Der König ist tot, lang lebe der König - J. U. Gowski - E-Book

Der König ist tot, lang lebe der König E-Book

J.U. Gowski

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  • Herausgeber: epubli
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Weihnachtszeit. Für Koslowski und sein Team gibt es nicht viel zu tun. Das ändert sich schlagartig, als ein Mann in der Hochhaussiedlung im Märkischen Viertel aus großer Entfernung durch einen Kopfschuss getötet wird. Schnell stellt sich heraus, dass der Tote zu einer Gruppierung gehörte, die sich "Freunde des Märkischen Viertels" nennen und die vom Verfassungsschutz überwacht wird. Koslowski vermutet schnell, das der Tote ein V-Mann gewesen war. Musste er deswegen sterben? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter?Da gibt es den nächsten Toten.

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Seitenzahl: 292

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Epilog

Das Buch:

Weihnachtszeit. Für Koslowski und sein Team gibt es nicht viel zu tun. Das ändert sich schlagartig, als ein Mann in seiner Wohnung, in der Hochhaussiedlung des Märkischen Viertels, aus großer Entfernung durch einen Kopfschuss getötet wird. Schnell stellt sich heraus, dass der Mann zu einer Gruppierung gehört, die sich Freunde des Märkischen Viertels nennen und vom Verfassungsschutz überwacht wurden. Koslowski vermutet, dass der Tote ein V-Mann gewesen war. Musste er deswegen sterben? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter? Da gibt es den nächsten Toten.

Der Autor:

J.U. Gowski, 1962 geboren, lebt in Berlin.

»Der König ist tot. Lange lebe der König.« ist der dritte Kriminalroman um Chefermittler Salvatore Hieronymus Koslowski.

Bisher erschienen:

1.Band »4467 Tage« ISBN: 9783740725648

2.Band »Die Harry Brown Liste« ISBN: 9783740733162

J.U. Gowski

Der König ist tot.

Lang lebe der König.

Koslowskis 3. Fall

Ein Berlin Krimi

Texte:

© 2018 Copyright by J.U. Gowski

[email protected]

www.berlin-krimi.com

Umschlaggestaltung:

© 2018 Copyright by Jörg Ugowski

[email protected]

www.ugowski.com

Überarbeitete Neuauflage © 2020

Verlag:

Jörg Ugowski

Tschaikowskistraße 3

13156 Berlin

[email protected]

Druck:

epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb. dnb.de abrufbar.

»Respect«

Aretha Franklin

Dienstag 31.10.

1.

Der kleine Tarek stand im Flur und schmulte zu dem runden Tisch im Wohnzimmer. Das mittägliche Sonnenlicht fiel durch das Fenster auf den Glastisch. Darauf lag, das Sonnenlicht reflektierend, das neue iPhone seines Vaters in dem offenen Karton. Der Vater war stolz damit nach Hause gekommen. Sie hatten lange dafür gespart. Vorsichtig hatte der Vater den Karton geöffnet und mit spitzen Fingern das Handy herausgeholt. Er zeigte es erst stolz Tareks älteren Brüdern und dann seiner Frau. Sie durften es sogar in die Hand nehmen. Nur er nicht. Er fand das gemein. Immer nur seine Brüder. Wie oft bekam er zu hören: Dafür bist du noch zu klein, zu jung oder das versteht du noch nicht. Dabei wird er im nächsten Monat schon fünf. Vielleicht konnte er jetzt heimlich einen Blick darauf werfen. Sein Vater war mit seinen Brüdern zu dem türkischen Supermarkt vorn am Märkischen Zentrum gegangen, um Gemüse und Fleisch zu kaufen. Nur seine Mutter war noch da. Sie war in der Küche beschäftigt. Vorsichtig schlich er zum Tisch. Er lauschte. Aus der Küche drang das Geklapper von Töpfen. Vorsichtig nahm er das Handy aus dem Karton. Er war gerade dabei zu untersuchen, wie sich das Handy einschalten lässt, als er plötzlich hinter sich die laute Stimme seiner Mutter hörte: »Was machst du da?«

Vor Schreck ließ er das Handy fallen. Es knallte mit der Ecke auf die Metallfassung des Tisches und dann auf den Boden. Die Augen der Mutter weiteten sich vor Entsetzen. Sie eilte zum Handy, hob es hoch und sah die kleine Delle. Tarek weinte. Vorsichtig legte sie es in die Verpackung zurück. Sie wusste, dass es ihre Schuld gewesen war. Es machte sie untröstlich. Und in ihr stieg die Angst hoch, ihr jähzorniger Mann würde es herausfinden. Er hatte sie schon für weniger verprügelt. Sie wandte sich an ihren jüngsten Sohn und sagte: »Nichts passiert. Alles ist gut. Nur darfst du es niemanden sagen, dass du das Handy deines Vaters ohne seine Erlaubnis in die Hand genommen hast. Verstehst du?«

Sie sah ihren jüngsten Sohn eindringlich an. Tarek nickte und wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Kann ich noch etwas Halva haben?«, fragte er und lächelte wieder fröhlich.

Die Uhr zeigte kurz nach 13:00. Um diese Zeit war nicht viel los, außer in der Handyabteilung. Der Sicherheitsmann am Eingang stand gelangweilt da und verfolgte Kamal Messaoudi mit misstrauischen Blicken, wie der wutentbrannt den Markt betrat, um zielstrebig zum Servicepunkt zu eilen. Der Service befand sich gleich neben den Kassen. Zwei Kassen waren besetzt. Einige wenige Kunden standen dort, um ihre Ware zu bezahlen.

