­setzt. Über­all sa­ßen Män­ner in teu­ren An­zü­gen. Sie nipp­ten an ih­ren Cham­pa­gner­glä­sern und mus­ter­ten mich wie hung­ri­ge Tie­re. Ich lä­chel­te, blen­de­te ih­re Bli­cke aus und strich den grau ka­rier­ten Rock mei­ner Schul­uni­form zu­recht.

Die­ser Mo­ment ge­hör­te mir.

Mein Auf­tritt.

Mein Stück Frei­heit für die­se Nacht.

Die er­sten Tö­ne von Milcks Ta­ke me to church er­klan­gen und ich be­gann, lang­sam die Hüf­ten im Takt der Musik zu be­we­gen. Das schumm­ri­ge Licht der Ker­zen­leuch­ter an den mit ro­tem Samt be­spann­ten Wän­den, der Qualm von Zi­gar­ren, der die Luft sti­ckig mach­te, und die Musik lie­ßen mich schwe­ben.

Mit je­der Se­kun­de ver­schwand die Welt um mich he­rum. Wie durch ei­nen Tun­nel nahm ich den Ap­plaus und die Ru­fe der Män­ner wahr. Ich tanz­te, bis Schweiß über mei­nen Rü­cken lief und mei­ne Bei­ne zit­ter­ten. Als die Musik ver­blass­te, ver­beug­te ich mich, strich mei­ne blon­den Zöp­fe zu­recht, was mit to­sen­dem Ap­plaus be­lohnt wur­de, und ließ mei­nen Blick wie­der durchs Pu­bli­kum wan­dern, in der Hoff­nung, sein Ge­sicht zu se­hen. Seit zwei Jah­ren hoff­te ich da­rauf, ihn hier zu se­hen. Seit zwei Jah­ren ver­miss­te ich ihn. Aber er war nicht hier.

Ich zwang mich zu ei­nem Lä­cheln, wink­te den Zu­schau­ern zu und schweb­te von der Büh­ne.

Zehn Mi­nu­ten spä­ter ließ ich mich an der Bar nie­der. Ich trank ei­nen gro­ßen Schluck Co­la aus dem Glas, das Lu­cky, der Bar­kee­per, nach der Show immer für mich be­reits­tell­te, und sah auf mein Han­dy. Es war ein Uhr.

»Ich hab in ei­ner Stun­de Feie­ra­bend«, sag­te Lu­cky. »Trink noch was, lass uns quat­schen und dann fahr ich dich nach Hau­se. Mir ge­fällt nicht, dass du mit dem Bus fährst.«

Lu­cky war drei Jah­re äl­ter als ich und ei­ne Ver­bin­dung zwi­schen der rea­len und mei­ner Welt. Schon des­we­gen moch­te ich ihn. Ich moch­te sei­ne knall­blau­en Haa­re, sein schie­fes Lä­cheln und sei­nen ver­kork­sten Humor.

Wie ger­ne hät­te ich sein An­ge­bot an­ge­nom­men, aber mir blieb kei­ne Stun­de.

Ich trank die Co­la aus und glitt vom Bar­ho­cker. »Ich kom­me klar.« Ich beug­te mich über die The­ke, küss­te sei­ne Wan­ge und lä­chel­te, ob­wohl mir nicht da­nach zu­mu­te war. »Ich mag das Bus­fah­ren.«

»Du bist echt merk­wür­dig, Au­brey.« Lu­cky mus­ter­te mich mit ei­nem nach­denk­li­chen Blick, der sil­ber­ne Ring in sei­ner rech­ten Braue fun­kel­te wie ein Dia­mant im Ker­zen­schein.

»Was hast du ge­gen -«

»Sü­ße.« Je­mand gab mir ei­nen Klaps auf den Hin­tern.

Ich schoss he­rum und schlug die Hand des Man­nes weg. »Fin­ger weg.«

Lu­cky kam hin­ter der The­ke her­vor, woll­te da­zwi­schen­ge­hen, aber ich schüt­tel­te den Kopf, oh­ne den grau­haa­ri­gen Ty­pen vor mir aus den Augen zu las­sen. »Schon gut, ich ha­be das im Griff.« Ich sah dem Mann in die Augen, ein Schleier von Al­ko­hol lag über ih­nen. »Wenn Sie mich noch ein­mal an­fas­sen, schnei­de ich Ih­nen die Fin­ger ab, ha­ben wir uns ver­stan­den?«

»Ich woll­te nicht  … Die Show war klas­se, Klei­ne und ich -«

»Ha­ben wir uns ver­stan­den?«

»Ent­schul­di­gung.«

»Das ist ein Bur­les­que-Klub, kei­ne schmie­ri­ge Strip­bar. Wenn Sie grap­schen wol­len, ge­hen Sie auf den Markt. Die Me­lo­nen sol­len ziem­lich prall sein.«

Hin­ter der The­ke hör­te ich Lu­cky la­chen. »Amen Schwes­ter.«

Oh­ne ein wei­te­res Wort ging der Mann an mir vor­bei, zog sei­ne Brief­ta­sche her­vor und leg­te – mit ei­nem ent­schul­di­gen­den Blick über die Schul­ter – ei­ni­ge Schei­ne auf die Bar, ehe er den Klub ver­ließ.

Lu­cky nahm das Geld, zähl­te es und riss die Augen auf. »Du bist wie ei­nes die­ser Schoß­hünd­chen. Klein und bis­sig.« Er hielt mir die Schei­ne un­ter die Na­se. »Be­ein­druckend, fünf­zig Dol­lar für ei­nen ver­ba­len Tritt in die Ei­er. Ma­rio soll­te dich als Tür­ste­her ein­stel­len.«

Ei­nen Mo­ment lang über­leg­te ich, das Geld zu neh­men, aber Lu­cky leb­te in ei­nem Ein-Zim­mer-Apart­ment und fi­nan­zier­te sich das Stu­di­um, in­dem er Drinks im Milk and Blush ser­vier­te. Er be­saß nicht viel Geld, aber er war glü­cklich.

Ich schüt­tel­te den Kopf und schob sei­ne Hand zurück. »Be­halt du es, ich ha­be heu­te ge­nug ver­dient.«

Be­scheu­er­te Iro­nie.

Allein mei­ne Hand­ta­sche von Ba­len­cia­ga kos­te­te mehr als die Mie­te für sein Apart­ment. Trotz­dem brauch­te ich je­den Cent, den ich im Milk and Blush ver­dien­te, denn oh­ne Geld konn­te ich mei­nen Plan ver­ges­sen. Dad wür­de mir mein Vor­ha­ben nicht nur aus­re­den wol­len, er wür­de ver­su­chen, mich mit aller Macht da­von ab­zu­hal­ten, und mir Stei­ne in den Weg le­gen.

Aber wie alle hier muss­te auch Lu­cky nichts da­von wis­sen. Für ihn war ich ein­fach Au­brey, das blon­de Mäd­chen, das nachts tanz­te, allei­ne durch die Stadt fuhr und ro­te Chucks zur Schul­uni­form trug.

Er mus­ter­te mich nach­denk­lich und steck­te die Schei­ne zö­ger­lich in sei­ne Ho­sen­ta­sche. »Ich re­van­chie­re mich.«

»Bring mir ein­fach das näch­ste Mal ei­nen Bur­ger mit.«

Noch immer et­was ver­le­gen, nick­te er und wech­sel­te das The­ma. »Hat Ma­rio dich schon ge­fragt?«

»Hat er mich was ge­fragt?«

»Kat­ja und La­cey be­kom­men jetzt das Dop­pel­te. Nicht schlecht für ein paar Mi­nu­ten Nip­pel zei­gen.«

Ich lach­te, nahm mei­ne hell­brau­ne Hän­ge­ta­sche von der The­ke und häng­te sie über ei­ne Schul­ter. »Ma­rio ris­kiert schon ge­nug für mich. Er wird mich nicht fra­gen und ich wür­de es nie ma­chen.«

Ma­rio, der Be­sit­zer des Milk and Blush, hat­te mich oh­ne viele Fra­gen ein­ge­stellt, ob­wohl er wuss­te, wes­sen Tochter ich war.

Lu­cky zuck­te mit den Schul­tern, sein schie­fes Lä­cheln spen­de­te et­was Trost und für ei­nen Mo­ment fühl­te ich mich zu­ge­hö­rig. »Ist wahr­schein­lich bes­ser so.« Er ließ ei­nen Blick über mei­ne ro­ten Chucks, grau­en Knies­trümp­fe und den pas­sen­den Rock wan­dern. »Die al­ten Sä­cke ste­hen auf die Schul­mäd­chen­num­mer.«

Schul­mäd­chen. Fast hät­te ich ge­lacht. Wä­re zu schön, um wahr zu sein.

»Ich muss los, wir se­hen uns mor­gen.«

»Pass auf dich auf, Klei­ne.«

Ich hob die Hand zum Ab­schied und warf ei­nen Blick auf Can­dy. Sie schweb­te an ei­nem Seil, das über der Büh­ne hing, und wink­te dem Pu­bli­kum zu, wäh­rend ih­re knall­ro­ten Lip­pen mit ih­rem Kor­sett um die Wet­te strahl­ten.

Selbst hier be­kam ich ei­ne Son­der­be­hand­lung. Wäh­rend die an­de­ren Mäd­chen die ex­tra­va­gan­ten Num­mern be­ka­men, be­stand mein Auf­tritt da­rin, in mei­ner Schul­uni­form die Hüf­ten im Takt der Musik zu schwin­gen. Ja nichts Ge­wag­tes oder zu Aus­ge­fal­le­nes. Ma­rio konn­te nicht ris­kie­ren, dass ich mich wäh­rend der Ar­beit ver­letz­te oder Dad von mei­nem Job er­fuhr.

Ich seufzte und ver­ließ das Milk and Blush.

Als ich den Geh­weg be­trat, leg­te ich den Kopf in den Na­cken und at­me­te tief durch.

In der Luft lag der Duft von be­vor­ste­hen­dem Re­gen und Herbst­laub. Nur noch ver­ein­zelt fuh­ren Wagen durch die Stra­ßen. Die ro­ten Lam­pen ih­rer Rück­lich­ter und die Leuch­trek­la­men der Klubs ge­gen­über er­hell­ten die Dun­kel­heit und ich blieb kurz ste­hen, um mich zu sam­meln, wie ich es immer tat, wenn mei­ne Schein­welt mit der Rea­li­tät kol­li­dier­te.

Mein Haar roch nach Ziga­ret­ten, mei­ne Fü­ße ta­ten weh vom Tan­zen und in mei­nen Oh­ren dröhn­te noch immer Musik, aber ich war glü­cklich.

Die­ses Ge­fühl konn­te er mir nicht weg­neh­men, die­ser Mo­ment ge­hör­te mir allei­ne.

