Brückenbauer - Ann-Christin Kempfer - E-Book

Brückenbauer E-Book

Ann-Christin Kempfer

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Beschreibung

Er kam vom Himmel. Sie ist der Hölle entflohen. Amerikanischer Fallschirmspringer trifft auf deutsche Flakhelferin. Er wollte nicht in den Krieg. Er wollte nicht nach Deutschland und auf keinen Fall wollte er sich verlieben. Sie hat überlebt. Sie hat ihren Glauben wiedergefunden und nun steht sie vor der Entscheidung ihres Lebens. Major Robert K. Stanton fährt im Sommer 1946 aus Frust durch Berlin. Ohne es zu wollen macht er Bekanntschaft mit Deutschen und entdeckt, dass es auch eine andere Seite gibt. Fasziniert kehrt er immer wieder zu ihnen zurück und muss schließlich feststellen, dass er sein Herz verloren hat. Ein Liebesroman aus der Nachkriegszeit.

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Seitenzahl: 484

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Verlass dich auf den Herrn von ganzem Herzen, und verlass dich nicht auf deinen Verstand, sondern gedenke an ihn in allen deinen Wegen, so wird er dich recht führen.

Sprüche 3, 5+6

Des Menschen Herz erdenkt sich seinen Weg; aber der Herr allein lenkt seinen Schritt.

Sprüche 16, 9

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

Drittes Kapitel

Viertes Kapitel

Fünftes Kapitel

Sechstes Kapitel

Siebtes Kapitel

Achtes Kapitel

Neuntes Kapitel

Zehntes Kapitel

Elftes Kapitel

Zwölftes Kapitel

Nachtrag

Zeittafel

Prolog

Frühjahr 1945

Ihre Kompanien befanden sich endlich auf der anderen Seite des Rheins. Seit einigen Tagen hatten sie keinen Schusswechsel mehr gehabt. Der Waffenstillstand rückte in greifbare Nähe.

„Kaffee?“ fragte Captain Louis Friedman seinen Freund Captain Robert K. Stanton.

„Wer hat ihn gemacht?“

„Ich.“

„Na, dann lass mal probieren.“

Sie hatten sich vor zwei Jahren während der Sanitätsausbildung kennen gelernt. Dann waren sie kurzfristig getrennt worden. Jemand hatte Roberts Akten studiert und erkannt, dass dieser aufgrund seiner Qualifikation die Leitung einer Kompanie übernehmen konnte.

Robert Stanton hatte akzeptiert und sich nach der letzten Prüfung versetzen lassen. Einen ausgebildeten Sanitäter den Rang eines Leutnants zu zu gestehen und ihn dann als Kompanieführer einzusetzen, war ungewöhnlich, wenn auch nicht unmöglich. Im Gegensatz zu den Soldaten, die unter ihm dienen sollten, gestand man ihm die notwendigen strategischen und taktischen Kenntnisse zu.

Das Gros der Kompanie bestand aus Farmern, Taxifahrern, Arbeitern der Chicagoer Schlachthäuser und anderen Berufen der unteren Schichten. Manch einer hatte die Depressionsjahre mit Hilfsjobs hinter sich gebracht, oder stammte aus ebensolch einer Familie, die von der Hand in den Mund gelebt hatte. Keiner dieser Männer war bisher aus seinem Milieu heraus oder war weiter als 100 Meilen von seinem Heimatort weg gewesen. Und dann verschiffte man sie nach Europa, in ein Land, das sie nur von den negativen Schlagzeilen her kannten.

Auch Robert Stanton war noch nie auf dieser Seite des Atlantiks gewesen, aber sein Bild von Europa, insbesondere von Deutschland, wurde nicht nur durch die Zeitungen geprägt. Sein Vater hatte vor dem Krieg im Auftrag seines Arbeitgebers mit einigen europäischen Firmen Geschäfte getätigt. Der Krieg zwang sie nun, die beruflichen Aktionen auf den amerikanischen Kontinent zu beschränken. Trotzdem hatte sein Vater ein differenziertes Bild von diesem Deutschland, das sich so negativ gezeigt hatte, und vermittelte dies seinen drei Kindern.

Und schließlich war da seine Mutter, die es nicht zuließ, dass in der Familie blinder Hass gepredigt wurde.

Irgendwann stieß Friedman zu dem selben Bataillon unter Colonel McCloud, ebenfalls nicht als Sanitäter, sondern als Leutnant. Auch bei ihm hatte jemand näher nachgeforscht. Allerdings war Louis Friedman froh darüber gewesen, endlich aus der Sanitätseinheit wegzukommen, da man ihn ursprünglich als Deutschstämmigen eingestuft hatte und nicht in Fronteinheiten einsetzen wollte.

Im Gegensatz zu Robert Stanton hatte er das Bedürfnis, auf Deutsche zu schießen und diesem „Naziregime“ ein Ende zu bereiten.

Mittlerweile hatten sie keine Probleme mehr mit Schusswunden, sondern vielmehr mit der Versorgung von Kriegsgefangenen. Etwa zwanzig Deutsche hatten sie nun in ihrer Scheune. Ein Großteil von ihnen war verletzt.

Ein deutscher Sanitäter kümmerte sich mit wenigen Mitteln um die Versorgung. Verbandsmaterial und Medizin gingen ihm aus. Er nahm allen Mut zusammen und betrat die Kommandostelle und sprach Captain Friedman in gebrochenen Englisch an. Zu seiner Verwunderung entgegnete Friedman ihm auf Deutsch: „Was wollen Sie?“

Der Deutsche war froh, dass er in seiner Landessprache reden konnte. „Ich habe kein Verbandsmaterial, uns fehlt sauberes Wasser und Medizin.“

Friedman sah seinen Freund an, dieser schien nicht wissen zu wollen, um was es geht, denn er lehnte sich entsprechend an die Kisten im Unterstand an und genoss seinen Kaffee.

Unterdessen hatte sich Robert Stanton den jungen Mann genauer ansehen können. Er mochte gerade so alt wie er sein, doch seine Augen sprachen etwas anderes. Vom Krieg gezeichnet. Wie viele seiner Kameraden hat er sterben gesehen? Auch wenn sie die Schrecken der Lager entdeckt hatten, konnte er diesem Sanitäter nur Mitgefühl entgegen bringen. Was wusste der Mann von den Gräueltaten, die andere seines Volkes getan hatten?

Robert entschloss sich, nicht mehr darüber nachzudenken und gemäß der Direktive den Deutschen in keiner Weise zu nahe zu kommen. Das waren nicht seine Probleme. Diesen Schuldenberg abzubauen, der sich da angehäuft hatte, gehörte nicht zu seinen Aufgaben. Am besten, er dachte nicht mehr darüber nach. Manchmal beneidete er seine Soldaten: Nicht viel denken, nur Befehlen gehorchen und ausführen. Was für ein einfaches Leben! Ohne Verantwortung!

Beide Offiziere wussten aufgrund ihrer Sanitätsausbildung wie wichtig die medizinische Versorgung war. Ihre Sanitäter wurden geradezu mit Proviant verhätschelt und auch die Einheimischen profitierten von ihrem Bestand. Dann hatten sie eins dieser Konzentrationslager entdeckt. Robert Stanton hatte ab da Veränderungen an seinem Freund feststellen können. Sie alle waren geschockt gewesen, aber Friedman nahm es sich zu Herzen. Er fühlte sich persönlich angegriffen.

„Wir haben nichts“, antwortete Friedman auf Deutsch, seine Kaffeetasse zurückstellend.

Der Deutsche ging wieder.

Friedman bedachte Stanton mit einem kurzen Blick, dann verließ er den Unterstand.

Robert Stanton konnte nicht fassen, was er da eben mit anhören musste. „Louis, warte!“ rief er Friedman hinterher.

Sein Freund hielt an. Beide befanden sich mitten auf dem Platz vor dem Haupthaus, in dem ein Teil der Kompanie untergebracht worden war.

„Du kannst ihnen nicht die medizinische Versorgung verweigern.“

„Wir haben nicht genug.“

„Wir haben mehr als wir brauchen. Und wenn, bekommen wir schnell Nachschub.“

„Woher weißt Du, dass es um medizinische Belange ging.“

„Er ist Sanitäter, oder? Wenn Du keine Medizin herausgeben willst, dann wenigstens das Verbandszeug und sauberes Wasser.“

Friedman stutzte. „Woher weißt Du das?“

Robert sah zum Himmel auf und entgegnete ihm: „Ich habe alles verstanden, was Du gesagt hast.“

Friedman war verblüfft. Den letzten Satz hatte Robert Stanton auf Deutsch gesagt.

Seine Verblüffung wich der Wut. „Wie lange kennen wir uns jetzt, Robert? Zwei Jahre?“ führte er das Gespräch auf Deutsch weiter. „Und du verschweigst mir seitdem, dass Du ein verdammter Kraut bist?“

„Ich bin kein Deutscher.“ Er wollte sich diesen Vorwurf nicht gefallen lassen, denn als solchen fasste er ihn auf. Warum nur hatte er etwas gesagt? Dabei war ihm die Antwort klar: Er hätte es nicht mit seinem Gewissen vereinbaren können. Dieses verdammte Verantwortungsgefühl!

„Nein, natürlich nicht, Dir ist nur zufällig diese Sprachbegabung vom Himmel gefallen!“ erwiderte Friedman verärgert.

Einige Meter weiter hatte gerade ihr Vorgesetzter den Kommandostand betreten.

Sein Adjutant wies ihn auf die Captains hin und meinte irritiert: „Ich wusste ja, dass Captain Friedman Deutsch spricht, aber Captain Stanton?“

„Holen Sie uns Silverberg, vielleicht kann er uns das Ganze übersetzen“, befahl Colonel McCloud.

