Bruder Oleg und Der heimliche Henker - Gudrun Krohne - E-Book

Bruder Oleg und Der heimliche Henker E-Book

Gudrun Krohne

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  • Herausgeber: TWENTYSIX
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2022
Beschreibung

Unfall? Selbsttötung? Mord? Magdeburg im Frühjahr 1394 Nach 14 Jahren kehrt Bruder Oleg in sein Heimatkloster nach Magdeburg zurück. Die anfängliche Freude wird schon bald von rätselhaften Todesfällen überschattet. Unfälle sollen es allesamt sein. Doch Bruder Olegs wacher Geist gibt sich nicht mit einfachen Erklärungen zufrieden. Im neuen Guardian der Barfüßer, Abt Odo, findet Oleg einen Verbündeten. Unter seiner wohlwollenden Führung und mit Hilfe seiner Magdeburger Freunde deckt Bruder Oleg allmählich die wahren Zusammenhänge auf. Zu spät erkennt er, dass er sich damit selbst in höchste Gefahr begibt.

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Seitenzahl: 494

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Personen

Die Klostergemeinschaft

Abt Odo – Guardian der Barfüßer

Bruder Oleg – kehrt nach langen Jahren ins Magdeborcher Kloster zurück und steckt seine Nase in allerlei Rätselhaftes

Bruder Lambert – Olegs taubstummer Begleiter, der im Skriptorium seinem Talent nachgeht

Bruder Kamillus – alter Lehrmeister Olegs; ihm unterstehen die Gärten und die Kräuterwerkstatt

Bruder Johannes – Prior des Klosters

Bruder Hubertus – Schreiber des Priors, darüber hinaus übereifriger Zuträger und frömmelnder Wichtigtuer

Bruder Urban – Novizenmeister

Bruder Simon – redseliger Stallmeister, mit einem Herz für alles, was da kreucht und fleucht

Bruder Theobald – Infirmarius, Spitalmeister des Klosters

Bruder Severin – Portarius mit einem Hang zur freundlichen Neugierde

Bruder Petrus – grimmiger Küchenmeister, verteidigt Küche und Keller, wenn nötig mit einigen Klapsen

Bruder Andreas – Bibliothecarius, Verwalter der Schreibstube, der Bücher und des Archivs

Bruder Jordanus – hünenhafter Schreiber des Abtes

Richard – Novize, der unbedingt beichten will

Friedhelm – Novize, will seinen Freund beschützen

Gunther – Novize, findet Gefallen an Garten und Kräutern

Anselm, Vitalis, Eido, Heribert – alte, sieche Brüder in der Krankenstube des Klosters

Vater Gerhard – Pater bei den Aussätzigen

Die Magdeborcher

Florian Schellenfuß – unterhält einen Botendienst, handelt im Verborgenen mit Informationen

Hannes – Almosenpfleger im Sondersiechenhaus

Moses – Lepröser, fühlt sich als Portarius des Sondersiechenhauses

Fulko von der Au – Friedhelms Vater, Hauptmann der Garde des Erzstifts

Hildegard – alte Freundin Olegs, steht dem Hauswesen eines gutgehenden Gewürzhandels vor

Witho – Hildegards Gatte, ebenfalls ein guter Freund Olegs aus alten Tagen, weiß seinen Handel gewinnbringend zu führen

Lutz – jüngster Sohn von Hildegard und Witho, ein rechter Wildfang

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Bruder Oleg und der heimliche Henker

Magdeborch im Jahre des Herrn 1394

1. Kapitel

Die beiden Barfüßermönche, welche sich dem Schrotendorfer Tor der Oldenstadt Magdeborch von Norden her näherten, wechselten nicht ein Wort. Das rührte nicht etwa daher, dass sie sich nichts zu sagen hatten oder müßiges Geschwätz verabscheuten oder gar zerstritten waren.

Die Erklärung war eine ganz einfache: Der Ältere von beiden war stumm und taub und hatte Zeit seines Lebens außer gutturalen Lauten noch kein einziges Wort von sich gegeben. Dennoch war er durchaus in der Lage, sich mitzuteilen. In der Zeichensprache, mit der sich die Mönche während der Schweigestunden verständigten, hatte er es zu wahrer Meisterschaft gebracht. Das zeugte von nicht unbeträchtlichen Geistesgaben und einem starken Willen, sich nicht von den Widrigkeiten des Lebens unterkriegen zu lassen. Fand er jemanden, der die Fingersprache ebenso beherrschte, neigte er gar zur Geschwätzigkeit, so weit man bei einem Stummen dieses Wort verwenden kann.

Und da die beiden Mönche nebeneinander her wanderten, wäre es recht mühevoll gewesen, sich in der Sprache der Taubstummen zu verständigen. Sich beständig einander halb zuzuwenden, um die Fingerbewegungen des anderen verfolgen zu können, hätte ihr Fortkommen erheblich behindert, zumal sie begierig waren, nach wochenlanger Reise endlich ihr Ziel zu erreichen.

Der andere, einige Sommer über die Dreißig, kaum mittelgroß und von schmächtiger Gestalt, hatten an einem Makel zu tragen, der offensichtlicher war als der seines Gefährten. Über dem linken Auge trug er eine schwarze Lederbinde, welche mit zwei dünnen Lederschnüren an seinem Hinterkopf zusammengebunden war. Das fehlende Auge schien ihn keineswegs zu beeinträchtigen, ja man hätte meinen können, er trüge seine Blessur mit Stolz.

Auf ihrer langen Reise hatten sie unterwegs in den Herbergen, die sie mitunter aufsuchten, einigen gutgemeinten Spott über sich ergehen lassen müssen: Der eine taub und stumm, der andere halbblind – wo sie denn, bitte schön, den Lahmen gelassen hätten?

Da aber beide von gutmütiger Natur waren und die nicht böse gemeinten Spötteleien sie nicht aus ihrem Gleichgewicht bringen konnten, hatten sie mit feinem Lächeln ihr Mahl eingenommen und geschwiegen. Hin und wieder hatte der Einäugige jedoch, wurden die Worte zu grob, dem Spötter Paroli geboten. Mit einer Mischung aus wohlgesetzter Rede und einigen Ausdrücken, die man eher von einem verdreckten Gassenbalg erwarten würde, hatte er die Lacher schnell auf seine Seite gebracht. Den rüden Burschen verschlug es regelmäßig gründlich die Sprache.

Meist hatten sie jedoch in den Gästehäusern anderer Klöster, auf dem Heuboden freundlicher Freibauern oder auch unter Gottes Sternenzelt genächtigt. Wobei sie Letzteres nach Möglichkeit vermieden, denn zum Ende des Ostermonats hin waren die Nächte noch recht kühl.

Dem Jüngeren kam die Schweigsamkeit seines Reisegefährten im Moment gerade recht. Nach vierzehn Jahren näherte er sich der Stadt, in der er seine Kindheit und Jugend verbracht hatte, und seine Gedanken schweiften zurück. Zahlreiche Abenteuer hatte er zu jener Zeit erlebt. Sie hatten ihren Anteil daran, dass er dorthin gelangt war, wo er sich in diesem Augenblick befand.

Er dachte an die Freunde, die er dazumal zurücklassen musste, als ihn sein Guardian Raimundus in das Barfüßerkloster nach Nyen Brandenborch schickte. Ein Abschied auf immer, so hatte es den Anschein gehabt. Niemand würde die wochenlange, beschwerliche Reise in ein unwegsames, kaum erschlossenes Land ohne Not auf sich nehmen.

Raimundus Vorgänger, Abt Stephanus, hatte dem einäugigen Mönch immer ein gewisses Wohlwollen entgegengebracht. Doch der war vor sechzehn Jahren gestorben. Raimundus hatte nie ein Hehl daraus gemacht, dass für einen ehemaligen Straßenjungen, noch dazu einen einäugigen – womöglich hatte ja doch der Henker Hand angelegt – kein Platz in seinem Kloster war. Ob ihm bekannt war, dass sich dieser Straßenjunge vor seinem Klostereintritt zeitweise mit Betteln oder gar mit Beutelschneiden durchgeschlagen hatte, war ungewiss, aber wahrscheinlich. Und so hatte Raimundus die erste Gelegenheit beim Schopfe gepackt und den ungeliebten Mönch so weit als möglich aus seinem Gesichtskreis entfernt. Und da kurz nach Abt Stephanus auch der väterliche Freund des jungen Mönchs, Pater Kilian, vor den himmlischen Vater gerufen wurde, hatte der junge Klosterbruder es als göttliche Fügung angesehen, sich auch andernorts Kenntnisse über die von ihm geliebten Heilkräuter und deren Wirkungsweise anzueignen.

Ein kleines Lächeln verfing sich in seinen Mundwinkeln, als ihn nicht zum ersten Mal der Gedanke anflog, dass auch der Nyen Brandenborcher Guardian Theodorus ihn nicht ganz uneigennützig dem taubstummen Mönch Lambert als Weggefährten mitgegeben hatte. Theodorus war ein Gelehrter, nicht unbedingt ein Mann der Tat. Jede Abschweifung vom festgefügten Tagesablauf oder gar ein Eindringen in seine geliebten Studierstunden wurde von ihm mit tiefster Missbilligung und Tadel bedacht. Er war im Laufe der Jahre recht bequem und nicht minder beleibt geworden und liebte nichts weniger als Aufregung und Unterbrechung des klösterlichen Lebens. Von daher kamen ihm einfache Erklärungen außergewöhnlicher Ereignisse gerade recht und nichts lag im ferner, tiefer zu schürfen, als es der erste Anschein es gebot.

Doch mit zu Offensichtlichem konnte sich der einäugige Mönch häufig nicht zufriedengeben und so fand er Antworten auf Fragen, die sich der Guardian gar nicht erst gestellt hatte.

