Brücke, Boot und Bienenhaus - Gerhard Dallmann - E-Book

Brücke, Boot und Bienenhaus E-Book

Gerhard Dallmann

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Beschreibung

Hier erzählt Gerhard Dallmann ein neues Abenteuer von Kindern seiner norddeutschen Heimat in der Gegend des Oderhaffs. Nach Schiffbruch der kleinen Jolle „Alraune“ wird Eckart, der fixe Inselbengel, an Land verschlagen, schließt wohl oder übel Freundschaft mit Katharina, einem echten Mädchenquirl, und versetzt gemeinsam mit seiner wirbeligen Gefährtin die Erwachsenenwelt durch allerlei gefahrvolle Unternehmungen in Aufregung. Am Ende wird sogar ein Kirchenraub aufgedeckt — die Diebe lassen sich von den beiden erlebnishungrigen Ferienkindern foppen. Schuld daran, dass dieser Sommer so ganz anders verläuft als geplant (nämlich viel, viel schöner und viel, viel spannender!), ist die heimtückische Eisenbahnbrücke von Karnin, die Eckarts Boot nicht mag. Ja, sonst hätte der Junge aber auch nicht Onkel Willis Bienenhaus kennengelernt und Peppi den Hund nicht und Otto von Bamberg nicht und natürlich auch nicht seine Freundin Fratz (das ist Katharina). LESEPROBE: „Sie stehn vor dem Altar - sie fassen die Leuchter an - einer erklärt was oder so.“ „Vielleicht sind das Kunstschmiede?“ „Quatsch. Das sind Banditen. Sonst hätten sie die Kirchentür nicht aufgebrochen.“ „Stimmt auch.“ „Jetzt verschwinden sie, rechts gehn sie in eine Kammer ...“ „Sakristei.“ „Ja. Jetzt sind sie drin. Komm!“ Ein Husch, ein paar Sprünge in den Kirchenraum und weggeduckt. Sind sie in eine Falle geraten? Schutz hinter den Bänken hätten sie im Augenblick genug. Aber nur gegen den Blick von vorn, nicht von der Seite. Würde man sie hier aufstöbern, als heimliche Lauscher, als Spione - sie hätten unter Garantie mörderische Dresche zu erwarten. Da fiel Eckart ein Tisch ins Auge, ein Tisch mit einer großen Decke, die an den Seiten weit herabhing. Darauf lagen Gesangbücher und Zeitschriften. „Runter da!“ Ein Wink, ein Satz, schon hockten die beiden darunter. Und das war wieder höchste Zeit, denn die Kerls hatten sich in der Sakristei nur kurz aufgehalten. Sie kehrten zurück. „Kopf weg“, wisperte Eckart. Jetzt nur noch die Ohren zum Hören gebrauchen. Platz hatten die zwei so gut wie gar nicht. Fest aneinanderpressen mussten sie sich. Wie jeder für sich seine Beine unter sich sammelte, wussten sie selber nicht. Lange würden sie in dieser Stellung jedenfalls nicht aushalten können. Aber sie ahnten wohl, in welche Gefahr sie sich begeben hatten, und Katharina flüsterte nicht zu Unrecht: „Beschützt du mich, wenn sie mich abmurksen?“ „Ja“, hauchte er.

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Impressum

Gerhard Dallmann

Brücke, Boot und Bienenhaus

Ein Ferienerlebnis

ISBN 978-3-95655-017-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1985 in der Evangelischen Verlagsanstalt GmbH, Berlin

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2014 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern

Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Aus einem blumenumrankten Haus an dem Weg, der die Haffdörfer miteinander verbindet, traten zwei Jungen auf die Straße. Abenteuerlust funkelte in ihren Gesichtern, und der kleinere von ihnen klatschte ein übers andre Mal in die Hände - er zählte noch nicht ganz elf Jahre, ein Kerlchen mit listigen Augen und blonden, struppsigen Haaren, die kein Kamm hätte zähmen können. Trotz des Hitze verheißenden Sommermorgens hatte er sich in einen irrsinnig dicken Wollpullover gestopft. Wozu nur? Die Füße steckten in Tennisschuhen, echt neu. Auf denen hätte er wohl zu gern gehüpft oder Salto mortale geschossen, um die Freude über das bevorstehende Erlebnis loszuwerden, wäre da nicht der Seesack gewesen, ein riesengroßer Seesack, der ihn daran hinderte. Tapfer hatte er ihn zu schleppen, diesen proppenvoll gepressten Sack, voll von allerlei Krimskrams wie Zahnbürste, Seifenpott, Wäsche, Zusatzwäsche, Reservezusatzwäsche, Ersatzreservezusatzwäsche ...

Und dieser gewaltige Apparat bammelte dem Kleinen an viel zu langem Riemen von der viel zu schmalen Schulter herab auf den Rücken und bauzte beim Gehen mal in die Kniekehlen, mal in den Podex oder schleifte auf der Erde.

Sein Bruder, wohl um einen Kopf größer, sah dagegen manierlicher aus. Ein blauer Kammstiel schaute aus der Gesäßtasche und verriet ein klein Stücklein Kultur und Anstandswillen. Auch er trug knallweiße Tennisschuhe an den Füßen. Seinen Kopf aber krönte eine blaue Tuchmütze mit Schirm, eine echte Kapitänsmütze. Diese, behauptete er, stünde ihm als Kapitän der ALRAUNE einfach zu. Auch er balgte sich mit einem fürchterlichen Seesackungeheuer herum.

Nur zwang er ihn besser, waren doch seine Beinmuskeln schon fast männlich wulstig und nicht so streichholzstöckig wie die seines Brüderleins. Was aber schleppte er mit sich? Leicht verrieten das die durchdrückenden Kanten und Ecken der Konserven, der Flaschen, des Eingemachten ... Mama hatte ausdrücklich gesagt: das muss sein, mein Kind, das muss sein, das braucht jeder, der eine Seereise tut. Zudem hatte Vater schon Tage vorher all das auf einer langen Liste vornotiert, was die beiden Jungen mitnehmen sollten. Und weil Vater darauf bestanden hatte, da hatte eben gestern Abend beim Packen alles in die Seesäcke hineingemusst, alles: der Kleinkram bei dem Kleinen, der Großkram bei dem Großen. Nun, da sie auf der Straße waren, klopfte er dem Stips auf die Schulter und jubelte mit erlöstem Herzen:

„Fidibus, Mensch, jetzt hält uns keiner mehr. Keiner! Jetzt stehn wir auf eignen Füßen!“

Und Fidibus stöhnte das befreiteste Ja seines ganzen Lebens. Einen letzten Blick noch warfen sie zum Fenster hinauf, dorthin, wo Mutter hinter der Gardine sich Gedanken über Gedanken machen wird und ... Richtig, natürlich - wie konnte es auch anders sein! Mutter steckte ihren Kopf halslang hinaus und rief ihnen noch mal und abernochmal ihre alte, riesengroße Sorge nach:

„Eckart, bitte! Wage nicht zu viel!“

„Nein, Mama.“

„Bleib immer hübsch in Ufernähe, falls ihr untergeht! Denk mir an den Kleinen!“

„Ja, Mama.“

„Und bei Seekrankheit nimm die Tabletten!“

„Ja, Mama.“

„Und erkältet euch nicht!“

„Nein, Mama.“

„Und wenn ihr angekommen seid, schreibt sofort!“

„Ja-ha, Mama. Tschüs!“

„Und wie es Oma geht“

„Tschühüs!“, schrie Eckart in die Luft, riss seinen Bruder am Arm und zog ihn rasch mit sich fort. „Komm bloß, Fidi, sonst kriegen wir es schriftlich.“

„Ja“, stöhnte der Kleine unter der Last.

