Die goldene Rüstung - Gudrun Krohne - E-Book

Die goldene Rüstung E-Book

Gudrun Krohne

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Beschreibung

Magdeburg im Frühsommer 1377 Lange hat Hildegard auf Withos Rückkehr aus dem Welschland gewartet. Doch kaum sind er und Ritter Notger wieder in der Stadt, werden die beiden Heimkehrer heimtückisch überfallen. Ungewollt geraten Hildegard und ihre Freunde in alte Familienzwistigkeiten und die Jagd nach dem verschollenen Schatz eines einstmals mächtigen Ritterordens hinein. Hildegard und Witho lassen nichts unversucht, Notger von Alvensleben beizustehen. Ihre Widersacher scheuen jedoch kein Mittel, ihre Ziele zu erreichen und ohnmächtig muss Hildegard ertragen, wie ihr Leben in Scherben zerbricht.

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Inhaltsverzeichnis

Die Personen

Magdeborch Frühsommer im Jahre des Herrn 1377

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

Epilog

Die Personen

Die Beginen

Die Magdeborcher

Die Außerhalbschen

Die Historischen

Magdeborch Frühsommer im Jahre des Herrn 1377

1. Kapitel

„Gebt auf der Stelle mein Weib heraus oder meine Knechte werden eure Tür einschlagen!“ Ein tüchtiger Rums gegen das hölzerne Tor des Beginenkonvents am Ulrichstor bekräftigte die wütenden Worte des stiernackigen Wirts des Gasthauses Zur goldenen Krone.

„Der Kerl meint es ernst.“ Vorsichtig kletterte die Magistra Mechthilda die Leiter herunter, von deren oberen Sprossen sie über die Mauer in die Straße gespäht hatte. „Seine Knechte sind breit wie Ochsen und scheinen über nicht mehr Witz als eine Runkelrübe zu verfügen. Die würden ohne Zögern mit ihren Äxten unser Tor kurz und klein hacken.“ Mechthilda sah in die Runde der sie umstehenden Beginen.

„Wir können doch das arme Weib nicht diesem Unhold überlassen.“ Reinhyldis schüttelte entschieden den Kopf. „Nicht nachdem, was der ihr angetan hat.“

„Das sehe ich auch so.“ Walburga packte ihr breites Hackbeil fester und pustete sich eine graue Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Um Gottes Willen, Walburga, du wirst doch nicht mit den Kerlen raufen wollen?“ Die alte Torfrau Agnes drückte die Fäuste der Köchin herunter.

Agnes hatte sich an dem kleinen Luk in ihrem Pförtnerhaus als Erste den geifernden Zorn des Kronenwirts anhören müssen und umgehend die Magistra hinzu geholt. Inzwischen scharten sich fast alle Beginen um das Tor.

„Wo nur Hildegard und Tylla bleiben.“ Klara hatte noch den langstieligen, scharfkantigen Kratzer in der Hand, mit dem sie den Hühnerstall ausgemistet hatte.

Gleich nach des Wirtes ersten wutschnaubend vorgebrachten Forderungen hatte Mechthilda die beiden jungen Frauen durch die hintere Pforte ausgeschickt, welche zu dem Grasweg entlang der westlichen Stadtmauer führte. Sie sollten bei den Stadtwachen um Unterstützung gegen den Wirt und sein Ansinnen bitten. Doch die hatten womöglich Dringenderes zu tun oder nahmen die Drohungen eines wütenden Ehemanns nicht allzu ernst.

Gestern Abend, die Dämmerung ging eben in die Nacht über, hatte die Kronenwirtin an ihr Tor gepocht. Fast hätte Agnes das zaghafte, schwache Klopfen überhört, denn eben rief Walburga mit dem Triangel an ihrer Küche die Beginen zum Abendmahl ins Refektorium. Aber dann hatte sie doch das Luk geöffnet und ein blasses, spitzgesichtiges Weib hatte sie um Hilfe und Schutz angefleht. Ohne lange über die Auswirkungen ihrer Hilfsbereitschaft nachzudenken, hatte Agnes die kleine Tür im zweiflügligen Tor geöffnet und die schwankende Frau sogleich in den Speiseraum geführt, damit die dort ihren Wunsch vortragen könne.

Doch dazu war es vorerst nicht gekommen, denn kaum hatte das junge, schmächtige Weib die Schwelle übertreten, war es mit einem Wehlaut zusammengebrochen und in tiefe Bewusstlosigkeit gefallen. Unter ihr hatte sich eine kleine Blutlache gebildet.