Soldat Silverberg verstand nicht viel von dem, was die beiden Offiziere sich entgegen zu setzen hatten. Er war des Jiddischen mächtig, nicht des Deutschen. Nur bruchstückhaft erkannte er Worte jedoch nicht den Zusammenhang. „Sir, tut mir leid. Ich kann es nicht übersetzen. Meine Großmutter sprach immer nur Jiddisch.“

„Ist gut. Ich werde mir die beiden persönlich vornehmen.“

Seine beiden Captains waren auseinander gegangen, Friedman mit einem wütenden Gesichtsausdruck.

Colonel McCloud winkte Robert Stanton zu sich und ließ sich von ihm seine Version der Ursache für diesen Disput erzählen. Robert versuchte Louis´ Handlungsweise zu erklären und ihn in Schutz zu nehmen. Doch McCloud hatte ebenfalls das veränderte Verhalten Friedmans bemerkt und dachte sich seinen Teil.

Als er zu einer späteren Zeit mit Friedman gesprochen hatte, bestellte er die beiden Offiziere zu sich: „Ich hatte nicht damit gerechnet, dass die Hälfte meines Offizierstabes deutscher Herkunft ist.“

„Mit Verlaub, Sir, ich bin Jude. Amerikanischer Jude.“

„Ihren Sprachen zu urteilen mit deutschen Wurzeln. Meine Herren, ich sehe es ungern, dass meine Einheit unterwandert wird. Es ist praktisch, wenn man bedenkt, dass wir mehr Kriegsgefangene machen als wir uns erträumt haben, trotzdem scheint mir dieses Ungleichgewicht an Fähigkeiten gegenüber anderen Kompanien nicht gerecht. Ich werde darum einen von Ihnen versetzen müssen.“ Das sollte zumindest den beiden als offizielle Begründung reichen. „Captain Friedman Sie bleiben, wo sie sind. Major, …“

Robert Stanton zuckte auf.

„Ja, Major Stanton. Ihre Beförderung kam gerade durch. Hätten Sie uns Ihre Kenntnisse nicht verheimlicht, hätten Sie viel früher die Front verlassen können. Ich versetze Sie zu einer Einheit, in der Ihre Deutschkenntnisse und vor allem Ihre organisatorischen Fähigkeiten benötigt werden. Kurz gesagt. Sie werden in Zukunft Verwaltungsstrukturen aufbauen. Friedman von Ihnen erwarte ich die Einhaltung der Genfer Konventionen. Sie müssen die Deutschen nicht lieben und nicht respektieren, aber verhalten Sie sich bitte nicht so, wie sie es getan haben, damit begeben Sie sich auf die gleiche Stufe.“

Louis Friedman bedachte Robert Stanton mit einem finsteren Blick, als würde er sagen wollen: „Verräter!“

Als er seine beiden Untergebenen entlassen hatte, gönnte Colonel McCloud sich einen Kaffee, den ihm sein Adjutant gebracht hatte, und lehnte sich an die Frachtkisten im Unterstand.

Dass Friedman und Stanton ihre Differenzen nicht mehr beseitigen konnten, machte ihm Sorgen. Obwohl er sich über Stantons Geheimniskrämerei geärgert hatte, verstand er ihn. Die Deutschen waren die Feinde, warum sollte er sich freiwillig als solcher zu erkennen geben? Der Mann hatte einiges riskiert, als er plötzlich Deutsch gesprochen hatte. Ein Ergebnis war der Bruch mit Friedman. Stanton hatte sich für Friedman eingesetzt, doch Friedman war zu verbittert gewesen, um Stanton entgegen zu kommen. Sorgen machte er sich um beide Männer gleichermaßen: Es war nicht gut, seinen Hass auf ein ganzes Volk abzuwälzen, dabei kam nichts Gutes heraus; und genauso schlimm schien es, sich nicht seiner eigenen Vergangenheit zu stellen. Wie sollte man da für die Zukunft gewappnet sein, wenn man mit Altem zu kämpfen hatte?

Selbst als Robert Stanton seine wenigen Sachen zusammen packte, war das Verhältnis nicht bereinigt.

Jetzt hatte Robert das Gefühl, das er immer befürchtet hatte: Allein unter Freunden, die ihn als Feind betrachteten, in einem Land, dem er nichts abgewinnen konnte.

Oh Herr, was willst Du von mir? Lass mich schnell nach Hause!

Erstes Kapitel

Sommer 1946

Berlin war ein einziger Trümmerhaufen und es ekelte ihn an, wie sich alle hier verhielten: die Deutschen, die Briten, die Franzosen und die Russen.

Mit den Briten hatte er zwar keinen Ärger, aber es schwirrten Ideen einer gemeinsamen Zone in der Luft und er hoffte, dass die jeweiligen Vertreter, sich endlich einigen würden. Dann wäre es einfacher, die lebenswichtigen Güter zwischen den einzelnen Zonen und nach Berlin in die jeweiligen Sektoren der Westalliierten zu transportieren.

Berlin lag mitten in der sowjetischen Besatzungszone. Um also die eigenen Streitkräfte versorgen zu können, mussten sie durch fremdes Gebiet fahren. Es gab die Interzonenautobahn, den Zug z.B. über die Strecke Helmstedt–Magdeburg– Berlin, die Schifffahrtsverbindung über die Havel oder per Flugzeug durch einen der drei Luftkorridore.

Allein in der Luft hatten sie Ruhe vor der Bürokratie mit den sowjetischen Stellen. Es mussten keine gesonderten Vereinbarungen festgelegt werden, während sie per Zug und auf der Autobahn ständig mit Kontrollen rechnen mussten.

Selbst über seine Landsleute hatte Robert kein gutes Bild mehr: Im Bezirk Zehlendorf hatte man die deutschen Bewohner vor einem Jahr aus einem ganzen Block hinaus geworfen und das gesamte Gelände eingezäunt, nur damit die amerikanischen Besatzer es gemütlich hatten.

Gab es auch positive Entwicklungen?

Anfang des Jahres hatte es Gemeindewahlen in der amerikanischen Zone gegeben, demnächst würden es die Briten, Franzosen und Sowjets ihnen gleich tun. Die verfassungsgebenden Landesversammlungen waren gewählt worden. Politisch schien sich einiges zu stabilisieren. Wie würde es mit diesem Land weitergehen?

Im März hatten sie einen ersten Industrieplan für Deutschland entwickelt und im Mai die Reparationslieferungen an die Sowjetunion eingestellt, denn man konnte das Land nicht auf der einen Seite aufbauen, wenn gleichzeitig an der anderen demontiert wurde. Die Franzosen wollten aus Deutschland am liebsten einen Agrarstaat machen. Wenn er sah, was alles zerstört war, konnte er es nachvollziehen.

Wie würde es in der amerikanischen Zone aussehen? Besser als im amerikanischen Sektor Berlins?

Er kannte die Frachten, die sie jeden Tag nach Deutschland und speziell nach Berlin brachten, sogar bringen mussten, damit die Bevölkerung nicht verhungerte. Er hatte die Kinder gesehen, die in die Schule gingen, um einmal am Tag etwas zu essen zu bekommen. Auch wenn es nur eine magere Suppe ohne Fleisch war. Er wusste, warum der Schwarzmarkt blühte und warum die Kohlewagen voll losfuhren, aber mit erheblich weniger Fracht am Zielort eintrafen.

Manchmal konnte er nicht glauben, dass in dieser Trümmerwüste Berlins Menschen lebten, aber die Statistiken sprachen von zwei Millionen Menschen; zwei Millionen, die durch diese Transporte und die Berlin umgebende Landwirtschaft versorgt werden mussten.

Er war durch Berlin gefahren, um sich abzureagieren, und auch, weil er hoffte, dass er nach dem ein oder anderen Schutthaufen einen vollständig erhaltenen Straßenzug entdecken würde. Es war sinnlos.

Vor Durst hielt er nach der ersten Kneipe Ausschau. Dass es ausgerechnet eine deutsche sein würde, war nicht zu verhindern. Vielleicht sollte er seinen Vorgesetzten fragen, ob man nicht über die ganze Stadt verteilt, Offiziersmessen einrichten könnte. Aber das wäre auch keine Lösung, um hier ein Stück Zivilisation hinein zu bringen.

Hinter der Theke der Gaststätte stand ein junger Mann in einer alten deutschen, ausgebleichten Uniform ohne Abzeichen und mit zwei fehlenden Knöpfen. Es war anscheinend unmöglich, den Deutschen das Anziehen dieser alten Uniformen abzugewöhnen.

„Eine Limonade bitte!“ bestellte er auf Amerikanisch.

Der junge Mann schaute ihn erstaunt an. Seine hell-blauen Augen faszinierten ihn. Hätte er nicht so ein verschmutztes Gesicht, er wäre ein hübscher Bursche.

„Eine Limonade bitte!“ wiederholte er langsam, in der Hoffnung, der Junge hätte nun sein Amerikanisch besser verstanden. Ihm war klar, dass viele Deutsche, trotz seines Ostküsten-Amerikanisch, obwohl es dem Britisch-Englisch ähnlich klang, Probleme hatten. Aber er hatte nicht vor, mit den Deutschen in ihrer Sprache zu reden. Er wollte Distanz wahren, seine Dienstzeit ordentlich hinter sich bringen und dann nach Hause, nach Amerika, zurückkehren. Dieses Land deprimierte ihn zu sehr.