„Mutti macht sich unnötig Gedanken.“

„Ja, immer.“

„Muttis müssen sich immer ihre Gedanken machen, dafür sind sie Muttis. Das steckt so im Blut.“

„Finde ich aber Quatsch.“

„Klar. Wir sind doch keine kleinen Windelkinder mehr, oder?“

„Nee-hee“, ächzte der Kleine. „Trotzdem, dieses Lausedings ist schwer.“

„Durchhalten, Fidi, wir sind Männer.“

Noch fühlten sie Mutters Blick im Nacken. Als sie aber um die Ecke in die Grabenstraße bogen, die zum Wasser hinabführt, gönnten sie sich ein Verschnaufen.

Da standen sie nun und prusteten und grinsten, einer immer heiterer als der andere.

An der Tür seiner Segelmacherei lehnte ein weit- und seebereister Mann. Dieser war den großen und kleinen Fahrensleuten wegen seiner tausend spannenden Erzählchen wohlbekannt. Als der die beiden kommen sah, wie sie sich schleppten, vornübergebeugt wie Schauerleute auf alten Kohlendampfern, nickköppte er vor sich hin. Wusste er doch zu gut, welch Geheimnis in ihren Adern trieb. Haffwasser, sagte er zu sich, ist Seewasser. Und wer einmal Seewasser geschlürft hat, den wird es immer wieder hinausziehen, auf die Flüsse, auf die Seen, auf die Ozeane, in die große, weite Welt. Das war vor Jahrhunderten so, das war gestern so. Das wird immer so sein, dachte der alte Mann und blinzelte.

Darum redete er auch mit ihnen, wie man mit echten Seeleuten zu reden hat. Denn wer mit Mütz und Seesack durch die Gegend schiebt, der will zu seinem Schiff und mit dem Schiff auf den Ozean.

„Na, Seeleute?“, unkte er. „Nach Kap Hoorn?“

„Nee, bloß nach Honululu, zu Oma“, bekam er zur Antwort. „Da fahrt ihr doch besser mit der Bahn.“

„Wir sind doch nicht blöde! Mit der Bahn! Hahaha!“, rief Eckart und fasste sich an den Kopf.

„Das fehlt noch“, gab Fidibus eins drauf. „Mit der Jolle sind wir viel eher da!“ Und rackelte tapfer sein Gepäck in die Höhe.

„Nananaaa!“ Warnend zog der alte Segelmacher die Silben in die Länge. „Das sagt sich so leicht. Wenn’s aber um Kap Hoorn herumgehen soll ...“ Er hob den Finger und wackelte mit ihm, wie eine Kompassnadel zappelt. „Kap Hoorn kann’s überall mal geben, Jungs. Passt Achtung!“ Und er sagte das mit einem weisen, prophetischen Blick, so, als wollte er kommende Ereignisse bereits vorausgesehen haben.

Die Jungen aber lachten: „Na und?“

„Und“, fuhr der Alte fort, „passt mir auf die Walfische auf. Die fressen lütte Gören und kniepen ihnen in den Mors.“

„Denen bändseln wir das Maulwerk zu. In zehn Jahren sind wir wieder zurück, topp!“

„Wenn ich dann noch lebe“, lächelte der Alte. „Nun geht schon und verquackelt nicht die schöne Zeit!“

Lachend zogen sie weiter.

Nicht aufhalten lassen jetzt. An Bord, an Bord, an Bord und Leinen los! Und Segel gesetzt! Und ab in die Ferien!

„Ahoi!“, riefen sie - und ahoi flüsterte der Alte und dachte bei sich selbst: Nicht kleinzukriegen sind sie. Na ja, uns hätte man damals auch nicht an die Leine legen dürfen. Selbst Eisenketten hätten wir zerbissen.

Die beiden gelangten auf das Gelände des Jachthafens. Auf dem Steg, an dem unter Schatten werfenden Bäumen die Alraune schlummerte, warfen sie ihr Gepäck ab. Endlich! Und reckten und dehnten die verbogenen Glieder mit Achundwehgestöhne, damit wieder alles in die vorgegebene Ordnung geraten konnte und die Gelenke richtig einschnappten - rechter Arm oben rechts, linkes Bein unten links. Der Kleine pellte sich aus seinem Wollgehäuse, denn er schwitzte wie eine frische Dampfnudel. Dann spuckte er ins Wasser und sagte: „So!“

Sie waren angelangt.

Die Alraune gehörte zum Bootstyp Pirat, eine Jolle aus wunderschönem, naturgelacktem Mahagoniholz, und war Eigentum des Vaters. Der hatte - gewissermaßen als Belohnung für ihren Schulfleiß - erstmalig eine kleine Segelfahrt über ein paar Tage gestattet. Dass unterwegs nichts Böses passieren darf und wird, hatte der Große mit hochheiligem Ehrenwort und mit Herzblut unterschreiben müssen, der Mutter mit einem Küsschen auf die Wange, dem Vater mit mannhaftem Blick in die Augen.

Immerhin hatte es doch Wochen gedauert, bis die Eltern dem Drängen der Jungen nachgegeben hatten, und das auch nur durch einen Umstand, der die Waagschale der Entscheidung schließlich auf Ja senkte: sie, die Eltern selbst, hatten eine Dienstreise anzutreten und wollten die Jungen nur ungern allein im Haus lassen. Sie zünden uns die vier Wände an, und sie waschen sich nicht, sagte der Vater, und die Mutter sagte: sie verhungern mir. Darum war es schon besser, sie fuhren zur Großmutter nach Wolgast. Und was das Segeln betraf, meinte der Vater seinen Ältesten in einem verlässlichen Alter zu wissen. Wer also wollte zimperlich sein? Sollen sie sich einmal beweisen, die Kinder!