Erst vor wenigen Wochen hatten die Brüder bei einer Überprüfung der Lagerbestände feststellen müssen, dass mehr Wein aus ihrem wohlbestückten Keller abgezapft worden war, als durch durstige Mönchskehlen floss. Und nicht etwa der saure Tropfen, der den Laienbrüdern ausgeschenkt wurde. Nein, der rätselhafte Schwund hatte sich in den zwei Fässern vollzogen, die für den Abt und seine gut betuchten Gäste reserviert waren.

Schnell hatte der Cellerar eine Erklärung zur Hand: Es müsse sich wohl ein Dieb von jenseits der Klostermauern zu den Fässern geschlichen haben, um dort sein schändliches Werk zu tun. Sorgenvoll hatte Abt Theodorus in der Kapitelversammlung, wo der Fall besprochen worden war, genickt und über die Schlechtigkeit der äußeren Welt geklagt.

Dass sich diese Schlechtigkeit innerhalb der Klostermauern breit gemacht hatte, war dem jungen Mönch erst zwei Wochen später aufgegangen. Der Bruder Cellerar war zu ihm in den Klostergarten gekommen, um eine Salbe gegen die Entzündung eines eingewachsenen Zehennagels zu erbitten.

Anerkennend lobte der Kräuterbruder die Reinlichkeit der Zehen- und Fingernägel des Cellerars, was dem die Röte in die Wangen trieb. Doch war es nicht ob des unerwarteten Lobes, sondern weil sich jener Bruder bei etwas ertappt fühlte, so dass er unwirsch reagierte und den anderen anfauchte, er solle sich gefälligst um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.

Misstrauisch geworden heftete sich der Jüngere an des Cellerars Fersen, sobald der das Kloster verließ, ohne von diesem bemerkt zu werden. Schon bald konnte er feststellen, dass es den Kellermeister in eine ganz bestimmte Badstube unweit des Treptower Tores zog. Und da Mönche nun einmal über keine Münzen zur Bezahlung verfügten, brachte er einen Krug des besten Weines mit, welchen der Badstubenbetreiber bereitwillig entgegennahm.

So bloßgestellt, musste der Cellerar seine Sünde vor dem gesamten Kapitel bekennen und zur Buße zwei Monate nur von Wasser und altbackenem Brot leben.

Hatte der junge Mönch, wenn schon nicht mit einer offenen Belobigung so doch zumindest mit einem anerkennenden Blick seines Guardians gerechnet, so sah er sich getäuscht, was er jedoch mit stoischem Gleichmut trug. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass dem Guardian ein außerklösterlicher Dieb bei weitem lieber gewesen wäre, als sich mit der Verfehlung eines Bruders herumschlagen zu müssen. Und das Kloster war schließlich reich genug, dass es sich jederzeit ein neues Fass Wein von ausgezeichneter Güte leisten konnte. Nichts lag Theodorus ferner, als sich und sein Kloster der Observanzbewegung anzuschließen, zu den alten Armutsbezeugungen zurückzukehren und jeden weltlichen Besitz in den eigenen Reihen zu geißeln.

Was man Theodorus jedoch zugutehalten musste, war die Liebe zu seiner recht umfangreichen Bibliothek. Und aus eben diesem Grund hatte er seine beiden Mönche auf die wochenlange Reise nach Magdeborch geschickt. Und ein klein wenig war da auch die Freude, diesen unruhigen jungen Bruder für womöglich das ganze nächste Jahr loszuwerden. Unter Umständen beschloss der gar, in dem Kloster zu bleiben, aus dem er einst nach Nyen Brandenborch geschickt worden war. Schließlich hatte der in Nyen Brandenborch die niederen Weihen erhalten und es würde sich sicher ein neuer Wirkungskreis für ihn in Magdeborch finden lassen.

Bruder Lambert fasste den Jüngern an der Schulter und drehte ihn zu sich herum.

„Bruder Oleg“, bedeutete er seinem Gefährten, „wir sollten unsere Schritte beschleunigen.“ Und er wies über die rechte Schulter seines Reisekameraden zurück.

Bruder Oleg, aus seinen Rückbesinnungen gerissen, wandte sich um und musste erkennen, dass das zunehmende Dunkel nicht vom Schwinden des Tageslichtes herrührte, zumal es erst gegen Mittag ging. Hinter seiner rechten Schulter dräute sich ein Unwetter zusammen. Tiefdunkle blauviolette Wolken, schon in ein graudurchzogenes Schwarz übergehend, kündigten von einem nahenden Regenguss, der alles, was nicht rechtzeitig einen sicheren Hafen fand, bis auf die Knochen durchnässen würde.

Es war nur noch ein Steinwurf bis zum Schrotendorfer Tor und wenn sie die Beine in die Hand nahmen, konnten sie es noch trocken bis ins Kloster schaffen. Vom Stadttor bis dorthin war es nicht mehr allzu weit.

Einer der Stadtwächter hielt sie auf, spähte auf die Straße hinaus und fragte neugierig. „Seid ihr die Vorhut vom neuen Abt?“

Bevor Oleg antworten konnte, fuhr der andere schon dazwischen: „Bist du blöd? Der kommt doch durchs Sudenburger Tor.“

Trotz des nahenden Unwetters verhielt Bruder Oleg den Schritt und stellte seinerseits eine Frage: „Welcher neue Abt?“

„Na der von euch Barfüßern. Soll heute ankommen.“ Verständnislos über so viel Unwissenheit musterte der Wächter die beiden Mönche. Der eine groß und hager, hatte die Mitte seines Lebens schon um etliches überschritten. Drahtiges, braunes Haar wucherten um seine Tonsur wie wildes Gestrüpp.

Sein Reisegefährte reichte ihm kaum bis zur Schulter. Hätten die beiden nicht die braunen Kutten der Barfüßer getragen, hätte man den Großen für einen Vater halten können, der mit seinem halbwüchsigen Sohn unterwegs war.

Doch waren ihre Kutten abgetragen und mehrfach geflickt und zeugten von einer weiten Reise. So war wohl die Unkenntnis der Mönche zu erklären.

Oleg bedankte sich für die Auskunft und beschleunigte wieder seinen Schritt. Unterwegs teilte er Bruder Lambert die Neuigkeit mit.

Dann verfiel er wieder in Gedanken. Ein neuer Guardian? Bedeutete das, dass Abt Raimundus vom Gottvater abberufen worden war? So alt war der doch noch gar nicht gewesen, als Oleg das Kloster verlassen musste. Er ertappte sich dabei, dass die Aussicht, nicht Raimundus gegenübertreten zu müssen, ihm einen Augenblick Erleichterung verschaffte. Gleich darauf schämte er sich für diesen Gedanken zutiefst.

Ein Aufleuchten in seinem Rücken und ein gleichzeitiger krachender Donnerschlag verscheuchten dieses Gefühl so schnell, wie es gekommen war. Ein Blick über die Schulter zeigte ihm einen erneuten gewaltigen, sich verästelnden Blitz, welcher quer über den Himmel zuckte. In der schwarzen Wolkenwand, die sich wie eine alles verschlingende Woge heranwälzte, wurden Abgründe und Schluchten erhellt, aus denen neue Blitze hervorbrachen.

Bis zum Barfüßerkloster am Breiten Weg konnten sie es unmöglich schaffen, ohne dass ihnen die himmlische Taufe zuteil wurde. Aber auf halbem Wege befand sich, zumindest als Bruder Oleg seine Heimatstadt verließ, die Hütte eines guten Freundes. Ein Freund, den Oleg fast schon sein ganzes Leben kannte. Der, der ihn als halbverhungerten Straßendreck aus der Gosse aufgesammelt hatte, um ihn seiner Bande von jugendlichen Beutelschneidern einzuverleiben. Das diebische Handwerk hatte der Freund schon vor vielen Jahren an den Nagel gehängt und stattdessen einen gut gehenden Botendienst aufgezogen.

Die beiden Mönche eilten in ungebührlicher Hast mit um die Beine schlagenden Kutten über die ausgefahrenen Feldwege, welche sich durch den bettelarmen Kirchenbezirk Sankt Katharina zogen.

Als sie das Anwesen erreichten, blieb Oleg überrascht stehen. Wo ehemals eine schier undurchdringliche Hecke den Blick auf die kleine Hütte verwehrt hatte, zog sich jetzt ein stabiler Bretterzaun hin, über den hinweg man das ordentlich mit Holzschindeln gedeckte Dach eines Hauses erkennen konnte. Prüfend sah er sich um. Nein, er hatte sich nicht verlaufen. Sie standen vor dem richtigen Flurstück.

Die ersten dicken Regentropfen verschoben jedes weitere Staunen auf einen späteren Zeitpunkt. Bruder Lambert im Schlepptau durchschritt Oleg das halb offenstehende Hoftor und pochte kräftig an die Haustür. Als sich diese auftat, schubste er den Gefährten kurzerhand hinein und drängte selbst hinterher, ohne erst noch lange zu fragen.

Keinen Augenblick zu früh. Als hätte der göttliche Vater nur darauf gewartet, dass seine zwei treuen Diener einen Unterschlupf fanden, öffnete er nun alle himmlischen Tore und entließ aus ihnen eine wahre Sturzflut.

„Kommt nur herein, Brüder“, begrüßte drinnen eine spöttische Stimme die beiden Mönche, welche dem Besitzer dieser Stimme vor die Füße gestolpert waren.

Und da der schmächtige Oleg fast ganz von Lamberts breitem Rücken verdeckt wurde, schob er sich, nun seinerseits spöttisch die Mundwinkel verziehend, vor und musterte den Hausherren gründlich. Von dem schmächtigen, sehnigen und flinken Anführer der Beutelschneider war nicht viel geblieben. Selbst seine ehemals feuerrote Lockenmähne hatte dem Ablauf der Jahre ihren Tribut entrichten müssen. Etliche graue Strähnen zogen sich durch sie hindurch und recht licht wirkte der Haarschopf ebenfalls.

