Whisky Blues - J. U. Gowski - E-Book

Whisky Blues E-Book

J.U. Gowski

0,0

  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

Ein Mord im "Union Jack", deiner bekannten Berliner Whiskykneipe und zufälligerweise Hauptkommissar Lieblingspub, beunruhigt nicht nur die örtliche Whiskyszene. Der Tote war bekannt, aber nicht überall beliebt. Für Koslowskis Team steht sich die Frage: Galt der Anschlag wirklich dem Toten oder jemand anderem? Und wenn nicht ihm, wer war dann das eigentliche Ziel? Fragen, die sich nicht nur die 2. Mordkommission stellt. Der Mord löst eine Kette von Ereignissen aus, deren Folgen nicht absehbar sind.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 287

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Prolog
1.
2.
3.
4.
5.
6.
7.
8.
9.
10.
11.
12.
13.
14.
15.
16.
17.
18.
19.
20.
21.
22.
23.
24.
25.
26.
27.
28.
29.
30.
31.
32.
33.
34.
35.
36.
37.
38.
39.
40.
Epilog

Das Buch:

Ein Mord im “Union Jack”, einer bekannten Berliner Whiskykneipe und zufälligerweise Hauptkommissar Koslowskis Lieblingspub, beunruhigt nicht nur die örtliche Whiskyszene. Der Tote war bekannt, aber nicht überall beliebt.

Für Koslowskis Team stellt sich die Frage: Galt der Anschlag wirklich dem Toten? Oder jemand anderem? Und wenn nicht ihm, wer war dann das eigentliche Ziel? Fragen, die sich nicht nur die 2. Berliner Mordkommission stellt. Der Mord löst eine Kette von Ereignissen aus, deren Folgen nicht absehbar sind.

Der Autor:

J.U. Gowski, 1962 geboren, lebt in Berlin.

»Whisky Blues« ist der vierte Kriminalroman um Chefermittler Salvatore Hieronymus Koslowski.

Bisher erschienen:

»4467 Tage«

»Die Harry Brown Liste«

»Der König ist tot, lang lebe der König«

J.U.Gowski

Whisky Blues

Koslowskis 4. Fall

Ein Berlin Krimi

Texte:

© 2019 Copyright by J.U. Gowski

[email protected]

www.j-u-gowski.com

www.berlin-krimi.com

Umschlaggestaltung:

© 2019 Copyright by Jörg Ugowski

[email protected]

www.ugowski.com

Verlag:

Jörg Ugowski

Tschaikowskistraße 3

13156 Berlin

[email protected]

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Die Geschichte ist frei erfunden, wie auch die meisten der darin handelnden Personen. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen wären rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Trotzdem treten in diesem Krimi auch real existierende Personen auf. Ihnen gilt mein Dank für ihr Einverständnis, sie für diese Geschichte »missbrauchen« zu dürfen.

Prolog

Einen Monat zuvor...

Mohammed Javed Zarif betrat den Hausflur des Mietshauses am Paul-Linke-Ufer, in dem sich seine Wohnung befand. Er schaltete das Licht nicht an, stellte sich mit der Pistole in der Hand wartend in den hintersten Teil des Flures. Die schützende Dunkelheit verschluckte seine Gestalt. Es war 19.45 Uhr. In etwas mehr als einer Stunde würde sein Zug nach Paris gehen. Bis dahin musste er überleben. Er sah durch das Fenster der Hausflurtür die tanzenden Schneeflocken, die von der Straßenlaterne angestrahlt wurden. Er lächelte melancholisch. Der Schnee würde nicht liegenbleiben. Seit ein paar Jahren mussten die Kinder in Berlin auf das Rodeln verzichten. Er konnte sich noch an Zeiten erinnern, da war der Landwehrkanal im Januar zugefroren. An die Geräusche, wenn es wärmer wurde. Von brechendem Eis oder von treibenden Eisschollen, die scharrend gegen Bootswände stießen. Seine Kindheitserinnerungen. Er sah wieder auf die Armbanduhr. Er hatte jetzt zehn Minuten in der Dunkelheit gestanden. Es war ihm niemand gefolgt. Erleichtert steckte er die Waffe in seine Manteltasche. Dann stieg er die Treppen zu seiner Wohnung hinauf.

R.R. saß in dem bequemen Sessel, der in der Ecke des Wohnzimmers stand. Seinen Mantel hatte er geöffnet, die weichen Lederhandschuhe anbehalten. Die Waffe mit dem aufgesetzten Schalldämpfer lag griffbereit neben ihm auf dem kleinen Tischchen. Kurz nachdem Mohammed Javed Zarif gegen 18.15 Uhr die Wohnung verlassen hatte, war er hineingegangen. Das Schloss war keine Herausforderung für ihn. Er hatte sich in der Wohnung umgesehen. Den gepackten Koffer im Schlafzimmer entdeckt und die Sporttasche mit dem Geld, welches Zarif scheinbar seinem Boss, Nasser Al-Sharif, abgenommen hatte für eine Zukunft mit Kirsten Bommer, die er nun nicht mehr haben würde. R.R. sah auf die Uhr. 19.55 Uhr. Er saß jetzt schon fast zwei Stunden in der Dunkelheit. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Zarif wieder auftauchen würde. Um 20.58 Uhr ging Zarifs Zug vom Hauptbahnhof nach Paris. Wie er wusste, hatte Zarif für diesen Zug vor drei Tagen eine Fahrkarte mit Sitzplatzreservierung gekauft. Da die Deutsche Bahn die Nachtzüge eingestellt hatte, war Zarif auf die russische Bahn RŽD ausgewichen. Die RŽD fuhr Paris dreimal in der Woche an. Zarif hatte die Illusion, in Paris seine Geliebte wiederzutreffen. Sie war vorgestern vorgefahren und er wollte nicht, dass man sie zusammen sah. Getrennt hatten sie bessere Chancen, glaubte er. R.R. vermutete, sie wollten sich später am Gare de Lyon treffen, um dann über Montpellier weiter nach Sète zu fahren. Dort fuhren die Fähren nach Marokko ab, wo Zarif sicher Freunde hatte, die ihnen weiterhelfen konnten. Was Zarif noch nicht wusste, Kirsten Bommer hatte Paris nicht lebend erreicht. Ein kleines Loch in der Schläfe hinderte sie daran. Als die Zeit für die Ankunft in Paris gekommen war, hatte R.R. mit ihrem Handy eine SMS an Zarif geschickt. Sie lautete: Bin gut angekommen. Warte hier auf dich.