Hildegard, die vor fast zwei Jahren die Kräuterstube der an der Pest verstorbenen Apothekerin Hedwigis übernommen hatte, war in der Heilkunde recht gut bewandert. Fast täglich war sie in den armen Bezirken Magdeborchs unterwegs, um Alten und Siechen beizustehen. Also hatte sie die Bewusstlose einer kurzen Untersuchung unterzogen. Zu ihrem Schrecken musste sie feststellen, dass der Frau das Blut die Beine heruntergelaufen war. Das ließ nur einen Schluss zu: eine Frühgeburt. Ob gewollt oder ungewollt, sei dahingestellt. Diese Frau brauchte Hilfe, nur das zählte im Augenblick.

Um in einem solchen Fall hilfreich zu sein, reichten Hildegards Kenntnisse bei Weitem nicht aus. Tylla wurde nach der alten Hebamme Franziska geschickt. Die war auch recht schnell zur Stelle, bewohnte sie doch unweit vom Konvent ein winziges Häuschen unter der Stadtmauer. Und der Korb mit allen notwendigen Tinkturen und Salben stand jederzeit griffbereit auf der Herdbank.

„Wie das?“, hatte Franziska auf dem Weg in den Konvent gutmütig meckernd gekichert. „Ich dachte immer, ihr Beginen lebt keusch. Wie kann da eine von euch eine Frühgeburt haben?“

„Keine von uns“, hatte Tylla klargestellt. „Ein schutz- und hilfesuchendes Weib hat bei uns angeklopft und ist dann ohnmächtig in unserem Refektorium zusammengebrochen.“

Franziska war augenblicklich ernst geworden. „Noch so ein armes Weib, das sich ihrem Ehemann nicht unter die Augen traut, weil sie womöglich zum wiederholten Male frühgeboren hat und es wieder nichts mit dem ersehnten Stammhalter wird. Stattdessen setzt es Schläge. Sollen die geilen Kerle lieber dafür Sorge tragen, dass ihre schwangeren Weiber nicht von morgens bis abends schwer buckeln müssen und sie nicht bis hin zur Geburt bespringen.“

Darauf wusste Tylla nichts zu antworten. Ihr Ehewirt hatte sie immer gut behandelt. Leider war er zu früh gestorben. Der raffgierige Schwager hatte ihr allen Besitz entrissen. Sogar das Vormundsrecht über ihren Sohn hatte er durchgesetzt. Ein wohlgesonnener Advokat hatte einen einzigen Webstuhl für sie aus der gut gehenden Weberei erstreiten können. Mit dem, also mit dem Webstuhl, hatte Tylla letztendlich um Aufnahme bei den Beginen gebeten. Sie hatte es nie bereut, obwohl es auch hier bewegte Zeiten gab.

Schweigend erreichten sie den Konvent.

Inzwischen hatten die Beginen die noch immer Bewusstlose mithilfe eines breiten Brettes in die Krankenstube des kleinen Gästehauses geschafft.

„Kathrina Kronenwirtin“, murmelte Franziska überrascht, als sie die Krankenstube betrat. Dann scheuchte sie alle, Hildegard ausgenommen, hinaus und widmete sich kenntnisreich der Ohnmächtigen. Sie schlug deren Röcke nach oben und betrachtete und betastete den Unterleib der Bewusstlosen. Skeptisch schob sie die Unterlippe vor, beugte sich tief hinunter und schob zwei Finger in den Geburtsgang der Frau, zog sie wieder heraus und roch daran.

Zusehends hatte sich das Gesicht der Wehfrau verfinstert. Jetzt spülte sie die Hände in einer bereitstehenden Schüssel mit warmem Wasser, entnahm ihrem Korb einen tönernen Tiegel und verstrich großzügig eine rötliche Salbe auf die wunden Stellen.

Hildegard hatte sich keine Handreichung entgehen lassen. „War das eine Salbe aus Blutwurz?“, fragte sie jetzt.

„Blutwurz, richtig“, kam die brummige Antwort. „Wenn sie zu sich kommt, halte einen Aufguss aus Hirtentäschel bereit.“

„Hirtentäschel habe ich in meiner Kräuterstube.“

„Gut, und nun bring mich zu eurer Magistra. Das hier“, sie wies auf das Bett mit der Kranken, „wird einiges an Misslichkeiten für euch bringen.“

„Sollten wir nicht ihren Ehewirt benachrichtigen?“

„Nicht zum Andreas.“ Fast hätten Franziska und Hildegard das Flüstern überhört, war es doch nicht viel mehr als ein Hauch. „Er darf nicht wissen, dass ich hier bin.“

Nun ja, irgendwie hatte es der Kronenwirt doch erfahren, dass sein Weib im Beginenkonvent am Ulrichstor Zuflucht gesucht und gefunden hatte. Und dieses Wissen hatte ihn mit seinen zwei bulligen Knechten fast pünktlich zur Sext hierher geführt und ließ ihn nun einen derartigen Tanz aufführen.