Kamal hatte es eilig, begann doch seine Schicht in der Spielhalle in Spandau um 14:00 Uhr. Er hatte die Spätschicht. Er legte sein defektes Handy auf den Tresen, stierte die Servicemitarbeiterin an und sagte: »Kaputt.«

Die Frau in dem blauen Hemd versuchte freundlich zu bleiben, obwohl es ihr gegen den Strich ging, dass immer öfter noch nicht einmal die normalsten Höflichkeitsfloskeln wie ein »Guten Tag« zur Anwendung kamen. Auch mit einem einfachen freundlichen »Hallo« wäre sie zufrieden gewesen. Aber sie wusste: Es war kein Problem des Geburtsortes. Allgemein war hier im Viertel der freundliche Umgang miteinander, der Respekt verloren gegangen. Aber vielleicht nicht nur hier. Sie seufzte und sagte mit einem bemühten Lächeln: »Guten Tag. Was haben wir denn für ein Problem?«

Kamal Messaoudi sah sie verärgert an und wiederholte: »Du nicht gehört? Handy kaputt!«

»Was ist denn kaputt?«

»Siehst du nicht? Display! Will neues«, sagte er ungeduldig.

»Wenn das Display kaputt ist, muss es eingeschickt werden. Zur Reparatur. Das kostet aber was«, entgegnete sie.

»Nix einschicken. Garantie. Heute früh gekauft. Will neues.«

»Da ist nichts mit Garantie. Das Handy ist ihnen runtergefallen. Sehen sie, da.« Sie zeigte auf die Delle an der Seite. »Deswegen ist das Display gesprungen.«

»Mir nicht runtergefallen. Heute früh gekauft. Garantie. Will neues. Ich ehrlicher Mann«, rief Kamal aufgebracht.

»Das ist kein Garantiefall. Es gibt kein neues. Vielleicht hat es ja jemand anderes fallen lassen«, versuchte sie, eine Brücke zu bauen. Er schien kurz zu überlegen. Verwarf dann den Gedanken aber, dabei resolut den Kopf schüttelnd. »Niemand nimmt Handy von mir ungefragt.«

Es klang sehr bestimmt. Er sah die Mitarbeiterin an. Sie zeigte keine Reaktion. Das machte ihn wütend. Heftig rief er: »Das machst du nur, weil ich bin Ausländer. Ein Deutscher hätte bekommen neues Handy!«

»Das hat mit Ausländer oder Nicht-Ausländer gar nichts zu tun«, rief die Servicemitarbeiterin empört. Sie war aufgebracht.

»Du Nazi Hure«, schrie er und spuckte sie an. Dann griff in die Hosentasche und zog ein Messer. Sie konnte gerade noch zurückspringen, als er es mit Schwung gegen sie führte. Blass und zitternd stand sie da. Da griff er das Handy und warf es nach ihr. Die vier Kunden und die beiden Mitarbeiterinnen an den Kassen standen wie erstarrt. Der vormals gelangweilte Sicherheitsmann, der vom Eingang aus den Trubel mitbekommen hatte, trat heran und sagte: »Jetzt reicht es aber.« Das Messer in der Hand Kamals bemerkte er nicht. Und Kamal stach zu. Der Sicherheitsmann schrie auf. Eine Kundin auch. Als ihm bewusst wurde, was er getan hatte, stürzte Kamal Messaoudi aus dem Markt. Der Sicherheitsmann hielt sich den verletzten Arm. Blut tropfte auf den blauen Teppichbelag. Wenig später trafen zwei Krankenwagen und die Polizei ein. Der verletzte Security Mann und die unter Schock stehende Mitarbeiterin wurden abtransportiert. Der ältere der beiden Polizisten nahm die Personalien sowie die Aussagen der beiden Kassiererinnen und der zwei Kunden auf. Die anderen Kunden waren schon gegangen. Sie hatten es auf einmal sehr eilig gehabt und ihre Einkaufskörbe einfach stehen gelassen.

Der beleibte Sicherheitschef Emmo Iljazi trat zu den beiden Polizisten und gab Ihnen einen USB Stick.

»Das sind Aufzeichnungen unserer Kameras.«

Er zeigte an die Decke über den Kassen und zum Eingang. Der jüngere Polizist nahm den USB Stick entgegen.

»Und wo ist das Handy, um das es ging?«

Der Sicherheitschef zeigte zum Boden, wo es gelandet war, nachdem es die Servicemitarbeiterin am Kopf getroffen hatte. Es lag immer noch dort in der Ecke.

»Gut wir kümmern uns darum. Sie müssen noch das Protokoll unterschreiben.«

Der Sicherheitschef wackelte traurig mit dem Kopf: »Was für eine Welt. Alles wegen so eines blöden iPhones.«

Der Polizist sah ihn an: »Ja, und man hat nicht den Eindruck, dass es besser wird.«

2.

Nasser Al-Sharif saß in seinem Büro. Jedenfalls nannte er so den hinteren Raum, der sich an die Gaststube seines Falafel-Bistros anschloss. Er war spärlich möbliert mit einem alten runden Holztisch, an dem vier ebenso betagte Stühle standen und einem kleinen wackligen Tischchen an der Wand. Darauf stand eine billige Musikanlage, aus der meistens die klagende Stimme der Sängerin Fairuz zu hören war. Er liebte sie. Nasser Al-Sharif kratzte sich seinen umfangreichen Bauch, über den sich eine bekleckerte Schürze spannte, während er sich noch einmal die Computerausdrucke ansah. Sie lagen verstreut auf dem Tisch. Es waren Ausdrucke von Fotos junger Frauen einer russischen Heiratsplattform aus dem Internet. Daneben standen die persönlichen Angaben. Zarif sah ihm dabei schweigend zu. Nach einer Weile klaubte Nasser vier davon hervor, verglich noch einmal seine Notizen, die er auf die Rückseiten geschrieben hatte und schob sie zu Zarif über den Tisch. Er sagte: »Die sind genau richtig. Check ihre Angaben, wenn sie stimmen, setz unseren Gigolo darauf an.«

»Und die anderen?«, fragte Zarif.