R.R. hörte das Drehen des Schlüssels im Schloss und griff behutsam zur Pistole. Zarif betrat das Zimmer und wollte das Licht anschalten, als R.R. sagte: »Lass es aus.«

Zarif fuhr herum und sah die matt schimmernde Pistole mit dem Schalldämpfer auf sich gerichtet. Jegliche Hoffnung wich aus seinem Gesicht. Er wusste mit einem Schlag, das Spiel war aus. Es war vorbei.

»Setz dich auf den Stuhl dort«, forderte R.R. Zarif auf und deutete mit dem Pistolenlauf zum Schreibtisch am Fenster. »Und mach dir keine Illusionen wegen der Pistole unter deinem Schreibtisch, die habe ich hier.« 

Er hob die Waffe, die er in der Hand hielt, mit gespreizten Fingern. Zarif erkannte den Perlmuttgriff. Woher wusste R.R. von der Waffe? Er hatte den passenden Schalldämpfer dazu. Er musste sich also schon vorher in der Wohnung umgesehen haben. Und er hatte nichts bemerkt. Sein Verstand begann vergeblich, nach einem Ausweg zu suchen. Langsam ging er zum Schreibtisch. Er dachte an die Pistole in seiner Manteltasche. 

R.R. sah ihn an. »Bevor du dich setzt, zieh deinen Mantel aus. Vorsichtig. Wir wollen doch die Nachbarn nicht durch einen lauten Schuss wecken, der sich aus Versehen aus der Pistole in deiner Manteltasche gelöst hat, oder? Wär auch schade um den Mantel. Ich nehme an,Kaschmir.«

Zarif nickte unbewusst und zog den Mantel vorsichtig aus, dabei R.R. taxierend, auf eine Unachtsamkeit von ihm hoffend. Der lächelte nur amüsiert. Zarif war der Mann unheimlich. Als er den Mantel wie aufgefordert in die Ecke des Raumes warf, wusste er, seine Chance war vorbei. Mutlos setzte er sich auf den Stuhl.

»Du hättest ein Haar oder einen Streichholz oder etwas Ähnliches in deine Tür stecken sollen, dann hättest du vielleicht gewusst, dass hier jemand auf dich wartet.«

»Lebt Kirsten noch?«, fragte Zarif nur besorgt, der Rest interessierte ihn nicht. Abgehakt. Schnee von gestern. Er wusste selber, dass er einen tödlichen Fehler begangen hatte, dafür brauchte er nicht R.R.

»Wer ist Kirsten?«, entgegnet der.

»Ich weiß, wer du bist und du weißt, wer Kirsten ist, also lassen wir den Unsinn.«

»Wenn du weißt, wer ich bin, was soll dann diese Frage?«

Zarif wurde blass. 

R.R. sah ihn an, Mitgefühl regte sich in ihm. Er respektierte Zarif und seinen vergeblichen Versuch auszubrechen. R.R. war klar, dass Zarif selber nur mit einer Chance von 1:100 gerechnet hatte, mit der Nummer davonzukommen. Nicht umsonst hatte er seine Geliebte vorfahren lassen. 

»Ich habe nur dich als Auftrag«, log er. »Wenn du clever warst, hast du sie vorgeschickt, wohin auch immer, und sagst es mir nicht.«

Zarif musterte R.R.s steinerne Miene. Etwas Erleichterung machte sich in ihm breit.

»Ich werde hier sterben, stimmt’s?«

»Ja«, war R.R.s knappe Antwort.

»Es war den Versuch wert.« Zarif hielt kurz inne und vollendete dann: »Sie war den Versuch wert.«

»Du musst es ja wissen. Es war eure Entscheidung.«

Zarif sah R.R. stumm an, plötzlich sagte er: »Ich hätte noch einen Auftrag für dich.«

R.R.s Miene blieb undurchdringlich. Er schwieg. Da kein Protest kam, wagte Zarif es, ihn auszusprechen. Er hatte nichts zu verlieren. 

»Töte den, der dir diesen Auftrag gegeben hat.«

R.R. schwieg.

»Ich kann dich bezahlen.«

»Ich weiß.«

Zarif stutzte. »Ahh, du hast die Tasche mit dem Geld gefunden.«

»Ja, sie war nicht zu übersehen. Ich hab sie aber nicht genommen. Ich bin kein Dieb.«

»Stimmt ja, du hast ja deine Prinzipien. Nasser hat mir davon erzählt.« Es klang bitter. Dann kam langsam die Erkenntnis: Warum sollte der Mann, den Nasser immer nur R.R. genannt hatte, ihm das sagen? War es vielleicht doch möglich? Vorsichtig fragte er nach: »Dann übernimmst du den Auftrag?«

»Du weißt, von wem der Auftrag kam?« Eine rhetorische Frage.