Das Gespräch zwischen Mechthilda und Franziska war am Vorabend recht kurz verlaufen. Hildegard hatte sich dazu gesellt, musste sie doch fortan die Krankenpflege übernehmen und war es also nur natürlich, dass sie über die Ursachen des Wehs der Kronenwirtin Bescheid wusste.

„Die Kathrina hat nie ein Kind zur Welt gebracht, weder eines zur rechten Zeit, noch eines das zu früh kam. Sie hat mich mehrfach um Hilfe aufgesucht, hat nach Pülverchen und Tropfen gefragt, um dem Stehvermögen ihres Mannes auf die Sprünge zu helfen. Er kann ihr nicht beiwohnen. Hat nur einen nutzlosen Wurm zwischen den Beinen. Ihr versteht?“ Fragend sah die Hebamme die beiden Beginen an. Weder Mechthilda noch Hildegard waren je verheiratet gewesen. Doch sie nickten.

„Der Kerl hat natürlich die Schuld an seinem Versagen ihr gegeben. Zweimal hat er ihr mit dem Stiel von einem Holzlöffel Gewalt angetan. Diesmal hat er es wohl übertrieben.“

Entsetzt hatte Hildegard die Luft eingesogen und Mechthildas Fäuste hatten sich verkrampft.

Doch von diesem Gespräch am Vorabend konnte Hildegard nichts dem Stadtwächter erzählen, der sie jetzt am Betreten der Hauptwache am Münzhof unweit der Heilig Geist Kirche hindern wollte.

„Ihr lasst mich jetzt augenblicklich ein, ansonsten beschwere ich mich bei Eurem Hauptmann Dietrich von der Furth über Euch.“

Die Drohung verfing bei dem Kerl nicht. Er zeigte nur ein zahnlückiges, tumbes Grinsen und wagte doch tatsächlich nach Hildegards Brust zu grabschen.

Die Ohrfeige, welche er sich einhandelte, war nicht von schlechten Eltern, doch schien sie den Burschen nur noch anzustacheln. Schon hatte er Hildegard am Arm gepackt und wollte sie in das Tor des ehemaligen Wohnturms, der jetzt die Stadtwache beherbergte, zerren.

Der hochgewachsene Mann, der in diesem Augenblick in seinem Rücken auftauchte, entging ihm dabei gänzlich.

Mit den Worten: „Was geht denn hier vor?“, packte der seinerseits den Soldaten am Kragen und stieß ihm gleichzeitig das Knie in den Rücken.

Augenblicklich ließ der Hildegard los, die nun zwei Schritte zurücktaumelte und gerade noch so von Tylla festgehalten wurde, bevor sie im Straßendreck landete.

Entrüstet machte sie sich frei, ordnete ihr Beginengewand und den Schleier, der bei der Rangelei verrutscht war und setzte schon zu einer wütenden Anklage an, als sich ihr Retter galant verbeugte. Da er noch immer den zappelnden Stadtwächter in hartem Griff hielt, musste der fast bis auf die Knie hinunter.

„Also, was geht hier vor?“, wiederholte er seine Frage.

„Wir sind gekommen, um die Stadtwache um Hilfe zu bitten.“ Hildegard hatte sich schnell gefasst. „Der Kronenwirt steht vor unserem Beginenkonvent am Ulrichstor und droht, dass seine Knechte mit ihren Äxten unser Tor einschlagen.“

„Hat er einen Grund dafür?“

„Sein Weib hat bei uns Schutz vor seinen Gewalttätigkeiten gesucht.“ Mehr würde sie auf keinen Fall preisgeben.

Die Augenbrauen ihres Gegenübers wanderten nach oben. Würde der jetzt etwa von dem gottgegebenen Recht des Mannes auf sein Weib zu faseln beginnen? Hildegard holte vorsorglich tief Luft.