Nun war die Stunde gekommen. Eckart verstaute, was zu verstauen war: Flaschen, Konserven, Eingemachtes ... Die Wäsche samt Zusatzwäsche, samt Reserve- und Ersatzwäsche flog ins Vorschiff und wurde, zusammengepresst in ihrem Behältnis, sicherheitshalber noch mit dem Fuß nachgeschoben. Drin! Peng! Darauf schlug er die Segel an, zog die Leinen durch die Decksaugen und schrie endlich das lang ersehnte: „Fidibus! Schmeiß die Festmachenden los, wir zischen ab.“ Heia, war das ein Kommando! Losgelöst aus ihrer Vertäuung, drehte sich die Alraune sacht im freien Wasser, zog in die Mitte des Stroms, weg vom Ufer - weg, weg, weg, weiter, immer weiter ...

Da legte Eckart die Finger an die Mütze und grüßte das zurückbleibende Land, ehrfürchtig wie ein hundertjähriger, achtbarer Hochseekapitän grüßt ... und der Kleine spuckte über Bord und sagte: das bleibt hier ... und das schwarze Rund des Schlossturms linste aus den Baumwipfeln hervor und krönte bald die Silhouette der alten Herzogsstadt ... und ein Angler im Schilf starrte unverwandt auf die wippende, dippende Pose und wartete auf seinen Fisch ... und die Lerche stieg in die Luft und tirilierte ... und die Bisamratte ruderte durchs Uferkraut, verschwand, tauchte auf, verschwand, tauchte auf ... und es war ein Tag wie selten einer ... und die Kinder hatten Ferien ... und die Sonne lachte tausendfach ... und der Kleine sagte ei-ei-Ssörr ... und der Große schrie: ich könnte mir in den Hintern beißen.

Der Tag begann mit dem goldensten Reichtum, den ein Himmel je über zwei Jungenherzen auszuschütten vermochte. Aaah!

Leise segelte das Boot stromab, gluckste vor Freude in dem sich schlängelnden Fluss, glitt später durch den baumbestandenen Kanal, hinter dem sich das Haff in fast grenzenloser Weite dehnte, und trug seine junge Last sicher mit sich fort. Die Erhebungen des jenseitigen Ufers verbarg noch der Sommermorgendunst unter seinem lieblichen Schleier. Fahrwassertonnen kreisten verträumt in der auslaufenden Strömung. Über das zitternde Glänzen des Silberspiegels blies feiner Wind winzige Wellchen und überhuschte das Wasser mit dunklen Flächen krüsligen Hauchs. Das Rascheln in den Wipfeln der Pappeln verlor sich im Nichts, als das Boot weiter und weiter vom Ufer fortstrebte.

Da hatten die beiden sich nichts mehr zu erzählen. Schwieg die Welt, schwiegen auch sie. Ja, der Mensch muss auch mal schweigen können. Das merkten sogar Kinder schon. Sei stille, sei stille, du kleiner Mensch, sei stille!

Fidibus hatte sich längelang auf die Bodenbretter der Jolle gestreckt. Die Arme unter dem Kopf, döste er vor sich hin. Eckart führte das Ruder. Denn Eckart war der Kapitän. Er beobachtete das Wasser, sah nach den Segeln, durchforschte den Himmel nach Wind anzeigenden Wolken und wandte seine seemännischen Kenntnisse an. Wasser, Wind und Wolken, der Seeleute dreifältiges Weh - sie geben ihre Anzeichen für kommende Wetter. So hatte er einst gelernt. So war es auch.

Oh, wie die Sonne brannte! Im Südwesten schwelte ein Vorhang blaugrauen Dunstes. Ihm fuhren sie entgegen. Doch was heißt fahren? Der anfangs freundliche Ostwind war bald wieder schlafen gegangen. Nun war von Fahren, von Vorwärtskommen keine Rede mehr. Selbst Schleichen wäre schon maßlos übertrieben gewesen. Denn auch das letzte, zarteste Püsterchen Wind hatte aufgehört zu sein. Glimmer senkte sich über das Wasser, und Flimmer füllte die Luft. Aus der Ziegelei der Rauch trieb schnurgerade in die Höhe, wo er müde und in dünnen Schwaden hängen blieb, irgendwo, stundenlang. Flaute nennt das der Seemann und Windstille der Dichter.

„Soll ich am Mast kratzen?“, fragte Fidibus und rekelte sich hoch. „Man sagt, dann kommt Wind.“

„Tu’s doch“, gähnte Eckart.

„Oder einer alten Katz drei blaue Haare ausruppen. Das soll noch besser wirken.“

„Tu’s doch, du Quatschi.“

„Aber wenn der Kapitän dreimal nach Luv spuckt und jedes Mal den Priem mitgehn lässt, dann kommt bestimmt Wind.“

„Unübertreffliche Weisheit. Schlaf lieber und verschone mich mit deinen sinnvollen Aussprüchen.“

„Wind her, Wind hin. Ich finde das schön so.“

„Aber dann kommen wir nie zu Oma.“

„Ätsch, vor einer Woche waren wir noch in der Schule.“

„Schule? Was ist das? Kenne ich nicht.“

„Und du hattest Angst vorm Zeugnis. Ätsch!“

„Halt die Klappe jetzt endlich mal!“, lachte Eckart. „Sag mir lieber, ob du schon die Brücke siehst und von wo der Wind kommt, wenn er kommt.“

Fidibus deckte die Hand vor die Augen, um das gleißende Licht abzuschirmen. Er suchte, wohin Eckarts Finger wies. „Nichts. Alles grau in grau.“

Die Brücke, die Eckart meinte, war ehemals ein sehenswertes Bauwerk gewesen. Jetzt stand sie zerstört da, nur noch ein armseliges Eisengestell. Von Osten her kommend, erkennt ein geübtes Auge sie als strichfeines, wie ein auf den Horizont gesetztes Karo. Früher, als der grausige Krieg noch nicht übers Land getobt hatte, zählte sie wahrlich zu den Wunderwerken der Technik. Eine doppelgleisige Bahnlinie führte damals über sie hinüber, und diese verband alle Ostseebäder der Insel Usedom mit der weiten Welt des Festlands. Durch die Hände verrückter Kerle musste sie noch in den letzten Kriegstagen gesprengt werden. Musste? Warum? In Sekunden zerrissen da ihre eleganten Bogen wie Bindfäden und versanken in den Fluten der Haffenge. Lediglich das Stahlquadrat, dieses riesige Mittelgerüst, ist als graues Mahnmal stehen geblieben. Die Brückenträger hat man abgehoben und fortgetragen. Für die Schifffahrt ist der Wasserweg wieder frei geworden. Nur zwei Fundamentteile, kantig und scharf wie Korallenriffe, unsichtbar und mordsgefährlich, blieben vergessen unter der Wasseroberfläche, ganz dicht neben der Fahrstraße.

Diese Brücke sollte Fidibus suchen helfen.