„Du bist fett geworden, Fischmaul – oh, entschuldige – Florian Schellenfuß“, spottete Bruder Oleg und stieß seinem Gegenüber einen Zeigefinger in die beachtliche Wölbung, die sich unter dessen Wams abzeichnete.

Florian stutzte einen Augenblick, packte dann den Mönch an der Schulter und zerrte ihn zu dem wuchtigen Tisch, auf dem eine Kerze brannte.

„Oleg ... Oleg Buntauge“, stammelte er und räusperte die Rührung aus seiner Stimme. „Du bist ja ein Mann geworden.“ Brüsk stieß er den Barfüßer von sich, räusperte sich abermals. „Hat dir wohl nicht gefallen, da wo du dich all die Jahre rumgetrieben hast. Bilde dir nicht ein, dass du wieder bei mir unterkriechen kannst.“

„Ich freue mich auch, dich bei guter Gesundheit vorzufinden. Und ich hoffe doch, dass wir zumindest solange bei dir unterkriechen können, wie der Herrgott draußen die Welt ersäuft.“

Florian Schellenfuß knurrte etwas Unverständliches und sagte dann versöhnlich: „Bei dem Wetter jagd man keinen Hund vor die Tür. Also hockt euch schon hin.“

Bruder Lambert hatte dem Wortwechsel der beiden anfangs beunruhigt zugesehen. Auf die einladende Handbewegung des Hausherrn hin setzte er sich auf die Kante der Holzbank, blieb aber weiterhin wachsam. Von Olegs Gesicht war jedoch reine Freude abzulesen und so entspannte auch er sich.

Oleg gesellte sich zu Lambert und wollte Florian schon fragen, wie es all den gemeinsamen Freunden in den letzten Jahren ergangen war, als ein bellender Husten von einem Deckenlager nahe der Feuerstelle ihm die Worte vom Mund abschnitt.

„Es gibt einen Kranken?“, fragte er.

„Lux. In der vorigen Woche hatte er einen Botenritt nach Buckau. Es hat gestürmt und geregnet, ein elendes Sauwetter. Zwei Tage später kam er morgens nicht mehr hoch und hustet sich seitdem die Lunge aus dem Hals.“ Florian presste die Lippen aufeinander.

„Darf ich mir deinen Sohn ansehen? Du erinnerst dich doch noch, dass ich recht gut bewandert bin, was die Heilwirkung vieler Kräuter anbelangt.“

Florian machte eine unbestimmte Handbewegung zu dem Lager hin. „Schaden kann‘s nicht.“

Vorsichtig schlug Oleg die Decken auseinander und besah sich den Kranken. Lux, Florians Erstgeborener, hatte den schmächtigen, sehnigen Körperbau, den sein Vater in seiner Jugend besessen hatte, und auch die feuerroten Locken legten Zeugnis ab, wessen Lenden der halbwüchsige Junge entsprungen war. Doch jetzt klebten die Locken schweißnass und dunkel an seinem Kopf und umrahmten ein Gesicht, das in seiner Blässe an frischgefallenen Schnee erinnerte.

„Es ist gut, dass er ausreichend geschwitzt hat. Das treibt das Fieber aus. Doch achte darauf, dass er nicht zu heiß wird. Dann braucht er kalte Wadenwickel. Ich habe hier noch einen letzten Rest Kräuter für einen Aufguss. Mutterkraut, Huflattich und Spitzwegerich helfen bei so starkem Husten. Sag Trine, dass sie ihm davon einflößen soll, sowie er wach ist und schlucken kann.“

„Trine ist vor zwei Jahren an einem Fieber gestorben“, murmelte Florian. „Sie war mir eine gute Frau. Hat Haus und Hof zusammengehalten. Wenn mir jetzt auch noch der Lux stirbt...“ Wieder presste er die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Plötzlich beugte sich sein Rücken wie bei einem alten Mann und Oleg wurde bewusst, dass der Freund die Mitte der Vierzig schon erreicht hatte.

„Ist Lux euer einziges Kind? Hattet ihr nicht auch noch Töchter?“, fragte Bruder Oleg mitfühlend.

Augenblicklich wurde Florian wieder lebendiger. „Trine hatte mir noch zwei Töchter geschenkt, richtig. Emma und Marthe. Emma wird bald sechzehn und führt mir den Haushalt und die Bücher. Sie kann lesen. Und schreiben auch.“ Der Stolz auf die kluge Tochter ließ den Vater um einiges wachsen. „Hat sie bei den Beginen gelernt. Da holt sie gerade eine Brustsalbe für den Jungen. Marthe lebt bei Witho und Hildegard. Da wird sie in der Hausführung unterwiesen, mit bescheidenem Erfolg, wie ich zugeben muss. Sie ist ein rechter Wildfang.“ Auch auf diese Tochter war Florian stolz.

„Dann ist alles zum Besten bei dir bestellt.“ Oleg klopfte dem Freund auf die Schulter. „Trine wird vom Himmel aus zuschauen und beruhigt sein, dass ihr Fortgang dich nicht in kräftezehrende Verzweiflung gestürzt hat. Und deinen Sohn, den bringen wir mit des himmlischen Vaters Hilfe und meinen Heilkräutern auch wieder auf die Füße. Schick morgen einen deiner Botenjungen ins Kloster. Es wird sich sicherlich ein Beutelchen mit Brustkräutern finden.“

„Wenn du das als ein Mann Gottes sagst, dann wird das wohl stimmen.“ Kein Spott war in der Stimme des besorgten Vaters und er maß den Freund mit einem vertrauenden Blick. Doch dann klatschte er in die Hände. „Und nun lass uns in Erinnerungen schwelgen, solange draußen die Sintflut geprobt wird.“ Ein Krug Wein fand seinen Weg auf den Tisch und bald waren Oleg und Florian in ein Gespräch vertieft, bei dem viele Sätze mit: „Weißt du noch...?“ und „Wie geht es eigentlich...?“ anfingen.

Bruder Lambert saß still dabei, froh im Trockenen zu sein und einen guten Tropfen in seinem Becher zu haben. Zwar konnte er, wenn sein Gegenüber langsam und deutlich sprach, auch das eine oder andere von den Lippen ablesen, doch die beiden alten Freunde sprachen zu schnell, manchmal beide gleichzeitig und unterbrachen sich ständig gegenseitig. So hatte Lambert Muße, seine Blicke schweifen zu lassen.

Das kleine ebenerdige Haus war solide gebaut und sprach von bescheidenem Wohlstand. Der Raum, in dem sie sich befanden, wurde als Küche und Wohnraum genutzt. Das einzige kleine Fenster war mit Stroh verstopft und ließ nur einen Schimmer des ohnehin trüben Tageslichtes ein. Links gab es eine Tür, die wohl zur Schlafkammer des Hausherrn führte und unter dem Dach befanden sich vermutlich noch ein, zwei weitere Kammern. Auf dem Hof hatte Lambert einen Blick auf einen langgestreckten Stall werfen können, bevor ihn Bruder Oleg weiterzerrte. Von dort her hatte es nach Pferd und Schwein und Hühnern gerochen.

Unbemerkt verging die Zeit und die drei Männer zuckten zusammen, als die Tür mit Schwung geöffnet wurde und eine junge Frau, nein, eher wohl noch ein Mädchen an der Schwelle zur Frau, hereintrat und sich die letzten Regentropfen vom Umhang schüttelte.

Mit zusammengezogenen Brauen musterte sie die Männergesellschaft am Tisch. Dann, in einem plötzlichen Schreck, wandte sie sich dem Krankenlager zu.

„Geht es Lux so schlecht? Braucht er den letzten Beistand?“, flüsterte sie bestürzt.

„Es ist alles gut“, beschwichtigte sie ihr Vater. „Die guten Brüder haben nur Schutz vor dem Regen gesucht. Und dieser hier“, er wies auf Oleg, „ist ein alter Freund, der nach vielen Jahren zurück in die Heimat gefunden hat, Oleg Buntauge.“

Das Mädchen trat näher und musterte den schmächtigen Mönch eingehend. „Der Oleg Buntauge?“, flüsterte sie ehrfürchtig.

„Eben jener.“ Und wieder zu dem Freund gewandt: „Du bist eine Berühmtheit bei uns. Alle meine Kinder kennen deinen Namen und deine Heldentaten.“

„Ich dachte, Ihr wäret größer“, bemerkte Emma mit vorgeschobener Unterlippe, bevor sie die Salbe aus ihrem Beutel kramte und sich ihrem Bruder zuwandte.

Dem unerwartet zum Helden erhobenen Mönch war es offensichtlich unangenehm, so forschend gemustert zu werden, noch dazu von einer Frau. Eigentlich hätte er demütig die Augen niederschlagen müssen. Andererseits, ein wenig stach ihn auch die Eitelkeit. Er würde es beichten müssen.

Der Gedanke an eine Beichte zwang seine Gedanken zum Kloster und zu seiner Aufgabe, die es zu erfüllen galt.

Er spähte zu der offenstehenden Tür. „Der Regen ist kaum noch der Rede wert. Wir werden wieder aufbrechen. Eine Frage aber noch. Am Stadttor hieß es, es käme ein neuer Guardian in die Stadt. Weißt du etwas darüber? Was ist mit Vater Raimundus?“

„Also, über euren neuen Oberen weiß ich nichts, nur dass er heute eintreffen soll. Raimundus ist im letzten Winter gestorben. Wenn ich mich recht entsinne, war es wohl im Taumonat. Sein Maultier ist im eisglatten Hof eures Klosters ausgeglitten und gestürzt. Dabei hat es ihm das Genick gebrochen, also dem Raimundus. Das Maultier hat es überlebt.“ Florian schlug halbherzig ein Kreuz. Das Ableben des Guardians schien ihn nicht groß zu erschüttern.

Oleg bekreuzigte sich ebenfalls, ebenso Bruder Lambert, nachdem ihm sein Gefährte die letzte Nachricht in die Zeichensprache übersetzt hatte.