Diesmal nickte der Junge und stellte ihm zugleich sein gewünschtes Getränk vor ihn hin. Robert nahm die Flasche in die Hand und drehte sich zur kleinen Kapelle um. Ein Klavierspieler, ein Saxofonist und ein Bass spielten Swing. Auf der kleinen Tanzfläche schmiegten sich die deutschen Fräuleins an die überwiegend amerikanischen GI´s. Offiziere gab es nur wenige. Er fühlte sich als ein seltenes Exemplar.

Er blieb an der Theke und beobachtete das Treiben, als eine junge Kellnerin neben ihn trat, ihn kurz mit „Major“ und einem aufgezwungenen Lächeln grüßte und sich dann an den Jungen wandte, der ihm die Limo gegeben hatte: „Der ist stockbesoffen, will aber noch ein Bier. Und mein Hintern ist auch wieder zehnmal abgeklatscht worden.“

„Ich dachte, Du zählst das nicht mehr.“

„Irgendwie werde ich mir jedes Mal bewusst, wenn ich belästigt werde.“

„Du solltest den Lippenstift ablegen und andere Schuhe anziehen.“

„Ja klar, und am besten im Tarnanzug servieren. Nein danke. Apropos Tarnanzug, wann kommst Du aus der Uniform heraus?“

„Wenn ich einen Anzug habe.“

„Andere Klamotten hast Du wohl nicht mehr?“ Es war keine Frage.

„Doch, aber nicht für diese Arbeit hier.“

„Na wenigstens lässt Du Dir die Haare wachsen.“

„Es bleibt mir nichts anderes übrig, denn die letzte Schere haben wir auf der Flucht verloren.“

„Hoffentlich rede ich bald wieder mit Trude und nicht mit Gerd.“

Die Kellnerin verschwand, dafür tauchte eine Frau in den Vierzigern an der Bar auf. „Wo ist Hanni?“

Der Junge deutete auf den Tisch, an dem besagte Hanni gerade das Bier stellte.

Die Frau winkte die Kellnerin zu sich: „Hanni, hast Du noch etwas von dem Penicillin?“

„Trude hat es letztens versteckt. Gerd,“ sie betonte den Namen extra. „Wärst Du so freundlich?“ Hanni funkelte den Jungen finster an.

Gerd verschwand kurz.

„Wen hat es jetzt erwischt?“

„Die Lore.“

„Ich habe ihr gesagt, sie soll sich von dem Russen fern halten.“

„Das wollte sie.“

Die Frau und Hanni tauschten schweigend Blicke aus.

Gerd tauchte mit dem Penicillin auf und als die Frau damit verschwand, informierte Hanni ihn über den Grund: „Lore wurde von einem Russen …“

Gerd registrierte dies ohne die Miene zu verziehen, aber in Hanni arbeitete es.

„Geschieht ihr ganz recht.“

„Hanni“, rief Gerd aus. „Sie kann nichts dafür.“

„Sie lief doch entsprechend herum und er hat sie deshalb angemacht.“

„Na klar. Und was ist mit Dir? Dich haben sie erwischt, obwohl Du total verstaubt warst.“

„Woher willst Du das wissen? Du warst doch nicht dabei.“

„Aber ich weiß, wie ihr alle herumgelaufen seid.“

„Du hast gut reden. Du warst nicht hier.“ Hanni drehte sich um und verließ die Theke.

„Ganz recht, aber in manchen Situationen wie diese habe ich den Eindruck, Du wünschst es Dir“, erwiderte Gerd, doch Hanni war bereits außer Hörweite.

Robert war mit dem Jungen wieder allein an der Bar. „Ich hätte gerne noch eine Limo, bitte!“

Der Junge schaute ihn irritiert an.

„Eine Limo, bitte!“

„Gerne.“ Diesmal antwortete Gerd auf Deutsch, dann schien er zu überlegen und sprach ihn interessiert auf Englisch an: „Was halten Sie davon? Würden Sie das Mädchen verurteilen?“

„Nein, eher den russischen Soldaten“, antwortete der Major und der Junge begann zu grinsen.

„Sie sind nicht gerade geschickt mit ihrem Sprachwechsel. Vielleicht sollten sie sich nur auf eine konzentrieren, Major“, setzte der Junge hinzu.

Verwirrt schaute er Gerd an, dann grinsend: „Bist ein schlaues Bürschchen. Wann habe ich mich verraten?“

„Sie haben ihre zweite Limonade auf Deutsch bestellt. Haben Sie auch einen Namen, Major?“

„Stanton, Robert Stanton.“ Er deutete auf den Schriftzug an seiner Uniform, die verdeckt gewesen war.

„Das klingt nicht nach Emigrant.“

„Ich bin auch keiner.“

„Wo haben Sie so gut Deutsch gelernt?“

„Meine Mutter war Deutsche.“

Hanni kam vorbei und holte weitere Getränke für die Gäste. Sie unterbrachen ihr Gespräch und Gerd fing erst wieder an, als die Freundin außer Hörweite war. „Warum trinken Sie nicht, Major?“

„Nun, ich habe keinen Grund dazu.“

„Aber ein Laster haben Sie, oder?“

„Was ist denn für Dich ein Laster?“

„Nun die meisten hier kommen wegen dem Alkohol und den Mädchen. Sie trinken, wie es scheint keinen Alkohol, also wird es wohl wegen einer Frau sein.“

„Nein, wegen einer Frau ist es nicht.“

„Dann sind Sie einer von denen, die ich weniger verstehen kann.“ Der Junge hatte ihn ernst angeschaut, nun hellte sich sein Gesicht auf: „Langsam werden Sie mir sympathisch, Major.“

„Ich bin wohl keine Konkurrenz für Dich. Eins dieser Mädchen scheint wohl Deine Freundin zu sein.“

„Ja und Nein.“

Robert schaute irritiert.

„Wir sind eng befreundet, aber wenn sie etwas von ihr wollten, kämen Sie mir nicht in die Quere, höchstens jemand anderem.“

„Ich habe nicht vor, mich irgendeinem in den Weg zu stellen. Ich bin nur hier, um meinen Durst zu löschen“, erklärte Robert Stanton seinen Grund. Damit wollte er das Gespräch beenden, als seine Neugierde überwog „Was meinst Du denn, warum die GI´s hier herkommen?“

„Sie haben keinen Grund nicht zu trinken.“

Robert Stanton wurde hellhörig, während der Junge fortfuhr: „Sie Major, haben mir gesagt, sie trinken nicht ohne einen besonderen Grund, ihre Soldaten haben keinen aufzuhören. Aus welchem Grund sollen sie nicht trinken? Morgen gehen Sie nicht in die Schlacht. Sie treten nicht ihren Dienst an. Sie haben nur den Kampf gegen die Langeweile.“

„Du verurteilst sie nicht?“

„Verurteilen Sie die Mädchen, die sich an Ihre Soldaten heran schmeißen?“

„Ich versuche es nicht zu tun.“

„Aber Sie verurteilen uns Deutsche?“

Robert Stanton schaute den Jungen erstaunt an. „Woher willst Du das wissen?“

„Ihr Gesichtsausdruck, Major.“

„Was ist damit?“

„Er drückt Verachtung aus. Darüber hinaus: Sie sind sehr schweigsam und reden mit keinem.“

„Außer mit Dir, wolltest Du wohl sagen.“

„Ja, außer mit mir. Und das nur, weil Sie sich selbst verraten und ich Sie darauf angesprochen habe.“

„Ich muss Dir Recht geben. Gesprächig bin ich nicht. - Auf Dich, mein Junge.“

Er nahm einen tiefen Schluck und schaute eine Weile den Soldaten und ihren Mädchen zu und wollte sich dann wieder dem Jungen zuwenden. Doch dieser war nicht mehr da.

Zum zweiten Mal innerhalb dieses Landes war es ihm passiert, dass er sich verriet. Welche Folgen würde es nun für ihn haben?

Robert Stanton ging durch die Hintertür nach draußen und entdeckte den Jungen beim Spülen.

„Solltest Du das nicht in der Küche machen?“

„Das ist die Küche!“ entgegnete der Junge.

Darauf merkte Robert, dass der Junge Recht hatte. Das ganze Gebäude war heil geblieben und nur die Küche war beschädigt worden. Ironie des Schicksals, dachte Robert Stanton, ausgerechnet der wichtigste Teil einer Gaststätte. Laut fragte er: „Dein Akzent ist nicht berlinerisch, woher kommst Du?“

„Sie hören das heraus? Sind Sie sicher, dass Sie kein Emigrierter sind?“

Monatelange hatte er mit Deutschen zu tun gehabt und dabei die verschiedenen Dialekte unterscheiden gelernt. „Ja. Woher kommst Du, wenn nicht aus Berlin?“

„Meine Eltern kommen aus Schlesien.“

„Du nicht?“

„Doch.“

„Einen schlesischen Zungenschlag konnte ich nicht heraus hören.“

„Werden Sie wohl nicht. Ich bin die letzten Jahre an vielen Orten gewesen.“

„Ost- oder Westfront?“

„Kinderlandverschickung, Arbeitseinsatz und Heimatfront. Suchen Sie sich etwas aus.“

Die Kinder wurden aufs Land evakuiert und Jugendliche nicht nur zu Arbeitseinsätzen verpflichtet, sondern in den letzten Kriegstagen an die Front geschickt.

„Meine Eltern haben darüber hinaus Hochdeutsch gesprochen. Schriftsprache, Sie verstehen?.“

Robert glaubte es zu mindestens.

„Wo hast Du gegen uns gekämpft?“

Der Junge schaute ihn erstaunt an.

Robert Stanton hatte ihn weiter in Deutsch gefragt.