An deren Nordufer finden wir auf ausgestrecktem Hügel das Dorf Karnin, und diesem gegenüber, am anderen Ufer, liegen die Gehöfte von Kamp, zwei, drei Bauernhöfe, kaum eingedruckt in unseren Landkarten. Also, wer kennt das schon ... Windfangende Bäume decken die Häuser und sagen jedem: hier ist die Welt zu Ende. Zwar tuckert täglich das Milchboot nach Kamp hinüber, klappert mit Kannen, bringt hin und wieder Post oder Medizin oder einen Gast vielleicht - aber darüber hinaus gibt’s nichts anderes als Schilf oder die uralten, weiß beklecksten Reusen am Ufer.

Doch das alles war noch weit, sehr weit entfernt, eine Tagesreise vielleicht oder zwei - wenn diese stumpfsinnige Windstille anhielt.

Eckart starrte über die Bordkante in das grünalgige Wasser, in dem sich die Alraune um sich selbst drehte. Unbarmherzig knallte die Sonne ihre Hitze in die Luft, sodass jeder vernünftige Mensch vor ihr fliehen sollte. Die Jungen aber schützte weder ein schattiges Dach noch ein kühlender Hauch. Gnitzen kribbelten über die Haut und naschten von den Schweißtröpfchen, die aus den Poren perlten. Es war einfach heiß, wahnsinnig heiß. Selbst die Möwen hatten ihre Lust am Fliegen verloren. Mittagsfaul ruderten sie auf dem Wasser und träumten sich was ...

Die Jungen hatten sich die Hemden über den Leib gezogen, um keinen Sonnenbrand zu bekommen. Fidibus klagte über Durst. Eckart mahnte: „Durchhalten! Sei ein Mann!“

Endlich entdeckten sie die fadendünnen Umrisse der Karniner Brücke. Lieber Himmel, dachte Eckart, noch so weit! Stunden kann das dauern, Tage! Und er errechnete, wie lange es noch hell sein wird.

Doch einer weisen Lehre zufolge: Wind wird kommen, irgendwann, aber Wind wird kommen. Die Dunstwand hatte sich bereits verflüchtigt. Über das Wasser wehte es von Westen her dunkel auf. Er kommt, er kommt, der liebe Wind, jubelte Eckart. Schon flatterten die Segel durch. Der Wind hatte die Alraune erreicht und sanft gestreichelt.

Eckart weckte den dösenden Fidibus und gab ihm Anweisungen, die ihn aus seinem Nilkrokodilsdämmer zurück ins Diesseits beorderten. Denn schon drückte der erste Püsterich des himmlischen Windmachers das Boot leise auf die Seite. Ja, er war gekommen, der Wind. Erst in mattem Flügelschlag, dann zügiger, immer zügiger, und die Fahrt ging an, dem Wind entgegen, der Brücke entgegen. Und das war auch wirklich fällig ... Fidibus meldete Bärenhunger: „Mittagszeit ist längst vorbei. Ich vertrockne.“

„Wenn die Mittagszeit vorbei ist, brauchst du nichts mehr. Du bist ein Fresssack.“

Fidibus zankte: „Der Mannschaft steht aber etwas zu. Auch Schlafen und Nichtstun strengen an. Ich brauche Aufbaustoffe.“

Eckart, Kapitän und Proviantmeister zugleich, entgegnete: „Wir wissen nicht, wie lange wir von unseren Vorräten leben müssen. Kap Hoorn ist noch weit.“

Doch weil auch er sich jämmerlich ausgehöhlt fühlte, genehmigte er jedem eine Klappstulle und gegen Durst Limonade.

„Ich bestelle mir nachher bei Oma zehn mittelgroße Spiegeleier und ein Mastkalb. Ei-ei-Ssörr“, sagte Fidibus und grabbelte in dem Sack herum, in dem Wust von Vorratsdosen und Eingewickeltem. Was er fand, hielt er triumphierend in die Höhe:

„Hier!“

Zwei vollfett beschmierte Stullen klappte er ausgebreitet in die pralle Sonne. „Es ist serviert, Ssörr.“

Ein Windstoß kam und spielte dazwischen. Unversehens legte sich die Alraune schräg; der Kleine versuchte mit Rücken und Ellbogen irgendwonirgendwo Halt zu finden. Das Butterbrotpapier wehte auf, zog ein paar irre Kreise und wollte entwischen. Fidibus fasste grapsch danach, fasste daneben, rutschte aus und landete trapsch mit seinem dünn behosten Humtata auf der soeben fein servierten Wurstplatte. Das Ergebnis war ein gestaltlos zusammengepresster oder auseinandergepresster Fladen. Die Limonadenflasche jauchzte vor Freuden auf, entleerte sich schaumsprudelnd und verhalf dem Gepampe zu einer wohlschmeckenden Soße.

„Du Saftnase! Kein normaler Sterblicher stellt geöffnete Pullen ungesichert in ein Boot. Aus dir wird nie ein Seemann!“, schimpfte der Kapitän. „Trink aus, was noch drin ist, oder gib mir den Rest.“

„Ei-ei-Ssörr“, maunzte Fidibus.

„Und das Brot wird natürlich gegessen. Weggeworfen wird nichts!“

„Ei-ei-Ssörr.“ Und mit hintertückischem Grinsen, mit einem Blick von schräg links unten nach schräg rechts oben, lotete er seinen Chef aus. „Welche Hälfte wollen der Herr Kapitän? Die untere? Die obere?“

„Die untere natürlich. Dafür bin ich Kapitän.“

„Ei-ei-Ssörr.“ Fidibus machte eine Kehrtwendung und zeigte ihm den Hosenhintern, an dem ein von Butterklebe und Zervelatwurst gehaltenes, verspätetes Mittagessen prangte. „Bittschön, Ssörr!“

Eckart hätte ihm daraufhin einen echt brüderlichen Tritt verpassen können. Doch er dachte erzieherisch. Er wird es dem Kleinen auf andere Art zeigen, was Nichtvergeuden heißt. Darum pulte er von der Hose, was sich abpulen ließ, stopfte es in den Mund - und schmatzte es genüsslich und mit Haut und Haaren auf. Jawohl, mit Haut und Haaren, mit echten Fusseln aus Fidis Hose. Bäkse!

Darauf befahl er: „Das andere isst du auf, ohne Rest zu lassen. Klar?“

,,Ich konnte aber nichts dafür“, verteidigte sich der Kleine. Er kniete nieder und tat, wie ihm befohlen. Kratzte vom Fußboden, was seine Nägel erwischten, und strich zu guter Letzt die Bodenbretter mit der Zunge ab. „Zufrieden, Ssörr?“

Nein, wirklich. Er hatte nicht dafür gekonnt. Jeder andere hätte ebenso drei, vier Hände gebraucht, oder sechs. Sich selbst festhalten, die Stullen vor dem Rutschen, die Flasche vor dem Kippen bewahren - und das bei dem Affentanz der Alraune, die vom Wind gejagt schlipp-schlapp über die Wellen hüpfte. Wer konnte das! Er war kein Artist. Und die Alraune war ein kleines, kippliges Boot dazu. Und der Fidibus zum ersten Mal so richtig draußen.