»Zu alt. Oder zu komplizierter Background oder zu viel Familie. Da könnten Fragen auftauchen. Such dir was aus.«

Zarif murmelte leise: »Da haben sie ja Glück gehabt.«

Er faltete die Ausdrucke und steckte sie in seine Manteltasche.

»Deswegen«, fuhr Nasser fort, er hatte Zarifs Bemerkung nicht gehört, »bevorzuge ich Waisen oder Kinder von Eltern, die sich im russischen Winter ihr Hirn weggesoffen haben.« Er kicherte kurz, wurde dann wieder ernst. »Die sind froh über jeden Dollar und stellen keine Fragen.«

Zarif sah Nasser Al-Sharif an und fragte: »Noch was?«

Etwas an dem Klang der Stimme ließ Nasser aufmerksam werden. Er sah in Zarifs schmales Gesicht. Zarifs Augen funkelten unter den sorgsam gezupften Augenbrauen.

»Was passt dir nicht?«

»Das weißt du«, antwortete Zarif kurz angebunden. Er hatte nicht vor weiter darauf einzugehen.

Nasser sah ihn verärgert an. Eine scharfe Falte bildete sich zwischen den Augenbrauen. »Ich werde nicht wegen deiner moralischen Anflüge auf diese Einnahmequelle verzichten.«

»Das weiß ich. Ich find nur, es ist etwas anderes, wenn sich Frauen freiwillig zu so etwas hergeben, egal aus welchen Gründen, als sie mit falschen Versprechen aus ihrer Heimat zu locken.«

Nasser schwieg belustigt.

Stille Wut zeigte sich in Zarifs Gesicht. Über die Wangenknochen zog sich eine leichte Blässe.

»Auch wir mussten aus unserer Heimat weg.«

»Du kannst dich doch kaum erinnern. Wie alt warst du da? Zwei?«, entgegnete Nasser.

Zarif schwieg.

»Woher kommen deine moralischen Anwandlungen? Früher hab ich die nicht bemerkt.«

Zarif sah Nasser weiter finster an. Der fuhr unbeirrt fort: »Ich weiß ja, dass du ein Gentleman bist. Aber steh damit nicht unseren Geschäften im Wege.«

Zarif vernahm den metallischen Klang in Nassers Stimme, die leichte Schärfe und wusste, es war besser zu schweigen. Zarif nickte.

»Ist es wegen der Bommer?«, fragte Nasser plötzlich.

Zarif sah seinen Boss mit steinerner Miene an.

Nasser Al-Sharif bekam einen lauernden Blick.

»Du würdest es mir doch sagen, wenn du mit ihr ein Verhältnis angefangen hast?«

Zarif antwortete kurz angebunden: »Du weißt, dass ich es dir sagen würde.«

»Weiß ich das? Sie ist meine Anwältin und ich würde es nicht lustig finden, wenn sich Privates mit Beruflichem vermischt.«

Sie maßen sich mit Blicken. Dann lächelte Nasser und sagte: »Hau ab und sieh zu, dass du das für mich erledigst.«

Zarif drehte sich wortlos um und verließ das Büro. Die Tür ließ er offen stehen. Nasser Al-Sharif sah ihm nachdenklich hinterher.

Zarif öffnete die Tür seines Jaguars, den er in der kleinen Seitenstraße geparkt hatte und setzte sich hinein. Er schloss die Augen. Er musste an die Frage von Nasser denken und seinen Blick dabei. Er sollte Kirsten anrufen. Er traute Nasser nicht über den Weg. Noch hatten sie Zeit, ihre Pläne umzusetzen. Zarif wusste: Nasser Al-Sharif würde nichts unternehmen, bis er sich nicht ganz sicher war, dazu betrachtete er ihn zu sehr als seinen Sohn. Zarif öffnete die Augen, sah die kahle Trostlosigkeit der Bäume, die in den stahlgrauen Himmel ragten. Nichts davon war dazu geeignet seine Stimmung zu heben. Die Stimme von Kirsten vielleicht. Entschlossen griff er zum Telefon und wählte die Nummer. Nach einem Freizeichen hörte er schon ihre helle Stimme sagen: »Hallo Liebling, was gibts?«

»Er ahnt was.«

Stille am anderen Ende. Sie zog sich hin. Dann die bange Frage: »Was sollen wir tun?«

»Erstmal nichts. Wir halten den Ball flach.« Er hörte sie seufzen. »Wir werden uns für eine Weile nicht sehen. Nasser wird auch bei dir auf den Busch klopfen. Sei vorsichtig. Denn wenn er Gewissheit bekommt und weiß, dass wir ihn hintergangen haben, sind wir tot.«

»Aber wie lange darf ich dich nicht sehen?«

»Ich denke, mindestens einen Monat.«

»So lange?«

»Ja.« Er atmete tief durch. »Ich werde ein paar Vorbereitungen treffen. Für den Fall der Fälle. Falls wir schnell wegmüssen.«

»Wir wollten doch erst in einem halben Jahr…«

»Ja, das bleibt auch Plan A«, unterbrach er sie. »Aber nach dem jetzigen Stand der Dinge ist es nicht schlecht auch einen Plan B zu haben.«

Sie schwieg dazu. Dann holte sie tief Luft und flüsterte: »Du musst ihn töten.«

Zarif wurde blass. und sah auf das Display. Das konnte sie nicht ernst meinen und er schrie in das Handy: »Niemals. Er ist wie ein Vater für mich.«

Sie schwieg. Und dann sagte sie ruhig, mit eisiger Stimme: »Du weißt, dass es am Ende darauf hinauslaufen wird. Wir können uns nicht ewig verstecken. Und selbst wenn dein Plan A gelingt. Er wird uns verfolgen und finden.«

»Nein«, sagte Zarif wütend und klappte das Vertu Handy zu.