„Dann wollen wir jetzt aufbrechen. Nicht dass wir in den Trubel zur Begrüßung des neuen Guardians hineingeraten“, bestimmte Oleg und Lambert stimmte ihm eifrig zu. Ihm lag wenig daran, womöglich die Feierlichkeiten zu stören. Er war eher ein Mensch, der sich bescheiden im Hintergrund hielt und jedwede Aufmerksamkeit auf seine Person zu vermeiden trachtete.

„Sind deine Freunde alle wohlauf?“, fragte Lambert mit flinken Fingern, während er einer Pfütze auswich, die fast die ganze Breite des Weges einnahm. Ihr Obdach war bereits hinter der letzen Wegbiegung zurückgeblieben.

„Florians Frau ist vor zwei Jahren gestorben“, erwiderte Oleg und wandte sich dem Gefährten halb zu, dass der seine Gesten sehen konnte. „Allen anderen geht es gut. Hildegard und Witho haben vier Kinder.“

Lambert machte erst die Handbewegung der Trauer und dann die der Freude und damit war das Gespräch der beiden beendet.

Olegs Gedanken verweilten bei dem befreundeten Händlerpaar. Eines ihrer Kinder barg ein Rätsel. Oleg seufzte unhörbar. Wie sollte es bei den beiden auch anders sein? Ihren Sohn Frieder hatten sie an Kindes statt angenommen.

Vor etwa vierzehn Jahren war eine todkranke, fremde Frau aufgetaucht, hatte den damals dreijährigen Buben bei Hildegard und Witho abgeladen und war gestorben. Einige munkelten, der Junge wäre ein Bastard Withos, den dieser während seines jahrelangen Aufenthaltes in fremden Landen gezeugt hatte. Doch Florian hatte dem so entschieden widersprochen, als wüsste er Genaueres über das Kind. Was? Darüber hatte er sich in Schweigen gehüllt.

Durch seine Gedankengänge unaufmerksam geworden, patschte Oleg mit einem Fuß in die nächste Pfütze und machte einen erschrockenen Satz zur Seite. Bruder Lambert fasste ihn geschwind am Ärmel, sonst wäre er in dem Morast ausgeglitten und womöglich mit dem Hinterteil in der Pfütze gelandet. Einen Einzug mit nassem Hintern in sein altes Kloster wünschte Oleg sich nicht eben. Der Spott wäre ihm gewiss gewesen und bei dem einen oder anderen hätte sich wohl auch Häme hinzugesellt.

Bruder Lamberts Überlegungen waren andere Wege gegangen. Er hielt Oleg am Ärmel fest und bedeutete ihm: „Stell dir vor, wir kommen kurz vor dem neuen Guardian an und all der Trubel um die Begrüßung fällt auf uns.“

Lambert lachte laut auf. Im Gegensatz zu den unartikulierten Lauten, die er sonst von sich gab, war sein Lachen hell und ansteckend. Und auch wenn er bestrebt war, jeder Aufmerksamkeit aus dem Weg zu gehen, so belustigte ihn der Gedanke an ein solches Aufeinandertreffen doch. Bruder Lambert war kein buckelnder Duckmäuser. Mitnichten, er war sich seines außerordentlichen Talentes bewusst, welches ihn an diesen Ort geführt hatte, und das bedurfte keines unziemlichen Haschens nach Anerkennung. Darüber hinaus zeichnete ihn ein feiner Humor aus.

Oleg wackelte bedenklich mit dem Kopf und verdrehte die Augen. Auf ihrer wochenlangen Reise hatten sie die spröde Zurückhaltung, die mitunter zwischen Klosterbrüdern herrschte, schnell abgelegt und zu einer tiefen Freundschaft gefunden.

Ihr Weg führte sie an der hinteren Mauer des Barfüßerklosters entlang, die dessen Gärten und das Ackerland begrenzte und dem Zugriff des Straßenvolks entzog.

Der Fahrweg mündete in den Breiten Weg, der die Oldenstadt vom Krökentor im Norden bis hin zur Domfreiheit und dem Sudenburger Tor im Süden durchzog. Auf dieser Hauptstraße herrschte das übliche Gedränge und Geschiebe von Fußgängern und Karren, welche von Maultieren, Eseln oder gar großen Hunden gezogen wurden.

Dazwischen türmten sich immer wieder Haufen von Unrat, nach dessen Zusammensetzung man lieber nicht forschte. Der kräftige Regenguss hatte einen Großteil davon auf den zum Fluss hin abfallenden Straßen gen Elbe gespült. Die verbliebenen Reste entließen jedoch eine ölig glänzende, grünliche, stinkende Brühe, welcher besser gestellte Stadtbewohner durch das Unterschnallen hölzerner Trippen zu entgehen trachteten.

Schmutzverkrustete, nur mit Lumpen bedeckte Gören machten sich einen Spaß daraus, barfüßig in diese Haufen zu springen und den Matsch nach allen Seiten zu verteilen. Das trug ihnen die eine oder andere Maulschelle ein, doch die meisten waren gewitzt genug, aalglatt unter der züchtigenden Hand hinwegzutauchen.

Nicht weit entfernt ertönte das Geschrei und Gefluche von Fuhrleuten, die mit langen Peitschen die vier oder gar sechs Ochsen vor ihren schweren Lastzügen antrieben. Mit lautem Knall landeten die Lederriemen auch schon mal auf dem Rücken eines säumigen Fußgängers, der nicht schnell genug aus dem Weg sprang. Selbstredend nur bei dem ärmeren Stadtvolk. Bei besser Gekleideten begnügten sich die Fuhrleute mit einem deftigen Fluch. Da die Fuhrwerke mit ihren schweren Gespannen ohne Rücksicht durch die Unrathaufen pflügten, was diese in alle Himmelsrichtungen spritzen ließ, drückte sich ohnehin jedermann vorsorglich an die Hauswände.

Bruder Lambert blieb nach zwei, drei Schritten mitten im Gedränge stehen und staunte das Treiben um sich herum mit offenem Mund an. Nyen Brandenborch war auch eine Stadt, doch mit Magdeborch in nichts zu vergleichen. Bevor ihn Oleg beiseite ziehen konnte, wurde Lambert auch schon von zwei Waschfrauen angerempelt, die einen großen, schweren Korb mit nassem Bettzeug zwischen sich trugen.

„Was haltet Ihr hier am helllichten Tag Maulaffen feil, Bruder. Aus dem Weg“, schimpfte die eine.

„Diese Betbrüder sollten mal einer ordentlichen Arbeit nachgehen, dann würden sie sich schon sputen“, stimmte die andere zu und schon waren sie vorbei geeilt.

Oleg zog Lambert ebenfalls weiter. Sie mussten nach rechts dem Breiten Weg folgen, diesen noch ein wenig an der Mauer zu den Gärten des Klosters entlanggehen, kamen an der Apsis der Klosterkirche vorbei, mussten wieder rechts abbiegen und standen, als sie die Kirche hinter sich gelassen hatten, vor dem Torhaus.

Dort hatten sich nicht wenige Bürger, Müßiggänger, Gesinde und auch Bettler eingefunden. Erstere begrüßten jede Abwechslung von ihrem eintönigen Alltag und wollten sich den Einzug des neuen Guardians keinesfalls entgehen lassen. Letztere erhofften sich ein reichhaltiges Almosen, das zur Feier des Tages womöglich ausgeteilt wurde.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatte sich Oleg noch keine Gedanken darüber gemacht, was ihn jenseits der Klostermauern erwarten würde. Der eine oder andere der Brüder, die er gekannt hatte, würden wie Abt Stephanus und Pater Kilian vor ihren Schöpfer getreten sein. Andere, neue, wären hinzugekommen.

Ob Bruder Kamillus, Herr über einen bemerkenswerten Kräutergarten und einer gut sortierten Salbenküche, noch immer diverse Küchenkräuter zu Bruder Petrus, dem Koch, trug? Natürlich hatte er es sich nicht nehmen lassen, bei diesen Gelegenheiten ausgiebig dessen brodelnde Töpfe zu inspizieren und zu verkosten, ob die mühsam gezogenen Kräuter auch angemessene Verwendung fanden? Diese regelmäßigen Abstecher in die Küchengefilde hatten Bruder Kamillus eine ausgesprochen stämmige Gestalt beschert.

Ein stilles Lächeln fand sich in Olegs Gesicht. Bruder Kamillus verdankte er die Hinwendung zu seinen geliebten Heilkräutern und die Kenntnisse über deren gesundheitsfördernde Eigenschaften.

Noch bevor Oleg anklopfen konnte, wurde die Tür geöffnet und ein untersetzter, mittelgroßer Mönch mit wichtiger Miene trat heraus. Aufmerksam sah er nach allen Seiten, ging gar bis zum Breiten Weg, hielt Ausschau nach Süden und kam gesetzten Schrittes zurück.

Hatte er anfangs die beiden unbekannten Mönche, die vor seinem Tor standen, geflissentlich übersehen, so wandte er sich ihnen jetzt zu.

„Seid ihr die Vorhut?“

Bruder Lambert lächelte freundlich, Oleg stellte sich dumm: „Welche Vorhut?“

Ein strafender Blick musterte den arglos Fragenden und was Bruder Wichtig sah, erfüllte ihn nicht mit Freude: Ein einäugiger Mönch. Sehr suspekt. Und reichlich abgerissen wirkten er und der andere ebenfalls.

Zwar hatten Oleg und Lambert bei den Benediktinern in Ammensleben einen letzten Rasttag eingelegt, um sich wieder einigermaßen vorzeigbar herzurichten, doch die Zeichen einer wochenlangen, beschwerlichen Reise ließen sich nicht durch einen einzigen Ruhetag verbergen. Die tagealten Bartstoppeln hatten sie sich vom Bruder Barbier abkratzen und die schon reichlich zugewachsenen Tonsuren sorgfältig rasieren lassen. Auch die Kutten hatten sie gründlich ausgebürstet, wenn sich auch die Flickstellen und die ausgefransten Säume nicht so ohne weiteres beheben ließen.