Ich zog die graue Ja­cke mei­ner Schul­uni­form dich­ter an mei­nen Ober­körper und setz­te mich in Be­we­gung. Bis zur Bus­hal­tes­tel­le waren es nur ein paar Me­ter. Ich bog nach rechts um die Ecke und lief ein Stück an der Haupt­stra­ße ent­lang. Ein Schep­pern ließ mich zu­sam­men­schre­cken. Ich fuhr he­rum, ent­deck­te ei­ne Kat­ze, die auf ei­ner um­ge­stürz­ten Müll­ton­ne ba­lan­cier­te, und ver­zog den Mund. Mei­ne Ak­tion Da­rio ge­gen­über war nicht nur un­fair, son­dern auch dumm ge­we­sen. Seit­dem ich vor vier Wo­chen die Ge­rüch­te über die Skulls im In­ter­net ge­streut hat­te, er­schrak ich bei je­der Klei­nig­keit. Ich hat­te be­haup­tet, dass sie Mäd­chen ge­gen ih­ren Wil­len an­fass­ten, dass sie ei­nen Laden über­fal­len hat­ten und an­de­re Din­ge, auf die ich nicht stolz war. Aber das war nicht das Schlimm­ste. Die Ent­täu­schung da­rüber, dass er nicht auf­kreuz­te, quäl­te mich, denn ich kann­te Da­rio und hat­te ge­hofft, dass ihn mei­ne Pro­vo­ka­tion her­vor­lo­cken wür­de.

Ich er­reich­te die Hal­tes­tel­le, stell­te mich un­ter und zog Der ro­te En­gel, ei­nes mei­ner Lie­blings­bü­cher, aus der Ta­sche. Als mich fünf Mi­nu­ten spä­ter Schein­wer­fer blen­de­ten, stieg ich in den Bus. Ich leg­te die Hän­de in den Schoß und sah aus dem Fens­ter.

Die Leuch­trek­la­men der Bars spiegel­ten sich im Glas, als ver­spot­te­ten sie mich. Als woll­ten sie mich da­ran er­in­nern, wie bunt das ech­te Le­ben war, wäh­rend mei­nes aus vier Nu­an­cen von Weiß und Beige be­stand.

Der Bus bog links ab, ver­ring­er­te das Tem­po und hielt an der Lan­cas­ter Ave­nue.

Ich hetz­te den Geh­weg ent­lang, vor­bei an schi­cken Ein­fa­mi­lien­häu­sern mit wei­ßer Fass­ade und eben­so wei­ßen Zäu­nen und bog nach rechts in un­se­re Sei­ten­stra­ße ab. Bäu­me, de­ren Laub wie Flam­men er­strahl­te, säum­ten rechts und links den Weg, aber hier park­ten kei­ne Wagen auf der Stra­ße. Hier rag­ten me­ter­ho­he Eisen­zäu­ne in die Luft, dich­te He­cken ver­sperr­ten die Sicht auf die da­hin­ter­lie­gen­den Vil­len und an je­dem Tor summ­te ei­ne Ka­me­ra, wenn sie ei­nen Be­su­cher er­späh­te.

Ei­ne si­che­re und ge­pfleg­te Ge­gend, in de­ren Pa­läs­ten Frau­en und Män­ner leb­ten, die je­dem Men­schen in Step­ford Kon­kur­renz mach­ten.

Es war un­fair, aber ich ver­ach­te­te sie. Ih­re be­schränk­ten Sicht­wei­sen, ver­staub­ten Mo­ral­vor­stel­lun­gen und ihr fal­sches Lä­cheln, das ver­schwand, so­bald sie ein­an­der den Rü­cken zu­wand­ten. Reich­tum mach­te kor­rupt.

Ich steu­er­te auf die Ein­fahrt vor un­se­rem Tor zu, duck­te mich im Schat­ten der Back­stein­mau­er, als die Ka­me­ra in mei­ne Rich­tung dreh­te, und war­te­te, bis sie wie­der nach rechts wan­der­te.

Ich lief rechts am Tor ent­lang, wo dich­te He­cken wuch­sen, und stell­te ei­nen Fuß auf die Quers­tre­ben. Ich griff nach oben an ei­ne weite­re Stre­be und zog mich am Zaun hoch. Die zwei Me­ter stell­ten kein Pro­blem mehr dar, in we­ni­ger als drei Mi­nu­ten hat­te ich ihn über­wun­den und schlich wie ein Dieb über den Rasen un­se­res An­we­sens bis zur Ein­fahrt.

Auch hier gab es Ka­me­ras, aber ich wuss­te, an wel­chen Stel­len sie sich be­fan­den, und duck­te mich oder war­te­te ein paar Se­kun­den, bis die Luft rein war.

Als ich das Haus er­reich­te, lief ich zur rech­ten Haus­wand. An die­ser Sei­te un­se­rer Vil­la im Ko­lo­ni­al­stil rank­te dich­tes Efeu und ich grub mei­ne Hand zwi­schen die Blät­ter, bis ich die Lei­ter er­tas­te­te, die ich vor an­der­thalb Jah­ren dort an­ge­bracht hat­te und seit­dem fast je­de Nacht be­nutz­te. Ich schob ei­nen Fuß zwi­schen das Efeu, spür­te die er­ste Stu­fe un­ter mei­ner Schuh­soh­le und stieg bis in die zwei­te Eta­ge. Das Fens­ter war nur an­ge­lehnt, ich leg­te mei­ne Hand ge­gen die Schei­be, drück­te es auf und klet­ter­te in mein Zim­mer. Dort an­ge­kom­men, stieß ich ei­nen Seuf­zer aus, häng­te mei­ne Ta­sche über den Schreib­tisch­stuhl und sah auf die Uhr.

Zwan­zig Mi­nu­ten.

Ich streck­te die Ar­me über dem Kopf aus, dreh­te das Ge­sicht zur Sei­te und gähn­te. Mein Haar roch noch nach Ziga­ret­ten und ein kur­zer Stich durch­fuhr mich.

Der Ge­ruch er­in­ner­te mich an ihn. An sein Par­füm, sei­ne Dun­kel­heit und das, was er in mir aus­ge­löst hat­te. Aber Da­rio hat­te mich im Stich ge­las­sen und mit ihm war auch mei­ne Frei­heit ver­schwun­den.

Von ei­nem Tag zum an­de­ren hat­te sich alles ge­än­dert und selbst jetzt, zwei Jah­re spä­ter, frag­te ich mich noch immer, ob es mei­ne Schuld war.

Nicht jetzt, be­eil dich. Ich schüt­tel­te den Kopf, als könn­te ich da­mit die Ge­dan­ken los­wer­den, und ging zum Schreib­tisch. In der Ta­sche kram­te ich das Geld her­aus, zähl­te es und är­ger­te mich, dass Mr. Mil­ler nicht da ge­we­sen war. Er saß immer in der er­sten Rei­he und gab Trink­geld, das manch­mal so­gar mei­nen Lohn über­stieg.

Aber nicht heu­te. Heu­te hat­te ich nur ein­hun­dert Dol­lar ver­dient und ob­wohl mir noch acht Mona­te blie­ben, frag­te ich mich, ob mei­ne Er­spar­nis­se je­mals ge­nü­gen wür­den, um mei­nem Ge­fäng­nis zu ent­kom­men.

Ich ord­ne­te die Schei­ne, dreh­te mich zum Bü­cher­regal und zog die Schmuck­aus­ga­be von Grimms Mär­chen her­vor. Ich schlug Sei­te ein­hun­dert­zwan­zig auf und leg­te die Schei­ne zwi­schen die Sei­ten mei­nes Lie­blings­mär­chens, Rot­käpp­chen. Er kommt nicht, ver­giss ihn.

Aber wie soll­te ich ihn ver­ges­sen? Da­rio war seit mei­ner Ge­burt ein Teil mei­nes Lebens ge­we­sen.

Selbst jetzt konn­te ich den Ge­dan­ken an ihn nicht ent­kom­men.

Ich stell­te das Buch zurück an sei­nen Platz, zog mei­ne Sa­chen aus und dusch­te. Da­nach schlüpf­te ich in ein wei­ßes, knie­lan­ges Nach­themd mit Spit­ze am Saum und leg­te mich ins Bett. Ich ver­kroch mich mit dem Han­dy un­ter der De­cke, wisch­te übers Dis­play und öff­ne­te Fa­ce­book, um mir die Ein­trä­ge auf der Fan­sei­te der Skulls an­zu­se­hen.

Der neus­te Bei­trag war ein Vi­deo mit der Über­schrift: Es­ka­la­tion am Frei­tag: Die Skulls lie­fern bom­bas­ti­sche Feu­ers­how.

Mein Herz­schlag be­schleu­nig­te sich, als ich auf Play klick­te.

Ganz in Schwarz ge­hüllt, mit To­ten­kopf­tü­chern vor Na­se und Mund und ei­nem Mo­lo­tow­cock­tail in je­der Hand schlen­der­ten die drei Skulls auf ein Ge­bäu­de zu.

Ich hielt den Atem an und ver­such­te, an­hand der Grö­ße aus­zu­ma­chen, wer von ih­nen Da­rio war. Aber die Auf­nah­men waren ver­wa­ckelt und un­scharf. Wahr­schein­lich hat­ten ih­re Grou­pies sie heim­lich ge­macht.

Ein Kna­cken ließ mich auf­schre­cken. Ich schob die De­cke von mir und sah mich um. Mond­licht schien ins Zim­mer und be­leuch­te­te ei­nen schma­len Teil des Bodens, aber es war noch nicht zwei Uhr und Dads We­cker klin­gel­te erst in ein paar Mi­nu­ten.

»Hal­lo?«, flüs­ter­te ich in die Dun­kel­heit und hoff­te, mein gro­ßer bö­ser Wolf tauch­te end­lich auf. Seit Wo­chen war­te­te ich auf ihn.

Der Vor­hang vor mei­nem Fens­ter weh­te im Wind, aber sonst reg­te sich nichts.

Ich leg­te mich wie­der hin und schob die Ent­täu­schung bei­sei­te, als ich ein wei­te­res Kna­cken des Die­len­bodens hör­te.

»Hast du Angst?«

Sei­ne tie­fe Stim­me ließ mich hoch­schre­cken. Ich sprang aus dem Bett, stürm­te auf den rie­si­gen Schat­ten zu, der ge­gen mein Bü­cher­regal lehn­te, und fiel ihm um den Hals. Wie frü­her trug er schwar­ze Je­ans, Com­bat­boots, ei­nen schwar­zen Hoo­die und das Tuch vor dem Mund.

»Da­rio.« Ich schlang mei­ne Ar­me um sei­nen Na­cken, drück­te mich an ihn und küss­te sei­ne Wan­ge. Wie frü­her roch er nach Ziga­ret­ten und Aben­teu­er. »End­lich.«

Aber er um­arm­te mich nicht oder gab mir ei­nen Kuss auf die Wan­ge, wie er es sonst immer ge­tan hat­te.

Er stand ein­fach nur da, als lie­ße er es über sich er­ge­hen. Wahr­schein­lich war er wü­tend, aber das war ich auch. Wir hat­ten uns so lan­ge nicht ge­se­hen und ich hat­te ihn ver­misst. Mehr als alles an­de­re, aber jetzt war nicht der pas­sen­de Mo­ment, um zu re­den, denn der Alarm an mei­nem Han­dy schrill­te auf – zwei Mi­nu­ten vor zwei.

»Wir müs­sen uns be­ei­len.« Ich nahm sei­ne Hand und zog ihn zum an­gren­zen­den Ba­de­zim­mer. »War­te hier und sag kein Wort.«

Da­rio ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust, lehn­te sich ge­gen die Wand und schwieg.

