Brüder - J.U. Gowski - E-Book

Brüder E-Book

J.U. Gowski

0,0

Beschreibung

Hat Hauptkommissar S.H. Koslowski seinen Gegner diesmal unterschätzt? Wieder ist er zwischen die Fronten zweier typischer Berliner Gruppierungen mit jeder Menge krimineller Energie geraten und das mit für ihn schmerzhaften Konsequenzen. Die alteingesessene Rockergang ist nicht erfreut über die neuen russischen Geschäftsideen auf ihrem angestammten Gebiet. Und plötzlich mischt auch noch ein Geist aus Koslowskis Vergangenheit mit, dessen Einsatz am Ende alle Pläne durcheinanderbringt. Am Ende zeigt Koslowskis fünfter Fall allen Beteiligten die Grenzen des guten Willens auf.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 266

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch:

Hat Hauptkommissar S.H. Koslowski seinen Gegner diesmal unterschätzt?

Wieder ist er zwischen die Fronten zweier typischer Berliner Gruppierungen mit jeder Menge krimineller Energie geraten und das mit für ihn schmerzhaften Konsequenzen. Die alteingesessene Rockergang ist nicht erfreut über die neuen russischen Geschäftsideen auf ihrem angestammten Gebiet. Und plötzlich mischt auch noch ein Geist aus Koslowskis Vergangenheit mit, dessen Einsatz am Ende alle Pläne durcheinanderbringt.

Am Ende zeigt Koslowskis fünfter Fall allen Beteiligten die Grenzen des guten Willens auf.

Der Autor:

J.U. Gowski, Jahrgang 1962 erschafft mit seinen Protagonisten um den Berliner Chefermittler S.H. Koslowski einen Querschnitt der Berliner Bevölkerung, ihrer Lebensart, ihren Ecken und Kanten. Es ist sein Berlin und die Geschichten so spannend wie die Stadt selbst.

Er ist glücklich verheiratet und hat drei Kinder.

Bisher erschienen in der Reihe:

»4467 Tage oder Der Rache langer Atem« (2016)

»Die Harry Brown Liste« (2017)

»Der König ist tot, lang lebe der König« (2018)

»Whisky Blues« (2019)

Inhaltsverzeichnis

Prolog

13. Mai 1988

20. Mai 1988

Sonntag

1. Kapitel

Montag

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

Dienstag

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

Mittwoch

11. Kapitel

Donnerstag

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

Freitag

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

Samstag

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

Sonntag

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

Montag

27. Kapitel

Dienstag

28. Kapitel

Mittwoch

29. Kapitel

Donnerstag

30. Kapitel

Epilog

Prolog

13. Mai 1988

Nikolai Sinzow hielt kurz inne. Er hatte eine kleine Pause nötig. Der Schweiß lief ihm an Stirn und Nacken hinunter. Er erhob sich von den Knien und streckte sich. Dabei starrte er in den wolkenlosen Himmel. Mit dem Käppi wischte er sich den Schweiß von der Stirn. Er war dankbar für jeden lauen Luftzug, der über seine kurzen blonden Haarstoppeln strich. Sein Blick schweifte über die letzte Rasenkante des Exerzierplatzes, die er mit der kleinen Schere beschneiden musste. Befehl vom Gruppenführer und reine Schikane. Noch fünfzig Meter schätzte er, dann hätte er es geschafft. Seufzend setzte er wieder sein Käppi auf und ging in die Knie. Er wollte gerade weiter schneiden, als plötzlich ein Schatten seine Sicht verdunkelte. Vor seinem Gesicht tauchte ein Paar polierte Stiefel auf. Sinzow konnte sich denken, wem sie gehörten. Er blickte nach oben und sah in das pockennarbige Gesicht von Feldwebel Porowkin. Sinzow stand betont langsam auf und klopfte sich den Staub von den Knien.

»Na, machts Spaß, Sinzow? Scheinst mir der geborene Gärtner zu sein.«

Sinzow schwieg.

»In fünf Minuten bist du umgezogen. Dann meldest du dich im Stab der Militärkommandantur bei Oberst Petrysky.«

Da Sinzow wieder nicht reagierte, bellte Porowkin: »Hast du verstanden, Sinzow?«

Sinzows rechter Mundwinkel zuckte kurz. »Jawohl, Genosse Feldwebel.«

»Ach, immer noch nicht genug?«, fragte Feldwebel Porowkin, dem das Mundzucken nicht entgangen war. Seine kleinen Knopfaugen blitzten wütend. »Wenn du zurückkommst, hab ich eine neue nette Aufgabe für dich, für dich und deinen schwulen Künstlerfreund Mischkin. Wie gefällt dir das?«

Sinzow lächelte. Er hob die gestreckte Hand zum Gruß an die Stirn und rief laut: »Zu Befehl, Genosse Feldwebel.«

»Mach, dass du wegkommst, und zwar im Laufschritt«, knurrte Porowkin finster. Sinzow nahm das Käppi ab und trabte los.