»Ja.«

»Damit wird ein Krieg losbrechen. Thronfolge, Gebietsstreitigkeiten«, sagte R.R. leise. »Und es wird mehr Tote geben als nur den einen.«

»Ich weiß, aber solange Nasser Al-Sharif lebt, wird Kirsten in Gefahr sein.« 

R.R. sah ihn an und musste ihm Recht geben. Jetzt ärgerte er sich über seine Schwäche. Was hatte ihn da nur geritten?

Zarif sah R.R. erwartungsvoll an. Der schwang sich aus dem Sessel auf und ging zum Fenster neben dem Schreibtisch. Überlegte. Kurz blitzte bei Zarif der Gedanke auf: die Chance. Aber der ging so schnell, wie er gekommen war. Ehe er aus dem Stuhl gekommen wäre, hätte R.R. schon abgedrückt. Und was wäre dann aus Kirsten geworden? 

R.R. wandte sich zu ihm und sagte: »Okay. Ich nehme den Auftrag an.« Dann konzentrierte er sich wieder auf den Ausblick aus dem Fenster.

Zarif sah erst erleichtert zu ihm auf, um dann auch zum Fenster hinauszusehen. Wollte wissen, wonach R.R. Ausschau hielt. R.R. hob im selben Moment die Pistole dicht an Zarifs Schläfe und drückte ab. Zarifs Kopf ruckte zur Seite. Der Körper erschlaffte. Aus dem Loch in der Schläfe sickerte Blut. Er ging um die Leiche herum. Die Austrittswunde auf der anderen Seite von Zarifs Schädel war größer. Er sah zur Wand, die Kugel war in der Wand steckengeblieben, und verglich Zarifs Sitzhaltung und die Flugbahn. Es passte. R.R. ging wieder um Zarif herum und öffnete das Fenster vor dem Schreibtisch. Legte die Pistole in Zarifs rechte Hand und dessen Zeigefinger um den Abzug, umschloss sie und gab einen Schuss durch das offene Fenster nach draußen in die Luft ab. Dann ließ er Zarifs Hand mit der Waffe fallen. Die Pistole glitt aus der Hand und fiel polternd auf den Boden. R.R. merkte sich Stelle und Lage. Er hob die Waffe auf und lud eine Patrone nach. Dann legte er sie wieder an Ort und Stelle. Nachdem er das Fenster geschlossen hatte, ging er ins Nachbarzimmer und packte den Koffer wieder aus. Die Sachen legte er zurück in den Kleiderschrank. Den leeren Koffer deponierte er unter dem Bett. Von dort nahm er sich die Sporttasche mit dem Geld und ging zur Wohnungstür. Er sah sich noch ein letztes Mal um, dann verließ er die Wohnung und zog sanft die Tür hinter sich zu. Auf der Treppe stellte er noch einmal kurz die Tasche ab, um sich die Lederhandschuhe auszuziehen und ein Basecap aufzusetzen. Den Schirm der Mütze zog er tief ins Gesicht. Er lief die Treppe hinunter und verließ das Haus. Niemand begegnete ihm. Feuchter, brackiger Geruch wehte vom Kanal herüber. Zehn Meter weiter stand Zarifs Jaguar unter einem Baum. Da wird er wohl noch eine ganz Weile stehen bleiben, dachte R.R. und bog vom Paul-Linke-Ufer in die Forsterstraße, dort hatte er seinen Wagen geparkt. Er setzte sich in das Auto und lehnte sich zurück. Er wäre zufrieden mit seiner Arbeit gewesen, wenn er sich nicht wegen eines schwachen Moments noch mehr Arbeit aufgehalst hätte. Er sah zur Tasche, die er auf dem Beifahrersitz abgestellt hatte. Na ja, wenigstens ein sehr lohnender Job, dachte er. Und wer weiß, vielleicht sogar notwendig. Er hatte nicht das Gefühl, dass Nasser Al-Sharif ihm noch vertraute. Was allerdings auf Gegenseitigkeit beruhte. Er musste an die Geschichte mit der Waffe von dem verschwundenen Polizisten denken, dessen letzte Ruhestätte in einem Brandenburger Wald nur R.R. kannte. Den Namen des Bullen hatte er schon vergessen. Nasser hatte die Waffe auf einmal bei einer anderen Geschichte wieder ins Spiel gebracht, nur um ihm seine Macht zu demonstrieren. Er hatte die Waffe seinerzeit Nasser überlassen. Ein Fehler, wie sich herausstellte. Und wohin Nassers Misstrauen, ob berechtigt oder nicht, führen konnte, war jetzt im dritten Stock eines Mietshauses am Paul-Linke-Ufer zu sehen.

Mittwoch, 20.2.

1.

Er ärgerte sich. Wieder einmal. Es haben doch bisher weniger zu seiner Whiskyverkostung, die er zu seinem Geburtstag veranstalten wollte, zugesagt, als er dachte. Drei haben auf seine Mail überhaupt nicht reagiert. Mit seiner Zunge fuhr er sich über die spröden Lippen.

Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass es noch früh am Tag war und ein zweiter Blick in den Kalender, dass keine Termine anstanden. Beim Betrachten des Datums fiel ihm auf, dass heute der dritte Mittwoch des Monats war. Der Tag, an dem abends immer der monatliche Whiskystammtisch im ›Union Jack‹ stattfand. Er war dort noch nie gewesen. Aber vielleicht wäre es ja mal an der Zeit hinzugehen, dachte er. Über die letzte Geschichte mit Uwe sollte inzwischen Gras gewachsen sein. Je länger er darüber nachdachte, umso mehr gefiel ihm die Idee. Ob Uwe noch sauer auf ihn war? Er zuckte gleichgültig mit der Schulter. Ihm doch egal. Was sollte der machen? Ihn rausschmeißen?

Er setzte sich an den Rechner und loggte sich in das Whiskyforum ein. In der Rubrik ›Stammtisch Berlin‹ fand er schon eine Liste, in der man sich eintragen konnte. Er war der Siebente. Über das Forum liefen seine meisten Kontakte. Nicht alle hatten Facebook. Wenn er schon dabei war, konnte er auch gleich bei der Webseite von Sergey, whisky-justforfun, vorbeischauen. Mit einem Klick öffnete er die Seite und sah auf den ersten Blick, Sergey hatte einen Whisky mit 98 Punkten bewertet. Man brauchte kein Prophet sein, die Flaschen dieser Abfüllung würden innerhalb kürzester Zeit preislich durch die Decke gehen. Wer davon welche hatte, könnte die mit sattem Profit verscherbeln. Und er hatte keine einzige davon. Vor einer Woche hatte ihm jemand zwei Flaschen angeboten. Er hatte es ausgeschlagen. Ärger stieg in ihm hoch. Über Sergey, über sich. Jetzt würden andere den Reibach machen und er würde leer ausgehen. Wieder war er zu kurz gekommen. Ein Gefühl, was ihn schon sein ganzes Leben begleitete.

***

Roger Rudy saß am Küchentisch und sah zum Fenster. Der Himmel war seit Tagen wolkenverhangen. Helles Grau wechselte sich mit dunklem ab. Die Wolken hingen schwer und träge über der Stadt. Regentropfen rannen die Scheiben herunter. Ein Zustand, der seit einer Woche kaum unterbrochen wurde. Leichtes Nieseln wechselte sich mit heftigen Schauern ab und umgekehrt. Man konnte leicht zu der irrigen Ansicht kommen, der Winter wäre vorbei. Eine fehlerhafte Annahme, wie ein Blick auf den Kalender zeigte. Für R.R., wie Roger Rudy in bestimmten Kreisen genannt wurde, eigentlich ein typisches Novemberwetter. Vor ihm auf dem breiten Tisch lag auf einem Leinentuch ausgebreitet seine Glock, zerlegt in ihre Einzelteile. R.R. war gerade dabei, sie zu reinigen. Der Revolver daneben, den er einem Rocker bei einem Pokerspiel abgenommen hatte, wartete noch darauf. Die Pistole war nicht registriert, von dem Revolver des Rockers wusste er es nicht, vermutete es aber. Wenn doch, ließe er sich nicht zu ihm zurückverfolgen. Der ursprüngliche Besitzer war wenig später vor einem Wettlokal in Berlin-Wedding von einer rivalisierenden Gang niedergeschossen worden und dann verblutet. Acht Kugeln hatten ihn durchlöchert.

R.R. sah zur Uhr. Sie zeigte Punkt 11. Zeit für ein Glas Wein, dachte er, und einen Blick in die Tageszeitung. Die Todesanzeigen waren dabei für ihn von besonderem Interesse. Er kaufte die Zeitung immer in dem kleinen Lottoladen an der Ecke. Jetzt lag sie auf seinem Schreibtisch. Er schmunzelte still vor sich hin, weil er wegen der Uhrzeit und seinem Wein an Koslowski denken musste. Genauer gesagt, an dessen Spruch, wenn es um seinen notorischen Bierdurst ging: Vor 11.00 Uhr trinke ich nichts. Aber irgendwo auf der Welt ist es immer 11.00 Uhr.‹  R.R. konnte sich nicht erinnern, dass er Koslowski während seiner Arbeitszeit schon mal Biertrinken gesehen hätte. Da bevorzugte er literweise Kaffee. Vermutlich setzte Sal den Spruch in der Freizeit oder im Urlaub um, wenn er denn mal welchen hatte. R.R. sah wieder zum Fenster. Er hatte heute nichts anderes vor, wollte nur eine gewisse Planung voranbringen, die das Oberhaupt des Neuköllner Araberclans Nasser Al-Sharif betraf und zu der er sich bis Mitte März den Termin gesetzt hatte.