Samstag 18.11.

3.

K.N. Tesboč, von Freunden Nicky genannt, saß am Schreibtisch und strich sich über den Bauch. Er wölbte sich leicht. Die Ernährungs-App, die Tesboč sich auf das Handy geladen hatte, Nicky Tesboč nannte die App Detlef, war wenig hilfreich gewesen. Vielleicht lag es daran, dass Tesboč Detlef mittlerweile ignorierte. Tesboč sah hinüber zu den Plänen, die an der Wand im Zimmer angepinnt waren. Das Internet, eine unerschöpfliche Quelle: Man konnte Anleitungen aller Art und auch Konstruktionspläne herunterladen. Und Tesboč hatte die Quelle ausgiebig genutzt, wusste jetzt, wo der Schuss anzusetzen war, um bei dem Elektromobil aus größerer Entfernung die Bremsen auszuschalten, so dass es auf die Fahrbahn rollen musste. Es sollte wie ein Unfall aussehen, denn Nicky Tesboč hatte noch einiges vor. Es standen bisher drei Namen auf der Liste und dazu benötigte man Zeit. Nicky Tesboč sah auf die Uhr. Noch eine Stunde um sich fertigzumachen und die Position auf dem Dach einzunehmen. Keine Eile, alles war sorgsam geplant, ausgerechnet und vorbereitet. Tesbočs Angst, die Schießkünste wären im Laufe der Jahre ohne Training eingerostet oder gar unwiederbringlich verloren gegangen, erwies sich nach ein paar Übungen in den brandenburgischen Wäldern als haltlos. Die Treffsicherheit kehrte zurück. Jetzt musste nur noch das Opfer mitspielen, und die Ampel. Wenn es nicht gleich beim ersten Versuch klappte, dann beim nächsten. Nicky Tesboč hatte Zeit, viel Zeit, hatte nichts Besseres vor.

Ein 67 Jahre alter Mann, mit verbissenem Gesicht und wulstigen Lippen raste auf seinem Elektromobil den Bürgersteig entlang. Zwei Passanten sprangen fluchend beiseite. Im Märkischen Viertel war er für seine Rücksichtslosigkeit bekannt wie ein bunter Hund. Es scherte ihn nicht. Rücksicht war was für Schwache. Auch wenn vielleicht der Eindruck entstand, dass er auf das Elektromobil angewiesen war. War er nicht! Das war Kalkül. Zwangsläufig brachte er andere damit in die Defensive und dazu, Rücksicht auf ihn zu nehmen. Busfahrer, Verkäufer, Mitmenschen. Und jetzt war er wütend. Er ärgerte sich immer noch maßlos darüber, dass die Schlampe vom Saturn Service ihm den MP3 Player nicht zurückgenommen hatte. Angeblich wegen erheblicher Gebrauchsspuren und über einen Monat alt. Gut, das mit dem Monat stimmte. Aber bei den Gebrauchsspuren war die ganz schön pingelig. Laberte etwas von: nicht mehr im verkaufsfähigen Zustand. Bei ihr hatte die Mitleidstour nichts gebracht. Dabei hatte er sich berechtigte Hoffnung gemacht, weil er mitbekommen hatte, dass die andere, die sonst immer den Servicetresen bewachte und ihn nicht leiden konnte, schon länger fehlte. Krank wahrscheinlich. Aber ihre Vertretung war auch nicht besser. Und der Geschäftsführer war nicht da, was auch blöd war. Letztens hatte es mit dem ganz gut geklappt. Er hatte sogar noch einen Gutschein bekommen für die Unannehmlichkeiten. Wenn der wüsste. Er konnte sich ein Kichern nicht verkneifen. Egal, der Geschäftsführer, Herr Altmann ist morgen wieder da, so lautete die Auskunft. Das roch wieder nach einem Gutschein für ihn. Eigentlich wollte er die eine Station mit dem Bus fahren. War extra über die Straße zur Haltestelle gefahren. Aber eins kam zum anderen, die Busse hatten Verspätung. Er sah auf die Uhr. Es war 18:55 Uhr und es wurde langsam knapp. Um 19:00 Uhr war das Treffen der »Freunde des Märkischen Viertels« anberaumt. Diesmal bei dem Mayer, der wohnte Wilhelmsruher Damm 114. Seit einem halben Jahr traf sich die kleine Gruppe regelmäßig in der Wohnung eines Mitglieds, um zu diskutieren, wie der Zuzug der Ausländer in ihrem Viertel gestoppt werden konnte. Vorher waren sie nur zu viert gewesen. Eine nette Skatrunde, die sich im Western Saloon, der sich neben dem Fontane-Haus befand, kennengelernt hatte. Das war fünf Jahre her. Aber bei den unweigerlich aufkommenden Diskussionen über Merkels Empfangskultur merkten sie, dass sie mehr vereinte als nur das Skatspiel. Ihre kleine Verschwörergruppe wuchs auf sieben Leute an und man beschloss: Es sollten bald Taten folgen. Er war nicht mehr weit weg von der Kreuzung. Die Ampel zeigte noch grün. Er drückte auf die Tube und raste auf sie zu, hoffte, es noch zu schaffen. Als sie auf rot schaltete, war er keine drei Meter mehr entfernt. Da spürte er einen Schlag gegen die Lenksäule, wunderte sich. Er war doch nirgends gegen gestoßen. Er wollte abbremsen. Die Bremse funktionierte nicht. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder, lähmte ihn. Er raste auf die Kreuzung zu. Dann auf die Straße. In der Mitte der Fahrbahn erfasste ihn ein Mercedes mit goldenen Radkappen, der gerade den 124er Bus überholte und nicht mehr ausweichen konnte. Rüdiger Funke wurde auf die andere Straßenseite geschleudert und dort von einem Laster, der Weihnachtsbäume transportierte, überrollt.