Oberst Anatolji Petrysky, der über seinen Schreibtisch gebeugt auf eine ausgerollte Karte sah, hob seinen kahlrasierten Schädel und blickte kurz auf, als der Gefreite Nikolai Sinzow den Raum betrat, die Hacken zusammenschlug und salutierte. Mit undurchsichtigem Blick musterte er den Gefreiten. Dann sagte er: »Rühren.«

Sinzow nahm den Arm herunter, verlagerte das Gewicht auf das rechte Bein und sah sich kurz um. Der Raum war schmucklos. Der Schreibtisch, hinter dem der Oberst stand, war riesig. Mehr als ein Stuhl war nicht vorhanden. Hinter dem Oberst hing das Porträt von Michael Gorbatschow an der Wand. Es war das einzige Bild im Raum. An der rechten Wand standen zwei breite Aktenschränke.

»Sie können Auto fahren?«, riss der Oberst Sinzow aus seinen Betrachtungen.

Sinzow sah den Oberst verwundert an. »Ähh, ja.«

»Wo haben Sie das gelernt?«

»Bei uns auf der Kolchose. Musste da öfter aushelfen wegen…«, er zögerte kurz, »…wegen Krankheit. Bin eigentlich nur der zweite Mechaniker. Traktoren, Mähdrescher und so.«

»Wegen Krankheit, soso.« Der Oberst nickte verstehend. »Ich kenne Ihren älteren Bruder. Er war ein sehr guter Soldat. Sind Sie auch so ein guter?«

»Ich bemüh mich, Genosse Oberst.«

»Sie bemühen sich? Soso. Wie geht es ihrem Bruder?«

»Er hat geheiratet und wohnt jetzt im Nachbardorf.«

»Grüßen Sie ihn von mir, wenn Sie auf Urlaub sind.«

»Mach ich, Genosse Oberst.«

»Jetzt zu ihrer Anwesenheit. Sie müssen aushelfen.

Hat allerdings andere Gründe als bei euch auf dem Dorf. Also nicht wegen Suff.« Er lachte kurz auf. Seine Augen waren dabei nicht beteiligt. »Mein Fahrer, Gefreiter Sokolew, hatte einen Blinddarmdurchbruch. Die Ärzte wissen nicht, ob er es schaffen wird und wenn doch, ist er auf jeden Fall die nächsten zwei Wochen nicht einsatzbereit.«

Wieder musterte ihn der Oberst mit kalten Augen. »Sie schlafen weiterhin im Mannschaftssaal. Pünktlich nach dem Frühstück, um 8.00 Uhr, melden Sie sich hier und bleiben in Bereitschaft, bis ich Sie entlasse. Was nicht heißt, dass Sie doch auch mal nachts noch mal raus müssen. Haben Sie das verstanden?«

»Jawoll, Genosse Oberst.«

»Gut. Wegtreten.«

»Zu Befehl, Genosse Oberst.« Sinzow schlug die Hacken zusammen und der Arm schnellte wieder nach oben. Sich auf den Hacken drehend, verließ Sinzow den Raum.

Oberst Petrysky kratzte sich zufrieden den kahlrasierten Schädel. Es schien, als hätte ihm Hauptmann Melnyk diesmal den Richtigen empfohlen. Er hatte nicht gewusst, dass er der jüngere Bruder von Oleg Sinzow war. Er erinnerte sich gut an Sinzow. An seine schweigsame Ernsthaftigkeit. Einer, der nicht viel redete, sondern machte. Und ein ausgesprochenes Organisationstalent. Hatte damals einen guten Draht zu den Einheimischen. Wilthener Weinbrand und Thüringer Würste im Tausch gegen Diesel, den die LPGs mit ihren begrenzten Treibstoffkontingenten gut gebrauchen konnten. Er kratzte sich bei der Erinnerung wieder den Schädel. Das alles war schon wieder fünf Jahre her. Er hatte ein gutes Gefühl bei dem Gefreiten. Schien ein guter Junge zu sein. Vielleicht etwas zu weich. Hatte nicht diese Härte wie sein älterer Bruder. Aber was nicht ist, kann ja noch werden. Man sagt ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Es wird schon werden. Dann beugte er sich wieder über die Karte auf seinem Schreibtisch. Es galt, ein Manöver vorzubereiten.

In dem großen Saal standen die hundert schmalen Stahlpritschen in vier Reihen mit einem Meter Abstand. Das fahle Mondlicht schien durch die verstaubten Fenster und tauchte die Gesichter der schlafenden jungen Männer in silbriges Licht. Menschliche Ausdünstungen von Schweiß und Furzen tränkten die stickige Luft. Es war Mitternacht.

»Bist du wach?«, fragte eine Stimme wispernd. Sie gehörte Iwan Mischkin, genannt Wanja, und die Frage richtete sich an seinen Bettnachbarn.

»Ja« , antwortete Nikolai Sinzow ebenso leise.

»Sie haben Aljoscha Sokolew geholt und in den unteren Trakt gesperrt«, flüsterte Mischkin.

»Den Fahrer von Oberst Petrysky, ich denke, der hat Blinddarm?«

»Ja, der Fahrer vom Oberst. Aber von Blinddarm weiß ich nichts.«

»Hmm und weswegen?«, fragte Nikolai.

»Er soll eine Frau aus dem Ort erst vergewaltigt und dann getötet haben.«

»Woher weißt du das?«

»Hab ich heute Vormittag in der Offiziersmesse aufgeschnappt. Beim Geschirr abräumen, bevor ...« Er zögerte.