R.R. stand auf und ging zu dem temperierten Weinschrank, öffnete die Tür und ließ einen kurzen Blick über die Ansammlung liegender Flaschen gleiten. Er entschied sich für einen neuseeländischen Pinot Noir, zog die Flasche heraus und schloss die Schranktür. Mit einem Korkenzieher öffnete er sie. Dann nahm er die bereitstehende Glaskaraffe und füllte die Flasche um. Den Rest aus der Flasche goss er sich gleich ins Glas. Er setzte den schweren Glasverschluss auf die Karaffe, nahm das Glas in die andere Hand, ging ins Wohnzimmer und stellte alles auf dem geräumigen Schreibtisch ab. Dann schaltete er den Laptop ein und setzte sich in den Schreibtischstuhl. Während der Laptop seine Zeit brauchte, um hochzufahren, hielt er seine Nase ins Glas, sog den Duft ein. Anerkennend verzog sich sein Mund zu einem zufriedenen Lächeln. Ja, das war eine gute Wahl und mit der Zeit in der Karaffe würde er noch besser werden. Nachdenklich schloss er die Augen und dachte an den Auftrag, den ihm Mohammed Javed Zarif gegeben hatte, kurz bevor er ihn dann erschoss. Irgendetwas ließ ihn zögern, es hinausschieben. Hatte er Skrupel? Er hatte sein Wort gegeben und als er das Geld genommen hatte, war klar, dass er den Auftrag ausführen würde. Es ließ sich nicht länger hinauszögern. Das war er Zarif und noch mehr seinem Pflichtgefühl schuldig. Doch irgendwie konnte er sich nicht dazu durchringen. Was war es, dass ihn zögern ließ? Nassers lukrative Aufträge, die es nicht mehr geben würde? Er war sich sicher, er würde andere bekommen. Er hatte einen guten Ruf in der Branche. Und selbst wenn nicht, er hatte genug Geld, um für den Rest seines Lebens ein Auskommen zu haben. Er brauchte nicht viel, das Teuerste waren die Heimkosten für seinen dementen Vater. Was war es dann? Die Unwägbarkeiten, die es mit sich brachte, wenn ein Berliner Clanoberhaupt das Zeitliche segnete? Vermutlich würde es einen Bandenkrieg auslösen. Neu aufflammende Gebietsstreitigkeiten. Revier- und Verteilerkämpfe. Die Führungsstärke von Nassers Sohn Karim würde auf die Probe gestellt werden. Es würde vermutlich ein paar Tote geben und wahrscheinlich würde es auch Unschuldige treffen. War es das, was ihn zögern ließ?

Er öffnete die Augen und nahm einen kleinen Schluck aus dem Glas. Er ließ den Wein in seinem Mund kurz hin und her rollen, bevor er ihn hinunterschluckte. Zufrieden stellte er das Glas wieder auf den Tisch. Seine Gedanken fingen wieder an, um Nasser Al-Sharif zu kreisen. Er hatte schon vor einiger Zeit bemerkt, wie der ihn in letzter Zeit musterte und dabei immer freundlich blieb. Doch seine Augen konnten nicht lügen. Steine blieben Steine, auch wenn sein Mund freundlich lächelte. Nasser überspielte etwas. Und dann hatte R.R. gehört, dass Nasser sich einen Neuen in die Stadt geholt hatte, einen Ausputzer aus Bremen. Die Empfehlung eines befreundeten Araberclans. R.R. hatte sich vorsorglich die Adresse des Bremers besorgt und sich dort umgesehen. Reine Routine. Man konnte nie wissen. Die Wohnung befand sich in der Nähe vom S-Bahnhof Tiergarten. Wie er dann feststellte, stand die Wohnung darüber leer. Er hatte sie sich angesehen. Wenn es hart auf hart kam, würde der Bremer sicher nicht damit rechnen, wie dicht R.R. an ihm dran war. Der Bremer dürfte noch etwas Zeit brauchen, um Berlin besser zu verstehen, um sich einzugewöhnen. Den Atem dieser Stadt einzufangen, das andere Ticken, das Tempo und die merkwürdigen Eigenheiten, die keine andere Stadt besaß. R.R. musste kurz auflachen, als ihm dabei die unfreundlichen Berliner Busfahrer einfielen. Aber R.R. wusste auch, es war nur eine Frage der Zeit, bis für ihn die Luft dünner und Nasser seine Dienste nicht mehr benötigen würde. Jetzt wo er diese Überlegungen sortierte, stellte er fest, es gab keinen Grund, es weiter hinauszuzögern.

Das Klingeln des Handys riss ihn aus den Gedanken. Er sah auf das Display. Lächelnd ging er ran: »Hi Sal, altes Haus, was macht die Mörderjagd?«

»Alles ruhig«, kam es lachend vom anderen Ende. »Die Jungs von der Vierten und Sechsten haben mehr zu tun.«

»Und was?« Es interessierte ihn nur höflichkeitshalber.

»Die Vierte untersucht seit einem Monat den Tod einer Anwaltsassistentin«, antwortete Koslowski bereitwillig. »Ihre Leiche ist in einer ausgebrannten Kanzlei gefunden worden. Wenig später wurde die Anwältin, ihre Chefin, tot in einem Zugabteil aufgefunden. Kopfschuss. Sie war der Rechtsbeistand von Nasser Al-Sharif und unterwegs nach Paris. Und als Krönung hat die rechte Hand von Nasser einen Tag später Selbstmord verübt. Den Tod der Anwältin untersucht die Sechste zusammen mit den Franzosen.« Koslowski legte eine kurze Pause ein und schob dann in einem sarkastischen Tonfall hinterher: »Alles natürlich reiner Zufall und hat nichts miteinander zu tun.« Koslowski lachte leise. R.R. war still geworden und ordnete seine Gedanken. 

»Und du siehst das anders?«, fragte er.

»Ja, ich kann bis drei zählen, aber mich hat keiner um meine Meinung gebeten. Warum fragst du?«

»Ach, nur so.«

»Haben deine kriminellen und halbkriminellen Freunde dir was erzählt?«, bohrte Koslowski nach.