„Nun, die Vorhut von Vater Odo, dem neuen Guardian unseres Klosters.“

„Nein, die sind wir nicht. Wir kommen aus Nyen Brandenborch und haben ein Anliegen an den Guardian der Barfüßer zu Magdeborch.“

„Aus Nyen Brandenborch?“ Der andere war kurz beeindruckt ob der langen Reise, welche die beiden Mönche hinter sich hatten. Aber auch wirklich nur ganz kurz, wenn er denn überhaupt eine Ahnung von dem wahren Ausmaß der Reise hatte. „Das muss warten. Geht derweil hinein und haltet euch abseits. Unser Hospitarius, Bruder Kolumban, wird euch später einen Schlafplatz zuweisen.“

Schon wollten Oleg und Lambert durch das Tor treten, als in ihrem Rücken Rufe laut wurden. „Er kommt, er kommt!“

Naturgemäß drehten sich die beiden um und hielten wie alle anderen Ausschau nach dem neuen Guardian der Magdeborcher Barfüßer, denn wer sollte sonst mit diesem Gerufe gemeint sein?

Hatten sich die Stadtbewohner womöglich etwas wie einen prachtvollen Fürstenzug vorgestellt, wo kleine Münzen mit vollen Händen nach beiden Seiten ausgeteilt wurden, so wurden sie enttäuscht. Abt Odo ritt auf einem weißen Maultier voran, gefolgt von zwei Mönchen auf braunen Eseln. Den Abschluss bildeten drei berittene Soldaten mit unbekanntem Wappen. Das war es dann auch schon.

War dieser Auftritt auch wenig beeindruckend und jeder Fernhändler, der mit fremdländischen Waren von langer Fahrt heimkehrte, war prächtiger anzusehen, so beeindruckte der Mann, welcher kerzengerade, mit unbewegtem, vornehm blassem Gesicht auf seinem Maultier saß, die Umstehenden doch. Nicht unbedingt im Guten. Kein gütiges Lächeln, kein hoheitsvolles Winken mit der Hand. Doch was hatten sie von einem Mann der Kirche denn erwartet?

Bruder Lambert trat zwei Schritte zurück, doch Oleg stand noch immer mitten im Tor und sah mit seinem einen Auge dem Guardian entgegen. Es schien ihm, als hätte Abt Odo ihn dort mit dem forschenden Blick seiner grauen Augen geradezu festgenagelt. Dann traf ihn ein derber Stoß an der Schulter und Bruder Wichtig zischte ihm zu: „Mach doch Platz, du Einfallspinsel.“

Oleg stolperte drei, vier Schritte beiseite.

Im Vorbeireiten behielt Abt Odo ihn im Blick, so dass er ein wenig den Kopf drehen musste. Er schaute erst wieder nach vorn, als er an dem einäugigen Mitbruder, welcher unwillkürlich seine kleine, schmächtige Gestalt straffte, vorbei und am Tor angelangt war.

Kaum war er hindurchgeritten, erscholl von drinnen der Chor der Mönche in einem Hymnus.

Als würde er aus den Tiefen eines Flusses auftauchen, stieß Oleg die Luft aus. Diesen Blick würde er so bald nicht vergessen. War es eine Täuschung gewesen oder hatte er da einen Funken Neugier herausgelesen? Nichts war besser als Neugier, sofern sie auf das Gewinnen neuer Erkenntnisse zum Wohle der Menschen gerichtet war und nicht darauf, seinen Mitmenschen mit eben jenen neuen Erkenntnissen Drangsal zuzufügen.

Es blieb abzuwarten, zu welcher Sorte Neugieriger Abt Odo gehörte, sofern er denn tatsächlich diesem Laster frönte. Doch Oleg hatte ein gutes Gefühl.

Die beiden Reisenden nutzten den Augenblick, als sich die Aufmerksamkeit aller Klosterbrüder auf den Guardian richtete, traten ebenfalls durch das Tor und tauchten in der Menge der versammelten Mönche, Laienbrüder und sonstigen Dienstleute des Klosters unter.

Oleg ließ seinen Blick durch den Innenhof und über die Gebäude schweifen. Nichts hatte sich in den letzten vierzehn Jahren verändert. Zum ersten Mal, seit er durch das Stadttor geschritten war, ergriff ihn das Gefühl, zu Hause zu sein.

Dann erblickte er Bruder Kamillus und schob sich zu ihm durch. Der hatte in den vergangenen Jahren nichts von seiner fülligen Gestalt eingebüßt, was auf eine fortgesetzte Freundschaft zu Bruder Petrus schließen ließ.

„Bruder Kamillus, ich freue mich, dich bei bester Gesundheit vorzufinden.“

Der Angesprochene wandte seine Aufmerksamkeit vom Abt ab und musterte den fremden Mönch einen Augenblick verständnislos. Dieser Augenblick dauerte nicht mehr als einen Wimpernschlag. Es gab sicher eine Unzahl kleiner, schmächtiger Mönche. Doch die Zahl der einäugigen darunter war eng begrenzt.

„Bruder Oleg“, stieß Kamillus fassungslos hervor. „Ist es denn zu glauben? Welcher Wind hat dich denn, in des göttlichen Vaters Namen, hierher geweht?“ Und nach einem weiteren winzigen Moment der Besinnung: „Gehörst du zum Gefolge von Vater Odo?“

Oleg wehrte mit beiden Händen ab. „Das wäre zu viel der Ehre. Nein, gemeinsam mit Bruder Lambert“, er zog seinen Begleiter dichter heran, „komme ich von unserem Kloster in Nyen Brandenborch, um dem hiesigen Guardian eine Bitte vorzutragen.“

„Dann musst du wieder fort?“

„Nun, nicht gleich heute oder morgen. Die Erfüllung des Auftrages, der Bruder Lambert herführt, wird längere Zeit in Anspruch nehmen und so lange werde ich ebenfalls hier sein.“

Inzwischen waren Abt Odo und seine Begleiter von ihren Reittieren gestiegen. Ein mittelgroßer, älterer Mönch mit hartem Gesicht nahm sie in Empfang. Das maskenhafte Lächeln um seinen Mund konnte nicht ganz die säuerliche Miene dahinter verbergen. Er geleitete die Ankömmlinge zu den Räumen des Guardians, welche unmittelbar an das Dormitorium anschlossen. Oleg sah ihnen nach. Dieser andere Mönch kam ihm bekannt vor.

Bruder Wichtig schloss sich der Gruppe an, derweil die Soldaten mit zwei Laienbrüdern die Pferde, Esel und das Maultier zu den Stallungen führten.

Die Ansammlung der eifrig tuschelnden Mönche, Laienbrüder und Dienstleute verlief sich zu den anstehenden Arbeiten.

„Kommt, lasst uns in meine Kräuterwerkstatt gehen. Ich habe da noch einen Krug vorzüglichen Apfelweins, den ich im letzten Herbst zog“, forderte Kamillus Oleg und seinen Begleiter auf und plauderte schon weiter: „Irgendwie waren zwei Krüge hinter all den Töpfen und Schachteln und anderen Behältnissen vergessen worden, als ich den Ertrag beim Cellerar ablieferte.“ Kamillus zuckte, von einem Augenzwinkern begleitet, ratlos die Schultern.

Als sie die Hecke umrundeten, welche die Kräuter aus wärmeren Ländern gegen die kalten Nordwestwinde schützte, schmeichelte sich ein würziger, frischer Duft in ihre Nasen, der von ersten zaghaften Trieben bei Rosmarin, Lavendel und Thymian sprach und die Ahnung von einem sonnendurchfluteten Sommer aufkommen ließ.

Der Geruch von regennasser Erde mischte sich darunter und Oleg zog die vertrauten Düfte tief ein. Ja, er war zu Hause. Kräuter und Erde mochten in Nyen Brandenborch womöglich ebenso geduftet haben. Doch Olegs Nase erschienen die hiesigen Aromen leichter oder auch kräftiger, die Kräuterbüsche seinem Auge gefälliger und der Nordwind schien lauer zu wehen. Unbestritten mischte sich das Gefühl der Heimat darunter und das ist nicht durch Gold und Gut aufzuwiegen, so denn Oleg überhaupt nach solch materiellem Besitztum streben würde.

Dann blieb er überrascht stehen und musterte die Beete erstaunt.

„Du hast den Garten umgestaltet und alle Beete neu angelegt“, wandte sich Oleg an den Bruder.

„Vor Jahren fand Bruder Andreas eine alte Schriftrolle in seiner Bibliothek, in der die Anlage der Klostergärten in rechteckigen Beeten dargestellt wurde. So kann ich auch einen Bruder, der in der Kenntnis der Kräuter unbewandert ist, anweisen, dass er Kräuter vom dritten Beet in der mittleren Reihe nehmen soll. Er wird vom Thymian Blätter pflücken, selbst wenn er noch nie von diesem Kraut gehört hat. Es war viel Arbeit, alles neu zu gestalten, aber der Nutzen ist unbestreitbar.“

Bruder Oleg nickte beeindruckt und nahm sich vor, sobald er wieder in Nyen Brandenborch war, dort Gleiches anzuregen.

Der Apfelwein hielt, was Bruder Kamillus versprochen hatte.

Die Holzbank, welche an der Südseite der Kräuterwerkstatt, gleich neben der schmalen Tür stand, war dank des überkragenden Daches vom Regen verschont geblieben. Über ihren Köpfen reihten sich auf schmalen Regalbrettern kleine tönerne Töpfe, Schalen und tiefe Teller mit Sämlingen und Setzlingen aneinander, die Kamillus vorgezogen hatte, um sie bei dauerhaft frostfreier Witterung in die tief umgegrabenen Beete zu verpflanzen.