»Was?«

»Ach nichts, Kolja. Nichts.«

Nikolai Sinzow starrte zur Decke und fragte sich, was seinem Freund passiert war. Seit Iwan Mischkin in der Kompanie angekommen war, wurde er von den anderen drangsaliert. Sinzow drehte sich zu Mischkin um und sagte: »Dann wird es wohl stimmen. Es wäre besser gewesen, wenn er sich den Deutschen gestellt hätte.«

»Warum? Sie hätten ihn doch sowieso ausgeliefert.«

»Vermutlich. Aber es wäre eine kleine Chance gewesen, am Leben zu bleiben, jetzt werden sie ihn vor das Erschießungskommando stellen.«

»Er ist ein Vergewaltiger und Mörder! Er bekommt, was er verdient.«

Sinzow stimmte ihm zu. Und doch fragte er sich, ob es rechtens sei, ob die Schuld schon bewiesen war. Er starrte zu den staubigen Fenstern. Sterne flimmerten am schwarzen Himmel. So schön wie zu Hause in seinem Dorf am Dnjepr war der Himmel hier nicht. Es waren weniger Sterne und sie schienen ihm blasser zu leuchten. Er wusste, dass sie in der Nähe einer sehr großen Stadt stationiert waren, nur kannte er den Namen nicht. Noch nicht. Doch den würde er herausbekommen. Er hatte es schon einmal beobachtet, dass ein Nachthimmel weniger leuchten konnte als bei ihm zu Hause. In Moskau. Da war er 15 Jahre alt gewesen und das erste Mal weg von zu Hause. Auf Besuch bei Verwandten. Es war in den Sommerferien. Er konnte sich gut erinnern. Wie auch nicht. Da hatte er gemerkt, dass er anders war als die anderen Jungen. Es blieb sein Geheimnis, tief in seinem Inneren begraben. Etwas anderes war undenkbar. Er lebte gern in seinem Dorf. Da hatte er Freunde, die Familie, Geborgenheit. Was sollte er allein in einer großen Stadt? Er sah zu Wanja, dessen Gesicht fahl im Mondlicht schimmerte. Jetzt, mit Wanja, war es etwas anderes. Da könnte er sich ein Leben in der Stadt vorstellen, auch wenn es bedeutete, alle Brücken abzubrechen. Er sah wieder zum nächtlichen Himmel mit den wenigen Sternen und er war sich sicher, es war derselbe Himmel. Genau wie in Moskau. Mischkin unterbrach Sinzows Gedanken, als er sagte: »Vielleicht hat er geglaubt, sie erwischen ihn nicht und wenn doch, dass er dann seine Strafe in der Heimat absitzen kann.«

»Als ob Gulag besser wäre.« Nikolai seufzte. »Aber wenigstens hat er dann das hier hinter sich. «

»Aber wir nicht«, erwiderte Wanja und seine Stimme zitterte. Plötzlich fing er an zu schluchzen und tastete nach Nikolais Hand. »Wir werden hier draufgehen.«

»Halte durch. Nur noch ein paar Tage ...« Nikolai drückte fest Wanjas Hand. »...dann habe ich einen Weg gefunden, versprochen. Eine Idee hab ich schon. Hat sich heute Vormittag ergeben. Wir werden hier nicht verrecken.«

»Doch, Nikolai, doch«, schluchzte Wanja. Dann sprudelte es aus ihm heraus. »Sie haben mich in den Spind gesperrt. Ich musste pinkeln. Erst nach vier Stunden haben sie mich wieder rausgelassen. Alles war nass. Ich hab mich so geschämt.«

Nikolais Herz zog sich schmerzlich zusammen. Er konnte Wanjas Verzweiflung körperlich fühlen. Es war ein Stich ins Herz. Er drückte wieder Wanjas Hand und sagte mit fester Stimme: »Nein, werden wir nicht. Wir schaffen es hier raus. Gemeinsam. Du und ich. Und dann beginnt ein neues Leben. Unser Leben!«

20. Mai 1988

»Na Koslowski, sieht schlecht aus für deine Unioner. Wird wieder ein Abstieg für euch. Macht euren Ruf als Fahrstuhlmannschaft alle Ehre.« Der dicke Meier griente Unterwachtmeister S.H. Koslowski siegesgewiss an.

»Blödsinn«, entgegnete Koslowski gleichmütig. »Wenn wir morgen gegen deinen HFC gewinnen und dann am letzten Spieltag gegen Karl-Marx-Stadt, bleiben wir drin.«

»Gegen uns gewinnen? Pahh«, machte Meier und blies dabei die Backen auf. »Träum weiter, ihr steigt ab.«

»Ach scheiße, ganz sicher nicht.«

»Wetten?«

Koslowski ging auf das Angebot nicht ein. Er lächelte Meier spöttisch an. »Wir gewinnen gegen euch und gegen Karl-Marx-Stadt. Und weißt du warum?«

»Nee.«

»Es ist für uns Berliner einfach Pflicht, gegen euch Sachsen zu gewinnen.«

»Wir sind keine Sachsen, wir sind Anhaltiner«, protestierte Meier.

»Komisch, irgendwie habt ihr den gleichen Dialekt.«

»Du hast keine Ahnung, Koslowski. Du bist ein Arsch.«

»Na und? Das ändert nichts daran, dass wir gegen euch gewinnen. Und Frankfurt muss am letzten Tag gegen den BFC ran und wir wissen ja schon jetzt, wie das Spiel ausgeht. Damit steigen Frankfurt und Riesa ab. Hab ich recht, oder hab ich recht?«

Die Trillerpfeife von Hauptwachtmeister Tölke, dem UvD, ertönte laut schrillend und riss sie aus dem Disput. Dann hallte sein gellender Ruf: »Marschbereitschaft herstellen« durch den langen Flur.