Ich rann­te zu mei­nem Bett, leg­te mich hin­ein und zog die De­cke bis un­ters Kinn. Auf die Se­kun­de ge­nau quietsch­te mei­ne Zim­mer­tür und Dads Schrit­te nä­her­ten sich dem Bett. Er leg­te ei­ne Hand auf die De­cke und tas­te­te nach mei­ner Schul­ter, um si­cher­zu­ge­hen, dass ich wirk­lich da war.

Es war pa­ra­no­id, viel­leicht so­gar et­was krank und wie immer fühl­te ich mich un­wohl, aber es war Dads Art si­cher­zu­stel­len, dass mir nichts ge­schah. Denn mein Vater lieb­te nichts auf der Welt mehr als mich. We­der sei­ne Ar­beit noch sein Ver­mö­gen und wahr­schein­lich noch nicht ein­mal sein ei­ge­nes Le­ben. Sei­ne Lie­be war der Grund für mei­ne Ge­fan­gen­schaft.

Ich täusch­te ein gleich­mä­ßi­ges At­men vor, ob­wohl mein Herz ra­ste, und be­te­te, er wür­de schnell ver­schwin­den. Da­rio ist wie­der bei mir.

»Mein klei­nes Mäd­chen«, mur­mel­te Dad und strich über mein Haar. »Mö­ge Gott dich schüt­zen.«

Er zog die De­cke hoch bis zu mei­nen Oh­ren, als könn­te sie mich vor Mons­tern un­ter mei­nem Bett be­schüt­zen, und ver­schwand wie­der.

Als sei­ne Schrit­te sich ent­fern­ten, warf ich die De­cke zurück und woll­te auf­sprin­gen und er­schrak. Da­rio stand direkt vor mei­nem Bett.

Er wirk­te noch grö­ßer und brei­ter als in mei­ner Er­in­ne­rung, aber ich hat­te kei­ne Angst vor ihm so wie alle an­de­ren.

Ich stand auf, dräng­te mich zwi­schen Bett und Da­rio und ver­schränk­te die Ar­me vor der Brust. Es gab noch et­was zu klä­ren. »Du bist ein Arsch­loch.«

Er lach­te freud­los. »Ist Dad­dy auf die näch­ste Si­cher­heits­stu­fe um­ge­stie­gen?«

Es gab so viel zu er­zäh­len, so viel zu sa­gen und doch wuss­te ich nicht, wo ich be­gin­nen soll­te. Fast un­ser gan­zes Le­ben hat­ten wir mit­ein­an­der ver­bracht und egal, was er tat, ich hat­te ihn be­wun­dert. Aber jetzt war ich er­wach­sen und die Zeiten, in de­nen er mich mit ei­nem Zwin­kern um den Fin­ger wi­ckeln konn­te, waren vor­bei.

»Das Letz­te, was du zu mir ge­sagt hast, war: bis mor­gen. Das ist zwei Jah­re her«, flüs­ter­te ich. Wahr­schein­lich lag Dad schon wie­der im Bett, aber ich durf­te nichts ris­kie­ren.

»Und du hast ver­spro­chen, ein bra­ves Mäd­chen zu blei­ben. Aber bra­ve Mäd­chen lü­gen nicht.«

Ich setz­te mich aufs Bett und sah zu ihm auf. »Ich ha­be ver­sucht, dich an­zu­ru­fen. Ich ha­be ver­sucht, dei­ne Schwes­tern zu er­rei­chen, aber eu­re Num­mern waren nicht mehr ver­füg­bar. Ich ha­be Brie­fe ge­schickt und bin zu dei­nem Vater ge­fah­ren, weil ich nicht ver­stan­den ha­be, was los ist. Aber er hat nur ge­sagt, dass du nicht ge­fun­den wer­den willst.«

»Wie­so kommst du nach zwei Jah­ren auf die Idee, mich öf­fent­lich zu pro­vo­zie­ren?« Sei­ne Stim­me klag kühl, ru­hig. »Das war sehr dumm, Sü­ße.«

Na­tür­lich war es das. Im Nach­hi­nein be­trach­tet war es kin­disch, aber ich hat­te mir nicht an­ders zu hel­fen ge­wusst. Als ich vor vier Wo­chen ein al­tes Foto von uns ge­fun­den hat­te, waren alle Er­in­ne­run­gen, alle Ge­füh­le wie­der hoch­ge­kom­men und ich be­schloss, ei­nen letz­ten Ver­such zu un­ter­neh­men, ihn zu kon­tak­tie­ren. Mei­ne Idee war viel­leicht kin­disch ge­we­sen, aber sie hat­te funk­tio­niert.

Da­rio schlen­der­te zum Schreib­tisch, hob mei­ne Blu­se vom Boden auf und roch da­ran. »Von wem hast du dich fi­cken las­sen?«

Wie bit­te? Sei­ne Wor­te tra­fen mich wie ein Gift­pfeil. Ich stand auf und riss ihm die Blu­se aus der Hand. »So re­dest du nicht mit mir.«

»Tut mir leid, ich ha­be ver­ges­sen, wie an­stän­dig Dad­dys Prin­zes­sin ist.«

Dei­ne Un­schuld ist das Wert­voll­ste, das du be­sitzt.

Ich ball­te die Hän­de zu Fäus­ten und press­te sie ge­gen mei­ne Ober­schen­kel, um die Wut un­ter Kon­trol­le zu hal­ten. Er war ver­är­gert und be­saß je­des Recht da­zu, aber das war kei­ne Ent­schul­di­gung für sein Ver­hal­ten. »Es tut mir leid, was ich im In­ter­net über die Skulls ge­sagt ha­be. Ich wuss­te mir nicht mehr an­ders zu hel­fen.«

»Au­brey, Au­brey.« Er schüt­tel­te den Kopf, als ta­del­te er ein un­ge­zo­ge­nes Kind. »Du machst dir doch nicht selbst die Hän­de schmut­zig.«

Auch da­mit lag er falsch. In den letz­ten zwei Jah­ren hat­te ich ge­lernt, die Din­ge selbst in die Hand zu neh­men.

Er wand­te den Blick ab und be­trach­te­te mein Zim­mer. Es war zu dun­kel und die Ka­pu­ze, die er tief ins Ge­sicht ge­zo­gen hat­te, ließ mich den Aus­druck da­rin nicht er­ken­nen, aber selbst sei­ne Stim­me zeig­te kei­ne Emo­tio­nen. Wenn er frü­her wü­tend ge­we­sen war, hat­te er mich ge­packt und ge­schüt­telt.

Aber jetzt war er ru­hig und emo­tions­los. Wa­rum war er so an­ders?

Er lief zum Bü­cher­regal, hock­te sich hin und zog ein Buch her­vor. Als er sich zu mir dreh­te und das Mond­licht auf ihn fiel, er­kann­te ich den Titel: Grimms Mär­chen. Er hielt es in der Hand und blät­ter­te da­rin. Geld­schei­ne fie­len zu Boden, Da­rio bück­te sich, hob sie auf und hielt sie mir vor die Na­se.

»Dei­ne Sa­chen rie­chen nach Kip­pen und du ver­steckst Geld. Bist du un­ge­zo­gen, Ba­by­doll?«

Ba­by­doll. Mein Herz tat ei­nen Satz, stol­per­te und schlug schnel­ler. Frü­her hat­te er mich so ge­nannt. Ich war fünf Jah­re jün­ger als er. Klein, zier­lich und trug Zöp­fe, wie die Pup­pen, mit de­nen ich spiel­te. Ich hat­te es ge­liebt, wenn er mich so nann­te.

Es war et­was, das nur uns ge­hör­te. So viele Ri­tua­le hat­ten uns ge­hört.

Ich riss ihm das Geld aus der Hand und hoff­te, er wür­de mir nicht an­hö­ren, wie sehr mich sei­ne dis­tan­zier­te Art ver­letz­te. »Wa­rum bist du hier? An­schei­nend nicht, weil ich dir ge­fehlt ha­be.«

Da­rio leg­te den Kopf schief, streck­te sei­ne Hand aus und nahm ei­ne mei­ner Haar­sträh­nen zwi­schen zwei Fin­ger. »Eigent­lich bin ich her­ge­kom­men, um dir zu sa­gen, dass wir uns nicht pro­vo­zie­ren las­sen.« Er zog mich an mei­nen Haaren nä­her zu sich. »Nie­mand legt sich mit den Skulls an.«

»Eigent­lich?« Ich ver­such­te, mei­ne Haa­re aus sei­nem Griff zu be­frei­en, aber Da­rio zog so fest da­ran, dass mei­ne Kopf­haut schmerz­te. »Du tust mir weh.«

Er schob das Tuch von sei­nem Mund und lä­chel­te. »Ich wer­de ihm weh­tun.«

»Wem?«

Statt zu ant­wor­ten, ließ er mich los und schlug das Buch in der Mit­te auf. Er ließ ei­nen Fin­ger über die bun­ten Bil­der glei­ten und rich­te­te den Blick auf mich. »Du hast kei­ne Angst mehr vor dem gro­ßen, bö­sen Wolf.«

Es klang nicht wie ei­ne Fra­ge und ich schwieg, weil ich nicht wuss­te, wo­rauf er hin­aus­woll­te.

»Das war ein Feh­ler. Du hast ihn her­aus­ge­for­dert. Jetzt kommt dich sein Ru­del ho­len.«

Er beug­te sich zu mir her­un­ter. Sei­ne Zun­gen­spit­ze be­rühr­te mein Ohr­läpp­chen, ein Schau­er lief über mei­nen Rü­cken. Frü­her hat­te ich mir ge­wünscht, dass er mich be­rühr­te. Aber er hat­te immer Ab­stand ge­wahrt und sich von mir fern­ge­hal­ten. In mei­ner Fan­ta­sie hat­te es sich an­ders an­ge­fühlt. Ge­bor­gen, warm und ver­traut.

Vor­sich­tig wand­te ich das Ge­sicht zur Sei­te. Mei­ne Na­sen­spit­ze be­rühr­te sei­ne Wan­ge und ich hielt den Atem an. »Es tut mir leid.«

»Zu spät.«

 

Kapitel 2

 

AU­BREY

 

 

Noch immer schwirr­ten die Ge­dan­ken um mein un­er­war­te­tes Wie­der­se­hen mit Da­rio durch mei­nen Kopf. Die hal­be Nacht hat­te ich mich im Bett ge­wälzt, über sei­ne Wor­te und sein Ver­hal­ten ge­grü­belt, aber egal, wie sehr ich ver­such­te, mir ein­zu­re­den, dass er nur wü­tend war, es er­gab kei­nen Sinn. Nie hat­te er mich so be­han­delt wie ge­stern. In den letz­ten zwei Jah­ren hat­te ich mir immer wie­der vor­ge­stellt, wie un­ser Wie­der­se­hen ver­lau­fen wür­de. In mei­ner Fan­ta­sie nahm er mich in die Ar­me, ent­schul­dig­te sich für sein Ver­schwin­den und wir mach­ten da weiter, wo wir auf­ge­hört hat­ten. Als Freun­de, viel­leicht mehr.