Inzwischen hatte sich der Wind eingeübt. Jetzt kam er richtig aus West und machte den beiden hübsch zu schaffen. Eckart sagte:

„Wir müssen kreuzen. Du wirst nass werden. Sei ein Mann!“

So hockten sie mal steuerbords, mal backbords auf der Deckskante, und Fidibus hatte eine Segelleine festzuhalten. Heia, wie legte sich das Boot manchmal schräg, wie panschte es durch die Wellen, wie machte das Spaß! Freche Spritzer fegten über das Vorderdeck, und Fidibus kriegte pitsch-patsch jedes Mal sein gut Teilchen davon ab. Erst über das Hemd, dann in das Hemd, dann über die Hose, dann in die Hose. Der dickmaschige Wollpullover, in den er sich zu retten suchte, bot nur für kurze Zeit ein bisschen Schutz. Dann troff auch der wie ein gebadeter Pudel, und dem Jungen wurde kalt bis unter die Haut. Er presste die Zähne aufeinander, damit sie nicht haltlos zu schnattern anfingen. Gesagt aber hat er nichts. Nein, er wird keine Schwäche zeigen. Das hatte er versprochen. Nass werden gehört einfach dazu. Das weiß man doch. Er wird bald wieder trocken sein. Jeder Fisch wird mal trocken. Und bei Oma wird er zwanzig Spiegeleier verdrücken, oder dreißig.

Mit der Zeit hatte sich das Brückenquadrat in ein gewaltiges Tor verwandelt. Von Karnin die Häuser, von Mönchow die Kirche waren bereits deutlich zu erkennen. Dazu der stuckige Leuchtturm am Hochufer. Wenn Eckart das Boot in Landnähe trieb, rauschte das Schilf auf - dichtes, undurchdringliches Schilf.

In letzter Stunde hatte die untergehende Sonne den Himmel mit flammenden Farben bemalt. Rotviolett. Eckart belehrte seinen Bruder:

„Du musst immer die Färbung der Wolken beachten. Ihre Farben sagen dir, wie das Wetter wird. Gelb im Westen gibt Wind. Welche Farbe erkennst du jetzt?“

Fidibus wollte jetzt keine Wolkenfarben studieren. Ihm war kalt. Er bibberte durch und durch.

„Kkkitschppostkarte“, schnatterte er.

„Nee, sag richtig!“

„Wie Mammmamas Nnnachtemtemd“, klapperten seine Zähne. Er wünschte sich heimlich an Omas Küchenherd.

„Frierst du etwa?“, fragte Eckart und spielte den Erstaunten. „Nnnein, ich bibbibbere bloß.“

„Durchhalten, Kleiner! Wir sind Seeleute. Wir passieren nur noch die Brücke. Bei Kamp gehen wir an Land. Eine halbe Stunde noch. Honululu erreichen wir heute leider nicht mehr.“

Fidibus schlotterte. Eine halbe Stunde noch? Gut. Er wollte ein Held sein. Er wollte es den Großen nachmachen, dem Vasco da Gama, dem Magellhans, dem Cook! Mit mutvoller Haltung will er durchstehen. Außerdem, was half schon alles Jammern! Es rinnsalte ihm durch die Hosenbeine, es sammelte sich in den Schuhen und machte darin knietschknietsch, wenn er die Zehen drückte, und die Socken klebten an den Sohlen. Was kann noch Schlimmeres kommen!

Eckart hatte das alles wohl bemerkt. Er empfand Mitleid mit seinem kleinen Bruder, doch durfte er es sich nicht anmerken lassen. Jungen, so hatte er in alten Schwarten gelesen, sollen keine Gefühle haben wie Mädchen. Sonst werden sie keine Männer. Er selber riss sich ja auch zusammen. Darum sagte er:

„Beim Segeln hat sich noch keiner erkältet. Frieren ist Einbildung.“

So segelten sie weiter, Wind und Wetter gegenan. Bald werden sie das Brückenquadrat über sich sehen.

Auf wuchtigen Betonsockeln ruhten die gewaltigen Stahlträger, graufarbig, gegen Rost geschützt. Im Strom schölender Wellen wehten und wischten langsträhnige Tangfahnen grünfarben auf und nieder, festgewachsen an ewig nasser Wand. Strömung und Wind patschten Wellen an ihnen hoch, die die Fundamente pausenlos perlend überbrausten. Durch das Gestänge schlug der Wind strudelnde Wirbel. Hier hatte jeder Steuermann gut Obacht zu geben.

Eckart blickte in die Höhe. Er vermochte seine Begeisterung über die technischen Leistungen vergangener Jahrzehnte nicht zurückzuhalten:

„Alles genietet, siehst du?“

Fidibus nickte müde. Schietegal, ob genietet oder geklebt. Er fror.

„Wie hoch das Ding ist, was?“

Na und? dachte Fidibus und schwieg. Ein leerer Magen hängt dafür um so tiefer. Eine Matschstulle den ganzen Tag - und die vierzig Eier bei Oma gehen jetzt auch noch flöten.

Eckart steuerte die Alraune links der Fahrrinne entlang, aus berechtigter Furcht, die kreuz und quer laufenden Wellen möchten sein Schiff gegen die Quader drücken. Kleinholz würde das geben, unweigerlich. Denn gerade hier war die Fahrrinne eng, gefährlich eng. Und der Wind blies von vorn, und das Wasser kabbelte sich und balgte sich mit seinen eigenen Wellen, mal so, mal so. Und schräg oben das herrliche Brückenquadrat.

„Sieh doch mal hoch, Fidi!“, rief Eckart ein übers andre Mal. „Das musst du einfach gesehen haben. Nur einen Blick!“

„Ja.

„Das ist ein Ding, was?“

„Ja.

„Doppelgleisig! Damals haben sie mit starken Elektromotoren ...“

Rrrums - krach! Ein Prall, ein Splittern, ein Knacken ... Fidibus sauste wie vom Schlag getroffen nach vorn, verlor den Halt und klatschte rücklings ins Wasser. Eckart fand sich augenblicks auf dem Schiffsboden wieder, am Schienbein rote, blutende Schürfstellen. Die Jolle hob sich vorn, das Segel knallte auf und schlug, das Boot wackelte und - blieb in leichter Schräglage hängen.

Eckart schaute sich benommen um. Wo - wo ist der Kleine! Er hatte ihn fallen sehen ...

„Fidi, Fidiii!“, schrie er grell. „Wo bist du?“

Zwei Hände krallten sich über die Bordwand, zwei kleine, blau gefrorene Hände. Zwischen ihnen ein Kopf, triefend, hustend, und eine magere Stimme keuchte:

„Wwwas ississen los! Ich bin abgerutscht.“

„Wir sind aufgelaufen, Mensch!“, schrie Eckart verzweifelt und rieb sich Halt suchend sein schmerzendes Bein.

Der Kleine begriff nicht, was geschehen war. Die Jolle - aufgelaufen? Er - außenbords? Ja, und nun?