»Was soll denn der Scheiß?«, fragte Koslowski und sah auf die Uhr.

Der Spieß stand breitbeinig im Flur und sah mit wohlwollendem Blick, wie Sekunden später die Türen der Unterkünfte aufflogen und die Gruppenführer ihre Untergebenen antrieben. Es dauerte nur wenige Minuten, dann saß die Kompanie auf den bereitgestellten LKWs. Der Kompaniechef, Hauptmann Endter bestieg den Trabant Kübel, der mit laufendem Motor gewartet hatte. Die Motoren der LKWs wurden gestartet. Hauptmann Endter streckte den Arm nach vorn. Der Konvoi setzte sich rollend in Bewegung, verließ die Basdorfer Kaserne und bog zügig links auf die Landstraße.

»Scheint wohl keine Übung zu sein«, stellte einer fest.

»Da wir noch auf dem LKW sitzen, wohl kaum«, erwiderte ein anderer.

»Es sei denn, sie fahren uns in den Wald für einen Nachtmarsch«, entgegnet eine Stimme aus dem hinteren Teil.

»Wohl eher nicht«, entgegnete Koslowski. »Der Spieß hatte keine Stoppuhr in der Hand und wir haben keine Gefechtsklamotten an. Hab noch nie davon gehört, dass Gewaltmärsche ohne die Komplettausrüstung einschließlich Gasmaske durchgeführt wurden.« Er schwieg kurz, dann sagte er: »Und wir fahren Richtung Berlin.«

Die anfängliche Aufgeregtheit legte sich. Man versuchte, den unterbrochenen Schlaf fortzusetzen. Eine Eigenschaft, die sich jeder schnell angewöhnte. Es dauerte keine fünf Minuten, da wogten die Körper der Schlafenden im Rhythmus der Straße hin und her.

»Was meinst du, Sal? Gestern Abend soll es ja etwas stürmisch in Berlin gewesen sein. Vielleicht müssen wir der Feuerwehr bei Räumungsarbeiten helfen.« Der Frager hatte ein sommersprossiges Gesicht und aus einem unerfindlichen Grund den fast immer mürrischen Koslowski zu seinem Freund erkoren.

Koslowski schüttelte den Kopf. »Dazu hätten sie uns nicht mitten in der Nacht mit Alarm aus den Betten geholt. Es ist etwas passiert, wo sie schnell reagieren mussten.«

»Stimmt, es ist etwas ungewöhnlich für eine solche Art Einsatz«, meinte der, der Koslowski mit geschlossenen Augen gegenüber saß. »Ich hoffe nicht, dass wir wieder eine Ansammlung irgendwelcher Leute auseinandertreiben sollen. Darauf hab ich echt kein Bock. Ich meine, so was sollten sie die Berufsbullen machen lassen und nicht uns Wehrpflichtige. Die machen das vermutlich gerne. Wir haben uns die Uniform der Bereitschaftspolizei nicht ausgesucht.«

»Ich glaub kaum, dass es sich um so einen Einsatz handelt. Nach dem Letzten werden die gerne auf uns verzichten, wenn möglich«, erwiderte Koslowski und grinste schief.

Sein Gegenüber öffnete leicht die Augen und lächelte wissend zurück. »Da hast du vermutlich recht.«

Koslowski starrte vor sich hin. Sein Nebenmann stieß ihn wieder an. »Also, an was denkst du?«

»An das schwarze Brett bei uns im Kompanieflur.«

»Warum?«

»Die Meldungen, die da immer angepinnt werden.

Ich hoffe nicht, dass es sich um so etwas handelt.«

Der Nebenmann überlegte. Dann verfinsterte sich sein Gesicht. »Sal, du meinst, von den Sowjets ist wieder einer abgehauen?«

»Ja, vermutlich. Es gibt sonst wenig Gründe, uns nachts hinauszujagen. Es sei denn, es ist ein Manöver oder eine nächtliche Gefechtsübung, auf der man keine entsprechende Ausrüstung braucht. Selbst wenn es so eine komische Übung wäre, hätten wir das vorher gewusst. Wie immer. Also ...«

»Ach du Scheiße. Meinst du wirklich?«

»Ich hoffe nicht. Man sagt ja, die Hoffnung stirbt zuletzt.« Koslowski schwieg kurz. »Der arme Kerl.«

»Warum?«

»Du weißt schon, wie die Russen so etwas regeln? Oder?« Koslowski sah den Frager erstaunt an. »Deswegen wird er sich nicht gefangen nehmen lassen.«

»Du meinst ...«

Koslowski nickte.

»Aber weswegen macht man dann so etwas?«

»Aus Verzweiflung.«

Der sommersprossige junge Mann sah den ein Jahr älteren Koslowski verständnislos an, hoffte auf eine nähere Erklärung. Sie kam nicht. Für Koslowski war alles gesagt.