„Dein Reisegefährte spricht wohl nicht viel?“, fragte Kamillus eben, nachdem sie den ersten Schluck genommen hatten.

Oleg lehnte sich mit dem Rücken an die Holzwand, die ein wenig Wärme gespeichert hatte und streckte behaglich die Beine aus. Die Sandalen waren schon fast wieder trocken.

„Mein Reisegefährte spricht überhaupt nicht“, erklärte Oleg und noch bevor Kamillus ungläubig nach einem Schweigegelübde fragen konnte, fuhr er fort: „Er wurde taubstumm geboren. Wir verständigen uns recht gut in der Fingersprache, die wir Mönche während der Schweigestunden nutzen. Dazu haben wir noch allerhand eigene Zeichen erfunden, die es uns ermöglichen, richtige, wenn auch kurze Gespräche zu führen. Bruder Lambert kann ebenfalls recht ordentlich von den Lippen ablesen, wenn der andere sich Mühe gibt, langsam und deutlich zu sprechen.“

Kamillus wiegte anerkennend den Kopf und sagte dann: „Es ist ein Glück für ihn, dass er in ein Kloster gekommen ist. Draußen hätten sie ihn schnell als tierhaften Simpel abgetan, wenn seine Eltern ihn nicht gar schamvoll im Keller versteckt hätten.“

„Keiner weiß besser als ich, wie es ist, anders zu sein und kein Verständnis bei seinen Mitmenschen zu finden.“ Oleg presste einen Moment die Lippen aufeinander, als er sich erinnerte, wie er als Kind ob seines blauen und seines braunen Auges Teufelsauge geschimpft worden war. Ein gütiges Schicksal, das andere vielleicht als grausam bezeichnen würden, hatte ihn ins Kloster geführt und es ihm sogar ermöglicht, Mönch zu werden.

Doch ebenso schnell, wie die trüben Gedanken gekommen waren, verflogen sie wie Rauch in einem kräftigen Wind.

„Bruder Lambert ist keinesfalls ein Simpel. Er ist klug und belesen und verfügt über ein ganz außergewöhnliches Talent, welches uns nach Magdeborch führte.“

Kamillus hob den Krug, schüttelte ihn neben seinem Ohr und fand, dass der restliche Inhalt durch drei geteilt werden konnte.

„Nun, was führt euch also her?“

„Bruder Lambert ist ein begnadeter Kopist und Buchmaler. Vater Theodorus vom Nyen Brandenborcher Kloster lässt bitten, dass Bruder Lambert aus dem hiesigen Kodex einen Teil der Lebensgeschichte unseres Ordensgründers, des heiligen Franziskus, kopieren und illuminieren darf.“

Kamillus wandte sich Lambert zu und tat, als schlage er ein Buch auf. Dann tauchte er eine unsichtbare Feder in ein nicht vorhandenes Tintenhorn und schrieb von einem imaginären Text etwas in das aufgeschlagene Buch ab. Er tat das ganz selbstverständlich und gebärdete sich nicht, als würde er versuchen, sich mit einem kleinen Kind zu verständigen.

Fragend sah er den neuen Bruder an. Der nickte eifrig und bedeutete Oleg: „Der Bruder ist ein guter Mensch.“

Oleg übersetzte es Kamillus und dem färbten sich trotz seiner zahlreichen Lebensjahre die wettergebräunten Wangen mit einem sanften Rotton. Auch Mönche sind empfänglich für ernstgemeintes, unerwartetes Lob, die meisten jedenfalls.

„Dann bleibt ihr also mehrere Monate“, stellte Kamillus erfreut fest und überspielte seine Verlegenheit.

„Sollte Bruder Lambert seine Arbeit nicht bis zum Ende des Weinlesemonats bewältigt haben, bleiben wir den Winter über. Die Reise nach Nyen Brandenborch dauert sechs bis acht Wochen und in dem nur spärlich erschlossenen Land nördlich von Granzoge wäre es außerordentlich unklug, ja geradezu töricht sollte man versuchen, sich dort in den Wintermonaten durchzuschlagen.“

„Nun, ich vermute, dass Bruder Lambert recht gewissenhaft in seiner Arbeit ist. Er sollte also nichts überstürzen und sich alle Zeit der Welt lassen.“

„Dem Nyen Brandenborcher Guardian wird es gefallen“, sagte Oleg leichthin und auf Kamillus fragenden Blick hin, bekannte er, dass Abt Theodorus ihn auch lieber gehen als kommen sah. „Wie Vater Raimundus, der wollte mich auch unbedingt loswerden“, schloss Oleg mit einer Spur Bitterkeit, fügte aber im gleichen Atemzug hinzu: „Nun, ich verdanke ihm viele neue Erkenntnisse, welche ich in den letzten Jahren sammeln konnte.“ Und nach einer kleinen Pause: „Ich hörte, dass Vater Raimundus im letzten Winter durch einen unglücklichen Unfall zu Tode kam.“

Bruder Kamillus seufzte ergeben. Der Vorfall hatte die Mönche in tiefe Verzweiflung gestürzt. Plötzlich führerlos geworden, hatten sie in überstürzter Hast Bruder Johannes zu ihrem Prior gewählt.

Vater Raimundus war ein harter Mann gewesen. Unter seiner strengen Führung war das Kloster zu den alten Grundsätzen der Armutsbezeugung zurückgekehrt. Raimundus war ein Anhänger der Observanzbewegung gewesen. Nicht allen Brüdern hatte das gefallen. Bruder Johannes sollte als Prior ein Mittler zwischen den alten Idealen und der neuen Zeit sein.

Er hatte sich erhebliche Hoffnungen gemacht, selbst Guardian zu werden, wie Kamillus berichtete.

„Und dann kam vor fünf Wochen die Nachricht, dass Vater Odo für dieses Amt vorgesehen ist und gegen Ende des Ostermonats eintreffen wird“, schloss Kamillus. „Ein herber Schlag für Prior Johannes.“

„Ist das der Bruder Johannes, der früher der Kleiderkammer vorstand?“, fragte Oleg erstaunt. „Ein beachtlicher Aufstieg.“ Oleg hatte Bruder Johannes nicht eben in guter Erinnerung. Der hatte ihn als Buben unnachgiebig gezüchtigt, so er auch nur den kleinsten Riss oder das winzigste Loch in seiner Kleidung hatte.

„Nicht gar so verwunderlich. Vater Raimundus erhob ihn bereits zum Cellerar.“

Oleg nickte. So erklärte sich wohl das sauertöpfische Gesicht des Mönchs, der Vater Odo in seine zukünftigen Räumlichkeiten geführt hatte. Nur zu gern wäre er selbst dort eingezogen.

„Und einer ist mir noch aufgefallen. Da war so ein wieselflinker Bruder, der mich aus dem Eingang schubste, als der neue Guardian eintraf. Wer ist dieser Bruder Wichtig?“

Kamillus lachte leise auf. „Bruder Wichtig, das trifft es voll und ganz. Doch hat er einen anderen Namen: Bruder Hubertus, der Schreiber des Priors.“

„Bruder Hubertus? Ein Jäger?“

„Wenn der etwas jagt, dann sind es die kleinen Verfehlungen und Versuchungen, denen sich ein jeder Mensch, auch jeder Mönch hin und wieder ausgesetzt sieht. Müßige verbrachte Zeit, unnützes Geschwätz oder gar unziemliches Lachen sind ihm ein Graus und gehören unnachgiebig bestraft und ausgemerzt. Über das offizielle Amt des Schreibers hinaus hat er auch das inoffizielle des Zuträgers inne.“

Unbemerkt war die Zeit im Erzählen und einvernehmlichen Schweigen verronnen und die Glocke schlug zur Non und rief alle Mönche in die Klosterkirche zu Hymnus und Psalmen.

Oleg suchte sich einen Platz seitlich im Hintergrund, von wo er alles recht gut überblicken konnte, ohne selbst allzu sehr im Mittelpunkt des Interesses zu stehen. Ohnehin konzentrierte sich die Aufmerksamkeit aller Mönche auf ihren neuen Guardian. Die beiden fremden Mönche, die zeitgleich mit Vater Odo in seinem bescheidenen Gefolge eingetroffen waren, streiften nur flüchtige Blicke. Und Oleg und Lambert gerieten vorübergehend sogar vollends in Vergessenheit.

Vater Odo schien edelster Abstammung zu sein. Seine Haltung war tadellos und aufrecht. Der Kopf erhoben, gekrönt von einem silbernen, welligen Haarkranz, der die Tonsur umrahmte und über der hohen Stirn einen scharfen Kontrast zu den dunklen Augenbrauen bildete. Oleg war sich sicher, dass er auch in Rüstung und mit Lanze und Schild auf einem Schlachtross und an der Spitze eines Ritterheeres eine gute Figur abgeben würde. Nur im Gebet senkte der Guardian demütig die Lider. Als der Chorgesang der Mönche einsetzte, reihte sich seine klare und kräftige Stimme wie von selbst ein.

Während die Psalmen gebetet wurden, streifte Odos Blick immer wieder über die versammelten Mönche, die nun seine Herde waren. Sein Blick ließ keinen Zweifel daran, dass er es gewohnt war, dass seinen Anordnungen unwidersprochen und eifrig Folge geleistet wurde. Widerworte würden für den Wagemutigen Konsequenzen haben. Ob im Guten oder im Bösen blieb dahingestellt und würde wohl auch vom Anlass der Widersetzlichkeit abhängen.

Oleg hatte den Eindruck, dass dort vorn ein Mann stand, der weder selbstgefällig noch grausam war. Wahrscheinlich hart, aber nicht ungerecht. Natürlich könnte er sich mit seinem vom bloßen ersten Eindruck gespeisten Urteil auch irren, doch das sollte ihn schon sehr wundern. Auf seine Menschenkenntnis hielt er sich einiges zugute. Aber vielleicht war der himmlische Vater ja der Meinung, dass sein vorschnelles Urteil schon an Hochmut grenzte und beschloss, ihm einen gehörigen Dämpfer in Form eines unausstehlichen Guardians zu geben. Auch das würde Oleg in Demut und klaglos hinnehmen, war seine Zeit hier doch begrenzt.