Aber die Rea­li­tät hat­te mir ih­re Faust ins Ge­sicht ge­schleu­dert und mir be­wusst ge­macht, dass sich alles zwi­schen uns ver­än­dert hat­te.

Ich stieg die Trep­pe hi­nab, strich mei­nen Rock zu­recht, schob die Ge­dan­ken an Da­rio bei­sei­te und um­fass­te das zu­sam­men­ge­roll­te Do­ku­ment fes­ter. Für das, was ich vor­hat­te, be­nö­tig­te ich ei­nen kla­ren Kopf. Ich konn­te spä­ter über Da­rio nach­den­ken, schließ­lich hat­te ich den gan­zen Tag Zeit.

Die In­nen­flä­che mei­ner Hand kleb­te an dem Papier und in mei­nem Ma­gen bil­de­te sich ein Kno­ten, der sich bei je­dem Schritt en­ger zu­zog.

Als ich die letz­te Stu­fe er­reich­te, stieg mir der Duft von ge­rös­te­ten Kaffee­boh­nen und war­men Cro­is­sants in die Na­se. Augen­bli­cklich knurr­te mein Ma­gen und er­in­ner­te mich da­ran, dass ich seit mehr als zwölf Stun­den nichts mehr ge­ges­sen hat­te.

Dad saß in der Mit­te un­se­res rie­si­gen Ess­ti­sches über sei­ne Zei­tung ge­beugt, die Augen waren zu­sam­men­ge­knif­fen und tie­fe Fal­ten zeich­ne­ten sich auf sei­ner Stirn ab. Ich kann­te die­sen Ge­sichts­aus­druck, er stu­dier­te die Ak­ti­en.

»Mor­gen, Dad.«

Er sah von der Zei­tung auf, sein Blick fiel auf mei­ne ro­ten Chucks und augen­bli­cklich ver­zog er den Mund. »Wie oft müs­sen wir noch da­rüber dis­ku­tie­ren, Au­brey?«

»Von mir aus gar nicht.« Ich wuss­te, wie er da­rüber dach­te, aber ich lieb­te die ro­ten, ab­ge­tra­ge­nen Chucks, die Leo mir zu mei­nem sieb­zehn­ten Ge­burts­tag ge­schenkt hat­te. »Mach, was du willst, aber ich be­hal­te sie an.«

»Sie schi­cken sich nicht zur Schul­uni­form. Du siehst so or­dent­lich aus, aber die­se  … Schu­he ver­der­ben alles.« Er be­ton­te das Wort, als sei es gif­tig, aber gab sich wie immer ge­schla­gen. Zu­min­dest da­bei ließ er mir mei­nen Wil­len. Sei­ne Mie­ne wur­de wei­cher. »Wa­rum bist du schon wach? Was ist los?«

»In Frank­reich ist es schon mit­tags.« Ich ging zu ihm und küss­te sei­ne Wan­ge. »Mom fehlt mir, ich ha­be sie an­ge­ru­fen.« Ich setz­te mich an die Kopf­sei­te, leg­te die Hand, in der ich das An­mel­de­for­mu­lar hielt, in den Schoß und schüt­te­te mir Oran­gen­saft ein. Hof­fent­lich be­merk­te Dad mei­ne Lü­ge nicht. Na­tür­lich fehl­te mir Mom, aber ich hat­te sie heu­te noch nicht an­ge­ru­fen. Vor drei Jah­ren hat­ten sich mei­ne Eltern ge­trennt und seit­dem wohn­te ich mit Dad allei­ne. Sie hat­ten be­schlos­sen, mich in mei­ner ge­wohn­ten Um­ge­bung zu las­sen, da­mit ich hier weiter zur Schu­le ge­hen konn­te. Aber selbst, als Dad mich von der Highs­chool nahm, frag­te nie­mand, bei wem ich lie­ber woh­nen wür­de. Für mei­ne Eltern stand von An­fang an fest, dass es hier, direkt bei Dad, am si­chers­ten für mich war. Noch so ei­ne Lo­gik, die ich nicht ver­stand.

Dad mus­ter­te mich mit dem­sel­ben nach­denk­li­chen Blick, mit dem er Se­kun­den zu­vor die Ak­ti­en stu­diert hat­te. »Geht es dir gut?«

»Klar, alles be­stens.«

Nichts war be­stens. We­der die Un­ru­he, die seit letz­ter Nacht wie ein Sturm in mir tob­te, noch die Ver­wirrt­heit über Dar­ios Ver­hal­ten. Aber wenn ich nicht dem­nächst mit Git­tern vor den Fens­tern auf­wachen woll­te, muss­te ich schwei­gen.

Dad run­zel­te die Stirn, sein Blick bohr­te sich in mei­nen Kopf, als su­che er nach ei­ner Lü­ge. »Es ist ge­ra­de mal hell und du bist schon wach, al­so was ist los?«

Ich um­klam­mer­te das An­mel­de­for­mu­lar, leg­te es auf den Tisch, schob es mei­nem Vater zu und hielt die Luft an.

Er senk­te den Blick. »Was ist das?«

»Die An­mel­dung für das Col­le­ge.«

Oh­ne ei­nen wei­te­ren Blick schob er die Un­ter­lagen bei­sei­te und fal­te­te die Hän­de. »Das se­he ich, aber ich dach­te, wir hät­ten das ge­klärt.«

»Ich bin neun­zehn. Ich müss­te dich nicht mal um Er­laub­nis fra­gen.«

Sein Blick ver­schärf­te sich. »So­lan­ge du hier wohnt, so­lan­ge du kein ei­ge­nes Ein­kom­men hast, tust du, was ich sa­ge. Ha­ben wir uns ver­stan­den?« Er biss die Zäh­ne zu­sam­men. »Hör zu, Au­brey, ich will dir nicht dro­hen müs­sen, aber wenn du nicht ge­horchst, be­kommst du spä­ter kei­nen Cent. Und es wür­de mir das Herz bre­chen, mei­ne ein­zi­ge Tochter zu ver­lie­ren.«

Ich schluck­te. Es war lä­cher­lich, fast schon pein­lich. Ich war neun­zehn Jah­re alt und ließ ihn über mein Le­ben be­stim­men, als wä­re ich ein Kind. Aber so sehr ich es auch hass­te, so sehr ich mir ei­ne eige­ne Woh­nung und Frei­heit wünsch­te, es war un­mög­lich. Ich be­saß we­der Geld noch Freun­de. Wo soll­te ich hin? Als ich vor ei­nem Jahr heim­lich ei­nen Job in ei­nem Café an­ge­nom­men hat­te und er es her­aus­fand, droh­te er mir nicht nur mit Ent­er­bung. Dad hat­te mich ei­ne Wo­che kaum an­ge­se­hen, nicht mit mir ge­re­det und war eis­kalt ge­we­sen. Ich woll­te ihn nicht ver­lie­ren, er war der Ein­zi­ge, der mir noch ge­blie­ben war.

Ich seufzte und ver­such­te, mei­ne Wut her­un­ter­zu­schlu­cken. »Du hast ver­spro­chen, noch mal da­rüber nach­zu­den­ken.« Als ich das The­ma vor ei­ni­gen Wo­chen an­ge­spro­chen hat­te, ver­trös­te­te mich mein Vater auf ei­nen spä­te­ren Zeit­punkt. Ich war­te­te je­den Tag auf sei­ne Ent­schei­dung, aber nichts ge­schah und ich hat­te das War­ten satt.

»Ich ha­be auch ver­spro­chen, dich zu be­schüt­zen.«

Ich starr­te auf mei­ne zu Fäus­ten ge­ball­ten Hän­de und press­te die Lip­pen zu­sam­men. Na­tür­lich hat­te ich die­se Ant­wort er­war­tet, aber sie wirk­lich zu hö­ren, traf mich här­ter, als ge­dacht. »Dad, ich will nur zum Col­le­ge und nicht der Ma­fia bei­tre­ten. Ich bin alt ge­nug.«

Woll­te ich ihn über­zeugen, muss­te ich mich zu­sam­men­rei­ßen. Bei ei­nem Aus­bruch wür­de er mich aufs Zim­mer schi­cken und die Sa­che wä­re er­le­digt.

Ich straff­te die Schul­tern und zwang mich zu ei­nem Lä­cheln, als ich ihn an­sah. »Bit­te Dad, ich ver­mis­se die Schu­le.«

»Wenn dir die Stun­den bei Ro­sie nicht ge­nü­gen, bit­te ich sie, den Un­ter­richt aus­zu­deh­nen.«

Ro­sie war un­ser Haus­mäd­chen und gleich­zei­tig mei­ne Leh­re­rin, die mich täg­lich fünf Stun­den un­ter­rich­te­te. Manch­mal frag­te ich mich, wa­rum je­mand mit ih­rem Bil­dungs­stand als Dienst­mäd­chen ar­beit­ete, aber sie hat­te kei­ne Fa­mi­lie und fühl­te sich wohl hier.

Na­tür­lich un­ter­rich­te­te sie mich in un­se­rem Haus, wo es si­cher war und mich nie­mand ent­füh­ren oder er­mor­den konn­te. Der ein­zi­ge Ort, den ich allei­ne auf­su­chen durf­te, war die Kir­che.

Ich schüt­tel­te den Kopf, der Kno­ten in mei­nem Ma­gen ver­wan­del­te sich in Feu­er. Hit­ze stieg in mein Ge­sicht und ich press­te die Fäus­te ge­gen die Tisch­plat­te, da­mit ich nicht das Glas griff und es auf den Boden don­ner­te. »Du weißt, was ich mei­ne. Ei­ne rich­ti­ge Schu­le mit Leu­ten in mei­nem Al­ter. Mit De­bat­tier­klubs, Foot­ball­spie­len und Kau­gum­mi, das die Bö­den ver­klebt.«

Par­tys, Knut­schen und Sex.

»Du weißt, dass es zu ge­fähr­lich ist.«

»Bit­te Dad.«

»Ich muss in ein paar Wo­chen für ei­ne Wei­le nach Port­land. Der May­er-Fall zieht sich, wir müs­sen uns zu­sam­men­set­zen und die Ver­tei­di­gung pla­nen. Lass uns da­nach re­den.«

Nur beim Ge­dan­ken da­ran, ei­ne Wei­le oh­ne sei­ne Über­wa­chung aus­zu­kom­men, schlug mein Herz schnel­ler. »Das ist  … scha­de. Aber du kannst dich auf mich ver­las­sen.«

»Na­tür­lich sind Py­ro und Ro­bert in­for­miert und vor­be­rei­tet. Du musst dir kei­ne Sor­gen ma­chen, dass et­was pas­siert.«

Ich sank im Stuhl zurück. Von ei­ner Se­kun­de zur näch­sten zers­tör­te er mei­ne Aus­sicht auf ein paar Wo­chen Frei­heit. Ich war­te­te ei­nen Mo­ment, bis ich si­cher war, dass er mir mei­ne Ent­täu­schung nicht an­hör­te, und lä­chel­te. »Okay. Aber wa­rum be­spre­chen wir das mit mei­ner Col­le­ge-An­mel­dung nicht so­fort?«

»Die Stur­heit hast du von dei­ner Mutter.« Dad seufzte. »Es tut mir leid, aber das ist ein­fach zu ge­fähr­lich, Au­brey.«

»Wa­rum? Wo­vor hast du Angst?«

»Mach dich nicht lä­cher­lich, alles ist in Ord­nung.«

»Ja? Wa­rum darf ich dann ver­dammt -«

»Ach­te auf dei­ne Wort­wahl, Au­brey.«

Ich muss­te es sa­gen, ich muss­te wis­sen, ob ich mit mei­ner Ver­mu­tung rich­tig lag. »Ist es, weil Da­rio zurück ist?«

Ei­nen Mo­ment schien die Zeit still­zu­ste­hen, alles ver­lang­sam­te sich und die Stil­le wur­de so laut, dass mir die Oh­ren schmerz­ten.