Nicky Tesboč hatte es vom Dach aus beobachtet und war zufrieden mit dem Resultat. Langsam packte Tesboč das Gewehr in den Koffer, sammelte die Patrone ein. Das ganze verschwand in dem Rucksack. Von weitem waren die Sirenen der Notarztfahrzeuge zu hören. Tesboč sah sich noch einmal um. Nickte zufrieden. Keine Spuren zu sehen. Beim Treppenhinunterlaufen stellte Nicky Tesboč fest, einen Menschen zu töten war gar nicht so schwer. Das Gewissen regte sich jedenfalls nicht. Es hatte etwas Gottgleiches. Leben geben, Leben nehmen. Und irgendwie hatte Nicky Tesboč das Gefühl, seit langer Zeit wieder glücklich zu sein.

Dienstag 19.12.

4.

Es war ruhig. Eine friedliche Zeit. So sollte es Weihnachten immer sein, dachte S.H. Koslowski. Keiner der seinen Ehepartner im Streit tötete. Kein Enkel, der seine Oma für Hundert Euro umbrachte. Kein Mann, der den lärmenden Nachbarn mit einem Hammer ruhigstellte.

Aber Chefermittler Salvatore Hieronymus Koslowski traute dem Frieden nicht. Die Ruhe machte ihn nervös, davon abgesehen, dass ihn Weihnachten grundsätzlich nervte. Er konnte es nie genießen wie die anderen Kollegen, die die kostbare freie Zeit für ihre Weihnachtseinkäufe vergeudeten. Das war nichts für Koslowski. Schon der Gedanke an die überfüllten Geschäfte mit der aufdringlich dudelnden Weihnachtsmusik ließ ihn noch griesgrämiger werden. Ein beliebtes Spiel bei der 2. Mordkommission war: Heute schon geWAHMt? Gewonnen hatte der, der als erster »Last Christmas« von WHAM hörte, dass unweigerlich irgendwann in den Kaufhäusern erklang und bei jedem Radiosender. Koslowski besorgte Weihnachtsgeschenke, wenn er denn welche kaufte, auf den letzten Drücker. Er hatte also noch Zeit. Eine Schallplatte für seinen Nachbarn, den alten Professor hatte er schon bestellt, musste sie nur noch abholen. Für Dani, wie er die Frau, die sein Leben bereicherte, nannte, weil ihm ihr richtiger Vorname nicht gefiel, war ihm noch nichts eingefallen.

Koslowski war klar, früher oder später würde etwas passieren. Es waren nur noch sechs Tage bis Weihnachten. Ihm war auch klar, je später etwas passierte, desto unwahrscheinlicher wurde es, dass es für die Kollegen ein beschauliches Fest mit Familie geben würde. Ihn als Weihnachtsmuffel störte es weniger. Nur für sein Team tat es ihm leid. Die Wahrscheinlichkeit, einen Fall in ein paar Stunden zu lösen, war relativ gering. Es sei denn, das Glück half nach. So etwas hatte er aber erst einmal in seiner über zwanzigjährigen Karriere erlebt. Da hatte der Täter seinen Ausweis neben der Leiche verloren. Sie mussten ihn nur aus seiner Stammkneipe, der »Stumpfen Ecke« einsammeln.

Koslowski wollte den Arbeitstag ruhig angehen und hatte zur Einstimmung erstmal den Sportteil der Zeitung gelesen. Sein Verein, der 1. FC Union Berlin hatte am Freitag wieder mal verloren. Zu Hause. Ein unglückliches 1:2. Er hatte schon am Anfang der Saison nicht an einen Aufstieg mit diesem Kader geglaubt. Im Gegensatz zu einigen anderen, einschließlich Vereinspräsident und Trainer. Jetzt gab ihm die Presse recht. Für Koslowski wäre der Aufstieg eindeutig zu früh gekommen und seine Eisernen wären nur zum Kanonenfutter für die etablierten Vereine der 1. Bundesliga verkommen. Er war seit er zehn Jahre alt war, Fan der Eisernen. Aus einem ganz profanen Grund: Die zwei großmäuligsten Typen in seiner Klasse, die ihm und seinem Freund R.R. so richtig auf die Nüsse gingen, waren erfolgsverwöhnte BFC Fans gewesen. Mit vierzehn war er dann das erste Mal im Stadion an der Alten Försterei gewesen. Am Anfang war R.R. öfter mit zu den Heimspielen gekommenen. Dann verlor er das Interesse und fing an Judo zu trainieren. Koslowski blieb den Eisernen treu.