»Was sollen sie mir erzählt haben?«

»Na über die Todesfälle. Ich denke, die Straße achtet sehr genau darauf, was passiert. Und wenn es drei Tote gibt, die mit dem Clan von Nasser in Verbindung stehen, machen sie sich Gedanken. So wie ich mir einen Reim darauf mache. Sind ja nicht alles Idioten. Mein Gefühl sagt mir, es werden noch ein paar Tote folgen. Du wirst es mir doch mitteilen, wenn da was im Busch ist, oder?«

»Dafür bist du aber gut gelaunt«, erwiderte R.R., ohne auf Koslowskis Frage einzugehen. Koslowski registrierte es, fragte aber nicht weiter nach. Er wusste, dass R.R. sich seit Jahren in einem grauen Umfeld bewegte, nachdem er aus der Fremdenlegion desertiert war. Koslowski wollte nicht wissen, welcher Art R.R.s Geschäfte waren. R.R. war sein Freund. Darum sagte er nur: »Warum auch nicht. Ein paar Gangster dezimieren sich gegenseitig. Das verschafft der Stadt etwas Luft und mir Arbeit.«

»Wo bleibt deine moralische Messlatte?« R.R. hatte misstrauisch die Augenbrauen hochgezogen.

»Die hab ich tiefer gelegt. Die hat seit den letzten beiden Fällen einen Knacks bekommen.«

»Wie das?«

»Vielleicht waren mir die Mörder zu sympathisch.«

»Es kann nicht nur unsympathische Mörder geben«, stellte R.R. sachlich fest, um dann die Frage hinterherzuschieben: »Aber deswegen hast du nicht angerufen, oder?«

»Nein, ich wollte dich zu einem Whiskyabend im Union Jack einladen.«

»Zu deiner 7th Sense Runde? Das ist doch ein geschlossener Kreis, wie du mir erzählt hast.«

»Ja, ist so und bleibt auch so. Aber es gibt da einen Stammtisch, an dem jeder teilnehmen kann, der Lust darauf hat. Er findet jeden dritten Mittwoch des Monats im Pub statt. Ich dachte, ich revanchier mich für das Weihnachtsgeschenk und lade dich ein. Vielleicht ist ja doch noch nicht alles bei dir verloren und du kommst auf den Geschmack. Hast du Lust?«

R.R. überlegte und sah auf das Glas Wein, das vor ihm stand. Dann sagte er sich, warum nicht. Mit Sal wird es bestimmt spaßig und zur Not kann er immer noch Guinness trinken.

»Okay, wann wollen wir uns treffen?«

»Gegen 19.00 Uhr im Pub«, antwortete Koslowski erfreut. 

»Bis dann, Sal.« 

Er legte auf. Nachdenklich sah er zum hochgefahrenen Laptop und ließ seine letzten Gedanken noch einmal Revue passieren. Wenn Nasser ihn nicht mehr brauchte, was dann? Der Gedanke kreiste schon länger durch seinen Kopf, wohl wissend, dass sich daraus nur eine Konsequenz ergab. Es gab keine andere Möglichkeit. Nasser musste ihn loswerden. Zeugen waren unerwünscht. Unbewusst strich er sich über die kleine rote Narbe am Kinn. Sein Freund Koslowski hatte recht. Es würde noch ein paar Tote geben. Keiner der rivalisierenden Gangs glaubte, dass Nasser seinen besten Mann selber in den Tod geschickt hatte. Sie waren nervös, verdächtigten sich gegenseitig. Neue Allianzen wurden geschmiedet. Eine falsche Aktion konnte eine Lawine auslösen. Er dachte wieder an den Bremer. Als Fremder kannte ersich noch nicht so gut aus in der Stadt, wusste auch nicht, wo R.R. wohnte. Genauso wenig wie Nasser Al-Sharif oder sein Freund Koslowski. Nasser musste ihn also zu sich ins Bistro bestellen, wie immer, wenn er R.R. einen Auftrag geben wollte. Nasser würde ihm freundlich lächelnd einen Stuhl anbieten, mit dem Rücken zur Tür. Seine Augen verfinsterten sich bei dem Gedanken. Doch noch war es nicht soweit und das gab ihm die Zeit, die er brauchte, um den offenen Auftrag auszuführen. Gute Vorbereitung war alles.

Er beugte sich vor, griff nach der Zeitung und schlug die für ihn wichtige Seite auf. Die Todesanzeigen. Routinemäßig überflog er sie und dann blieben seine Augen an der Anzeige hängen, die nur für ihn bestimmt war: ›Robert Richter - Du fehlst uns. Deine Kinder. Die Beisetzung findet heute um 11.30 Uhr im engsten Kreise statt.‹ Robert Richter für R.R.. Darunter stand eine bekannte Telefonnummer. Es war Nassers Nummer. Er sah auf die Uhr. 11.15 Uhr. Sollte er gleich anrufen? Das Zeitfenster war bis 11.30 Uhr angegeben.

Er stand auf, holte ein anderes Handy aus der Schreibtischschublade und wählte die Nummer. Als nach zweimaligem Klingeln abgehoben wurde, fragte er spöttisch: »Was verschafft mir die Ehre?«

Am anderen Ende wurde gelacht. Es hörte sich an wie ein heiseres Bellen. Nasser Al-Sharif sagte: »Ich will etwas mit dir besprechen.«

R.R. schwieg. 