„Nun, dann sollten wir jetzt gehen, bevor Euer Tor doch noch Schaden nimmt.“ Er rief vier Männer herbei. Dem einen übergab er den Mann, welcher noch immer in seiner Faust hing. „Den hier bis zur Non in den Block, damit er lernt, sich zu benehmen. Wir sind hier bei der Stadtwache und nicht in einer Spelunke an der Schiffslände.“

Zügig machten sich die vier Männer und die beiden Beginen auf den Weg zurück zum Konvent.

„Mein Name ist Caspar Elbrecht, Unterführer der Stadtwache“, stellte sich der Anführer des Truppe Hildegard vor. „Vielleicht erinnert Ihr Euch ja. Wir sind uns vor Jahren begegnet, als Ihr vor dem Inquisitor fliehen und Euren Konvent verlassen musstet.“

Hildegard musterte ihren Begleiter aus dem Augenwinkel. Schwarze Locken ringelten sich unter seiner Lederkappe hervor. Richtig, das war der Unterführer der Stadtwache. Dazumal hatte er mit seinen Männern den Konvent besetzt, um ihn vor dem Zugriff der Stiftsgarde zu schützen, und somit nicht zugelassen, dass der damalige Magdeborcher Erzbischof Albrecht seine Hand auf das wohlgeordnete Anwesen legen konnte.

„Natürlich erinnere ich mich.“ Unwillkürlich schlich sich ein Lächeln in Hildegards Gesicht. „Ihr habt die Spionin des Erzbischofs in den Bürgergehorsam werfen lassen. So erfuhr er nicht vorzeitig von unserer Flucht.“

„Und die Stiftsgarde marschierte völlig ahnungslos am nächsten Tag vor Eurem Konvent auf und hat sich nichts als blutige Nasen geholt. Wir haben denen tüchtig das Fell gegerbt.“ Elbrecht lachte in Erinnerung an das Scharmützel laut auf und auch Hildegard dachte voller Genugtuung daran, wie der verhasste Hauptmann der erzstiftlichen Garde eine brechende Niederlage erlitten hatte.

„Wie ich sehe, habt Ihr die Pestilenz gut überstanden.“ Der Unterführer lächelte breit und brachte seine vollständigen und fast weißen Zähne zur Geltung.

„Nicht alle Beginen haben diese schwere Zeit überlebt. Ich wurde, Gott sei‘s gelobt, verschont.“ Dass sie wochenlang auf Leben und Tod gelegen und den Schwarzen Tod erst nach langer Krankheit besiegt hatte, verschwieg sie.

„Auch viele der Stadtwächter wurden vom Sensenmann geholt. Und nun müssen wir uns mit solchem Gelichter rumschlagen, wie mit dem, der Euch belästigte. Früher hätten wir so einen an den Pranger gekettet und ausgepeitscht.“

Hildegard bezweifelte, ob irgendwer an den Pranger gestellt worden wäre, der ein Weib bedrängte. Es sei denn, es wäre eine von den Edlen oder von den Patriziergeschlechtern betroffen. Und so enthielt sie sich eines Kommentars.

Kurz darauf bogen sie an der Ulrichskirche vorbei in die Straße ein, die zum Konvent führte. Vor dessen Tor hatte sich inzwischen eine größere Menschenmenge versammelt, die begierig auf die weitere Entwicklung des Zwistes wartete. Darunter waren auch einige, die den Kronenwirt noch anfeuerten, endlich diesem gottlosen Treiben der Weiber dort hinter der Mauer ein Ende zu setzen. Wo kam man denn hin, wenn sich eine jede gegen Gottes Gebot stellte und sich der Munt des Mannes entzog?

Andere sprachen sich lautstark für die Beginen aus. Hatten doch die in der Vergangenheit und besonders bei der noch nicht lange zurückliegenden letzten Pest aufopferungsvoll für die Kranken und Bedürftigen gesorgt.

Es fehlte nicht viel und die beiden Gruppen wären sich gegenseitig ans Leder gegangen.

Der weitaus größere Teil der Zuschauer war jedoch nur auf ein Spektakel aus, welches den ansonsten tristen Alltag belebte und sich anschließend vortrefflich in den Gassen, auf den Märkten und in den Schänken weitertragen ließ, nicht ohne es selbstredend entsprechend auszuschmücken.

Die drei Stadtsoldaten drängten mit vorgehaltenen Piken als erstes die beiden Knechte vom Tor weg, denn der eine hatte eben krachend seine Axt ins Holz geschlagen.

Das Gespräch zwischen dem Herbergswirt und Caspar Elbrecht gestaltete sich recht kurz, eigentlich kam der feiste Wirt gar nicht zu Worte.