Nach der Zeitungslektüre hatte er sich über alte Akten hergemacht, die er sich aus dem Archiv geholt hatte. Es gab nicht viele ungelöste, kalte Fälle seines Teams, aber es gab sie. Jetzt war es mittlerweile 17:00 Uhr. Frederieke Bloom war gegen 15:00 Uhr gegangen, um ihren Sohn Michel aus der Kita abzuholen. Ihr Freund, der Vater des Kindes, Matteo Di Stefano war mit Ben Lorenz unterwegs, um eine Zeugin zu befragen. Es ging um einen alten Fall. Koslowski hatte sie darum gebeten. Die anderen Kollegen, Tom Meyerbrinck, Frank Grabowski, Marcus Kempa und Ibrahim Bulut saßen an dem großen Tisch im Besprechungsraum. In der Ecke stand der Weihnachtsbaum, den Frederieke organisiert hatte. Er war geschmückt mit kleinen Figuren aus Filz und Stoff, die Elche und Rehe darstellten. Skurrilen Köpfen von Weihnachtsmännern und Schneemännern auf Glocken. Kleinen bemalten Bronzeglöckchen, kurz, nicht der profane deutsche Weihnachtsschmuck. Dieser etwas andere Schmuck war der Grund, warum die Tanne überhaupt erst mit dem Segen von Koslowski aufgestellt werden durfte. Die letzten Jahre hatte er sich noch erfolgreich dagegen gewehrt. Frank Grabowski hatte den Weihnachtsschmuck aus Schottland mitgebracht, ihn in einem kleinen Geschäft in Pitlochy entdeckt, das scheinbar ganzjährig nur Weihnachtsschmuck verkaufte. Gemeinsam mit Frederieke Bloom überzeugte er seinen Chef und Koslowski musste ihnen recht geben. Sie sah gut aus, die Tanne. Auf dem Tisch stand ein großes Tablett mit Lokma, türkischen Teigbällchen in Sirup. Für Bulut, den Moslem im Team, beschränkte sich das Weihnachtsfest darauf, die Kollegen mit türkischen Süßigkeiten und Backwaren zu verwöhnen. Seine Frau war eine Meisterin darin. Jeden Tag in der Weihnachtswoche eine andere frisch zubereitete süße Speise. Ob Lokma, Lokum, Tulumba oder Künefe, Kempa aß wieder mehr, als ihm gut tat. Bulut freute es. Koslowski machte sich nicht viel aus den Speisen, aß aber aus Anstand auch mal ein Stück mit. Meist verzog er sich dann kurz danach mit einem Kaffee in der Hand wieder in sein Büro, das er sich mit Meyerbrinck teilte. Das Telefon klingelte und riss ihn aus den Gedanken.

Er nahm ab. »Koslowski«, meldete er sich.

»Hallo Chef. Fehlanzeige«, sagte Di Stefano am anderen Ende der Leitung.

»Schade, aber nicht zu ändern. Danke.« Er wollte schon auflegen, schob dann aber noch schnell ein »Macht Feierabend für heute« hinterher.

»Ist gut. Ciao, bis morgen.« Di Stefano legte auf.

Koslowski hielt noch das Telefon in der Hand, als Meyerbrinck das Büro betrat. Koslowski blickte auf und sagte: »Macht Feierabend. Sag auch den anderen Bescheid.« »Mach ich gleich, muss aber noch mal in mein Mailfach schauen. Und du? Soll ich dich dann mitnehmen?«, fragte Meyerbrinck. Koslowski zögerte leicht. Schüttelte dann aber verneinend den Kopf.

»Danke für das Angebot, aber ich bleib noch ein bisschen, les nochmal die Akten durch.« Er klopfte dabei auf den Stapel, der vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Und vielleicht geh ich nachher noch ins Union Jack auf ein, zwei Murphys. Hab ja keinen, der auf mich wartet, außer Kater Leo. Und der wird es sich es wieder beim Nachbarn gemütlich gemacht haben.«

»Gut. Ich sag dann gleich den Kollegen Bescheid.« Meyerbrinck setzte sich an seinen Schreibtisch und öffnete mit einem Klick sein Postfach. Aufgeregt klickte er die eingegangene Mail an. Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Vor Freude wuselte er sich nervös durch seinen roten Haarschopf.

Koslowski sah ihn fragend an.

»Eine Mail auf die ich ungeduldig gewartet habe«, beantwortete Meyerbrinck Koslowskis fragenden Blick.

»Und?« Koslowski war neugierig.

Das Lächeln auf Meyerbrincks Gesicht wurde breiter und Koslowski ungeduldiger.

»Ich hab das Geburtstagsgeschenk für Charlotte!«

»Und was ist es?«

»Eine Kiste Bier.«

Koslowski starrte Tom Meyerbrinck irritiert an.

»Wir haben doch voriges Jahr in Belgien, genauer gesagt in so einem kleinen Gasthof in Ternell ein Bier getrunken, was meiner Frau unheimlich gut geschmeckt hat«, erklärte Meyerbrinck. »Ein Ingwer Bier. Nennt sich MyDay. Ist vom dortigen Koch kreiert worden.«

»Ein Koch, der Bier trinkt, ganz mein Fall«, warf Koslowski ein.

»Und seitdem habe ich versucht, es irgendwo aufzutreiben«, fuhr Meyerbrinck unbeirrt fort. »Sie haben es damals auch schon in Flaschen abgefüllt. Die letzten zwölf aus ihrem Vorrat hatten wir gleich eingesackt.«

»Und jetzt weißt du, wo du es herbekommst?«

»Genau.«

Er sah Koslowski voller Stolz an.

»Hab im Netz recherchiert und es in der Touristen Info in Eupen gefunden. Die verkaufen das Bier dort. Ich habe gleich dort per Mail angefragt, die versenden aber nicht, haben aber meine Anfrage weitergeleitet. Kurze Zeit später hat sich eine Myriam Tangeten gemeldet. Sie ist die Mitinhaberin von dem MyDay Bier und die haben jetzt eine eigene Brauerei in Berterath, nennt sich Eifel Craft Beer. Und nach regem Mailverkehr hat sie eine Lösung gefunden. Ein Online-Händler wird wöchentlich mit Spezialbieren aus Belgien beliefert. Die Transportfirma sitzt in Monschau und das liegt nur 20km von Eupen. Denen hat sie die Kiste Bier mitgegeben. Da dieser Händler auch ein Ladengeschäft hat, in der Stargarder Straße, kann ich mir die Kiste dort abholen. Sie steht für mich bereit.«

»Na das nenn ich mal Service.«

»Du sagst es. Ich muss mich echt bei Myriam Tangeten bedanken.«

Koslowski sah in Meyerbrincks immer noch glücklich lächelndes Gesicht. »Das solltest du, aber später. Grüß Charlotte von mir.«

Meyerbrinck grinste. Er wusste nicht, ob das eine gute Idee war.