Den Rest der Fahrt starrten sie schweigend vor sich hin. Schlafen konnten die beiden nicht mehr. Die anderen schon. Immer noch wiegten sich ihre Oberkörper im Rhythmus des schaukelnden LKWs. Koslowski dachte an seine Frau. Sie hatten voriges Jahr im Oktober geheiratet. Im Mai dieses Jahres hatte man ihn dann zur Bereitschaftspolizei eingezogen. Ein verflucht schlechter Zeitpunkt. Er sollte gerade Vater werden. Drei Tage später war er es auch. Das Kind, seine Tochter hat er erst zweimal gesehen. Bei seinem ersten dreitägigen Kurzurlaub nach einem Vierteljahr und dem etwas längeren Urlaub nach einem Dreivierteljahr. Er dachte oft und gern an diese Woche zurück. Jetzt war ein ganzes Jahr rum. Er würde das letzte halbe Jahr auch noch durchstehen. Da war er sich sicher. Und er hoffte, seine Frau mit Tochter auch. Bei vier seiner Kameraden aus der Gruppe hatten sich die Beziehungen schon erledigt. Er hoffte inständig, dass seine Ehe diese sinnlosen 1 1/2 Jahre Wehrdienst überstand.

Gegenwart

Sonntag

1.

Koslowski sah auf die roten Leuchtziffern des kleinen Uhrenradios. Es zeigte 04.09 Uhr. Dani lag neben ihm, friedlich schlafend. Mit leicht geöffnetem Mund schnarchte sie leise. Versonnen betrachtete er ihr schmales Gesicht, das von dem durch das offene Fenster scheinende Mondlicht erhellt wurde. Die sommersprossige Nase, die geöffneten Lippen, ihre tizianroten vollen Haare. Er musste zugeben, er konnte sich nicht sattsehen an ihr und immer wieder fragte er sich, womit er ihre Liebe verdient hatte. Wenn er bei ihr die Nacht verbrachte, suchten ihn keine Albträume heim. Von seiner Frau und seiner kleinen Tochter, wenn er wach wurde, weil sein Schrei nicht die Kehle, den Mund verlassen wollte, so sehr er sich auch anstrengte. Ein Traum, der ihn mittlerweile fast dreißig Jahre begleitete. Oder das immer wiederkehrende Gesicht von dem, der dafür bezahlt hat, was er ihm und seiner Familie angetan hatte. Er fühlte keine Reue oder gar ein schlechtes Gewissen. Der Kerl hatte es verdient gehabt. Und trotzdem… Nur in ihrer Gegenwart schwiegen die Dämonen. Warum, war ihm nicht klar. Aber er war dankbar. Die Fenster der Dachgeschosswohnung reichten bis zum Dielenboden. Er sah auf die Straße hinunter. Die Hufelandstraße, beleuchtet vom warmen Licht der Straßenlaternen lag still und friedlich zu seinen Füßen. Die Bäume warfen tanzende Schatten. In einer Stunde würde die Sonne aufgehen und sich die Straße mit Leben füllen. Er liebte diese Zeit. Das langsame Erwachen, bevor sich in der Stadt alles in Hektik und Stress verwandelte. Er hatte kein Gefühl dafür, wie lange er schon so am Fenster gestanden hatte, als er plötzlich das Rascheln der Bettdecke und dann das Tapsen ihrer Schritte hörte. Zwei Arme schlangen sich um ihn.

»Seit wann stehst du hier?«, fragte Dani.

»Keine Ahnung? Wie spät ist es denn?«

»Gleich halb sechs.«

»Dann etwas über eine Stunde.«

»Du solltest mal ausschlafen, zur Ruhe kommen.« Sie löste die Arme von ihm.

Er drehte sich um. »Mach ich doch.«

»Klar. Am Fenster. Im Bett schlafen ist dir wohl zu bequem.« Sie gab ihm einen Stupser auf die Nase.

»Ich weiß. Wochenende, abschalten und so.« Er seufzte. »Aber leichter gesagt als getan.«

»Was geht dir durch den Kopf?«

»Dass es vorläufig unser letztes gemeinsames Wochenende ist. Ab Montag hab ich mit meinem Team Bereitschaft.« Er sah sie erst ernst an, dann blitzte der Schalk in seinen Augen auf und sein Gesicht bekam einen spitzbübischen Ausdruck. Er umfasste ihre Taille und gab ihr einen Kuss. Sie erwiderte ihn, erst zärtlich, dann intensiver werdend. Ungestüm bewegten sie sich auf das Bett zu und ließen sich darauf fallen.

Einige Zeit später saßen sie beim gemeinsamen Frühstück. Der frisch gebrühte Kaffee duftete. Dani hatte ihr ›EMINEM‹ Schlafshirt wieder übergestreift und die schulterlangen Haare zu einem Zopf gebunden. Sie nahm einen Schluck vom Kaffee. Über den Tassenrand blickend, fragte sie: »Und was wollen wir heute noch machen?«

»Also ich hätte nichts dagegen, wieder ins Bett zu gehen.« Koslowski zwinkerte ihr zu. Sie lachte auf. Blitzschnell stellte sie ihre Tasse ab und warf ihm die Toastscheibe an den Kopf, die auf ihrem Teller gelegen hatte. »Du denkst immer nur an das eine.«