»Hast du heute Abend Zeit? Kannst du in meinem Bistro vorbeikommen? Am besten, kurz nachdem wir geschlossen haben. Gegen 23.15 Uhr. Klopf einfach an die Scheibe. Karim lässt dich dann rein.«

R.R. überlegte. Ihm musste etwas einfallen, was Nasser nicht vor den Kopf stoßen würde, womit er aber Zeit gewann. Er überlegte, wann das Bistro am besten frequentiert war. Vermutlich zwischen 18.00 und 19.00 Uhr.

»Was ist?«, klang es vom anderen Ende.

»Ich hab nur in meinen Kalender geschaut.«

»Ja klar, der Kalender«, höhnte Nasser.

»Und ich muss dir sagen«, erwiderte R.R. gleichmütig, »heute Abend geht es nicht. Bin verabredet. Aber ich könnte gegen 18.00 Uhr bei dir sein, dann kann ich auch gleich dein leckeres Falafel essen.«

R.R. hörte Nassers schweren Atem. Es schien ihm nicht zu passen. Aber wenn er sich keine Blöße geben wollte, musste er wohl zustimmen. R.R. lächelte in sich hinein. 

»Gut 18.00 Uhr.« Nasser Al-Sharif legte auf.

2.

Paul Haverkamp saß in der S-Bahn auf dem Weg nach Neukölln. Er hatte das Autofahren in Berlin aufgegeben. Die ersten zwei Tage, als er mit dem Mietwagen in der Stadt unterwegs war, hatten ihm gereicht. Berlin war einfach zu stressig. Seine alte Heimatstadt Bremen war dagegen geradezu gemütlich. Als Nasser Al-Sharif ihn überraschend anrief und den abendlichen Termin auf 17.00 Uhr vorverlegte, war er früher als notwendig losgegangen. Lange vor der vereinbarten Zeit. Er kannte sich immer noch nicht so gut aus in der Stadt, hatte sich schon öfter verfahren. War in die falsche Ringbahn gestiegen und damit in die entgegengesetzte Richtung gefahren. Ein zeitlicher Puffer war für ihn in dieser Stadt unabdingbar. Der S-Bahnhof Tiergarten lag nur zwei Minuten von der kleinen Wohnung entfernt, in der er zur Zeit wohnte. Erstaunlicherweise war die Bahn pünktlich, hatte sich an den Fahrplan gehalten. Laut Streckenplan, der am Bahnhof aushing, musste er zum Westkreuz fahren und von dort weiter mit der Ringbahn. Diesmal wusste er, welche die richtige Richtung war. Aus Fehlern lernt man und er lernte schnell. Es blieb ihm noch etwas Zeit, die er nutzen wollte, sich in Neukölln umzusehen. Er überlegte, was die Ursache für die Verlegung des Termins und damit vermutlich die Hinfälligkeit ihres Plans gewesen sein könnte. Ein einfacher, simpler Plan. Alles war vorbereitet. Die Plane lag bereit. R.R. sollte spät abends ins Bistro kommen, das um diese Zeit geschlossen war. Ein Schuss. Keine Zeugen, alles prima. Die Leiche in einer vorbereiteten Baugrube versenkt. Soweit, so gut. Nur schien sich etwas am zeitlichen Ablauf geändert zu haben. Nasser hatte sich am Telefon nicht geäußert, klang nur sehr missgelaunt. Paul Haverkamp fragte sich, hatte R.R. etwas mitbekommen? Vorstellen konnte er es sich. R.R. schien ein cleverer Kerl zu sein, nicht umsonst hat er so lange in dem Metier in dieser Stadt überlebt. Doch damit sollte nun Schluss sein und er wird es sein, der es beendet.

***

Die Bürouhr zeigte 17.30 Uhr. Hauptkommissar Salvatore Hieronymus Koslowski hatte den ganzen Tag im Gericht zugebracht. Der Prozess gegen Tesboč hatte begonnen. Tesboč war von der Schussverletzung genesen und würde sich für den Mord an fünf, vielleicht auch sechs Menschen verantworten müssen. Koslowski war als Zeuge vernommen worden. Die Dienstaufsicht hatte ihn im Zusammenhang mit Tesbočs Verhaftung noch einmal mit einer Rüge davonkommen lassen. Der nächste Makel in seiner Personalakte. Er hatte aufgehört sie zu zählen. Am späten Nachmittag war er dann zurück ins LKA gefahren und hatte seinen Schreibtisch nach neuen Mitteilungen durchwühlt. Ordnung war nicht seine Stärke. Jetzt saß er an seinem Schreibtisch, um sich auf den nächsten Prozesstag, der in zwei Tagen stattfinden sollte, vorzubereiten. Er war erneut vorgeladen worden. Zur Vorbereitung hatte er sich dazu noch einmal die Akte geholt. Er las sich die Berichte ein wiederholtes Mal durch. Der Regen prasselte geräuschvoll gegen die Fensterscheiben des Büros. Mal stärker, mal schwächer, doch mit Ausdauer. Nach einer Weile sah Koslowski zu Tom Meyerbrincks aufgeräumtem Arbeitsplatz hinüber, fragte sich, wo er steckte. Dann fiel ihm ein, dass Tom gesagt hatte, er mache heute früher Feierabend. Es war ihm wohl gelungen. Eine nette Familienfeier, so hatte es Meyerbrinck genannt. Koslowski hatte ihm missmutig widersprochen. Das sind nur familiäre Verpflichtungen, hatte er gemeint und dabei mürrisch das Gesicht verzogen. Meyerbrinck fand, es sagte alles über seinen Freund und Chef aus. Er nahm es ihm nicht übel. In solchen Situationen tat er ihm einfach nur leid. Und das nervte wiederum Koslowski, weil es deutlich in Meyerbrincks rundem, rosigen Gesicht geschrieben stand.