Mittwoch 20.12.

5.

Bernd Mayer schlurfte an der Küche vorbei, in der seine Frau das Abendbrot bereitete. Kratzte sich an seinem dicken behaarten Bauch, der unter dem gerippten Unterhemd hervorlugte, das ihm aus der Trainingshose gerutscht war. Er musterte sie im Vorübergehen missmutig. Sie war die Ursache seiner schlechten Laune und die kurze Mitteilung, die er heute in der Post gefunden hatte. Er musste zugeben, sie beunruhigte ihn mehr, als ihm lieb war. Vielleicht hatte er deswegen so gereizt reagiert, als Anna ihn fragte, ob sie heute Abend zu ihren Eltern gehen könnte. Er hatte es ihr untersagt. Einmal in der Woche sollte reichen. War es sein Problem, dass die nach den vielen Jahren hier immer noch nicht heimisch geworden waren, sich zurück nach ihrer russischen Heimat sehnten? Dabei hatten sie es doch gut hier. Eine warme Wohnung, mussten nicht hungern. Sein Staat kümmerte sich um sie. Und dann war da noch dieser Konrad Weiß, auch so ein Russland-Deutscher. Wie der immer seine Frau anstarrte. Ihr schien das zu gefallen. Er hatte sie dabei ertappt, wie sie sich neckisch im Haar spielte, wenn der Weiß sie heimlich musterte. Er ging ins Wohnzimmer und ließ sich auf die Couch fallen. Neben ihm zwischen Couch und Wand leuchtete der Weihnachtsbaum. Er hatte ihn heute Vormittag geschmückt. Auf das alte Bleilametta war er besonders stolz. Alter Familienbesitz. Wie auch der Stern, der die Spitze der Nordmanntanne zierte. Doch so richtig wollte keine Weihnachtsstimmung bei ihm aufkommen. Er stierte kurz zum Fernseher und brüllte: »Anna, Bier.«

Dabei grabschte er die Fernbedienung vom Couchtisch und schaltete den Fernseher ein.

Auf dem Dach des Hochhauses gegenüber des Wilhelmsuher Damms 114 öffnete sich eine Tür. Nicky Tesboč betrat mit einem Rucksack das Dach. Das Licht warf einen kurzen hellen Lichtschein an die Mauerbrüstung. Mit dem Schließen der Tür wurde Tesboč wieder von der Dunkelheit geschluckt. Ein kaum sichtbarer dunklerer Schatten. Tesboč zog sich die Jacke fester zu und schlug den Kragen hoch. Das Gesicht war schmal, die Nase durch die Kälte gerötet. Es war windstill und eisig kalt. Ein komisches Jahr ging zu Ende. Der Sommer hatte eigentlich nicht stattgefunden. Der Herbst war früh gekommen und schnell wieder gegangen. Und jetzt brachte der Winter Kälte. Doch der Schnee ließ auf sich warten. Es würde dieses Jahr nichts werden mit der weißen Weihnacht, wenn nicht noch ein Wunder geschah. Doch laut Wetterprognose würde es kein Wunder geben. Den länglichen Rucksack, einen alten Seesack, stellte Tesboč an der kleinen Mauer ab und beugte sich dann über die Brüstung, um hinunter in den Hof zu sehen. Alles war ruhig. Tesbočs Blick schweifte ab zur Hauptstraße, die kahlen Platanen, die den Wilhelmsruher Damm säumten, leuchteten. Sie waren jetzt in der Weihnachtszeit mit Glühlampen und überdimensionalen leuchtenden Sternen und Gebilden geschmückt, die wohl Eiskristalle darstellen sollten. Dann blickte Tesboč zu den Fenstern des Seniorenheimes, sie bemühten sich, Wärme und Behaglichkeit auszustrahlen. Das Heim war vor ein paar Jahren, sehr zur Verärgerung der Anwohner, auf ihrem ehemaligen Parkplatz errichtet worden. Das Einkaufscenter dahinter auf der anderen Straßenseite, mit vielen kleinen Geschäften, dem Kaufland und dem Saturn Markt daneben, leerte sich. Die letzten Kunden und die ersten Mitarbeiter belagerten die Bushaltestelle vor dem Märkischen Zentrum. Es war 20:12 Uhr. Auf der Kreuzung Wilhelmsruher Damm und Treuenbrietzener Straße der übliche Abendverkehr. Linienbusse mit beschlagenen Fensterscheiben spuckten an der Haltestelle Menschen verschiedenster Nationen aus. Alle dick eingepackt gegen die winterliche Kälte. Russen, Italiener, Tschetschenen, Türken, Afrikaner, Araber, Albaner, Polen, Rumänen und auch ein paar Deutsche. Im Hof plötzlich Stimmenlärm. Tesboč ging zu der Brüstung und sah neugierig hinunter. Ein paar jugendliche Deutsch-Türken balzten lautstark um ein fünfzehnjähriges Mädchen mit blondgefärbten Haaren und pinkfarbener glänzender Jacke. Es war offensichtlich, dass das Mädchen die Situation genoss. Man konnte ihr lautes Lachen bis zum Dach hören. Und die Trottel, von ihrem Testosteron gesteuert, fallen darauf herein, dachte Tesboč und schüttelte unmerklich den Kopf. Es würde nicht lange dauern und die Balgerei würde ernsthafter werden. Der Mund verzog sich zu einem geringschätzigen Lächeln. Respektlose halbstarke Bengel, ganz im Gegensatz zu ihren Vätern. Die braunen Augen musterten das gegenüberliegende Hochhaus. Tesboč hockte sich hin. Die Balkone der Häuser waren für das kommende Weihnachtsfest geschmückt. Es war einfach auszumachen, in welchen Wohnungen Deutsche oder Russen wohnten. Da leuchtete und blinkte es ohne Rücksicht auf die Stromrechnung oder Schlafstörungen der Nachbarn. Es dauerte nur einen kurzen Moment, dann hatten die Augen das richtige Fenster erfasst. Wie in all den Wochen zuvor saß der dicke Mann im Unterhemd in dem überheizten Wohnzimmer vor dem Fernseher, während seine Frau in der Küche den Abwasch machte. Vor sich auf dem Couchtisch, neben dem Adventskranz, eine Flasche Bier und eine große Glasschale mit Chips. Der Mann machte einen nervösen Eindruck. Tesbočs Mund verzog sich zu einem Lächeln. Auf der kleinen Anrichte neben der Wohnzimmertür lag der Brief. Er war geöffnet. Die Nachricht hatte ihn also erreicht. Tesboč setzte das Fernglas ab und beugte sich zu dem Seesack herunter. Dort holte Tesboč erst einen kleinen Sandsack hervor, dann den Koffer mit dem Gewehr. Eine russische Scharfschützenwaffe, WSS Wintores aus dem Bestand der sowjetischen Armee. Es waren nur ein paar kleine Gefälligkeiten für Sergej nötig gewesen. Sergej war ein junger Offizier einer Funkeinheit, die auf dem Schneekopf bei Oberhof, Tesbočs alter Heimat, stationiert gewesen war. Im Februar 1994 wurde sie als letzte Einheit abgezogen. Doch danach standen sie weiter in Kontakt. Per Brief, später per Mail und zu Weihnachten gab es Pakete. Sergej hatte es inzwischen zum Oberst in der russischen Armee gebracht. Nicky Tesboč hockte sich hin, öffnete den Koffer und entnahm die Waffe und die Schulterstütze. Tesboč setzte das Gewehr zusammen und klickte dann das PSO-1 Zielfernrohr darauf. Den Sandsack legte Tesboč auf die Brüstung, kniete sich davor nieder und stützte das Gewehr auf dem Sandsack ab. Tesboč zog den rechten Lederhandschuh aus und sah durch das Zielfernrohr, hielt den Atem an, zielte rechts über dem Fenster auf den kleinen Fleck an der Wand und drückte ab. Durch den integrierten Schalldämpfer war der Schuss in der unmittelbaren Umgebung nur als undefinierbarer Plopp wahrnehmbar. Trotzdem sah der dicke Mann kurz zum Fenster. Scheinbar war der Einschlag neben dem Fenster doch hörbar gewesen. Nach einem kurzen Moment des Lauschens widmete sich der Dicke wieder dem Fernsehprogramm. Es lief eine Quiz-Show. Tesboč setzte das Fernglas wieder an die braunen Augen und kontrollierte den Einschuss. Fuhr sich mit der Zunge über die rissigen Lippen und stellte fest: Es musste noch etwas nachjustiert werden. Vorsichtig drehte Tesboč an der Stellschraube. Als die richtige Position erreicht war, lächelte Tesboč zufrieden. Nicky Tesboč kam der Song von Peter Gabriel in den Sinn. Leise fing Tesboč an, den Text zu singen:

Ich zeig es euch jetzt.

Ich zeig es euch jetzt.

Ihr glotzt nur auf die Scheibe,

Nummer für die Datenbank.

Einen Schuss brenn ich euch in den Kopf,

leer, ausgeträumt und krank.

Nur ich, ich l e b e.

Tesboč hauchte die kaltgewordenen Fingerspitzen an. Jede Anspannung wich. Langsam und flach ging der Atem. Tesboč visierte den Kopf des Opfers an. Dann, zwei Sekunden später, zog Tesboč mit angehaltenem Atem den Abzug durch.

6.

Meyerbrincks Handy klingelte. Charlotte, seine Frau warf ihm einen warnenden Blick zu. Er nahm es trotzdem in die Hand. Er konnte nicht anders. Meyerbrinck sah auf das Display und runzelte die Stirn, als er die Nummer vom LKA Chef erkannte. Charlotte schüttelte zaghaft den Kopf, wusste aber, der Abend war gelaufen, wieder mal. Er würde rangehen. Sie kannte ihren Tom zu gut.

»Hallo Herr Van Bergen«, grüßte Meyerbrinck.

Van Bergen hielt sich nicht lange mit einer Erwiderung auf. »Ich kann Koslowski nicht erreichen, wo steckt der Kerl?« Van Bergens Stimme klang verärgert.

Meyerbrinck sah auf seine Armbanduhr. Sie zeigte 21:00 Uhr. »Vermutlich im Union Jack auf ein bis drei Feierabendbiere. Ist sein zweites Zuhause.«

»Tolles Zuhause«, unterbrach ihn Van Bergen unwirsch. »Holen sie ihn da ab und dann fahren sie mit ihm ins Märkische Viertel. Wilhelmsuher Damm 114. Die Spurensicherung ist schon da. Ich komme auch dort hin.« Ohne eine Antwort abzuwarten, legte Van Bergen auf.

Meyerbrinck starrte auf sein Smartphone. Soweit er sich erinnern konnte, hatte ihn Van Bergen noch nie auf seiner Privatnummer angerufen. Auch nicht, wenn er Koslowski nicht erreichen konnte. Es musste schon etwas Gravierenderes passiert sein als nur ein simpler Mord.

Charlotte sah ihn schmollend an und sagte: »Geh schon. Muss ich eben allein ins Bett. Mit einem Buch.«