Nicht nur die Mönche versuchten, sich ein erstes Urteil über den neuen Guardian zu bilden. Das Stundengebet wurde von einer ungewöhnlich großen Anzahl Stadtbewohner besucht, die nicht allein die Frömmigkeit hereingetrieben hatte, sondern auch eine gehörige Portion Neugier. Durch das jederzeit offene Südtor der Klosterkirche konnten sie den Messen und dem Hochamt beiwohnen. Die Besucher hofften, durch den liebevoll mit Schnitzwerk versehenen Lettner hindurch einen weiteren flüchtigen Blick auf das neue Oberhaupt der Barfüßer werfen zu können.

Für gewöhnlich besuchten diese Stundengebete nur einige greise Witwen, die sich nicht nur zum Beten, sondern auch für ein Schwätzchen zusammenfanden. Konnten sie doch so der Einsamkeit entfliehen und ihre Zungen wetzen, die ansonsten wohl in der Stille ihrer Hütten Spinnweben angesetzt hätten.

Doch der heutige Tag war nicht gewöhnlich.

Stunden später lag Bruder Oleg in seiner winzigen Zelle im Dormitorium, die ihm Bruder Kolumban angewiesen hatte. Eine schmale Bettstatt, ein dreibeiniger Schemel und ein niedriges Tischchen, auf dem ein Buch abgelegt werden konnte, mehr brauchte es nicht in einer Gemeinschaft, in welcher es kein persönliches Eigentum gab.

Gleich nebenan schnorchelte Bruder Lambert leise unter seiner Decke. Bruder Kolumban hatte sie nebeneinander einquartiert, denn so musste Lambert, sollte er nächtens ein Bedürfnis, egal welcher Art, verspüren, nicht erst das halbe Dormitorium aufwecken, ehe er jemanden fand, der der Fingersprache mächtig war.

Es war ein anstrengender Tag gewesen, wie unzählige zuvor auf dieser Reise, und eigentlich hätte Oleg schon in tiefem Schlummer liegen müssen, wie er es für gewöhnlich tat. Aber auch für ihn war heute nichts gewöhnlich.

Er war heimgekehrt!

Der Überschwang der Gefühle, die ihn bewegten, als er erst das Stadttor und wenig später gar das Klostertor durchschritt, hatten ihn überwältigt. Auf diesen süßen Schmerz war er nicht vorbereitet gewesen. Vierzehn Jahre waren vergangen und er hatte andernorts eine Gemeinschaft Gleichgesinnter gefunden. Dass ihn die Heimeligkeit der vertrauten Umgebung mit einer solchen Wucht treffen würde, nein darauf war er nicht gefasst gewesen.

Er hatte es verstanden, das Ausmaß seiner Empfindungen vor den anderen Brüdern mit mönchischer Zurückhaltung und Gelassenheit zu verbergen.

Eine stille Stunde des Nachmittags hatte er auf dem Kirchhof am Grab von Pater Kilian verbracht und ihm erzählt, wie es ihm in der Zwischenzeit ergangen war. Und selbstredend hatte er auch den verstorbenen Abt Stephanus in der kleinen Seitenkapelle der Kirche besucht. Bruder Oleg war sich gewiss, dass beide seinen Bericht mit aufmerksamer Anteilnahme vernahmen.

Dabei war sein Blick auf die frische Grablege von Abt Raimundus gefallen und Oleg hatte auch für ihn ein kurzes Gebet gesprochen. Er konnte nicht verhindern, dass dabei einige Fragen durch sein Hirn geisterten.

War es eine Täuschung oder hatten seine wohlwollenden, verstorbenen Gönner Kilian und Stephanus ob dieser Neugierde tatsächlich resigniert geseufzt?

Kurz darauf stöberte ihn Bruder Lambert auf. Vor ihm konnte Oleg sein Inneres nicht verstecken. Der Stimme und des Hörsinns verlustig, las Bruder Lambert mit seinen Augen in Mimik, Gestik und Körperhaltung und diese verrieten ihm mehr, als hundert Worte es gekonnt hätten.

Er bedeutete seinem Reisegefährten: „Du bist zu Hause“, und machte dazu das Zeichen großer Freude.

Oleg mochte nicht daran denken, von hier wieder fortgehen zu müssen. Aber bis dahin würde ohnehin noch viel Zeit vergehen. Womöglich würde er sich in einem Jahr, falls Lambert wirklich so lange für seine Arbeit brauchte, sogar danach sehnen, nach Nyen Brandenborch zurückzukehren, auch wenn ihm das zum gegenwärtigen Zeitpunkt reichlich unwahrscheinlich erschien.

„Die Wege des Herrn sind mitunter verschlungen und für uns Menschenkinder nur schwer zu deuten.“ Hatte nicht so sein väterlicher Freund Pater Kilian immer mit einem Augenzwinkern gesagt? Und mit dem Gedanken an den verehrten Pater schlief Oleg nun doch mit einem sanften Lächeln ein.

2. Kapitel

Die nächtlichen und morgendlichen Chorgebete hatten das Ihre dazu beigetragen, dass sich der gleichförmige Tages- und Nachtrhythmus, der allen Barfüßerklöstern gemein war, beruhigend auf Olegs Gemütszustand auswirkte.

Nach dem Frühstück und der Tischlesung fanden sich die Mönche im Kirchenchor zur Kapitelversammlung ein. Hier sollten auch Bruder Oleg und Bruder Lambert ihr Anliegen vortragen.

Der Guardian saß dem Kapitel vor, als hätte er sein lebelang nichts anderes getan. Er hörte sich alles aufmerksam an und ordnete die anstehenden Entscheidungen und kleinen Probleme ruhig und umsichtig. Zwei, dreimal beriet er sich kurz mit Bruder Johannes, dem Prior, da ihm die Gegebenheiten und Zusammenhänge noch fremd waren.

Bruder Johannes bemühte sich redlich, seine Zufriedenheit darüber zu verbergen, was ihm jedoch nicht ganz gelang. Doch musste er sich damit abfinden, dass er bis auf weiteres auf der klerikalen Karriereleiter feststeckte. Vorerst zumindest. Man hatte ja bei Vater Raimundus gesehen, wie schnell es gehen konnte.

Auch Bruder Hubertus hatte etwas vorzubringen. Entrüstet berichtete er, dass er den Novizen Friedhelm beim Singen eines frivolen Liedes ertappt hatte, und beantragte, ihn zwei Tage in die Verwahrzelle unter der Nachttreppe zum Dormitorium zu sperren. Von dort aus konnte er durch ein winziges Fenster den Gebeten und Gesängen seiner Mitbrüder im Chor folgen. Das Gefühl der Ausgeschlossenheit würde schon dafür sorgen, dass der Delinquent fürderhin frivole Lieder nicht einmal in seinen Gedanken zuließ.

Die Verwahrzelle unter der Nachttreppe war neu für Oleg. Zu seiner Zeit hatte es zwei Büßerzellen im Keller gegeben. Doch der Zweck leuchtete ihm ein, wenn er ihn auch nicht guthieß. Den Mitbrüdern so nah und doch so fern, ohne ermutigenden Zuspruch und Anteilnahme, mussten die vertrauten Geräusche der alltäglichen Verrichtungen den Eingesperrten zusätzlich zu seiner Schmach peinigen.

Vater Odo dachte kurz nach, meinte dann aber, das Sperren in eine Verwahrzelle für ein solches Vergehen wäre Verschwendung von Arbeitskraft. Der Novize solle in der nächsten Woche täglich den Abtritt säubern und darüber hinaus in der Infirmerie bei der Pflege der alten, gebrechlichen Brüder helfen. Nach Verbüßung dieser Strafe wäre es womöglich ratsam, den Jungen dem Bruder Vorsänger zu überantworten. Wenn er denn schon gern singe, solle er diese Gabe doch zur Ehre des Höchsten nutzen.

Weder Bruder Hubertus noch Bruder Johannes waren mit diesem Urteil recht einverstanden, doch hüteten sie sich, dass allzu offen zu zeigen.

Schließlich wurden Bruder Oleg und Bruder Lambert vor Abt Odo gerufen, um die Bitte des Guardians vom Bruderkloster in Nyen Brandenborch vorzutragen.

Demütig, jedoch nicht unterwürfig, traten beide in die Mitte der Mönche, neigten kurz den Kopf und sahen dann mit offenem Blick zum Guardian. Der gab den Blick ebenso offen zurück und Oleg hatte erneut den Eindruck von einer Spur Neugierde. Vielleicht galt diese Neugierde jedoch auch nur der Pergamentrolle, die der schmächtige, einäugige Mönch in der Hand hielt.

„Sprecht, Brüder“, forderte der Abt die beiden Gäste zum Reden auf. „Prior Johannes berichtete mir bereits, dass zwei Brüder aus Nyen Brandenborch eingetroffen sind.“

Oleg neigte noch einmal den Kopf und Lambert beschränkte sich wieder aufs freundliche Gucken.