„Flak und Panzerabwehr. Und Sie?“

„Ich war unter anderem bei einer Einheit von Fallschirmspringern. Ich bin einer von denen, die Du am liebsten abgeschossen hättest.“

Der Junge starrte ihn an und entgegnete dann: „Vielleicht, vielleicht habe ich mir aber auch gewünscht, dass Sie hier unten ankommen und mit mir eine Limonade trinken.“

Verblüfft schaute Robert den grinsenden Jungen an. „Du bist ein schöner Frechdachs, weißt Du das?“

„Überlebensstrategie!“ Der Junge lächelte, wurde dann aber ernst. „Major, ich habe diesen Krieg nicht begonnen und vor sechs Jahren wusste ich noch nicht, was es bedeutet, wenn man sich im Krieg befindet. Die Propaganda gaukelte uns vor, wir seien Herrenmenschen, die gewinnen würden. Seien Sie ehrlich, Major, sieht das hier nach einem Sieg aus.“ Der Junge deutete auf die Trümmer rings um sie herum.

„Du hättest es gerne gehabt, wenn Deutschland gewonnen hätte.“

„Nein.“ Es war eine klare Antwort, die eine weitere Erklärung erforderte. „Keiner ist gerne Verlierer, aber es sollte auch keiner gewinnen, der sich selbst als Gott aufspielt und Gottes Volk mit den Füssen tritt.“

„Weise Worte. Wie heißt Du eigentlich?“

Der Junge schaute ihn intensiv an und schien zu zögern, aber Robert Stanton war ehrlich daran interessiert.

„Ich meine den Nachnamen, deinen Vornamen kenne ich bereits.“

„Meyer.“

„Also Gerd Meyer. Du scheinst genauso wenig wie ich mit den Erlebnissen fertig zu werden.“

Der Junge schluckte. So eine direkte Aussage, die eine peinliche Stille hätte hervorrufen können, hatte er wohl nicht erwartet.

„Mir haben die Toten, die ich nicht abgeschossen habe, gereicht. Ich habe die Flugzeuge abgeschossen, damit keins dieser verdammten Maschinen Unheil anrichtet, aber wenn sie abstürzten, entfachten sie erneut ein immenses Feuer. Und obendrein wurde ich zum Mörder. Mit den Panzern war es genauso.“

„Du warst im Krieg.“

„Es war nicht mein Krieg. Ich stehe an der Flak, darf mich nicht davonstehlen, sonst werde ich erschossen.“

„Dann hast Du danebengeschossen?“

„Ich habe die Munition besorgt. Schießen tat jemand anderes, doch ich habe mitgeholfen und bin damit zum Mittäter geworden.“

„Du warst doch noch in der Schule, als Hitler an die Macht kam.“

„Soll das eine Entschuldigung dafür sein, dass ich zu jung und zu unbedarft gewesen war? Viele haben die Augen verschlossen vor den Ereignissen um sie herum, ich will mich nicht ausnehmen. Wissen Sie, was das Schlimmste ist? Manchmal habe ich Angst, die Augen zu schließen, weil dann die Bilder vor mir auftauchen. Ist irrsinnig, oder? Ich kann nicht vergessen, dass meine Mitschülerin fliehen musste, weil sie nicht mehr erwünscht war.“

„Und trotzdem hast Du gekämpft?“

„Ja, für ein Land, das meine Heimat ist.“

„Nicht für den Führer?“

„Ich habe auf ihn kein Eid geschworen, wenn Sie das meinen.“

„Du warst in der Hitlerjugend, oder?“

„Nein. Ich musste aber später zum Arbeitseinsatz.“

Robert Stanton fragte sich, wie der Junge in den letzten Kriegstagen in Berlin überleben konnte und fragte ihn.

„Wer sagt, dass ich in Berlin war?“

„Na, deine Anwesenheit hier, kommt doch nicht von ungefähr.“

„Ich war an der Flak und bin dann zurück zu meiner Familie. Meine Mutter, meine Schwester und ich, wir sind vor den Russen geflohen und in einem Dorf außerhalb untergekommen. Ich weiß den Ort nicht mehr, will ihn auch nicht wissen. Da haben wir uns versteckt.“

„Dann hat euch die Front überrollt!“

Der Junge nickte.

„Ihr habt Glück gehabt, Du, deine Mutter und deine Schwester. Du weißt, was sie mit den Frauen machen?“

Der Junge nickte wieder. Er wusste es scheinbar nur zu gut.

„Und warum haben sie dich nicht gefangen genommen?“

„Ich habe doch gesagt, dass ich mich versteckt habe.“

Nun war es an Robert zu nicken. „Entschuldige. – Ja, das hast Du gesagt.“

„Eigentlich sollte ich mich bei Ihnen entschuldigen, Major!“ meinte der Junge.

„Für was?“

„Nun, dafür dass ich auf Ihre Landsleute geschossen habe, dafür dass ich mit zu dem Volk gehöre, das für diesen Krieg verantwortlich ist.“

„Dann müsstest Du jedem Amerikaner, Russen, Briten und Franzosen die Hand geben.“

„Das stimmt. Aber ich würde gerne Ihnen stellvertretend die Hand reichen, denn ich denke, Sie werden die Entschuldigung annehmen.“

Gerd streckte ihm die Hand entgegen und Robert konnte nicht anders als sie anzunehmen. Der klare und ehrliche Gesichtsausdruck wunderte ihn. „Warum ich?“

„Sie sind hier der erste Amerikaner, der von sich auf uns Deutschen zugeht.“

„Das stimmt nicht. Du hast mich vorhin angesprochen.“

Der Junge grinste. „Sie haben ihre Limo auf Deutsch bestellt.“

„Das war ein Versehen.“

„Major, das denke ich nicht. Sie haben für uns Deutsche mehr übrig, als Sie zugeben wollen. Schließlich sprechen Sie seit einer Viertelstunde mit mir nur Deutsch.“

„Kannst Du etwa Englisch?“

„A little bit.“

„Nun, Deutsch ist eine schöne Sprache, die Sprache von Dichtern und Denkern.“

„Ja, aber auch die von Richtern und Henkern“, fügte der Junge hinzu.

„Es sollte wieder die Sprache von Dichtern und Denkern werden.“ sinnierte der Major.

„Was sagen Ihre Kollegen dazu dass Sie Deutsch sprechen?“

„Sie wissen nicht, dass ich die Sprache beherrsche und …“, er zögerte, „die meisten, die es wussten, sind in Amerika oder tot.“

„Hoffentlich lassen Sie mich am Leben.“

„Ich habe keinen Grund Dich umzubringen.“

„Wie tröstlich.“

Der Junge grinste und Robert konnte nicht anders, als es zu erwidern.

Am nächsten Abend kam Robert wieder. Seltsamerweise war es nicht schwer, den Weg zu finden. Er entdeckte Gerd draußen auf den Trümmerbergen und setzte sich in dessen Nähe.

„Was machst Du da eigentlich?“

„Ich suche Brennmaterial.“

Gerd kam mit einem dicken Holzbalken auf ihn zu und nahm die Axt in die Hand. Die Holzhackmethode des Jungen war etwas umständlich.

„Du hackst das Holz, als hättest Du Angst davor. Sieh her.“ Er zeigte ihm die richtige Technik. Der Junge probierte es, aber es mangelte ihm wohl an der nötigen Kraft.

„Ich schätze, ihr habt hier früher nicht mit Holz geheizt!“

„Hier nicht, aber in Pommern. Im Urlaub, als es noch keinen Krieg gab.“

„Dann müsstest Du das kennen.“

„Die Arbeit hat mein Vater oder mein Bruder erledigt.“

„Sind sie gefallen?“

„Vielleicht. Sie gelten beide als verschollen.“

„Kann sein, dass ich deinen Vater oder deinen Bruder erschossen habe.“

„Nein, beide waren an der Ostfront.“

„Und wenn ich an der Ostfront gewesen wäre?“

„Waren Sie nicht, Sie sind kein Russe.“

„Nehmen wir an, wenn ich da gewesen wäre, oder dein Vater an der Westfront, was dann?“

„Wahrscheinlich wüsste ich es nicht, ob gerade Sie es gewesen sind.“

„Und wenn?“

Der Junge hielt kurz in seinem Tun inne. „Macht Ihnen dieses Spiel mit der Wahrscheinlichkeit Spaß? Wir haben an der Flak einige Flugzeuge abgeschossen, doch nie tote Piloten gesehen. Haben Sie die Toten gesehen, die sie erschossen haben?“

„Ja. Oft waren es verschwommene Gesichter.“

„Sehen Sie, bei mir hatten sie kein Gesicht, nicht einmal einen Körper. Was wiegt schwerer? Jemanden umzubringen und den Toten anschließend zu sehen oder Maschinen abzuschießen, in denen Menschen drin sind?“

Robert Stanton schaute den Jungen ernsthaft an. Er wusste selbst keine Antwort darauf.

„Du hast aber Tote gesehen.“

Gerd nickte. „Mehr als mir lieb ist.“ Dann hielt er inne. „Wenn Sie unbedingt eine Antwort haben wollen. Ich habe einen zweiten Bruder und der war zuletzt an der Westfront. Vielleicht haben Sie ihn getötet, vielleicht gefangen genommen. Wer weiß? Soll ich Ihnen darum einen Vorwurf machen?“

„Und wenn ich ein Russe wäre?“

Gerd schien zu zögern, dann sagte er fest und mit einem direkten Blick auf Robert und für diesen überraschend. „Major, wenn Sie mir als Russe gegenüber gestanden hätten, ich hätte Sie vermutlich erschossen.“

„Nur, weil ich Amerikaner bin, habe ich also überlebt?“

„Ich weiß nicht, was ich an der Westfront gemacht hätte, fragen Sie meinen Bruder, wenn er zurückkommt.“

In diesem WENN lag all die Hoffnung auf dessen Rückkehr.