»Ich doch nicht«, erwiderte er mit unschuldiger Miene und bückte sich, um die heruntergefallene Toastscheibe aufzuheben. Dabei sah er ein kleines Kärtchen unter dem Tisch auf dem Boden liegen. Vermutlich war es Dani aus der Tasche gefallen. Er hob den Toast und die Karte auf, begutachtete die Toastscheibe, pustete eventuellen Staub weg und legte sie dann auf den Teller. Das Kärtchen entpuppte sich als Visitenkarte. Den nervösen Blick von Danuta nahm er nicht wahr. Er betrachtete das Kärtchen und las den Text, der darauf stand: ›Sie wollen Schutz? Wir bieten ihn!‹. Er drehte sie um. Auf der Rückseite prangte groß eine Handynummer. Nachdenklich rieb er sich die Stirn. Er legte die Karte ab und fing an, wortlos den Toast mit Butter zu bestreichen. Nach einer Weile sah er Danuta an. Ihr Gesicht war blass geworden. Er legte das Messer beiseite. »Dani, wann wolltest du mir davon erzählen?« Er zeigte auf die Karte. »Von diesem Besuch.«

Sie seufzte. »Ich wollte es dir gar nicht sagen. Und du weißt warum.«

Koslowski runzelte die Stirn. »Warum nicht?«

»Wir wollten Geschäftliches und Privates trennen.«

»Das haben wir schon vor langer Zeit nicht getan.«

Sie ignorierte den Einwand. »Es waren zwei Typen hier. In Anzügen. Sahen aus wie Börsenmakler. Ich dachte erst, es wären neue Kunden. Sie stellten es aber sehr schnell klar.«

»Schon klar. Wie viel Schutzgeld haben sie von dir verlangt?«

»500,- pro Woche. Sie haben mir eine Woche Zeit gegeben, um zu überlegen. Wobei eigentlich nur der eine gesprochen hat.«

Koslowski runzelte die Stirn. »Hatten sie einen Akzent? Tattoos oder andere Merkmale?«

»Tattoos habe ich keine gesehen.« Sie überlegte kurz. »Aber sie sprachen so ein hartes Deutsch. Ich würde auf Russen tippen. Obwohl sie nicht wie typische Russen gekleidet waren.«

»Weil sie keine Adidas-Trainingsanzüge trugen?« Er lachte kurz auf.

»Nein.« Sie lächelte. »Weil sie nicht so grobschlächtig waren.«

»Also keine aufgeknöpften Hemden, behaarte Brust und Goldkette?«

Sie lachte: »Nein. Im Gegenteil, recht elegante Erscheinungen. Armani Anzüge. Und ausgesucht höflich.«

»So höflich, wie sie waren, haben sie dir also eine Woche Zeit gegeben?«

»Du meinst, das Angebot zu akzeptieren?«

Koslowski nickte.

»Ja.«

Während er aufstand, fragte er: »Wie sollst du mit ihnen Kontakt aufnehmen? Anrufen?«

»Nein. Sie wollten sich wieder bei mir melden.«

»Wozu dann die Visitenkarte mit einer Handynummer?«

Sie zuckte ratlos mit der Schulter. »Vielleicht wollen sie als Versicherungsvertreter durchgehen?«

Koslowski grinste kurz. Ihren Humor hatte Dani scheinbar nicht verloren. Er drehte sich um und ging in das Schlafzimmer. Sein neues Smartphone lag auf dem Nachttisch. Als er in die Küche zurückkehrte, setzte er sich wieder an den Küchentisch und fotografierte die Karte ab. Sie sah ihm erstaunt dabei zu.

Er bemerkte den Blick. »Man muss mit der Zeit gehen. Und so eine Fotofunktion ist echt praktisch.«

»Ich weiß. Aber du?« Das Erstaunen war ihr immer noch ins Gesicht geschrieben. »Ich meine, dass du überhaupt damit umgehen kannst.«

»Sag es keinem weiter. Es ruiniert sonst meinen Ruf als technischen Dilettanten.«

Sie lachte. Er reichte ihr die Karte und legte sein Handy, nachdem er kurz die Qualität der Fotos kontrolliert hatte, auf dem Tisch ab, um Marmelade mit einem Löffel auf die Toaststulle zu träufeln. Er schmierte die Erdbeermarmelade breit und biss dann genüsslich ab.

Kauend sah er Danuta an und sagte mit vollem Mund: »Die haben gründlich recherchiert.«

»Wie meinst du das?«

»Sie wussten genau, wie viel sie dir abnehmen können, ohne dass du dein Etablissement dichtmachen musst«, nuschelte er.

»Das ist natürlich sehr beruhigend«, entgegnete sie wütend. Ihre Augen blitzten.

Er erhob sich lachend vom Stuhl und beugte sich zu ihr über den Tisch. »Ich liebe Dich, wenn du so wütend bist.« Er gab ihr einen Kuss, den sie nur zögerlich erwiderte.

Mit ernstem Blick fragte sie: »Was willst du jetzt machen, Sal?«

Er setzte sich wieder auf seinen Stuhl und schob sich den Rest vom Marmeladentoast in den Mund. Dabei lehnte er sich zurück und antwortete: »Zu Ende frühstücken?«

»Ich find’s nicht komisch, Sal. Du weißt, was ich meine.«

»Ja.« Er lächelte sie beruhigend an. »Ich weiß es noch nicht. Aber mach dir keine Sorgen. Ich klär das. Mir wird schon etwas einfallen. Wäre doch gelacht, schließlich bin ich Bulle.«

Montag

2.