„Vater Abt“, begann Oleg, „der Guardian des Barfüßerklosters, Vater Theodorus, lässt seine Grüße ausrichten und wünscht dem Bruderkloster in Magdeborch, dass es gedeihen möge zum Ruhme des Höchsten. Vater Theodorus schickte Bruder Lambert und mich, Bruder Oleg, vor Wochen aus, um hier seine Bitte vorzutragen. Im Laufe seiner Geschichte wurde das Nyen Brandenborcher Barfüßerkloster zweimal von verheerenden Bränden heimgesucht. Weite Teile des Klosters und auch die Schriftensammlungen fielen großteils den Flammen zum Opfer. Vater Theodorus hat es sich zur Aufgabe gemacht, nicht nur die Mauern und Gebäude wieder in vollem Umfang zu errichten, sondern auch eine Bibliothek anzulegen. Etliche Schriften konnten zu diesem Zwecke schon erworben werden. Nun bittet er, dass Bruder Lambert hier in Magdeborch Teile der Heiligenlegende unseres Ordensgründers kopieren und illuminieren darf. Bruder Lambert besitzt darin ganz außergewöhnliche Kunstfertigkeit.“

Oleg machte eine kleine Pause. Er hatte den Eindruck, dass sein Anliegen mit Wohlwollen aufgenommen wurde. Darum fuhr er fort. „Stört Euch bitte nicht daran, dass Bruder Lambert nicht für sich selbst sprechen kann. Er ist von Geburt an taub und stumm. Ich wurde ihm als sein Begleiter und als seine Stimme mitgegeben.“

Eine erneute kleine Pause. Schon wollte Oleg hinzufügen, dass Bruder Lambert gut von den Lippen ablesen konnte, so sich sein Gesprächspartner entsprechende Mühe gab, doch aus irgendeinem Grund behielt er dieses Wissen vorerst für sich. Stattdessen fügte er hinzu: „Wir kommen nicht nur als Bittseller. Vater Theodorus schickt diese Schriftrolle als Geschenk.“

Oleg hatte sie all die Wochen gehütet. In zwei Lagen gewachstes Tuch war sie eingeschlagen und fest verschnürt gewesen. Er hatte sie nicht in seinem Beutel getragen, sondern in einem kleinen Säckchen unter seiner Kutte, wo sie allzeit vor den Wetterunbilden sicher war. Jedenfalls solange, bis ihr Träger nicht selbst vollkommen durchnässt wurde. Doch hatte sie keinen Schaden genommen.

Gestern Abend hatte Oleg das Pergament aus seinem Schutz befreit und Schrift und Illumination hatten ihn in prächtigen, frischen Farben angeleuchtet. Die Initiale war von Rankwerk von Trauben umgeben, in dessen Mitte ein Ochse lag. Links am Rand des Pergaments zogen sich zierliche Darstellungen von Knoblauch- und Zwiebelknollen hin, die scheinbar einer Weinrebe entsprossen. Alles deutete auf den Inhalt des Schriftstückes hin.

„Dies ist die Abschrift eines Rezeptes, dass ein englischer Arzt vor Jahren unserem Spitalmeister zukommen ließ. Es hilft gegen fiebrige Erkrankungen vielerlei Art und besteht aus Ochsengalle, Wein, Zwiebeln und Knoblauch.“

Unruhe entstand unter den zuhörenden Mönchen. Einer von ihnen fuhr aus seinem Chorstuhl hoch, als hätte eine Wespe ihren Stachel in sein Hinterteil gebohrt, und starrte Oleg an, Augen und Mund weit aufgerissen. Ein Stoß seines Nachbarn brachte den Unruhestifter dazu, sich schnell wieder zu setzen, doch konnte er seinen Blick nicht von Oleg oder besser von dem Pergament in dessen Hand lösen.

„Wie es scheint, hat euer Mitbringsel schon die Begierde eines unserer Mitbrüder entfacht“, stellte der Guardian gelassen fest und fasste den Mönch, der jetzt den Kopf einzog, streng ins Auge. Der konnte seine Aufregung dennoch nur schwer zügeln.

„Bruder Theobald, unser Infirmarius“, half Bruder Johannes aus.

„Sprich, Bruder Theobald“, forderte Odo den Spitalmeister auf. „dir ist dieses Rezept bekannt?“

Bruder Theobald erhob sich wieder, diesmal gemessener. Mit nur schlecht unterdrückter Erregung erklärte er sein ungewöhnliches Verhalten: „Immer wieder hörte ich von Handelsreisenden, welche zur Herrenmesse von der englischen Insel her ihren Weg zu uns finden, von dieser ungewöhnlichen Rezeptur, die auch das schlimmste Fieber kurieren soll. Jedoch wussten sie nie, in welchen Mengen die Bestandteile zusammengemischt werden müssen.“ Er wandte sich hoffnungsvoll an Oleg: „Enthält die Rezeptur das Mischungsverhältnis der Ingredienzien?“

„In allen Einzelheiten“, bestätigte der.

Ein verklärtes Lächeln erschien im Gesicht des Krankenbruders und und mit einem zufriedenem Seufzen ließ er sich wieder auf seinem Stuhl nieder.

„So ist das Geschenk des Nyen Brandenborcher Guardians uns höchst willkommen.“ Vater Odo nickte beifällig. „Bruder Lambert wird gemeinsam mit unserem Bibliothecarius, Bruder Andreas, unsere Schriften sichten und eine geeignete zum Kopieren auswählen. Und für dich, Bruder Oleg, werden wir auch eine Aufgabe finden. Hast du die Weihen erhalten?“

„Die niederen Weihen, Vater Abt“, bestätigte Oleg.

„So wirst du dich vorerst für die Beichtkinder bereithalten.“

Ein Arm in der Gemeinschaft der Mönche reckte sich in die Höhe und Odo forderte den Besitzer des Armes mit einer Handbewegung zum Reden auf.

„Ich bin Bruder Kamillus, Vater Abt, der Kräuterbruder. Bitte gebt mir Bruder Oleg, so es seine Zeit in der Beichtbereitschaft zulässt, als Gehilfen zur Hand. Er ist in unserem Kloster aufgewachsen und kennt sich hervorragend mit Kräutern und deren Wirkungsweise aus. Es fällt mir mitunter schon schwer, die groben Arbeiten in den Gärten zu tun. Auch bei den Gängen zum Sondersiechenhaus vor dem Sudenburger Tor könnte er mir eine große Hilfe sein. Dorthin müssen regelmäßig Salben, Tinkturen und andere Arzneien gebracht werden, um den Siechen und Aussätzigen ihr Leiden zu erleichtern.“

„In unserem Kloster aufgewachsen.“ Wieder traf Oleg ein Blick mit einer Spur von Neugierde aus den grauen Augen des Guardians. „Dann soll es so sein. Bruder Oleg soll Bruder Kamillus als Helfer beistehen.“ Noch ein abschließender Blick in die Runde. „Damit schließe ich das Kapitel für heute.“

Es dauerte keine Woche und Oleg hatte sich wieder vollständig in die ihm größtenteils vertraute Gemeinschaft eingefügt. Täglich fand er sich in der Seitenkapelle der Kirche ein, am Vormittag eine Stunde vor der Terz und am Nachmittag für eine Stunde ab der Non, um beichtwilligen Stadtleuten die Seele zu erleichtern und eine geringe Buße zu verhängen. Das Osterfest war noch nicht lange her und in dessen Vorbereitung hatten alle umfänglich gebeichtet, so dass jetzt nur ein paar lässliche Sünden zusammenkamen, wie das Naschen eines süßen Kuchens oder das Auslassen des Abendgebetes, weil man unversehens eingeschlafen war.

Meist kamen auch nur die alten Weiblein, auf die keine anderen Aufgaben mehr warteten und für die die Kirche schon fast etwas wie ihre zweite Wohnstube war, wo sie sich in Gottes Hand gut aufgehoben und geborgen fühlten. Menschen, die einem harten Tagwerk nachgingen, beichteten bestenfalls einmal im Monat.

Darüber hinaus befand sich die Pfarrkirche von Sankt Katharina nicht weit entfernt und die meisten ihrer Pfarrkinder gingen auch dort zur Beichte.

Zwei weitere Mönche, denen die Pflege der Kerzen und des ewigen Lichtes oblag, hielten sich bereit, sollte der Ansturm der Beichtwilligen überhand nehmen. Doch war damit um diese Jahreszeit nicht zu rechnen. Es kam sogar vor, dass Olegs Beistand gar nicht benötigt wurde, und so hatte er ausreichend Zeit, um seine Gedanken schweifen zu lassen. Selbstredend erst, nachdem er einige Gebete für die Sünder gesprochen hatte, die nicht die Zeit oder den Mut fanden, ihre Schritte in die Kirche zu lenken.

Die zwei Mönche, die Vater Odo mitgebracht hatte, waren bemerkenswert. Der eine hatte einen Blick und ein Gebaren, als hätte Gottvater ihn persönlich ausgesandt, mit einem unsichtbaren Flammenschwert zwischen die Sünder zu fahren und die Spreu schon auf Erden vom Weizen zu trennen. Alle gingen ihm aus dem Weg oder beschränkten zumindest die Zeit in seiner Nähe auf das Allernotwendigste. Er schien es zufrieden zu sein und keinen Wert auf irgendeine Gesellschaft zu legen, ja sie geradezu als lästig zu empfinden. Dazu war er sowohl an Größe als auch an Breite ein Riese und jedermann hätte ihm den Erzengel ohne weiteres abgenommen. Selbst Prior Johannes hatte seine Schritte verzögert, als zu befürchten stand, dass er dem ungestüm Ausschreitenden genau auf der Mitte des Hofes begegnen würde.

Der zweite war redseliger und zugänglicher, gleichwohl sein Äußeres, insbesondere seine spitze Nase, die vorstehenden Zähne und die flink umherhuschenden Augen etwas Rattenhaftes an sich hatten. Die leicht gebeugte Haltung des nicht allzu großen Mönchs trug das ihre zu diesem Eindruck bei.

Beide, Bruder Jordanus und Bruder Wendelin, waren irgendetwas zwischen vierzig und fünfzig. Vom Letzteren hatten die Magdeborcher Brüder einiges über ihren neuen Oberhirten erfahren. Vater Odo hatten seinen Wirkungskreis zuvor im Erfurter Barfüßerkloster gehabt, wo er dem zweiten Lektor der dortigen Studiengänge als Socius beigegeben war. Er hatte den begabten Brüdern anderer Barfüßerklöster, die dort ihre Studien absolvierten, Unterweisungen in Theologie erteilt.