»Was?« Dads Augen waren weit auf­ge­ris­sen. »Wo­her weißt du da­von?«

In Se­kun­den­schnel­le ging ich die Mög­lich­kei­ten durch.

Ich hat­te kaum Kon­takt zu Leu­ten außer­halb die­ser vier Wän­de. Zu­min­dest nicht nach Dads Wis­sen. In­ter­net und Han­dy waren er­laubt, aber wenn er er­fuhr, dass ich die­sen Bo­nus nutz­te, um die Skulls zu ver­fol­gen oder um an­de­ren zwei­fel­haf­ten Din­gen nach­zu­ge­hen, wür­de er mir auch die­se Frei­heit ent­zie­hen.

»Wo­her weißt du es?«, wie­der­hol­te er.

»Als Mr. Lie­ber­man zu Be­such war, muss ich et­was auf­ge­schnappt ha­ben.«

Du sollst nicht lü­gen, Gott sieht alles.

Dad sah mich ei­ni­ge Se­kun­den an, als er­kann­te er mei­ne Lü­ge, aber dann senk­te er den Blick. »Lie­ber­man.« Er rieb sich über das Kinn. »Er hat auch Är­ger mit den San­to­cas, wa­rum al­so soll­te er Car­los’ Sohn er­wäh­nen?«

Car­los’ Sohn. Die Gleich­gül­tig­keit, mit der mein Vater über Da­rio sprach, traf mich. Frü­her war er wie ein ei­ge­nes Kind für Dad­dy ge­we­sen.

Un­se­re Väter hat­ten nicht nur zu­sam­men­ge­ar­bei­tet, un­se­re Fa­mi­lien waren eng be­freun­det ge­we­sen. Car­los San­to­ca, ho­hes Tier im Stadt­rat, und Dad, ei­ner der be­kann­tes­ten Rich­ter in At­lan­ta, hat­ten sich per­fekt er­gänzt. Im Ge­richts­saal waren sie ein ein­ge­spiel­tes Te­am, pri­vat fei­er­ten wir Gar­ten­par­tys zu­sam­men. Un­se­re Fa­mi­lien ver­brach­ten den jähr­li­chen Ka­ri­bi­kur­laub zu­sam­men und Car­los’ Kin­der, Me­lis­sa, Leo und Da­rio waren wie Ge­schwis­ter für mich ge­we­sen. Jetzt sprach mein Vater von Da­rio, als kann­te er ihn nicht.

»Ich hö­re, Au­brey.«

Sei­ne Stim­me riss mich aus den Ge­dan­ken und ich ver­such­te, mich an sei­ne Fra­ge zu er­in­nern. »Wie bit­te?«

»Wa­rum soll­te Lie­ber­man Da­rio er­wäh­nen?«

»Kei­ne Ah­nung.«

»Und wie kommst du da­rauf, dass sei­ne Rück­kehr et­was mit mei­ner Ent­schei­dung ge­gen dei­nen Col­le­ge­be­such zu tun ha­ben könn­te?«

»Sag du es mir.« Die Hit­ze krib­bel­te wie Luft­bla­sen un­ter mei­ner Haut, aber ich hielt mei­ne Wut, so gut es ging, zurück. »Bit­te sag mir, was zwi­schen Car­los und dir vor­ge­fal­len ist.«

»Er hat mich um fünf Mil­lio­nen be­tro­gen.«

Die­sen Teil der Ge­schich­te kann­te ich be­reits, aber ich war si­cher, das mehr da­hin­ter­steck­te. »Was hat das mit Da­rio und mir zu tun? Wa­rum durf­ten wir uns nicht weiter se­hen? Wa­rum hältst du mich seit­dem hier ge­fan­gen?«

»Ich hal­te dich nicht ge­fan­gen, ich be­schüt­ze dich.«

»In­dem du mir alles ver­bie­test?« Mei­ne Stim­me zit­ter­te, aber ich muss­te es los­wer­den, be­vor ich den Mut ver­lor. »Ich weiß viel­leicht nicht, was wirk­lich pas­siert ist, aber ich weiß, dass Da­rio mir nie et­was tun wür­de.«

»Au­brey  …« Er schüt­tel­te den Kopf und nahm mei­ne Hän­de in sei­ne. »Ich ha­be dir ge­sagt, dass ich nicht da­rüber re­de -«

»Weil du mich be­schüt­zen willst«, un­ter­brach ich ihn. »Aber ich muss es wis­sen. Ich will end­lich wis­sen, wa­rum ich so le­ben muss.«

In Dads grau­en Augen blitz­te et­was auf, das ich als Mit­leid deu­te­te. Ich wuss­te, dass er es nicht tat, um mich zu be­stra­fen. Er ver­such­te, mein Le­ben so an­ge­nehm wie mög­lich zu ge­stal­ten.

In­ner­halb un­se­res An­we­sens durf­te ich tun, was ich woll­te, so­lan­ge ich mich be­nahm. Ich durf­te den gan­zen Tag Fil­me im Ki­no­saal se­hen und durf­te Piz­za be­stel­len, wann immer ich woll­te. Meis­tens lud ich Py­ro und Ro­bert – un­se­re Body­gu­ards – da­zu ein, um ein we­nig Ge­sell­schaft zu ha­ben.

Die Re­geln waren ein­fach. Kein Al­ko­hol, Bett­ruhe ab zehn Uhr und je­den Sonn­tag ein Kirch­be­such. Nicht, dass die Kir­che nicht all­ge­gen­wär­tig war. Ne­ben sei­ner Tä­tig­keit als Rich­ter dien­te Dad als Pries­ter in St. An­ge­lic. Was im er­sten Mo­ment wi­der­sprüch­lich er­schien, war nichts Un­ge­wöhn­li­ches. Viele orts­an­säs­si­ge Pfar­rer gin­gen ne­ben ih­rem Dienst an Gott auch ge­wöhn­li­chen Be­rufen nach.

Je län­ger er schwieg, de­sto ge­wal­ti­ger wur­de die Druck­wel­le in mei­ner Brust. Mit je­der Se­kun­de brei­te­te sie sich aus und droh­te, mei­nen Brust­korb zu spren­gen. »Bit­te, ich muss es wis­sen.«

»Au­brey  …«

»Bit­te Dad­dy. Ich ver­spre­che, dass ich da­nach nie wie­der fra­gen wer­de, aber sag mir, was los ist.«

Er at­me­te tief ein, rieb sich über die Stirn und press­te die Lip­pen zu­sam­men. »Du hast recht, es geht nicht nur um mein Zer­würf­nis mit Car­los. Auch Da­rio hat et­was Schre­ckli­ches ge­tan.«

»Was denn?«

Dad schwieg.

Ich drück­te sei­ne Hand. »Was hat Da­rio ge­tan?«

Mein Vater at­me­te laut aus und schüt­tel­te den Kopf. »Seit zwei Jah­ren ha­be ich mich vor die­sem Mo­ment ge­fürch­tet.«

Die Angst vor der Wahr­heit kroch durch mei­ne Zel­len und lähmte mich wie Gift. »Egal, was es ist, ich kom­me klar.«

»Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.«

Wie ei­ne Kugel schos­sen die Wor­te mei­nes Vaters durch mein Ge­hirn.

Sie rausch­ten durch mei­ne Syn­ap­sen und färb­ten die Som­mer­ta­ge schwarz, an de­nen Da­rio und ich durch den Gar­ten ge­tobt waren.

Un­se­re Kla­vier­stun­den.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

Un­se­re heim­li­chen Film­aben­de, wenn das gan­ze Haus schlief und es nur ihn und mich ge­ge­ben hat­te.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

Die Be­rüh­run­gen, wenn er sei­ne Hand mit mei­ner ver­glich und da­rüber lach­te, wie klein ich war.

Da­rio hat ei­nen Men­schen ge­tö­tet.

»Es tut mir leid, mein Schatz.« Dad wisch­te mit dem Dau­men über mei­ne Wan­ge. »Jetzt kennst du den Grund für mei­ne Sor­ge. Ich woll­te dir das alles er­spa­ren, weil ich weiß, wie sehr du dich mit ihm ver­bun­den ge­fühlt hast. Er war be­ses­sen von dir und ich bin si­cher, dass er dir auch et­was an­tun wür­de.«

Noch immer rausch­ten Er­in­ne­run­gen an den Jun­gen von da­mals durch mei­nen Kopf. Sei­ne brau­nen Augen, in de­nen immer Dun­kel­heit ge­le­gen hat­te. Schon als Kind be­merk­te ich, dass Da­rio an­ders als die Jungs in mei­ner Schu­le war. Im Som­mer ging er nie mit uns schwim­men. Nie er­hell­te ein Lä­cheln sein Ge­sicht. Ich er­wisch­te ihn öf­ter nachts in Dads Heim­ki­no mit ei­nem Jo­int in der Hand, weil er nicht schla­fen konn­te.

In man­chen Näch­ten nahm ich ihn mit auf mein Zim­mer, weil es ihm Frie­den gab, wenn er mich beim Schla­fen be­ob­ach­te­te. Wenn ich mor­gens auf­wach­te, saß er noch immer auf dem Boden vor mei­nem Bett und starr­te ins Lee­re.

Da­rio war mein dunk­ler En­gel mit zer­bro­che­nen Flü­geln ge­we­sen.

Sa­tan war auch ein En­gel, be­vor er aus dem Himmel ver­bannt wur­de, sag­te er immer und ich lach­te da­rüber, denn für mich war Da­rio immer Gott ge­we­sen. Mein Freund, mei­ne Son­ne, mei­ne Welt – mein gan­zes Uni­ver­sum.

Die Schlag­zeilen aus dem In­ter­net schli­chen sich in mei­ne Ge­dan­ken.

Jun­ge ver­schwin­det nach Auf­nah­me­prü­fung der Skulls. Da­rio San­to­ca – die Höl­le woll­te ihn nicht.

Bis­her hat­te ich über die reiß­er­ischen Über­schrif­ten ge­lacht. Ich hat­te selbst ein paar er­fun­den. Aber nie hat­te ich auch nur ei­ne Se­kun­de ge­glaubt, es könn­te die Wahr­heit sein.

Dads Lip­pen be­weg­ten sich, er sprach, aber mei­ne Ge­dan­ken waren so laut, dass ich mich an­stren­gen muss­te, um ihn zu ver­ste­hen.