Das Klopfen am Türrahmen riss ihn aus den Gedanken. Ben Lorenz, die schulterlangen, dünnen Haare, die seine Halbglatze säumten, nach hinten zu einem Zöpfchen gebunden und wieder mit einem seiner farbenfrohen Hemden bekleidet, stand in der Tür. Koslowski sah ihn an und stellte fest, es war eindeutig zu warm. Er wünschte sich die nicht funktionierende Heizung zurück.

Lorenz‘ Westover oder Westen waren farblich nicht ganz so grell.

»Sal, wir machen Feierabend.« 

»Von was?« Koslowski grinste Lorenz schräg an. Seine Art von Humor.

Mit wir meinte Lorenz sich und die Kollegen Bulut, Kempa, Grabowski und Di Stefano, die hinter ihm standen. Sie hatten wie immer den Dienstältesten vorgeschickt. Frederieke Bloom war heute zu Hause geblieben, da ihr kleiner Sohn Michel an einer Mittelohrentzündung litt. Morgen würde dafür Matteo Di Stefano, ihr Lebenspartner und der Vater von Michel, zu Hause bleiben. Tom Meyerbrinck hatte es befürwortet. Koslowski war es egal, Hauptsache der Laden lief.

»Von dem harten Tag mit dir«, entgegnete Lorenz schlagfertig. Hinter ihm kicherte es. Koslowski vermutete, dass das Gekicher von Ibrahim Bulut kam. Er grunzte kurz, was man als Lacher deuten konnte.

»Ich war doch kaum da«, entgegnete er.

»Ein paar Minuten reichen manchmal schon.«

Koslowski verzog beleidigt das Gesicht. »Alles klar, wir sehen uns morgen.« 

Lorenz lachte und hob zum Abschied die Hand, auch die anderen Kollegen, die hinter ihm standen, winkten. Koslowski nahm es nur noch aus den Augenwinkeln wahr, er hatte sich schon wieder der aufgeschlagenen Akte zugewandt. Es war noch etwas Zeit, bevor er zum Union Jack aufbrechen wollte.

***

Es war 18.15 Uhr. Für Van Bergen wurde es Zeit, sich fertig zu machen. Er war dran, die Flasche für den heutigen Abend auszusuchen, für die kleine Runde, die sich einmal im Monat mittwochs bei Wein & Whisky traf. Ein kleiner Laden unweit der Hauptstraße in Berlin-Friedenau. Früher befand sich der Laden in der Eisenacher Straße. Damals brauchte er nur aus dem Haus gehen und ein paar Meter auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlanglaufen. Keine 2 Minuten. Das war seit etwas mehr als einem Jahr vorbei. Der Laden war umgezogen. Jetzt musste er noch ein paar Stationen mit dem Bus fahren.

Er hatte gehofft, Taek zu sehen, bevor er zu dem Treffen aufbrach, und war deswegen extra früher aus dem Büro gekommen. Doch der war nicht zu Hause. Seit Taek das Thairestaurant am Winterfeldtplatz eröffnet hatte, vollzog sich bei ihm eine Veränderung. Taek war mit dem Erfolg selbstbewusster geworden. Van Bergen wusste noch nicht, ob ihm das gefiel. Was er wusste, er liebte ihn. War es Eifersucht, Neid, Angst? Er war sich darüber nicht im Klaren. Nur, dass sie jetzt weniger Zeit miteinander verbrachten. Taek war 15 Jahre jünger als er und sah entschieden jünger aus. Er, Van Bergen, war Mitte 50. Bald würde er in Pension gehen. Wie ginge es dann mit ihnen weiter? Eine Frage, die ihn schon länger beschäftigte, in letzter Zeit häufiger. Er hatte schon überlegt, Taek zu fragen, ob sie heiraten wollen. Doch er war sich unsicher, hatte Angst vor einem Nein.

Van Bergen strich sich über die messerscharfe Bügelfalte seiner Stoffhose. Er seufzte. Taek würde wohl nicht mehr kommen, bevor er losging. Er beschloss, er würde heute Nacht auf ihn warten. Der Inner Circle ging eigentlich nie länger als bis 22.00 Uhr. Das Restaurant schloss um 23.00 Uhr. Er fand, dann hatten sie noch genug Zeit für einander.

3.

Die Hände in den Hosentaschen vergraben stand er in seinem Wohnzimmer und sah aus dem Fenster. Es regnete. Tropfen klatschten an die Fensterscheiben. Das Tageslicht hatte sich endgültig verabschiedet und am abendlichen Himmel war kein Mond zu sehen. Eine einsame Straßenlaterne spendete warmes Licht, ließ die Regentropfen an der Scheibe schimmern. Die kahlen dünnen Äste des Baumes vor seinem Haus schwankten zitternd im Wind. Pfützen bildeten sich in den Senken der mit Kopfsteinen gepflasterten Straße. Die trübe Aussicht verstärkte seine gedrückte Stimmung. Eigentlich hatte er keine Lust, bei diesem Wetter noch einmal loszugehen. Er überlegte, hatte es diesen Winter überhaupt schon einmal geschneit? Er konnte sich nicht erinnern. Aber vermutlich schon, wenn der Schnee auch nicht vorgehabt hatte liegenzubleiben, und er hatte sich diesen Winter kompromisslos daran gehalten. Jedenfalls hier. In anderen Teilen Deutschlands lag er noch meterhoch.