Eckart packte Fidis Hände und riss ihn an Deck. Angst um den Bruder verlieh ihm nie gekannte Kräfte. Er schüttete den Kleinen ins Boot wie einen nassen Sack.

Das Boot aber füllte sich mit Wasser. Deutlich sackte das Achterschiff weg. Warum flutet Wasser hinein? Ist der Schiffsboden zertrümmert?

Unter Fidis Strubbelkopf ein zaghaftes Leuchten, halb in Tränen, halb im Siegerlächeln:

„Ecki, ich bbbin in’n Bbach gegangen, zum erstersten Mal!“

Eckart aber stand der Sinn nicht nach dem Spaß einer Neptunstaufe: „Quatsch nicht rum. Die Alraune kann jede Sekunde absacken, und wir mit, mit Jack und Büx.“

„Dddas Wassasser ist aber nicht kkalt. Bestimmt!“, schlotterte der Kleine.

„Mann, begreifst du nicht? Der Kahn ist kaputt!“

„Ist wahr? Das gggeht ja gut los.“

„Papas Boot, Papas Boot!“ Eckarts Gesicht war jammervoll klein geworden und zerknittert wie altes Papier. Das Wasser aber im Boot stieg unaufhaltsam.

„Wwwolln wir warten, bibibis einer kommt?“

„Warten? Auf wen? Wir nibbeln doch ab. Merkst du das nicht?“

Dem Kleinen erschien alles noch hochinteressant.

„Müssen wir schwimmimmen?“

Eckart schnürte dem Kleinen eine Schwimmweste um den bibbernden Leib und danach sich selber auch. Dann holte er die Segel nieder, zurrte sie zusammen, so gut es ging, und hockte sich neben seinen Bruder mitten hinein in das schlabbernde Wasser, das mit sprudelnden Blasen unter ihren Füßen quirlte. Jetzt suchte er neben sich nach einer Hand, einem Fuß, nach etwas Lebendigem, etwas Liebem. Fühlen wollen, haben, halten wollen, bevor es in die Tiefe ging ... „Wwworauf warten wir?“

Ja, worauf? Das Wasser schwappte schon in Gürtelhöhe. Wenn das die Eltern wüssten - und die Klasse - und der alte Segelmacher von heute Morgen! Hatte der nicht gesagt, Kap Hoorn kann’s überall mal geben? Hat der das so gemeint? Darüber verging der Tag, und mit seinem Vergehen schwand das Licht. Bald wird das Wasser von oben einströmen, erwog Eckart. Dann hat das Warten ein Ende. Dann müssen wir uns ergeben. Wie lange noch?

„Fidi?“

„Ja?“

„Ach - nichts.“

„Warum sacken wir denn nicht ab? Sind wir gerettet?“

„Abwarten.“

Ja, sie warteten, fünf Minuten, zehn Minuten, durchfrorene, durchzitterte Zeit. Doch eben eigenartig, das Wasser im Boot stieg nicht mehr. Hielt irgendwer es fest? In Eckarts Hirn schossen tausend mögliche Möglichkeiten herum wie Mäuse in der Falle. Plötzlich rief er:

„Fidi, ich steige aus. Ich muss wissen, was los ist.“

Und mit allem, was er um- und anhatte, flankte er ins Wasser und hangelte sich außenbords entlang, Meter um Meter. Mit Krakenarmen strich er, fühlte er, fischte er am Schiffsleib entlang. Da! War das ein Stein? Ein Eisen? Er fasste danach, den Kopf unter Wasser. Ein hartkantiges, rauscharfes Eisen, aufwärtsragend und spitz, festgerammt in muschelbewachsenem Gestein. Eckart tastete den Rumpf ab, fand Splitter, stechende Splitter, und seine Finger umfuhren ein Loch, wohl zwei Handflächen groß.

Die Alraune hatte sich aufgehängt an einem herausstechenden Fundamentstück. Wird sie hängen bleiben dürfen wie ein Hut am Haken?

Eckart rechnete es sich aus. Nein, wir werden versaufen, der Fidi und ich. Und jammerte lautlos ins Ungewisse hinein. Nur mit Gewalt und Scham drängte er die Tränen der Verzweiflung zurück, die sich in seinen Augen sammeln wollten.

Dann kam er zu sich. Wir haben unser Leben, sagte er sich. Wir müssen es erhalten. Und mit willensfester Stimme erklärte er seinem Bruder: „Fidi, wenn die Alraune abrutscht, geht sie in die Tiefe auf Nimmerwiedersehen. Und wir mit ihr. Bleibt sie aber hängen, kommen wir auch nicht weiter. Wir müssen dem Schicksal vorgreifen.“

„Ich fffriere.“

„Es wird dunkel. Hierbleiben können wir nicht.“

Er blickte dem Kleinen in sein zerknautschtes Gesicht, das gelb war vor Kälte. Ihn schüttelte maßlose Angst. Was hatte er den Eltern versprochen? Hochheilig und in die Hand? Wie ein Hammer pochte diese Frage in seinem Herzen. Würde er ertrinken, wäre er Schuld und Strafe entflohen. Um ihn ging es nicht mehr. Um Fidi aber, um Fidi. Der muss gerettet werden.

Er schlug seinen nassen Arm um ihn, zog ihn fest an sich heran, dass ihrer beider Wangen aneinanderlagen, und flüsterte:

„Fidi! Fidi!“

Da geschah es. Eine heftige Bewegung ließ die Alraune zur Seite überholen. Ihr Schwanken genügte, sie unterwärts aus ihrer Verhakung zu lösen. Sie rutschte einmal - rucks, sie rutschte noch einmal - rucks. Und schwamm für kurze Zeit auf. Der Bug sank ins Wasser, es quirlte, es gurgelte, das kleine Boot füllte sich rasch vollends - der eindringende Wasserstrom kam mit Macht und war nicht aufzuhalten.

Die Alraune sank.

„Fidi!“, schrie Eckart, und seine Stimme überschlug sich. „Jetzt saufen wir ab.“

„Mmmist, Ssörr!“

„Steig aus!“

Ohne Zögern rollte sich der Kleine über Bord. Eckart zurrte schnell noch fest, was hätte forttreiben können. Knoten hier, Knoten da - egal, die Katastrophe war vollkommen.

Dann kam das Ende. Die Wellen schlugen über Deck zusammen. Eckart ließ sich hinausspülen. Der Grund unter ihm gab nach. Flaschen, Konserven, Ballast nasser Wäsche, alles drückte die Alraune hinab, der dunkle Grund sog sie an mit geheimer, unwiderstehlicher Kraft.