»Bit­te sag et­was, Schatz.«

»Ich  …« Tausend Fra­gen schos­sen durch mei­nen Kopf. »Bist du si­cher? Ich mei­ne, wen? Wo­her weißt du das und wa­rum ist er dann nicht im Ge­fäng­nis? Wa­rum soll­te er mir et­was tun?«

Dad warf ei­nen Blick auf sei­ne Arm­band­uhr, trank ei­nen Schluck Kaffee und nahm mei­ne Hand wie­der. »Quä­le dich nicht noch mehr, Au­brey. Das, was du weißt, ge­nügt.«

Er er­hob sich, schob sei­nen Stuhl zurück und stell­te sich ne­ben mich. Mit ei­ner Hand griff er nach der fei­nen Gold­ket­te um mei­nem Hals und um­fass­te den Kreuz­an­hän­ger. »Gott ist bei dir. Er kennt alle Ant­wor­ten und er­hört all dei­ne Ge­be­te.«

Er ließ die Ket­te los, beug­te sich her­un­ter und küss­te mei­ne Stirn. »Viel­leicht soll­test du heu­te am Got­tes­dienst teil­neh­men, dann bist du bei mir.«

»Nein, schon gut.« Ich zwang mich zu ei­nem schwa­chen Lä­cheln. »Ro­sie woll­te heu­te ei­nen Test mit mir schrei­ben und ich will nicht um­sonst ge­lernt ha­ben.«

»Gut, nimm dir Zeit, um da­mit klar­zu­kom­men.«

Er rief Ro­sie, da­mit sie den Tisch ab­räum­te, und flüs­ter­te ihr et­was ins Ohr. Wahr­schein­lich bat er sie, ein Au­ge auf mich zu ha­ben.

Dad ver­ließ den Wohn­be­reich, kurz da­rauf fiel die Haus­tür ins Schloss und ich blieb mit mei­nen Ge­dan­ken zurück.

Es konn­te nicht stim­men. Dad muss­te sich täu­schen.

Was, wenn Da­rio wirk­lich ein Mör­der ist?

Ich starr­te zu Boden und ver­such­te die Wor­te, die durch mei­nen Kopf wir­bel­ten, zu sor­tie­ren.

Ich muss­te die Wahr­heit her­aus­fin­den.

Falls Da­rio un­schul­dig war, und da­ran woll­te ich noch immer glau­ben, konn­te ich Dad viel­leicht da­von über­zeugen, mich ein nor­ma­les Le­ben le­ben zu las­sen.

 

Kapitel 3

 

AU­BREY

 

 

Ich schloss mei­ne Zim­mer­tür, warf die An­mel­de­for­mu­la­re für das Col­le­ge in den Papier­korb und setz­te mich mit dem Lap­top aufs Bett. Ich starr­te ei­ne Wei­le auf den Bild­schirm, über­leg­te, ob es ver­nünf­tig war, und stieß ein hei­se­res La­chen aus. Seit wann war ich ver­nünf­tig?

Das, was ich vor­hat­te, wür­de mir beim Beich­ten wahr­schein­lich drei Ave Ma­ri­as ein­brin­gen oder ei­nen di­rek­ten Weg in die Höl­le. Aber mei­ne Angst hielt sich in Gren­zen. Mehr Angst be­rei­te­te mir Dads Ge­ständ­nis. Es konn­te nicht stim­men. Da­rio war düs­ter, aber er war kein Mör­der.

Zö­ger­lich tipp­te ich im Brow­ser die er­sten Buch­sta­ben ein. Der Com­pu­ter er­gänz­te das Wort von allei­ne. Täg­lich chat­te­te ich dort, kom­men­tier­te in Buch­grup­pen oder sah nach, was es Neu­es gab. Es war mei­ne Ver­bin­dung zur Außen­welt. Wenn ich im In­ter­net surf­te, ge­hör­te ich da­zu.

Ich ging auf die Fan­sei­te der Skulls, klick­te auf »neu­er Gast Bei­trag« und schrieb: Rot­käpp­chen hat sich vom gro­ßen bö­sen Wolf fres­sen las­sen. Aber ich bin nicht Rot­käpp­chen, ich bin die­je­ni­ge, die mit dem Wolf auf die Jagd geht.

Ei­nen Klick spä­ter ging der Bei­trag on­li­ne.

Da­rio war auf mei­ne an­de­ren Posts an­ge­sprun­gen und ich war si­cher, die­ser reiz­te ihn be­son­ders. Er lieb­te Spiel­chen.

Mi­nu­ten ver­gin­gen, aber nichts ge­schah. Nor­ma­le Leu­te ha­ben ein Le­ben außer­halb des In­ter­nets. Er ist un­ter­wegs.

Als ein Kom­men­tar ein­ging, tat mein Herz ei­nen Satz.

Den­ver21: Ach wie gut, dass nie­mand weiß, dass ich  … heiß. Nie­mand kennt mei­nen Na­men, aber du wirst ihn heu­te Nacht schrei­en.

»Idi­ot.« Ich ver­dreh­te die Augen und war­te­te, aber bis auf ein paar wit­zi­ge oder ein­deu­ti­ge Kom­men­ta­re rea­gier­te nie­mand.

Es über­rasch­te mich nicht. Da­rio wür­de sich die Vor­la­ge nicht ent­ge­hen las­sen, ich brauch­te nur Ge­duld.

Nicht ge­ra­de mei­ne Stär­ke, aber beim Ge­dan­ken an un­ser be­vor­ste­hen­des Tref­fen krib­bel­te es in mei­nem Ma­gen.

Ich klapp­te den Lap­top zu, zog mich an und schob mein Han­dy in die Rock­ta­sche. Selbst wenn ich nicht zur Schu­le ging, trug ich mei­ne al­te Uni­form. Ein grau­er Rock mit dem grün-wei­ßen Em­blem der St. An­ton­ius High, ei­ne wei­ße Blu­se, da­rüber ei­ne graue Wes­te. Wei­ße Knies­trümp­fe mit Spit­zen und ro­te Chucks ver­voll­stän­dig­ten mein Out­fit. Es war ein schwa­cher Ver­such, et­was Kon­trol­le und Wi­ders­tand in mei­nen All­tag zu brin­gen. Ich band mei­ne hell­blon­den Haa­re zu ei­nem ho­hen Pfer­de­schwanz und ver­ließ mein Zim­mer.

»Sehr gut.« Ro­sies grü­ne Augen strahl­ten, als sie mich auf der Trep­pe ent­deck­te. »Dein Dad mein­te, du bist nicht gut drauf. Dann wol­len wir mal se­hen, ob wir das än­dern kön­nen.« Die Grüb­chen um ih­ren Mund ver­tief­ten sich, als ich un­ten an­kam und sie um­arm­te.

Sie schob mich sanft von sich und mus­ter­te mich. »Wir ha­ben uns heu­te schon ge­se­hen. Alles okay?«

Ro­sie kann­te mich gut ge­nug, um sich zu wun­dern. Nor­mal­er­wei­se kam ich zu spät und be­grüß­te sie mit ei­nem »Wu­sa.«

Ei­ne al­ber­ne An­spie­lung auf ei­nen Film, den wir moch­ten. Im Lau­fe der Jah­re waren wir Freun­din­nen ge­wor­den. Mit ih­ren fünf­und­drei­ßig Jah­ren hät­te sie fast mei­ne Mutter sein kön­nen, aber auch, wenn sie sich gro­ße Mü­he mit mei­ner Aus­bil­dung gab, hat­te sie nicht ver­lernt, Spaß zu ha­ben.

Ich sah mich rechts und links nach Py­ro und Ro­bert um, die immer ir­gend­wo im Haus um­her­schwirr­ten, griff ih­ren Arm und zog sie hin­ter mir her.

Als wir das Wohn­zim­mer hin­ter uns ge­las­sen hat­ten und die Biblio­thek er­reich­ten, schloss ich die Tür hin­ter uns und über­leg­te, wie ich be­gin­nen soll­te.

Ro­sie nahm an dem gro­ßen Tisch aus dunk­lem Holz in der Mit­te der Biblio­thek Platz, war­te­te, bis ich mich auf dem Stuhl ihr ge­gen­über ge­setzt hat­te, und schob mir ein Mat­he­ma­tik­buch zu.

»Fan­gen wir mit dem Schlimm­sten an und ar­bei­ten uns zu den an­ge­neh­me­ren Fä­chern durch«, sag­te sie.

Ich schlug das Buch auf, blät­ter­te zu der Sei­te, auf der wir ge­stern ste­hen ge­blie­ben waren, und at­me­te tief aus. »Kann ich dich mal was fra­gen?«

Bis­her hat­te ich mit ihr nur über die Pro­ble­me mit Dad ge­spro­chen. Mehr als ein­mal hat­te sie be­wie­sen, dass ih­re Loya­li­tät trotz des stol­zen Ge­halts, das mein Vater ihr zahl­te, nicht bei ihm lag. Ich konn­te ihr ver­trauen, aber trotz­dem fiel es mir schwer, über Da­rio zu re­den. Un­se­re Ver­gan­gen­heit, un­se­re Ver­bin­dung war et­was In­ti­mes und ich hat­te das Ge­fühl, dass ich es ent­ehr­te, wenn ich da­rüber sprach.

Ro­sie klapp­te mein Buch zu und run­zel­te die Stirn. »Klar, alles, das weißt du doch.«

»Ich ha­be noch nie da­von er­zählt und du musst mir ver­spre­chen, dass -«

Das Klin­geln mei­nes Han­dys un­ter­brach mich. Ich zog es aus mei­ner Rock­ta­sche, ge­noss ei­ne Se­kun­de das war­me Krib­beln in mei­nem Bauch und hob den Fin­ger, um mich bei Ro­sie zu ent­schul­di­gen. Ich stand auf, eil­te zu ei­nem de­cken­ho­hen Regal in der hin­ter­sten Ecke des Rau­mes und nahm ab.

»Hal­lo?«

»Du kannst mich nicht kon­trol­lie­ren.« Dar­ios Stim­me klang be­droh­lich ru­hig. »Dies­mal be­stim­me ich die Re­geln.«

Ich warf ei­nen Blick über die Schul­ter und sah Ro­sie noch immer am Tisch sit­zen, aber in mei­ne Rich­tung se­hend. Ich dreh­te den Kopf zum Regal und straff­te die Schul­tern. »Wer hat denn immer be­stimmt, was wir spie­len und wie ich mich be­neh­men soll? Ich will dich nicht wü­tend ma­chen, ich will nur mit dir re­den.«

»Du machst mich nicht wü­tend. Du bringst mich auf Ideen. Eigent­lich woll­te ich dich aus mei­nem Ra­chef­eld­zug her­aus­hal­ten, aber dank dei­ner klei­nen Ak­tion ist mir et­was Bes­se­res ein­ge­fal­len.«

»Was ist los mit dir ver­dammt noch mal? Mehr als ent­schul­di­gen kann ich mich nicht. Ich ha­be mich ge­freut, dich wie­der­zu­se­hen, ich will mich nicht strei­ten.«

»Ich strei­te mich nicht. Ich zei­ge dir nur, dass dein Han­deln Kon­se­quen­zen hat.«

Das war­me Krib­beln in mei­nem Ma­gen wan­del­te sich in Wut. Er hat­te kein Recht, mich wie ein klei­nes Kind zu be­han­deln. »Gut, spiel dich von mir aus auf, aber es reicht. Wahr­schein­lich schert es dich auch nicht, was Dad mir er­zählt hat.«

Er schwieg ei­ne Wei­le, doch als er sprach, war der letz­te Rest Ver­traut­heit da­rin ver­schwun­den. »Du re­dest mit Dad­dy über mich? Hast du ihm er­zählt, was wir da­mals in sei­nem Ki­no ge­macht ha­ben?«

Die Er­in­ne­rung an die­se Nacht traf mich wie ein Blitz. Es war der in­tims­te Mo­ment ge­we­sen, den wir mit­ein­an­der ge­teilt hat­ten. Da­rio hat­te mich immer wie ei­ne klei­ne Schwes­ter be­han­delt, doch nicht in die­ser Nacht. In die­ser Nacht hat­te er für ei­nen Mo­ment ei­ne Er­wachs­ene in mir ge­se­hen. »Er hat mir ge­sagt, was pas­siert ist.«

»Au­brey.« Ro­sies Stim­me hall­te durch den Raum. Mit Si­cher­heit frag­te sie sich, mit wem ich wäh­rend des Un­ter­richts tele­fo­nier­te. Oder wa­rum ich über­haupt mit je­man­dem tele­fo­nier­te.