Gerd schaute ihn wütend an. „Major, was sollen diese gegenseitigen Beschuldigungen und verdächtigen WENN-Überlegungen? Der Krieg ist vorbei.“

„Das ist richtig. Also sollten wir ihn nicht weiterführen.“ Er prostete Gerd zu und nahm einen großen Schluck aus seiner Limonade.

Gerd kam wieder mit einem Stapel Holzscheite, die er aus den Ruinen geholt hatte, an und legte sie nah an den Herd. „Wollen Sie noch eine Limonade?“

Robert sah auf die leere Flasche. „Ich glaube ja.“

Gerd nahm die Flasche und seinen Geldschein in die Hand und ging in die Kneipe. Es dauerte eine Weile, dann kam nicht Gerd, sondern die Wirtin Bertha mit der Limonade und dem Wechselgeld hinaus und sprach ihn in knappen Englisch an: „Gerd kann zur Zeit nicht. Er wirft gerade einen GI hinaus.“

Robert stand abrupt auf, da er sich sicher war, dass dieser schmal gebaute Junge Hilfe bräuchte. Als er jedoch den Schankraum betrat, war der Soldat von Gerd zum Eingang befördert worden.

„Sorry, Major,“ sagte Gerd zu ihm im Vorbeigehen.

„Wie hast Du das fertig gebracht?“

„Sie meinen mit meiner Statur?“ Der Junge grinste. „Manche brauchen keine Prügel, sondern nur ein wenig Überredungskunst.“

„Und Hanni und Bertha sind nicht fähig dazu?“

„Hanni wäre in der französischen Besatzungszone was die Sprache betrifft besser aufgehoben. Sie ist für die Franzosen zuständig.“

„Und Bertha?“

„Ihre Spezialität sind die Russen.“

„Eine klare Aufgabenverteilung, nur dass Du wohl den Großteil der Gäste übernehmen musst.“

„Es sei denn, sie ändern die Sektorengrenzen.“

Ein anderes Mal erwischte er den Jungen beim Kartoffelschälen. Sie unterhielten sich über deutsche Literatur.

„Sie haben Goethe und Schiller gelesen?“

„Ja, aber das ist lange her. Meine Mutter hat viele deutsche Bücher mit hinüber genommen.“

„Kennen Sie Schillers Bürgschaft?“

Er schaute irritiert.

„Zu Dionysos dem Tyrannen schlich, Damon den Dolch im Gewande.“

„Meine Mutter hat diese beiden Verse oft zitiert, wenn über Hitler etwas in der Zeitung stand. Ich muss gestehen, ich wusste nicht, dass die Zeilen von Schiller stammen. Jemand hätte zu Hitler, dem Tyrannen, schleichen sollen.“

„Vielleicht“, murmelte Gerd. „Statt Dionysos Hitler einfügen? Das würde der Bedeutung der Ballade nicht angemessen sein. Damon schleicht zum Tyrannen, um ihn zu ermorden, der Tyrann gewährt ihm Aufschub, damit Damon seine Schwester ihrem Bräutigam zuführen kann. Sein Freund stellt sich dem Tyrannen als Bürge und stellvertretenden Todeskandidaten. Auf seinem Weg zurück zum Tyrannen hat Damon einige Hindernisse zu überwinden und befürchtet zu spät zu kommen. Man rät ihm davon ab, sich erneut vor den Tyrannen zu begeben, denn der Freund sei bereits des Todes.“

„Und wie geht es aus?“

„Er geht zum Tyrannen und sagt: Hier bin ich für den er gebürgt hat. Dem Tyrannen kommen angesichts dieser Freundschaftsbezeichnung die Tränen und er gewährt ihm Gnade.“

„Du hast Recht, Hitler wäre nicht soweit gegangen, bei ihm starben die Leute am selben Tag.“

„Ja, und er hätte nicht um die Freundschaft seiner Todeskandidaten gebeten.“

Robert Stanton schaute den Jungen irritiert an.

„Die letzten Zeilen finde ich besonders schön“, fuhr der Junge fort. „Ich sei, gewährt mir die Bitte, in Eurem Bunde der Dritte.“

„Es scheint eine schöne Ballade zu sein.“

„Ja, über Freundschaft und Vertrauen.“

Es war nach Mitternacht, die Gäste gegangen und nur Hanni und Gerd weilten mit Bertha noch in der Kneipe. Einige der deutschen Fräuleins hatten amerikanische Soldaten zum nächsten Etablissement begleitet, bei anderen hatte er festgestellt, dass sie nur zum Tanzen in der Kneipe gewesen und verhältnismäßig früh gegangen waren.

Bertha Dohmke stand am Tresen und trocknete die letzten Gläser. Hanni hatte ihrer Tante geholfen, die Stühle hochzustellen. Gerd saß am Klavier, als Robert Stanton von allen unbeobachtet die Kneipe durch die Küche betrat.

Er hatte lange gearbeitet und auf ein angenehmes Gespräch mit Bertha, Hanni oder Gerd gehofft. Interessiert blieb er im Türrahmen stehen und beobachtete das Treiben am Klavier.

„Was spielst Du da immer?“ fragte Hanni, holte sich einen Stuhl und setzte sich dazu.

„Es ist ein Kirchenlied.“

„Kannst Du auch den Text?“

Gerd nickte und sang: Stern auf den ich schaue, Fels auf dem ich steh, Führer, dem ich traue Stab, an dem ich geh.

„Ich glaube, den Teil mit dem Führer solltest Du lieber unterlassen“, meinte Bertha.

„Schade, das Worte durch die Nazis in ihrer Bedeutung verdreht worden sind. Mit Führer ist doch hier Gott gemeint.“

„Dann füg lieber Gott ein, sonst wird man dich einsperren.“

Gerd überlegte und begann dann erneut:

Stern auf den ich schaue,

Fels auf dem ich steh,

Hirte, dem ich traue

Stab, an dem ich geh.

Brot, von dem ich lebe.

Quell, an dem ich ruh,

Ziel, das ich erstrebe,

Alles, Herr bist du.

Ohne dich, wo käme

Kraft und Mut mir her?

Ohne dich, wer nähme

Meine Bürde, wer?

Ohne dich zerstieben

Würden mir im Nu

Glauben, Hoffen, Lieben;

Alles, Herr, bist du.

Drum so will ich wallen

Meinen Pfad dahin

Bis die Glocken schallen

Und daheim ich bin.

Dann mit neuem Klingen

Jauchz ich froh dir zu:

Nichts hab ich zu bringen,

Alles, Herr bist du.

Robert fand das Lied und wie Gerd es gesungen hatte wunderschön. Doch eins irritierte ihn: Musste der Junge nicht vom Stimmbruch her, eine viel tiefere Stimmlage haben.

Bertha Dohmke registrierte ihn, als Gerd nach dem Lied kurz innehielt, eine Weile in Richtung Küche schaute und Robert anstarrte.

Dann wandte sich Robert Stanton abrupt um und verließ die Kneipe.

Wie der Junge ihn angeblickt hatte, konnte er nicht vergessen. Auch das Lied ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er hatte seinen Sinn nicht ganz verstehen können, da er einige Worte nicht kannte, darum fragte er am nächsten Abend Gerd.

„Ich habe Dich gestern spielen gehört. Das Lied kenne ich irgendwoher.“

„Es ist ein altes Kirchenlied.“

„Wie ging die erste Strophe?“

Der Junge wiederholte diese, ohne zu singen und erklärte: „Ich habe das Wort Führer ausgetauscht, da es zu Missverständnissen kommen könnte.“

„Warum hast Du Hirte eingesetzt und nicht Gott?“

„Es geht in der ganzen ersten Strophe um Jesus, Gottes Sohn, und wie er als Fels beständig ist, und als Führer, als Leitfigur uns den Weg weist. Das hat mich an den Psalm 23 erinnert: Der Herr ist mein Hirte, mir wird nichts mangeln. Er weidet mich auf einer grünen Aue und führet mich zum frischen Wasser. - Ich finde das Bild des Hirten drückt es am besten aus.“

„Und wie geht die zweite Strophe?“

Gerd trug auch diese vor.

„Was bedeutet das Wort Bürde?“

„Last. Er nimmt mir meine Sünden von Schultern.“

„Und zerstieben?“

„In Luft auflösen. Zu Staub werden. Sie können es mit sprengen ersetzen. Ohne Jesus verliere ich meinen Glauben, meine Hoffnung und meine Liebe.“

„Das erinnert an den Korintherbrief.“

„Was genau?“

„Da wird über die Liebe geschrieben und am Ende werden gerade diese drei Begriffe herausgestellt: Glaube, Hoffnung, Liebe. Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.“

Der Junge stimmte nickend zu und trug dann die dritte Strophe vor, wobei er einige Begriffe von sich aus erklärte: „Wallen bedeutet gehen oder wandern.“

„Klingen oder schallen bei euch die Glocken, wenn ihr nach Hause kommt?“

„Nein, ich habe mir das auch schon überlegt. Klar gibt es die Hausklingel. Ich denke, es sind eher die Kirchenglocken gemeint, die erklingen, wenn man zum Gottesdienst die Kirche betritt. Es können auch die Trauerglocken sein. Wenn ein Mensch zu Gott geht, bei der Beerdigung, werden hier die Glocken geläutet. Es heißt bis die Glocken schallen. Ich denke, dass das Heimkommen zu Gott gemeint ist. Der Text sagt, dass ich nichts bringe, da der Herr alles ist. – Meine Oma hat einmal zu mir gesagt, das letzte Hemd hat keine Taschen. Ich kann so viel Geld anhäufen, in den Himmel kann ich nichts mitnehmen.“

An den nächsten Abenden, wenn die letzten Gäste gegangen waren und kurz bevor Bertha die Kneipe schloss, sah man Gerd und Hanni am Klavier einige Stücke spielen.