Salvatore Hieronymus Koslowski, Chef der 2. Mordkommission, saß in seinem Büro, das er sich mit Tom Meyerbrinck, seinem Stellvertreter teilte. Die schwarzen Zeiger der Wanduhr zeigten 7.15 Uhr. Es war noch keiner seiner Kollegen da, an denen er seine übliche miese Morgenlaune auslassen konnte, was seine Laune sichtlich verschlechterte. Er war einfach zu früh dran. Sein Kater Leo, grau getigert und dürr, hatte ihn heute Morgen sehr früh mit der unmissverständlichen Aufforderung geweckt, ihn zu füttern. Als Koslowski in die Küche lief, wusste er auch warum. Das Futter von gestern Abend stand noch da. Es hatte Leo wohl nicht zugesagt.

»Vergiss es«, hatte Koslowski gebrummt, die gleiche Sorte Futter in das Schälchen getan und es Leo vor die Nase gestellt. Der hatte ihn nur mit seinen gelben Augen angesehen und ihn dann abblitzen lassen. Mit hocherhobenem Schwanz, ohne sich noch einmal umzudrehen, war er aus der Küche stolziert.

»Hey, du hast wohl vergessen, wo du herkommst? Du bist eine verdammte Hinterhofkatze!«, hatte ihm Koslowski hinterhergerufen, um dann vor sich hinzumurmeln: »Wir werden ja sehen, wer die besseren Nerven hat. Alter Dickschädel.«

Jetzt saß er hier im Büro und starrte missmutig abwechselnd von seinem Monitor zu seinem leeren Kaffeepott auf dem Schreibtisch. Er griff den Pott und erhob sich aus seinem Stuhl. Langsam schlurfte er aus dem Büro zum Besprechungsraum. Dort angekommen, fütterte er die Kaffeemaschine mit Kaffeepulver und Wasser.

»Was machst du denn da?«, rief plötzlich eine Stimme hinter ihm, mehr entsetzt als erstaunt. Koslowski antwortete, ohne sich umzudrehen: »Wonach siehts denn aus, Tom?«

»Kaffee?«, fragte Meyerbrinck.

»Bingo! Vielleicht wird ja doch noch ein guter Ermittler aus dir.« Er schaltete die Maschine ein.

»Du hast hier noch nie Kaffee gemacht. Wie viel Kaffeelöffel hast du reingetan, Sal?«, fragte Meyerbrinck besorgt, ohne auf die Bemerkung von Koslowski einzugehen.

»Sieben gehäufte, ist ne gute Zahl«, antwortete Koslowski und stellte noch saubere Tassen neben seinen Pott, den er nur kurz ausgewaschen hatte. Mehr fand er nicht notwendig. Falls doch noch alte Reste am Rand kleben würden, würde er es durch den frischen Kaffee wohl kaum bemerken.

»Bist du verrückt? Da kriegen wir doch alle einen Herzkasper.«

»Wirklich? Ist der Kaffee zu stark, bist du zu schwach«, entgegnete Koslowski und drehte sich zu Meyerbrinck um. »Was machst du überhaupt so früh hier?«

»Das könnte ich dich fragen.«

»Könntest du, hast du aber nicht. Also?«

»Zahnschmerzen.«

»Au Scheiße!« Koslowski sah Meyerbrinck mitfühlend an.

»Und Charlotte ist für eine Woche zu ihrer Mutter gefahren.«

»Etwas nicht in Ordnung zwischen euch beiden?«, fragte Koslowski. Er war ehrlich besorgt.

»Nee, alles gut«, entgegnete Meyerbrinck und fuhr sich mit der Hand durch seine roten Haare. Ein vergebliches Ritual, um den wirren Haarschopf zu bändigen. Koslowski blieb misstrauisch. Er mochte die beiden. Auch wenn ihm klar war, dass Charlotte mit ihm und seiner mürrischen Art so ihre Probleme hatte.

Meyerbrinck fuhr fort: »Wir haben Bereitschaft und damit bin ich nicht so bei der Familie, wie ich es eigentlich sein müsste.«

»Na ja, Überstunden fallen da eben schon an. Aber das wusste sie doch, als sie sich auf dich einließ.«

»Sal, es sind doch nicht nur die Überstunden ...«

Koslowski musste ihm zustimmen. Dann wischte er den Gedanken beiseite. Ihm war ein anderer gekommen und sein Gesicht hellte sich schlagartig auf.

»Prima, dann bist du ja Strohwitwer.« Er sah Meyerbrinck verschmitzt an: »Hast du Lust, diese Woche abends mit mir in den Pub zu gehen?«

»Sal, es ist 7.30 Uhr und du fragst mich jetzt schon, ob ich mir dir abends Bier trinken gehe? Nicht dein Ernst, oder?«

»Doch.« Er grinste Meyerbrinck schief an. »Auf irgendetwas muss man sich doch freuen.«

»Was ist mit deinem Freund, mit dem du sonst den Pub beehrst?«

»Roger? Der ist nicht in der Stadt. Hat irgendwo was zu erledigen.«

»Er scheint ja öfter weg zu sein. Was arbeitet er eigentlich?«, fragte Meyerbrinck, während er zur Kaffeekanne griff, der Kaffee war inzwischen fertig durchgelaufen, und ihn in die Tassen eingoss. Seine machte er vorsichtshalber nur halb voll.

»Keine Ahnung. Hab ihn nicht gefragt und er hat es mir nicht erzählt.«

»Du weißt nicht, was dein Freund für einen Job hat?«

»Nein. Ist das ein Problem für dich?«, fragte Koslowski verärgert.