Ich dreh­te mich zu ihr, hielt das Han­dy her­un­ter und warf ihr ei­nen ent­schul­di­gen­den Blick zu. »Ich be­ei­le mich, bit­te gib mir noch ei­ne Mi­nu­te.«

Sie tipp­te auf ih­re Arm­band­uhr und nick­te.

Ich leg­te das Han­dy wie­der an mein Ohr. »Aber ich will nicht glau­ben, dass es stimmt. Wir müs­sen da­rüber re­den.«

Stil­le schlug mir ent­ge­gen und ge­ra­de, als ich dach­te, dass er auf­ge­legt hat­te, hör­te ich ihn am an­de­ren En­de at­men.

»Kön­nen wir uns heu­te Abend am Park tref­fen?«, sag­te ich und senk­te die Stim­me. »So ge­gen elf?«

Doch auch jetzt schwieg er und mein Ma­gen zog sich zu­sam­men. Dar­ios plötz­li­cher Stim­mungs­wech­sel be­un­ru­hig­te mich mehr als sei­ne Dis­tan­ziert­heit. »Bit­te Da­rio, du kannst mit mir re­den, da­ran hat sich nichts ge­än­dert.«

Am En­de der Lei­tung klick­te es. Er hat­te auf­ge­legt.

Das Druck­ge­fühl, das ich schon beim Früh­stück ge­spürt hat­te, leg­te sich um mei­ne Brust und er­schwer­te das At­men. Ei­ne Mi­schung aus Trau­er und Angst stieg in mir auf. Ich seufzte, dreh­te mich um und lief zum Tisch, an dem Ro­sie noch immer saß und mich mit gro­ßen Augen an­sah.

»Was ist los?«, frag­te sie, als ich mich ne­ben sie setz­te und die Hän­de in den Schoß leg­te.

Aber auf ein­mal war mir nicht mehr nach re­den. Der Mensch, mit dem ich spre­chen woll­te, be­han­del­te mich wie ei­ne Frem­de und ich wuss­te nicht, wa­rum.

Als ich nicht ant­wort­ete, leg­te Ro­sie ei­ne Hand auf mei­ne Schul­ter. »Ich ma­che mir Sor­gen, zu­erst die Be­grü­ßung, dann willst du mir et­was sa­gen und jetzt bist du trau­rig. Wer war das am Tele­fon?«

»Je­mand, der mir wich­tig ist.« Ich starr­te auf mei­ne Hän­de. Wür­de ich den mit­lei­di­gen Aus­druck in ih­ren Augen se­hen, der auch in ih­rer Stim­me lag, wür­de ich an­fan­gen zu heu­len. Et­was, das ich mir ab­ge­wöhnt hat­te.

Die Leu­te hiel­ten mich für ein ver­wöhn­tes, zer­brech­li­ches Mäd­chen. Je­der in die­sem Haus be­han­del­te mich wie ein ro­hes Ei. Ob es aus Re­spekt Dad ge­gen­über war oder an mei­ner Er­schei­nung lag, wuss­te ich nicht. Aber sie un­ter­schätz­ten mich.

Ich war we­der schwach noch zer­brech­lich. Ich wuchs an den Hin­der­nis­sen in mei­nem Weg und be­trach­te­te sie als Aben­teu­er. Wenn Da­rio dach­te, dass ich mich ein­schüch­tern ließ, irr­te er sich.

»Wenn du willst, ver­schie­ben wir den Un­ter­richt.« Ro­sie rieb mir über den Rü­cken, ließ mich los und klapp­te das Buch zu.

»Nein, Ab­len­kung ist gut. Ich ha­be kei­ne Lust, nur im Zim­mer rum­zu­sit­zen.«

»Ich ver­ste­he, dass sich dein Vater Sor­gen macht.« Sie seufzte und schwieg ei­nen Mo­ment. »Aber dass er dich hier wie in ei­nem Käfig hält, ist ein­fach falsch.«

Dad tat es aus no­blen Grün­den, aber sie recht­fer­tig­ten sein Han­deln nicht.

***

Vier Stun­den spä­ter ver­ließ ich die Biblio­thek. Den Eng­lisch­test und die Mat­he­auf­ga­ben hat­te ich hin­ter mich ge­bracht, ge­nau­so wie Ro­sies mit­lei­di­ges Ge­sicht, als sie mich vom Un­ter­richt ent­ließ. Ich lief durchs Wohn­zim­mer, öff­ne­te den Kühl­schrank und nahm mir ei­ne Fla­sche Co­la her­aus.

Als ich die Tür schloss, er­schien Ro­bert, ei­ner der Body­gu­ards, ne­ben mir. Er grins­te, nahm mir die Fla­sche aus der Hand und trank ei­nen gro­ßen Schluck, be­vor er sie mir wie­der reich­te. »Na, warst du flei­ßig?«

Er streck­te den Arm nach oben und leg­te die Hand an ei­nen Hän­ge­schrank. Ich nick­te und ließ mei­nen Blick über sei­nen trai­nier­ten Bizeps wan­dern. Selbst un­ter der Ja­cke sa­hen sei­ne Mus­keln ver­lo­ckend aus.

Ro­bert senk­te die Stim­me. »Pass auf, dass dein Vater nicht mit­be­kommt, wie du mich an­siehst.« Er grins­te un­ver­schämt und beug­te sich zu mir her­un­ter. »Außer­dem bin ich zu alt für dich, Sü­ße.«

Ich ver­dreh­te die Augen, lach­te und dreh­te mich um. Oh­ne Ro­bert, Py­ro und Ro­sie, die die­sem Haus et­was Humor ein­hauch­ten, wä­re ich ver­lo­ren. Das Flir­ten mit Rob­by brach­te ei­nen klei­nen Ner­ven­kit­zel in mei­nen All­tag, aber es war nichts weiter als ei­ne harm­lo­se Spie­le­rei.

Er sah zwar gut aus, aber der Mann war zwei­und­drei­ßig und hat­te Kin­der.

Ich warf Ro­bert über die Schul­ter ei­nen Blick zu und zwin­ker­te. »Stimmt, in dei­nem Al­ter lässt die Aus­dau­er nach. Sor­ry, da­mit kann ich nichts an­fan­gen.«

»Autsch, Klei­ne, der war un­ter der Gür­tel­li­nie.«

Ich lach­te, lief mit der Fla­sche zur Trep­pe, um nach oben auf mein Zim­mer zu ge­hen.

»Wie war dein Eng­lisch­test?«

Als ich die er­ste Stu­fe der Trep­pe be­trat, hör­te ich Dads Stim­me. Ich hielt in­ne und dreh­te mich zu ihm.

»Gut, schät­ze ich. Wie lief der Got­tes­dienst?«

Er zupf­te sein Kol­lar zu­recht. »Du hast ge­fehlt. Ich glau­be, es hät­te dir gut­ge­tan, bei der Ge­mein­de zu sein. Wie geht es dir? Konn­test du es sa­cken las­sen?«

Nein, ganz und gar nicht, Dad­dy. Ich bin da­bei, et­was sehr Dum­mes zu tun. Ich nick­te und schenk­te ihm ein Lä­cheln, von dem ich hoff­te, dass es ehr­lich wirk­te.

Dad kam ei­nen Schritt auf mich zu, beug­te sich zu mir und küss­te mei­ne Wan­ge. »Gut so. Und mach dir kei­ne Sor­gen, hier bist du si­cher.«

»Weiß ich.« Mit dem Dau­men deu­te­te ich die Trep­pe hin­auf. »Ich ge­he dann mal le­sen.«

Er lös­te das Kol­lar von sei­nem schwar­zen Hemd und strich es glatt. »Kommst du nach­her run­ter? Ich dach­te, wir spie­len noch ein biss­chen Schach und re­den.«

»Klar.« Ich dreh­te mich um und lief die Trep­pe nach oben. So sehr ich Dad auch lieb­te, er be­merk­te nicht, dass er mich wie ein klei­nes Mäd­chen be­han­del­te.

Für ihn war ich noch immer sieben, glaub­te an alles, was er mir er­zähl­te, und konn­te mir nichts Bes­se­res vor­stel­len, als stun­den­lang mit ihm Schach zu spie­len. Doch die­se Zeiten waren lan­ge vor­bei. Wenn man in ei­nem Käfig auf­wuchs, wur­de man schnel­ler er­wach­sen. Oder zu­min­dest fühl­te es sich so an. Mit je­dem Tag, an dem er ver­such­te, mei­ne Flü­gel zu stut­zen, rück­ten die Git­ter­stä­be nä­her. Die Welt um mich he­rum schrum­pfte, bis mir nur noch der Aus­blick durch Git­ter­stä­be blieb. Dad ahn­te nicht, dass ich kurz vor dem Aus­bruch stand. Selbst wenn ich mir da­bei Wun­den zu­füg­te, ich wür­de über der Welt schwe­ben und sie be­trach­ten.

Ich ging in mein Zim­mer, schloss die Tür hin­ter mir und schal­te­te den Lap­top ein, klick­te mich durch mei­ne Play­list und stell­te Eva­ne­scen­ce Fal­len an.

Als die Me­lo­die durchs Zim­mer klang, nahm ich mir ein Buch aus dem Regal, warf mich da­mit aufs Bett und schlug die Sei­te mit der um­ge­knick­ten Ecke auf. Ich ver­sank zwi­schen den Zeilen, flog mit Rie­sen­fle­der­mäu­sen durch die Un­ter­welt und ver­gaß alles um mich he­rum.

»Ich lie­be den Aus­druck in dei­nen Augen, wenn du in an­de­re Wel­ten ab­drif­test.«

»Ver­flucht!« Ich schrak vom Bett hoch.

Nur ei­nen Me­ter ent­fernt lehn­te Da­rio an der Tür zu mei­nem Ba­de­zim­mer. Sei­ne Hän­de steck­ten in den Taschen sei­ner schwar­zen Je­ans, ei­ne schwar­ze Sträh­ne fiel in sein Ge­sicht und be­deck­te ein Au­ge.