„Wir brauchen Noten“, meinte Gerd. „Ich kann nicht alles improvisieren. Joachim müsste hier sein.“ Gerd schwieg daraufhin und spielte eine klassische Melodie.

„Die kenn ich. Das haben doch die Comedian Harmonists gesungen.“

„Hanni, das ist Dvorak.“

„Nein, das weiß ich genau, das ist eine Melodie von denen. Du, ich glaube, ich habe irgendwo die Noten.“

Gerd spielte einige Minuten weiter, dann unterbrach er. „Wenn Du sie findest, kämen wir weiter. Hanni, ich muss gehen.“

Gerd verabschiedete sich kurz von Major Stanton, der wie jeden Abend die Übungsstunde beobachtet hatte.

Robert Stanton wusste nicht, warum ihn diese Kneipe besonders anzog. Was suchte er in einem Pulk von GI´s, mit denen ihn nicht die gleichen Interessen verbanden? Was suchte er in einer Kneipe der Deutschen?

Er kam seit einigen Wochen fast jeden Abend, beobachtete Hanni, wie sie sich geschickt vor den Nachstellungen der Soldaten schützte, jedoch hin und wieder einen Klaps abbekam. Er unterhielt sich mit Gerd, während er seine Limonade trank.

Allmählich hatte er den Eindruck, dass man ihn zu der kleinen Familie zählte, die aus Bertha, Hanni und Gerd bestand. Diese drei Personen, die akzeptierten, dass er nur mit ihnen Deutsch sprach, schienen die Gaststätte am Leben zu halten.

Hanni setzte sich eines späten Abends zu ihm und sagte: „Major, Sie sind mir der liebste Gast. Sie bestellen jeden Abend zwar kein Bier, dafür zwei oder drei Limonaden und das Beste an Ihnen ist: Sie belästigen einen nicht. Ich wollte mich einmal bei Ihnen dafür bedanken.“

Robert Stanton schaute sie ernst an und erwiderte: „Keine Ursache, Fräulein Hanni.“

„So jetzt muss ich gehen, sonst wird Gerd eifersüchtig.“

„Gehören Sie und Gerd zusammen?“

Sie schaute ihn lächelnd an. „Sie wissen es nicht?“

„Was soll ich wissen?“

Hanni schaute kurz zu Gerd. „Nein wir gehören nicht zusammen. Jedenfalls nicht so wie Sie sich das im Augenblick vorstellen. Wir waren in der gleichen Klasse und sind schon lange befreundet.“

„Was soll ich nicht wissen, Fräulein Hanni?“

Sie schmunzelte ihn an. „Major, das sollen sie von Trude am besten selbst erfahren. Ich finde, sie sollte es Ihnen sagen und endlich Vertrauen haben.“

„Wer ist Trude? Ist das eine von den Mädchen hier?“

„So könnte man es sagen.“

„Hanni, ich habe kein Interesse daran, irgendeinem Mädchen hier zu nahe zu treten oder näher kennen zu lernen.“

„Major, das haben Sie bereits. Sie können die Bekanntschaft nicht rückgängig machen.“

Mit einem Lächeln auf den Lippen verabschiedete sie sich.

„Major.“

„Frau Dohmke.“

Sie beobachteten diesmal zusammen das gemeinsame Spiel von Hanni und Gert, wobei der Junge am Klavier saß und Hanni ein Lied der Comedian Harmonists zum Besten gab.

„Sie mögen Gerd, nicht wahr?“

„Ich bin nicht auf Jungen fixiert, wenn Sie das meinen“, erwiderte er barsch.

Bertha lächelte: „Nein, das meine ich nicht. Und mir ist klar, dass sie lieber Frauen mögen, deswegen mögen Sie Gerd auch so.“

Major Robert Stanton hatte den Eindruck, das die Frauen in Rätseln sprachen. Vielleicht lag es an der Verwandtschaft. Bei den Gesprächen zwischen den Frauen hatte er mit bekommen, dass Hanni die Nichte von Bertha war. Aber diese beiden faszinierten ihn nicht so wie dieser Junge.

Zweites Kapitel

Ein vierzehnjähriges Mädchen schlich sich in die Kneipe. Sie hatte das gleiche blonde Haar wie Gerd und die selben hellblauen Augen.

Deutsche Frauen waren willkommen, Männer wohl nur als Arbeitskräfte. Jedenfalls hatte er selten einen Deutschen entdecken können. Der Junge war also eine Ausnahme. Kaum sah er das Mädchen ergriff Gerd sie und zerrte sie nach hinten in die offene Küche. Der Major hatte die Szene beobachtet und schlich hinterher.

„Du hast hier nichts verloren.“

„Du auch nicht!“

„Ich arbeite hier.“

„Ich will hier auch arbeiten.“

„Aber nicht im Kleid! Das ist Männerarbeit.“

„Als ob Du ein Mann wärst.“

Der Junge schaute auf, sah den Major und dieser meinte eine leichte Röte in seinem Gesicht zu erkennen. „Hau, ab. Verschwinde. Ich will dich hier nicht mehr sehen. Du hast deine Aufgaben zu Hause. Und wisch Dir diese Schminke aus dem Gesicht!“

Tränen kamen dem Jungen in die Augen. Robert Stanton schaute ihn erstaunt an. „Es ist nichts. Habe Zwiebeln geschält.“

„Deine Schwester?“

„Ja.“

„Du hast recht, sie weg zu schicken. Sie hat hier nichts verloren.“

„Ja, aber ich kann sie verstehen. Hier ist es warm, hier ist Musik, hier Lachen die Menschen. Hier kann man den Hunger und das ganze Elend vergessen. Diese Kinder müssen ausbaden, was ihnen ihre Eltern eingebrockt haben.“

Auf einmal erschien ihm der Junge erwachsener als er je gedacht hatte, deshalb fragte er unvermittelt: „Wie alt bist Du eigentlich?“

„Alt genug, um eingezogen zu werden.“

„Ich habe im Krieg Kindersoldaten gesehen. Also wie alt?“

„Neunzehn.“

„Du sprichst wie ein Erwachsener.“

Der Junge schaute ihn direkt an, die Tränen waren weg: „Manche Umstände lassen einen früher reifen, als man möchte. Sie sind durch den Krieg ja auch nicht jünger geworden, oder?“

„Aber Du bist für dein Alter klein. Meine Schwester könnte größer als Du sein.“

„Wachsen Sie mal, wenn Sie nichts zu essen kriegen.“ Gerd stellte sich auf die Zehenspitzen und blickte ihn finster an. Eins konnte man Gerd lassen, er schaute einem in die Augen und hatte nichts von dem fehlenden Selbst- und Schuldbewusstsein, das er sonst bei Deutschen feststellte. Und er machte sich Gedanken. Vielleicht war er darum die letzten Abende wieder gekommen.

„Wann hat man Sie denn eingezogen?“

„Oh, da war ich gerade mit dem Studium fertig, da hat die US-Armee gemeint, ich solle meine Kenntnisse bei Ihnen einsetzen.“

„Dann sind Sie um die dreißig.“

„Nein, ich habe gerade ein Vierteljahrhundert erreicht.“

„Und schon Major?“

„Ich habe genug Kampfeinsätze mitgemacht und es starben hin und wieder einige meiner Vorgesetzten, so dass die oben dachten, mich könnte man auf diesen Posten setzen und mit Eichenlaub verzieren.“

„Sehr passend. Sie kämpfen für Amerika auf deutschem Boden, bringen Deutsche um und werden dann damit belohnt. Sie wissen hoffentlich, dass die Eiche als typisch deutscher Baum gilt.“

„Zyniker.“

„Ach diesen Ausdruck kennen Sie?“

Robert ließ ihm die freche Erwiderung durchgehen.

Es dauerte eine Weile, bis Gerd sich beruhigt hatte, dann fragte er in seinem üblichen freundlichen Ton: „Sie haben vorhin von Ihrer Schwester gesprochen. Ist sie jünger?“

„Ich habe zwei jüngere Schwestern. Die ältere von beiden ist verheiratet.“

„Keine Brüder?“

„Nein. Ich könnte Dich als meinen jüngeren Bruder engagieren.“

„Ich habe zwei ältere Brüder.“

„Und an einem dritten bist Du nicht interessiert?“

„Ich möchte meine beiden Brüder, auch wenn Sie jetzt nicht da sein sollten, nicht vergessen. Das wäre, als würde ich sie beerdigen.“

„Dann nennen wir das eine Adoption auf Zeit. Ich heiße im übrigen Robert.“

Er streckte Gerd die Hand entgegen.

Gerd zögerte und entgegnete fest: „Nein, Major. Lassen wir es so wie es ist. Ihr Bruder werde ich nie sein.“

Etwas in Gerds Augen irritierte ihn. War da eine Träne? Er hielt es für klüger nicht darauf einzugehen.

Am nächsten Abend fragte er trotzdem Gerd nach den zwei Brüdern. „Weißt Du wirklich nichts genaues?“

„Joachim ist seit vierundvierzig an der Ostfront verschollen, von Kurt haben wir zuletzt von der französischen Grenze etwas gehört.“

„Gefangen genommen?“

Der Junge zuckte die Schultern. „Keine Ahnung. Es kam seit Monaten kein Brief.“

„Hat er denn regelmäßig geschrieben?“

„Meine Brüder waren schreibfaul, aber sie haben sich bemüht. Meine Mutter hat die Briefe. Schreiben Sie ihren Eltern?“

„Meinem Vater habe ich von den Veränderungen erzählt.“

„Warum nicht ihrer Mutter? Sie können ihr doch auf Deutsch schreiben?“

„Dann müsste ich ihr von ihrer Heimat erzählen und was aus dieser geworden ist.“

„Und das möchten Sie nicht?“ Es war mehr eine Aussage als eine Frage.