Meyerbrinck verdrehte die Augen. »Nein. Ist ja gut.«

»Man kann ihn nicht zwingen, etwas zu erzählen. Er ist mehr der schweigsame Typ.«

»Das muss ja echt toll sein, wenn ihr beiden Stimmungskanonen im Pub abhängt.«

»Man muss ja nicht immer reden«, erwiderte Koslowski trocken.

»Den Spruch kenn ich eigentlich in einem anderen Zusammenhang«, sagte Meyerbrinck und lachte, dabei wandte er sich seiner Kaffeetasse zu. Skeptisch hob er sie an den Mund. Vorsichtig nahm er einen kleinen Schluck, um im selben Moment angewidert das Gesicht zu verziehen und sich zu schütteln. Er sah sich suchend um. Irgendwo musste doch Milch sein. Koslowski nahm es verwundert zur Kenntnis und nahm einen Schluck aus seinem Pott. Dann sah er Meyerbrinck fragend an. Er hatte an dem Kaffee nichts auszusetzen.

»War ja klar.«

»Was?«

»Das du kein Problem mit dieser pechschwarzen Brühe hast. Ich brauch Milch.«

Koslowski wies mit der Hand zu dem Regal, in dem die Tassen standen. »Da hast du jede Menge Kaffeesahne.«

»Die brauch ich auch!«

Meyerbrinck ging zum Regal und griff sich 5 Stück von den kleinen Schälchen aus der Schachtel, füllte alle nacheinander in den Kaffee und rührte um. Gemeinsam liefen sie zu ihrem Büro. Dort angekommen fläzte sich Koslowski in seinen Stuhl und stellte den Kaffeepott auf dem Schreibtisch ab. Dabei bekleckerte er ein paar der gelben Zettel, die dort verstreut herumlagen und oft ein Eigenleben entwickelten. Für Koslowski eindeutig zu oft. Es war dann wie Memory spielen, bis er den richtigen Zettel gefunden hatte. Er war sich eigentlich immer sicher, wo er den vorher abgelegt hatte, und lag doch meist daneben. Zumindest zu 75%. Die Bürotür hatte er offenstehen gelassen.

»Mal sehen, was die gestrige Nacht in Berlin so an Toten gebracht hat«, sagte Koslowski, während er es sich in seinem Bürostuhl bequem machte und anfing, auf den Monitor zu starren. Es war noch etwas Zeit, bis die anderen Kollegen eintreffen würden. »Ah, es war was los letzte Nacht.« Er fing an zu singen: »Kreuzberger Nächte sind lang, erst fangen sie ganz langsam an, aber dann, aber dann…« Meyerbrinck verdrehte die Augen. Koslowski hörte auf zu singen und meinte: »Drei Tote. Einer trieb im Landwehrkanal. Vermutlich ertrunken. Obwohl ...« Koslowski schüttelte unbewusst den Kopf. »Ein Vietnamese. Das riecht nach was anderem. Dann ein 27-jähriger Mann, der meinte, S-Bahn surfen wäre eine gute Idee.« Er schüttelte wieder den Kopf. Diesmal aus einem anderen Grund. »Man sollte eigentlich meinen, in dem Alter setzt auch langsam der Verstand ein. Scheinbar nicht.«

»Wen meinst du mit ›man‹?« Meyerbrinck lachte auf. »Von mir kannst du da nicht reden. Ich kenn dich schon eine Weile und du bist weit, sehr weit über 27.«

»Ha, ha«, machte Koslowski. Dann las er den letzten Bericht. »Männliche Leiche, um die sechzig, mit mehreren Einschüssen in der Brust.« Er sah zu Meyerbrinck. »Da muss wohl jemand ganz schön sauer gewesen sein.«

»Oder er wollte nur sichergehen«, entgegnete Tom Meyerbrinck.

»Möglich.« Koslowski sah ihn nachdenklich an. »Aber egal. Nicht unsere Toten. Wir haben erst ab heute Bereitschaft.«

»Und was ist Freitag noch bei Berger herausgekommen?«, wechselte Meyerbrinck das Thema.

»Nichts. Die von der Bandenkriminalität sind kein Stück weiter. Berger meint, es geht um eine Neuverteilung der Reviere. Es ist ein neuer Spieler in Berlin.«

»Ist das alles, was vom LKA 4 zu hören ist?«

»Ja.«

»Na das ist ja mal nicht viel.«

Koslowski starrte zum Fenster. Der dunkelgraue Himmel hellte sich langsam auf. Wenn wir Glück haben, sehen wir heute noch mal die Sonne, dachte er. Dann wandte er sich Meyerbrinck zu und sagte: »Ich kann mir zumindest denken, wer der neue Mitspieler ist.«

Meyerbrinck sah Koslowski neugierig an. »Und wer, wenn man fragen darf?«

»Der Al-Sharif Clan aus Neukölln. Jetzt, wo der alte Nasser so abrupt das Zeitliche gesegnet hat, wird sich sein Sohn Karim diesem lukrativen Geschäft widmen. Da bin ich mir sicher. Der war schon immer scharf darauf und hat, was Rauschgift angeht, nicht soviel Skrupel wie sein alter Herr.«

»Du glaubst, seine Leute haben den Nigerianer an der Warschauer Straße von der Brücke vor die S-Bahn geworfen?«

»Ja, es war jedenfalls kein Mord wegen der Hautfarbe. Der Typ dealte auf dem RAW Gelände. Aber wissen ist das eine und beweisen das andere.«