Ich rann­te zur Zim­mer­tür, dreh­te den Schlüs­sel im Schloss und stell­te mich vor Da­rio. »Wie bist du hier her­ein­ge­kom­men?«

»Durchs Fens­ter, wie frü­her mal.«

Mein Herz klopf­te noch immer schnel­ler, aber der Adre­na­lin­schub ließ nach. Es war merk­wür­dig, aber ein Glücks­ge­fühl durch­ström­te mich. »Auf dem Grund­stück sind über­all Ka­me­ras ver­teilt, das ist un­mög­lich.«

»Das hält dich doch auch nicht ab.«

»Ich ken­ne mich hier aus.«

»Mich hat noch nie et­was vom Ziel ab­ge­hal­ten.« Er strich mir ei­ne Sträh­ne hin­ters Ohr. »Du woll­test re­den, hier bin ich. Was hat Dad­dy dir er­zählt?«

Ich hat­te Angst vor Dar­ios Re­ak­tion, aber wenn ich Ge­wiss­heit ha­ben woll­te, muss­te ich es an­spre­chen.

Und wenn er sagt, er war es nicht? Wem glaubst du dann?

Da­rüber konn­te ich mich hin­ter­her sor­gen. Ich setz­te mich aufs Bett und streck­te die Hand aus, da­mit Da­rio sich setz­te. Als er mich nur weiter an­sah, nick­te ich ihm zu. »Bit­te.«

Er stieß sich vom Tür­rah­men ab und ließ sich ne­ben mir nie­der. Sein Par­füm stieg in mei­ne Na­se und fast fühl­te es sich wie frü­her an. Frü­her, als wir Kin­der ge­we­sen und nicht in die Krie­ge un­se­rer Eltern ge­zo­gen wor­den waren.

Am liebs­ten woll­te ich mich an ihn schmie­gen und ein­fach nur sei­nen Herz­schlag hö­ren. Aber auch das schien der Ver­gan­gen­heit an­zu­ge­hö­ren.

Da­rio stütz­te die Ell­bogen auf die Knie und rieb sich mit dem Dau­men über sei­ne Un­ter­lip­pe.

»Ich will die Wahr­heit, egal, wie sie aus­sieht. Ver­sprich mir, dass wir noch ehr­lich zu­ein­an­der sind.«

Sein Blick fand mei­nen, ein stum­mes Ein­ver­ständ­nis lag in sei­nen brau­nen Augen.

»Ich weiß nicht, was pas­siert ist. Ob mein Vater dir ge­sagt hat, dass du dich von mir fern­hal­ten sollst, oder ob du es selbst ent­schie­den hast.« Ich schluck­te. »Aber das muss nicht so sein. Egal, was pas­siert ist, ich will dich, Me­lis­sa und Leo zurück in mei­nem Le­ben.«

Noch immer schwieg er.

Zwei Jah­re lang hat­te ich da­rauf ge­hofft, ihm alles er­klä­ren zu kön­nen. Ihm sa­gen zu kön­nen, wie ein­sam das Le­ben oh­ne ihn und sei­ne Schwes­tern ge­we­sen war und wie es sich seit­dem ver­än­dert hat­te.

»Er hat Angst, dass du mir et­was an­tust.« Ich lach­te auf. »Dad denkt wirk­lich, dass du mir weh­tun wür­dest. Des­we­gen sperrt er mich hier ein. Body­gu­ards, Aus­gangs­sper­re, nächt­li­che Kon­troll­be­su­che, der gan­ze Kram. Ich er­tra­ge das nicht mehr.«

»Wa­rum soll­te er so et­was den­ken?« Sei­ne Stim­me. Dar­ios Stim­me war be­son­ders. Warm, tief, krat­zig. Man konn­te sie leicht von allen an­de­ren un­ter­schei­den. Je­des Mal, wenn er mir frü­her et­was vor­las, hat­te sie woh­li­ge Schau­er über mei­nen Rü­cken ge­jagt.

Mit zwei Fin­gern zupf­te ich an mei­nem grau­en Knies­trumpf. Ich war ner­vös und hat­te Angst vor Dar­ios Re­ak­tion, aber trotz­dem sah ich ihm in die Augen. »Ich kann es mir nicht vor­stel­len, des­we­gen will ich es von dir hö­ren.«

»Was hat er ge­sagt?«

»Dass du ei­nen Men­schen ge­tö­tet hast.«

Sein Kie­fer ver­spann­te sich und sei­ne Na­sen­flü­gel beb­ten. Da­rio stand auf, lief zum Fens­ter und starr­te nach drau­ßen. Sein brei­ter Rü­cken, sei­ne Grö­ße sperr­ten das Licht aus.

Ich ging zu ihm und leg­te ei­ne Hand an sei­nen Rü­cken. »Ich will die Wahr­heit wis­sen.«

Nach ei­ni­gen Se­kun­den dreh­te er sich zu mir, sein Blick war eis­kalt, et­was da­rin hat­te sich ver­än­dert. »Auch wenn sie dir nicht ge­fällt?«

Ich nick­te.

»Au­brey?« Ro­sie klopf­te an die Tür, ich hör­te, wie sie den Knauf dreh­te, und schrak zu­sam­men. »Hey, wa­rum schließt du ab? Wir müs­sen noch et­was we­gen mor­gen be­spre­chen.«

Ich stol­per­te zur Tür und war froh, ab­ge­schlos­sen zu ha­ben. »Ich zie­he mich um, ich kom­me gleich run­ter.«

»Gut, aber be­eil dich.« Ih­re Schrit­te ent­fern­ten sich. Er­leich­tert dreh­te ich mich um, lehn­te den Rü­cken ge­gen die Tür und er­schrak er­neut, als Da­rio direkt vor mir stand. Er leg­te die Hän­de rechts und links ge­gen das Holz und beug­te sich zu mei­nem Ohr. »Wenn Dad­dy es sagt, wird es stim­men.« Sein Atem streif­te mei­nen Hals. »Er hat recht. Ich tue an­de­ren weh. Aber von jetzt an tue ich nur noch sei­nem Mäd­chen weh.«

Mein Herz häm­mer­te ge­gen den Brust­korb, ich konn­te kaum at­men. Ich hob den Kopf, dreh­te das Ge­sicht zur Sei­te, mei­ne Wan­ge be­rühr­te sei­ne Schul­ter. »Wa­rum? Ich ha­be dir nichts ge­tan.«

»Nimm es nicht per­sön­lich.« Er wich ein Stück zurück. »Was ist das Wert­voll­ste, das Ja­mes La­croux be­sitzt?«

Ich schluck­te, wir bei­de kann­ten die Ant­wort.

»Und des­we­gen tref­fe ich ihn da­mit am meis­ten.«

»Willst du mich auch tö­ten?« Mei­ne Bei­ne zit­ter­ten vor An­span­nung, aber ich straff­te die Schul­tern und be­müh­te mich, si­cher zu klin­gen.

Be­vor ich wuss­te, was ge­schah, pack­te er mein Hand­ge­lenk, dreh­te mich blitz­schnell um und dräng­te mei­nen Ober­körper ge­gen die Tür.

»Lass mich los, ver­dammt.« Ich press­te mei­nen Hin­tern ge­gen sei­nen Schoß, ver­such­te, mich zu be­frei­en, aber ich hat­te kei­ne Chan­ce.

Mit ei­ner Hand schob er mei­ne Haa­re auf ei­ne Schul­ter und biss in mei­nen Na­cken. Nicht fest, aber ich spür­te sei­ne Zäh­ne in mei­ner Haut. »Nicht doch, Ba­by­doll. Was ich mit dir vor­ha­be, wird ihm mehr weh­tun als der Tod.« Da­rio griff mit der an­de­ren Hand an mei­ne Brust und kne­te­te sie. »Ihr denkt, ihr könnt tun, was ihr wollt, und kommt da­von. Aber die Zeiten sind vor­bei.«

Er ließ mich los, mei­ne Hand klatsch­te in sein Ge­sicht. »Bist du ver­rückt ge­wor­den?« Ich ver­stand nichts mehr. Wa­rum war er so wü­tend auf Dad? Und was hat­te er mit mir vor?

Da­rio dreh­te sich um, lief zum Fens­ter und öff­ne­te es. Als er die Hän­de an den Rah­men leg­te, be­reit, nach un­ten zu klet­tern, warf er mir ei­nen Blick über die Schul­ter zu. »Ich war noch nie kla­rer bei Ver­stand.«

***

Sechs Jah­re zu­vor

 

»Da hin­ten, zwi­schen den Sträu­chern«, flüs­tert Dad und deu­tet mit dem Zei­ge­fin­ger ins Di­ckicht. »Da ist ein Bock.«

Er reicht Da­rio das Fern­glas. In Dads Augen spiegelt sich Auf­re­gung, so­gar sei­ne Wan­gen sind et­was ge­rö­tet.

»Ich se­he es«, ant­wor­tet Da­rio. »Hof­fent­lich kommt er raus.«

Ich will, dass der Reh­bock da­von­rennt, und hus­te laut. Die bei­den se­hen mich an, Da­rio rich­tet den Blick wie­der in die Ferne und ich un­ter­drü­cke den Im­puls, dem Reh et­was zu­zu­ru­fen, da­mit es flüch­tet. Ich schie­ße ger­ne und lie­be es, durch den Wald zu strei­fen, aber ich tö­te nicht. Mei­ne Schieß­übun­gen be­schrän­ken sich auf Do­sen oder Autor­ei­fen.

»Er be­wegt sich«, flüs­tert Da­rio, gibt mei­nem Vater das Fern­rohr wie­der und wen­det sich an mich. »Sei ge­fäl­ligst lei­se. Ich will heu­te ja­gen.«

In der Ferne be­wegt sich et­was. Die Gras­hal­me bie­gen sich, Äs­te kna­cken und ich he­be den Kopf und se­he die Spit­zen ei­nes Ge­weihs aus dem Ge­büsch ra­gen.

Mei­ne Keh­le schnürt sich zu­sam­men, ich um­klam­me­re den Kreuz­an­hän­ger mei­ner Ket­te und be­te für das Le­ben des Reh­bocks.

Dad gibt Da­rio ein Hand­zeichen, die bei­den le­gen ih­re Ge­weh­re an und bli­cken zu dem Tier. Vor­sich­tig reckt es sei­ne klei­ne Na­se in die Hö­he und kommt lang­sam nä­her.

Bit­te ver­schwin­de. Bit­te ver­schwin­de.

»Noch ein Stück«, flüs­tert mein Vater und klingt da­bei wie ein Kind, das auf San­ta Claus war­tet.

Dar­ios Rü­cken­mus­keln span­nen sich an. Die Luft ist von Span­nung ge­laden.

Ich hal­te die Luft an. Hau end­lich ab.

Das Reh senkt den Kopf und tritt aus dem Di­ckicht her­vor und be­vor ich wegs­ehen kann, hal­len zwei Schüs­se durch die Luft und das Tier kracht zu Boden.

Mein Vater klopft Da­rio auf die Schul­ter. »Ein sau­be­rer Tref­fer, mein Sohn.« Er sieht mich an und lacht. »Au­brey hat ein zu wei­ches Herz.«

Wie zur Be­stä­ti­gung lau­fen Trä­nen über mei­ne Wan­gen. »Ich has­se es. Wa­rum tut ihr so was?«