Wie sie in die Tiefe sank - ein beinahe feierlicher Akt! Wie die Blasen sprudelnd sprangen, wie der Mast kleiner, kürzer wurde, aufgetrunken. Wie alles endlich wohl Grund gefunden hatte und sich leicht auf die Seite legte, wie das Fähnchen am Mast eine Handbreit über den Wellen flatternd stehen blieb und nicht mitversank, als wollte es ein Grabmal markieren. Wie die Wellen weiterspülten, grausam gleichgültig. Wie durch die Brückenstreben der Mond zusah und schwieg und nichts zu allem sagte und nur sein kahles, fahles Licht über alles warf ...

Eckart vermochte weder zu heulen noch zu atmen. Hierbleiben wollte er, mitversinken. Aus - hier, nirgends woanders.

Da rief es neben ihm: „Was machen wir jetzt? Schwimmimmen wir los?“

Gott sei Dank, da war noch eine Stimme, eine lebendige Stimme.

„Haben wir jetzt Schiffbruch?“ Fidi kämpfte mit schlabbernden Wellen, schluckte Wasser und prustete.

„Ja, wir haben Schiffbruch. Hundertprozentig.“

„Wwwievieliel?“

„Hundert.“

„Oooch, so viel.“

„Da hinten ist Land. Schwimm dahin.“

„Ich sehe nur Schilf.“

„Zeig, was du kannst, Fidi, sei ein Mann!“

„Mmmach ich dddoch.“

Jetzt begann für die beiden ein Kampf um Tod oder Überleben. Ein Kampf gegen Wellen, ein Kampf gegen Wasserkühle, ein Kampf gegen Erschlaffung und Mutlosigkeit und gegen Angst, Angst, Angst. Und was wird sein, wenn sie das Land wirklich erreichen sollten?

Darüber war der Tag nun gänzlich versunken. Nacht legte sich über die Welt, das Himmelslicht war aufgebraucht, nur der Mond mit halber Backe lugte durchs Geländer, als hätte er sich in den Brückenstreben verhakt, und die alte Brücke gähnte hexenhaft mit fürchterlichem, offenem Maul und schwieg. Schon spürte Fidibus die Schwere seiner Arme. Kleider und Schwimmweste hemmten seine Bewegungen. Lange darf es nun wirklich nicht mehr dauern. Dann wird er den Kopf sacht zur Seite legen ...

Und der Weg zum Ufer war noch weit, weit. Ufer? Sie sahen nichts als Schilf, undurchdringliches Schilf, ewig wogendes Schilf.

2. Kapitel

Seit Jahren beendete Erika, die Postfrau, ihre tägliche Runde am Leuchtturm, oben, am Hochufer, von wo aus sie in die Gegend gucken konnte. Das tat sie stets um die gleiche Zeit, mittags, wenn sie Wohnungen und Postkästen abgefahren hatte. Hier oben stellte sie ihr Fahrrad gegen den Turm, immer an die gleiche Stelle, und machte erst einmal Rast. Ein richtiges Loch hatte die Lenkstange in den Mauerputz gekratzt. Dort oben dann, als wüsste sie nichts Besseres, stemmte sie ihre kräftigen Hände in die Seiten und sagte, was sie immer sagte:

„So, das wär’s für heute. Nun noch runter zu Ohms.“

Erika war die unersetzliche amtliche Postfrau von Karnin und Umgebung, und das seit vielen Jahren. Jedem, man könnte sagen, vom Säugling bis zum Greis, war sie bekannt. Und wer sie noch nicht kannte, der lernte sie eben kennen. Sie trug eine Uniformjacke mit Kragensternen, sie beförderte auf postgelbem Riesengepäckständer auf postgelbem Rad eine postgelbe Ledertasche von Haus zu Haus. Und wäre sie nicht schon durch dies hinreichend erkennbar gewesen, dann durch ihr grenzenloses Wissen über die Familien Hinz und Kunz, Piep und Papp und deren Wohlbefinden. Und was es auch alles in den Dörfern hin und her zu erfahren gab, Erika wusste es bereits, bevor es überhaupt geschehen war. Und sollte sie wirklich etwas nicht bis ins Kleinste ausklamüsert haben, dann fragte sie den Leuten ein Loch in den Bauch, bis sie über das Wer und Wie und Wann und Was Klarheit hatte. Neugier? I bewahre, nicht Neugier. Aber sie wollte gern alles wissen. Wer wollte ihr das verwehren? Und hatte das nicht auch sein Gutes? Schwenkte sie doch neulich ein Kärtlein durch die Luft mit bunten Fotos aus Bobbin und rief über die Zäune hinweg:

„Frau Sell, Frau Sell, du bekommst Besuch aus irgend so ’nem Dorf ... Kuchen hab ich schon mitgebracht.“

Das war Erika. Es gab im ganzen Dorf wohl keinen, der sie nicht herzlich liebte, auch wenn sie bei Zankereien, wie sie unter Menschen üblich sind, mit ihrer barschen, angeheiserten Stimme dazwischenfuhr und Ordnung schaffte. Streit glättete sie mit Güte oder mit entwaffnendem Humor. Zwist trug sie nicht nach auf die Dauer. Und Klatsch? Na ja, nur, wenn er niemandem schadete.

Nun, Erika hatte ihr Rad an den Leuchtturm geschoben, wie gesagt, immer an die gleiche Stelle des Turms, den sie ihren Turm nannte. Verwahrte sie doch höchstpersönlich den letzten noch vorhandenen Schlüssel zur eisernen Eingangstür, einen Schlüssel, nach dem so gut wie niemals mehr gefragt wurde. Seitdem der Leuchtturm für die Schifffahrt seine Bedeutung verloren hatte, stand der dicke, alte Daumen gelangweilt in der Weltgeschichte herum, ließ sich gelegentlich mit Sturmwarnungszeichen behängen, sonst aber bot er sich Hunden und Kindern zu Diensten, wenn es sie drängte. Um so mehr also blieb es ihr Turm. Der Schlüssel hatte seinen Platz am Kleiderriegel in Erikas engem Hausflur gefunden. Sie hatte ihn vor Jahren mit einem dicken Holzschild versehen und auf das Holzschild mit verlaufender Tinte geschrieben: TURM. Und nun hing er am Kleiderhaken und verträumte sein nichtsnutziges Dasein.

War das Wetter sommerlich schön wie heute, verweilte Erika gern noch ein bisschen länger. Dann ging ihr Blick über die Weite der Landschaft, an der sie sich immer wieder erfreuen konnte wie am ersten Tag, obwohl sie sich täglich darin übte. Da war das Haff, über dessen Spiegel wunderbar wechselnde Farben huschten, grau, silbern, neblig. Da war ihre kleine spitztürmige Kirche von Mönchow, über deren Dach die Dohlen im Herbst ihre Tänze tanzten und die sie mit ihrer Tochter hin und wieder aufzusuchen pflegte. Da war die zerbrochene Brücke, durch deren aufgerissenes Maul Schleppzüge gingen oder Segler, auch mal das weiße Fahrgastschiff von Ueckermünde her. Und unter ihr, sozusagen zu ihren Füßen, im Schatten dichter Bäume verborgen, Ohms Gasthaus.