„Von dieser Trümmerlandschaft? Ich schätze, es würde ihr das Herz brechen, wenn sie das hier sehen würde.“

„Schreiben Sie ihr. Es ist besser, wenn Sie ihr von ihrer Heimat erzählen, als wenn sie es aus dem Mund Dritter erfährt. Schreiben Sie ihr, was sie dabei fühlen und denken. Schreiben Sie über ihre Arbeit. Und vor allem schreiben Sie ihr auf Deutsch.“

Robert staunte über Gerd, vor allem als dieser ergänzte: „Ich würde mich freuen, wenn mein Sohn mir über meine Heimat schreiben würde, von der ich mich in jungen Jahren verabschieden musste. Und auch schlechte Nachrichten würden mir etwas bedeuten. Vielleicht möchte Ihre Mutter nicht nur die Freude teilen, sondern auch das Leid.“

„Was bist Du eigentlich? Du bist auf keinen Fall neunzehn Jahre alt.“

„Doch. Neunzehn Jahre.“

„Du hast für dieses Alter wohl viel zu viel gesehen und bist kein Junge mehr.“

„Nein, auch kein Mann, falls Sie das sagen wollen.“

Gerd schaute ihn eindringlich an.

Robert fuhr Gerd betrachtend weiter: „Lass mich mal zusammenfassen: Du rauchst nicht, trinkst nicht und mit Mädchen hattest Du auch bisher keine Erfahrungen.“

„Jedenfalls nicht die, die Sie meinen.“

„In der Hitlerjugend warst Du nicht, aber zum Arbeitseinsatz und an der Front. Erkläre mir bitte diese Logik.“

„Vor der Hitlerjugend und ähnlichen Organisationen konnte ich mich erfolgreich drücken, aber der Arbeitseinsatz war Pflicht und die Front, naja, die Propaganda hatte auch auf mich ihre Wirkung.“

„Du hast an der Flak Munition geschleppt, aber keine Flugzeuge abgeschossen.“

„Nein, aber russische Panzer, die habe ich abgeschossen.“

„Also auch Ostfront und desertiert.“

„Desertiert? Ich weiß nicht, wenn man bedenkt, dass man mich nie offiziell eingezogen hat, sondern ich nur bei der Verteidigung geholfen habe.“

„Keine erfolgreiche Verteidigung.“

„Doch. Hunderte von Flüchtlingen konnten sich retten. Die Russen haben die Front nur so überrollt. Ich bin dann geflüchtet. Wir sind über die Oder gelangt und haben uns wie gesagt zu Hause in einem Dorf außerhalb Berlins versteckt. Dort habe ich meine Mutter und meine Schwester wieder getroffen.“

„Und warum seid ihr nach Berlin?“

„Wir wollten zum einen zu Hanni und ihrer Tante, zum anderen haben uns die Russen im Osten gereicht. Als die Besatzungszonen und die Sektoren endgültig eingerichtet wurden und klar war, das Bertha im amerikanischen Sektor wohnt, sind wir zu ihr geflohen. Außerdem werden meine Brüder, falls sie leben sollten, hierher kommen. Berthas Kneipe ist der Treffpunkt.“

„Ich hoffe sehr, dass Du deine Brüder wieder siehst.“

„Major, beten Sie lieber dafür. Das ist sinnvoller.“

„Woher weißt Du das ich Christ bin?“

„Es gibt nicht viel Auswahl, was Sie sonst sein könnten, wenn Sie eine Limonade einem deutschen Bier vorziehen und mir aus dem Korintherbrief zitieren.“

„Weinkenner?“ Er schaute Gerd mit einer erhobenen Augenbraue an, dann meinte er: „Nein, Du hast recht. Ich bin Baptist. Dein religiöser Hintergrund? Katholisch oder protestantisch?“

„Evangelisch.“ Gerd schien es zu lieben, eine dritte Wahl zu präsentieren.

„Evangelisch?“

„Eigentlich meint das protestantisch.“

„Warst Du deswegen nicht in der Hitlerjugend?“

„Nein, mich hätten sie nicht aufgenommen, und wenn, meine Eltern hatten es uns verboten. Mich haben sie dann zum Reichsarbeitsdienst geschickt, und später habe ich meine Schwester und ihre Gruppe in die Kinderlandverschickung begleitet. Heute bin ich froh, dass meine Eltern so reagiert haben.“

Bisher war Robert nur an den Abenden in der Woche zu der Kneipe gefahren. Eines Sonntags nach dem Gottesdienst zog es ihn, wiederum hin. Er hatte zu Mittag gegessen und fuhr mit seinem Jeep die Trümmer entlang. Und dann ging er auf dem kleinen Pfad durch die Trümmerberge zur Küche der Kneipe.

Auf dem kleinen Vorplatz sah er Hanni, Gerd und dessen Schwester. Das junge Mädchen saß mit halbnassen Haaren auf einem Stuhl und Gerd dahinter mit einer Schere, während Hanni auf einem der großen Trümmersteine Platz genommen hatte.

„Lisa, ich muss Dir einige Zentimeter mehr abschneiden.“

Die Schwester schaute entsetzt.

Robert Stanton trat in den kleinen Kreis und wurde von Hanni und Gerd begrüßt und Lisa vorgestellt.

Die Ähnlichkeit zwischen Gerd und seiner Schwester war frappierend. Auch die Haarfarbe hatte einen ähnlichen Ton. Lisa war ausnehmend hübsch und könnte in einigen Jahren eine äußerst attraktive junge Frau abgeben.

„Lisa, es werden mindestens fünf Zentimeter“, fing Gerd erneut an.

„Muss das sein?“

„Ja.“

„Du hättest viel eher zum Friseur gehen sollen“, stellte Hanni fest.

„Hat Trude Dir nicht erzählt, dass wir keine Schere mehr haben?“ erwiderte Lisa.

„Trude nicht, aber Gerd,“ meinte Hanni und blickte Gerd intensiv an.

„Fünf Zentimeter, das ist zuviel.“

„Sei froh, dass nicht zehn daraus werden.“

„Wer will denn wie ein Junge herumlaufen“, rief Lisa entsetzt aus.

Gerd hörte mit dem Schneiden auf und schaute kurz zu Hanni und Robert.

Und Hanni meinte grinsend: „Manche Jungs laufen ja wie Mädchen herum.“

Gerd beendete die Prozedur.

„Du kannst mal drinnen in den Spiegel schauen.“

„Wie viel hast Du abgeschnitten?“

„Hier.“ Gerd deutete auf die abgeschnittenen Haare in seiner Hand.

Lisas Miene drückte keine Begeisterung aus, aber sie musste sich damit abfinden und ging hinein, um sich das Ergebnis genauer anzusehen.

„Vielleicht rächt sich Lisa und schneidet Dir auch die Haare kurz“, meinte Hanni.

„Wäre das Rache? Ich glaube die Frisur würde Gerd besser stehen. Er sieht wirklich fast wie ein Mädchen aus.“ Robert hatte das ernst gemeint, wunderte sich jedoch über den finsteren Blick, den Gerd Hanni zuwarf.

„Hanni, Du bist keine große Hilfe, weißt Du das?“

„Nein? Ich kann wenigstens ein Geheimnis für mich bewahren.“

„Oh, ich bin ganz Ohr“, sagte Robert belustigt.

„Auf welcher Seite stehst Du eigentlich?“ fragte Gerd Hanni.

„Wen meinst Du denn damit? Trude, Gerd, Major Stanton, Lisa? Wenn Du es so willst auf der Seite Trudes.“

„Die junge Dame würde ich gerne kennen lernen, Fräulein Hanni. Wenn der Name so oft fällt.“

„Wie?“ fragte Gerd. „Du hast doch nicht?“

„Ich? Ich finde, dass ist eindeutig Deine Aufgabe“, entgegnete Hanni und folgte Lisa. Sie wollte den beiden Zurückgebliebenen Gelegenheit zur Aussprache geben.

„Deine Freundin Hanni spricht in letzter Zeit in Rätseln. Sie und sogar ihre Tante, meinen allen Ernstes, ich würde Trude kennen. Ich muss sagen, ich habe die junge Dame noch nie gesehen.“ Robert sah den Schreck in den Augen seines Gegenübers. „Du scheinst dieses Mädchen zu kennen.“

„Sehr gut sogar.“

„Na, vielleicht kannst Du sie mir mal vorstellen, damit Hanni und ihre Tante endlich Ruhe geben.“

„Major, wollen Sie überhaupt etwas mit deutschen Mädchen zu tun haben?“

„Eigentlich nicht, aber in diesem Fall lässt es sich wohl nicht vermeiden, wenn ich mir nicht eine andere Stammkneipe suchen muss.“

„Sie sind ein Musterexemplar an Gentleman: Kein Alkohol, keine Zigaretten, keine Frauen. Es wäre schade, wenn Sie woanders hingehen würden.“

Robert fiel der kleine ironische Unterton in der Stimme des Jungen auf.

„Ich habe meine Prinzipien. Und dazu gehört es auch mit Frauen wie diese Trude es sein könnte, nichts anzufangen.“

„Woher wollen Sie das wissen?“

„Deine Freundin Hanni hatte so etwas erwähnt.“

„Trude gehört nicht dazu“, sagte Gerd mit fester Stimme.