Erika sog den Duft der großblütigen Sommerlinde ein, tief, ganz tief:

„Als wenn man ihn trinken kann - aaah!“, sagte sie zu sich selbst. „Das gibt Honig! Da wird sich Bienenwilli freuen, der Gute.“

Nachdem sie auf diese Weise ihre Welt durchbuchstabiert hatte, setzte sie sich aufs Rad und ließ sich den Schotterweg hinunterrollen. Das Schutzblech klapperte entsetzlich, die Kette schlug ans Blech, der Rücktritt quarrte und schrie, und jeder, der es hörte, wusste es: Die Post ist da. Wozu noch Posthorn oder Bimmel? Erika mit ihrem Feuerstuhl war Posthorn und Bimmel zugleich.

Der Abschnittsbevollmächtigte der Polizei, im Dorf unter dem Namen Walter bekannt, hatte wegen dieses Ungeheuers schon so manches Theater mit ihr aufgeführt:

„Erika, wenn ich dich mit deiner Karre seh, wird mir schlecht. Sag deiner Behörde, sie soll dieses Monstrum endlich abschaffen. Sonst seh ich mich gezwungen, es aus dem Verkehr zu ziehen oder dich zu verhaften.“

„Kannst du, kannst du“, hatte sie darauf entgegnet. „Verhafte mich nur. Aber dann kriegst du deine Zeitung nicht mehr erstens, und zweitens keine Post, worin stehen tut, wann sie dich endlich pangsionieren wollen.“

Und so blieb alles beim Alten, Erika gondelte weiter auf ihrem Drahtesel, und Walter bekam treu und zuverlässig sein Blättchen durch den Schlitz gesteckt.

Quarrquietsch - kurvte sie über den Vorplatz von Ohms Gasthaus. Der Rücktritt kreischte, die Hühner stoben auseinander und flatterten mit höllischem Spektakel auf die Apfelbäume, der Ganter biss ihr in die Speichen, und die Enten retteten sich unter Ohms eiserne Gartenstühle. Lediglich der tapfere Hahn, der Held des Hofes, trotzte für Sekunden mit unerschütterlichem Kampfesmut dem Unheil, reckte den Hals und schüttelte das Gefieder, bevor auch er mit doppeltem Kratzefuß das Weite suchte. Eine alte Katze, jahrelang an dieses mittägliche Theater gewöhnt, lümmelte sich reglos in der Sonne, hob nur für einen Blitz missbilligend ein Augenlid, um dann weiterzudösen. Eher hätte sie sich überrollen lassen, als auch nur einen Millimeter zu weichen. Doch jetzt husch kam Peppi, der Hund, wedelte und fiepte und suchte an Erikas Hand seine ihm zustehenden Liebkosungen.

„Na, alter Freund?“, sagte Erika und klopfte ihm die Seite. Seit Jahren hatte sich auch hier keine Veränderung ergeben. Mehr wollte Peppi der Hund gar nicht. Er freute sich, dass sie kam. Danach trollte er sich von dannen.

Erika entnahm ihrer Posttasche die Zeitung des Tages und einen - tatsächlich einen Brief an Ohms von ...? Rasch studierte sie dessen Absender, bevor sie ihn der Ordnung halber zwischen den Zeitungsseiten artig versteckte. In das Gasthaus trat sie ein mit einer Selbstsicherheit, als gehöre sie hierher, als wäre sie hier zu Hause, als sei sie selbst dem lebendigen Hausrat zugeordnet. Auf dem Korridor schlug die Uhr die volle Mittagsstunde döngsöngsöng zwölfmal. Frau Ohm hantierte gerade in der Küche. Für die Stammgäste, zu denen Erika mit ihrer Tochter Katharina zählte, kochte die gute Frau seit Jahren üppig und wohlschmeckend.

„Hallo, Gastwirtschaft!“, rief Erika. „Heute Zeitung und ... und ... War da nicht ein Brief für euch? Ein Brief von ... von ... weiß nicht.“ Sie wendete ihn und las laut: „Aus Halle, sonst nichts an Post.“

Frau Ohm wischte mit dem Arm fallende Haarsträhnen aus der Stirn. In der Küche war es brutig warm.

„Schönes Wetter bringste mit, Erika. Die schaffen das gut mit dem Heu. Leg das Zeugs da man hin.“

Sie pikte in die Kartoffeln, schaltete die Herdplatte kälter und dickte die Soße an. Erika zog sich mit dem Fuß einen Hocker her, setzte sich und stützte die Ellbogen auf die fleischigen Schenkel:

„Gibt’s was Neues?“

„Fragst du mich? Wenn du nichts weißt!“ Mit spitzen Lippen schmeckte sie die Soße ab und sah dabei aus wie ein trinkendes Huhn. Schüttelte den Kopf und ließ eine volle Prise Salz nachwandern.

„Willste Milch?“ Und ohne die Antwort abzuwarten, schob sie ihr ein Glas zu.

„Die hat ja so braune Flecken. Haben deine Kühe Masern?“

„Ist Biestmilch. Magste nicht? Mathilde hat doch gekalbt.“

„Hm, gibt’s nicht alle Tage.“

„Eben.“

Erika trank das Glas in einem Zug leer. „Weißt du, Ohmsche, worüber die Leute reden?“

Frau Ohm pustete über den Löffel und fand die Soße fast gut. „Die Leute sagen, sie hätten gestern Abend ein Segelboot gesehn. Zur Brücke rein und auf der andern Seite nicht wieder raus. Erst war es da, dann war es weg.“

„Muss noch ein klein bisschen Zucker ran.“ Frau Ohm rührte im Topf.

„Gespenstisch“, sagte Erika. „Erst da, dann weg. Glaubst du so was, Erna?“

„Warum nicht?“

„Warum nicht? Fährt ein Schiff auf einer Seite rein, muss es auf der andern rauskommen.“

„Reich mal die Schüssel rüber.“

„Die einen sagen, es war ein kleines, die andern sagen, es war ein großes. Wer hat nun recht?“

„Immer der, der’s gesehn hat. Die andre Schüssel auch. Und den Löffel da.“

„Weißt du, Erna, an jeder Flauserei ist doch immer Federfasselfussel Wahrheit dran. Oder nicht?“

„Red du mir noch von Gespenstern, dann reicht’s. Geh und bring Vatern den Brief. Die Kartoffeln müssen noch kochen.“

„Und ich sag dir: was die Leute auch immer reden, wahr ist was an jedem. Ich kenne mich aus.“

Frau Ohm schwenkte ihre Pötte, zählte die Bestecke zusammen und wischte sich dabei mehrmals übers Gesicht. Erika schob ihr Glas in den Abwasch und begab sich in die Gaststube, in der es so roch, wie es in jedem Landrestaurant riechen muss: nach Stammtisch, nach Plüschsofa, nach kaltem Rauch, abgestandenem Bier und gutem Essen.