„Dann sollte ich ihr erst recht einmal begegnen.“

„Major, bevor sie wissen, wer Trude ist, sollten sie etwas von ihr erfahren: Manche meinen Lisa und Trude sind sich ähnlich.“

„Meinst Du vom Aussehen oder darüber, dass sie sich nicht gerne die Haare schneiden lässt.“

„Beides, wobei Sie das Letztere wohl entsetzen würde. Sie sieht Lisa wirklich sehr ähnlich“, wiederholte Gerd sich.

„Du ihr übrigens auch. Ich meine, ihr habt die gleichen Gesichtszüge und … auch die gleiche Augenfarbe.“

„Na dann wissen sie wie Trude aussieht. Nur müssen sie sich die Haare kürzer als Lisas … “

Lisa stürmte heraus. Es hatte eine Weile gedauert, bis sie vor Berthas Spiegel treten konnte, da diese zuvor einen kleinen Mittagsschlaf gehalten hatte.

„Von wegen fünf Zentimeter. Du hast eindeutig zuviel abgeschnitten.“

„Sei froh, dass Du kein Jungenhaarschnitt bekommen hast. Außerdem wachsen die Haare nach.“

„Das sieht scheußlich aus.“

„Ich finde sie schön. Oder willst Du mit mir tauschen?“

Lisa schaute Gerd entsetzt an, dann wandte sie sich um.

Hanni sah Lisa gerade durch die Trümmer gehen, als sie herauskam. „Deine Schwester ist eitel“, meinte sie. „Fünf-zehnjährig. Waren wir da auch so schlimm? Welchen Jungen will sie eigentlich beeindrucken?“

Hanni und Gerd schauten sich zuerst gegenseitig, dann zugleich Robert an, der den Wortwechsel verfolgt hatte.

„Bitte verkuppelt mich nicht. Ich bin nicht interessiert. Nicht an Lisa und auch nicht an Trude.“

Hanni blickte Gerd finster an. „Du bist wohl nicht weit gekommen wie?“

Gerd zuckte mit den Schultern. „Ich habe es zu mindestens versucht.“

„Ich sage es noch einmal: Keine Kuppelversuche. Lisa ist im Übrigen viel zu jung für mich.“

„Wenn sie fünf Jahre älter wäre, würden Sie es sich also überlegen?“ fragte Hanni.

„Hanni, ich habe nicht vor zu heiraten.“ Um seine Aussage zu bekräftigen hatte er eine ernste Miene aufgesetzt.

Hanni lächelte weiter: „Keine Sorge, Major, mit Lisa werde ich Sie nicht verkuppeln.“

„Aber?“ hakte er nach.

„Hanni“, mischte sich Gerd ein. „Du kannst den Major nicht einfach mit jedem beliebigen Mädchen verkuppeln.“

„Ist Trude etwa ein beliebiges Mädchen?“

„Jetzt reicht es. Lass das. Nicht jeder Besatzungssoldat hat es auf deutsche Frauen abgesehen und nicht jeder will heiraten. Also lass die Finger davon.“

Gerd war wütend geworden, doch Hanni hatte weiterhin ein Grinsen auf ihren Lippen. „Ich gebe Dir eine Woche, wenn Du es ihm nächsten Sonntag nicht gesagt hast, werde ich es tun. Er hat ein Anrecht darauf.“

Mit diesen Worten und einem kurzen Nicken Gerds als Antwort verließ Hanni die Szenerie.

„Ich sagte vorhin schon, Hanni spricht in letzter Zeit in Rätseln.“

„Für mich nicht. Doch ihre Kuppelversuche kann sie ruhig unterlassen.“

„Mit wem wollte sie Dich denn verkuppeln?“

„Das möchten Sie lieber nicht wissen.“

Trotz der finsteren Miene fragte er weiter: „War es Trude?“

„Nein für Trude hatte sie jemanden anderen vorgesehen.“

„Und das passt Dir nicht?“

Gerd blickte kurz auf: „Nein.“

„Wir sollten den Spieß umdrehen und jemanden für Hanni suchen.“

Gerd grinste unerwartet. „Da brauchen wir nicht lange zu suchen. Ich wüsste jemanden, nur müsste der nach Hause kommen.“

Robert schaute ihn fragend an.

„Meinen Bruder Kurt.“

„Du verzichtest auf Deine Freundin für Deinen Bruder? Respekt.“

„Ich verzichte nicht, Major.“ Gerds blaue Augen trafen seine.

Robert hatte ein komisches Gefühl in seiner Magengrube. Hunger? Es war langsam Zeit in die Kaserne zurück zu kehren. Also machte er sich auf.

Gerd folgte ihm seltsamer weise bis zum Jeep und blieb dann an der Fahrerseite stehen. „Noch eins, Major. Ich habe es Hanni versprochen, aber so ganz schaffe ich es dann nicht. Denken Sie bitte darüber nach, was ich Ihnen jetzt sagen werde. Sie können mich auch Morgen fragen.“

„Das in Rätseln sprechen scheint ansteckend zu sein.“

„Nein, ich habe Hanni nur vor längerer Zeit gebeten, etwas für sich zu behalten. Es geht um Trude.“

„Stimmt ich muss diese junge Dame dringend kennen lernen und ihr sagen, dass ich sie nicht heiraten werde“, grinste Robert, doch Gerd blieb ernst.

„Sie kennen sie bereits.“

Wartete der Junge auf eine Reaktion? Robert Stanton sagte nur: „Hanni erwähnte das, aber ich kann es nicht glauben.“

Tief einatmend äußerte Gerd: „Major, Trudes Haare sind so kurz, dass Sie sie einerseits für einen Jungen, andererseits für einen Jungen mit Mädchenhaarschnitt halten könnten. Das wäre alles.“

Dann ging er um den Jeep herum und verschwand in den Trümmern.

Robert Stanton verfolgte ihn mit den Augen. Welches der Mädchen in der Kneipe hatte einen solchen Haarschnitt, das er sie für einen Jungen halten könnte? Er wusste keine. Und umgekehrt. Welcher Junge sah aus wie ein Mädchen? Da blieb nur Gerd.

Vielleicht klärte sich die Angelegenheit von allein, dachte er, und fuhr los.

Doch die Gedanken ließen sich nicht abschütteln. Er hatte Gerd noch vor Augen. Die Stiefel, die Uniform, die blauen Augen und die Ähnlichkeit mit Lisa. Er mochte Gerd. Mit ihm hatte er sich in letzter Zeit gut unterhalten. Er hatte sich in der Kneipe in seiner und Hannis Anwesenheit sehr wohl gefühlt.

Lisa hatte ihn an seine Schwestern erinnert, aber mit einer Fünfzehnjährigen gab es kaum gemeinsame Themen. Sie schien den Krieg irgendwie unbeschadet überstanden zu haben. So ein Mädchen wünschte er sich, doch für ihn war sie zu jung und zu unreif, wie er fand.

Gerd verhielt sich für einen Jungen eigentümlich. Trotzdem mochte er Gerd und er wollte seine Anwesenheit nicht missen.

Ein junger Mann in einer alten Wehrmachtsuniform fiel ihm am Straßenrand auf. In einer Stunde hätte er Schwierigkeiten wegen der Ausgangssperre.

„Junger Mann, wohin des Weges!“

Der Mann sah überraschend auf. War es, weil er wieder ohne darauf zu achten, Deutsch geredet hatte oder weil der Deutsche unerwartet von einem amerikanischen Offizier angesprochen wurde?

Robert Stanton entdeckte in ihm bekannte Gesichtszüge.

„Nachhause, Major!“

„Warum stehst Du hier herum?“

„Es hat sich vieles verändert. Die Straßenschilder und Häuser fehlen als Orientierung, Sir.“

Er bekam seinen Familiennamen zu hören und einen Straßennamen.

„Damit kann ich nichts anfangen. Hast Du noch eine andere Adresse?“

„Die Tante einer Freundin meiner Schwester besitzt eine Kneipe.“

„Vielleicht steht diese noch. Wie heißt der Inhaber?“

Der ehemalige Wehrmachtssoldat sagte den Namen. Robert war sich nun sicher, wohin dieser Deutsche gehörte. „Steig ein!“

Der Mann zögerte. War das ein Befehl? Er schaute den Offizier einen Augenblick an. Dieser nickte freundlich aber bestimmt. Er gehorchte.

Robert Stanton war sich nun aufgrund der starken Ähnlichkeit mehr als sicher. „Bist Du aus dem Lager geflohen?“

„Nein Major, man hat mich normal entlassen. Möchten Sie die Papiere sehen?“

„Nicht nötig. Ich bin nicht von der Militärpolizei und habe kein Interesse, dich da wieder hinein zu stecken, dann müsste die US-Armee für deine Versorgung aufkommen.“

Sie fuhren eine Weile durch die Trümmer. Der junge Mann saß still neben ihm.

Sie kamen an die Gaststätte.

„Komm mit!“ sagte Robert weiter in Englisch.

Sie gingen über die Trümmer um die Kneipe herum, bis sie zu der überdachten Küche gelangten.

Robert Stanton deutete auf Gerd und sagte: „Dort können sie Dir weiterhelfen.“

Er blieb stehen und sah, wie sich Gerd zu ihnen gedreht und ihre Ankunft mitbekommen hatte.

Der Junge und der junge Mann starrten sich an.

„Kurt?“

„Trude?“

Die Geschwister lagen sich in den Armen.

Der Junge, nein Trude, schaute Robert mit feuchten und dankbaren Augen an.

Irgendwie war Robert K. Stanton erleichtert.

Nicht nur über das Wiedersehen der Geschwister und das Glück für diesen Jungen, nein für dieses Mädchen, sondern hauptsächlich darüber, dass der Junge kein Junge war.