„Seid Ihr toll, Mann!“, fuhr ihn der Unterführer an und stieß ihn grob vor die Brust, dass der andere überrascht einige Schritte zurückstolperte. „Was fällt Euch ein, den Stadtfrieden zu brechen und Euch gewaltsam Zutritt zu einem ehrbaren Anwesen verschaffen zu wollen!“

Der Wirt wollte aufbegehren, doch mit einer unwirschen Handbewegung schnitt ihm Elbrecht das Wort vom Mund. „Nehmt Eure beiden Ochsen und trollt Euch. Wenn ich mich recht entsinne, müsst Ihr Euch schon wegen einer Anklage aufgrund unerlaubten Glücksspiels verantworten. Wollt Ihr noch den Bruch des Stadtfriedens auf Euch laden? Macht nur zu und der Stadtverweis ist Euch sicher.“

Dem Kronenwirt klappte mehrmals der Mund auf und zu, dass er nicht wenig Ähnlichkeit mit einem der Simpel im Narrenturm hatte. Doch dann winkte er seinen Knechten und zog widerspruchslos ab.

Hildegard wusste nur zu gut, dass es damit noch nicht ausgestanden war. Dessen ungeachtet bedankte sie sich bei dem Unterführer für seine Hilfe.

In dem Moment ging die kleine Tür auf und Mechthilda trat heraus. Die anderen Beginen drängten sich hinter ihr.

Auch die Magistra sprach dem Unterführer der Stadtwache ihren Dank aus und erwähnte wie nebenbei, dass sie am Nachmittag die Frau des Stadthauptmanns besuchen würde. Dass sie den hilfreichen Unterführer erwähnen würde, musste nicht laut ausgesprochen werden.

Caspar Elbrecht verneigte sich leicht. „Solltet Ihr wegen der beschädigten Tür Anklage gegen den Kronenwirt erheben wollen, werde ich gern Zeugnis ablegen.“ Dann nach einer kleinen Pause: „Warum suchte sein Weib bei Euch Zuflucht?“

Auf diese Frage hatte Mechthilda schon die ganze Zeit gewartet. „Er hat ihr Gewalt angetan, sie bis aufs Blut gezüchtigt.“ Mehr musste er nicht wissen.

„Auch sie könnte Anklage erheben.“

„Wir werden sehen.“

Caspar Elbrecht neigte noch einmal grüßend den Kopf, schenkte Hildegard ein strahlendes Lächeln und stiefelte dann, gefolgt von seinen Männern, im Bewusstsein einer gewonnenen Schlacht davon.

„Wie geht es der Kronenwirtin?“, fragte Hildegard, nachdem sich hinter ihr die Tür geschlossen hatte.

„Sie ruht, scheint sich aber zu erholen. Doch befürchte ich, dass die seelischen Wunden schwerer wiegen als die körperlichen. Allein der Gedanke, sich wieder ihrem gewalttätigen Ehewirt ausliefern zu müssen, lässt sie zittern.“

„Kann sie denn Anklage erheben und frei von diesem Widerling kommen?“

Mechthilda wiegte den Kopf. „Es gibt wohl Möglichkeiten, eine Auflösung der Ehe zu erwirken, doch muss sie dann das ganze Geschehen vor einem kirchlichen Gericht schildern, die Impotenz des Mannes sowie seine widernatürlichen Beischlafpraktiken.“

„Ob sie das will? Sie müsste all ihr Leiden vor ein paar lüsternen Klerikern schildern, denen der Geifer ob der Vorstellung dieser Taten aus dem Maul läuft.“

„Das liegt in ihrer Entscheidung. Vorerst ist sie bei uns in Sicherheit. Der Kronenwirt wird sich nun hoffentlich von unserem Konvent fernhalten.“

„Was ihn nicht daran hindern wird, hässliche Reden gegen die Beginen zu schwingen, die ihm das Recht auf sein Weib verweigern.“

Mechthilda seufzte. Und er würde reichliche und willige Zuhörerschaft finden. Das wäre nichts Neues. An der freien Lebensweise der Beginen entzündeten sich immer wieder kleinliche Gemüter, die forderten, dem endlich ein Ende zu setzen.

Dass sie ein keusches Leben führten und Gutes unter den Armen und Bedürftigen taten, wurde ihnen nur als listige Tarnung ihrer wahren Taten unterstellt. Welches diese wahren Taten waren? Oh, das reichte von Häresie über Zauberei bis hin zum Bund mit dem Leibhaftigen und Abhalten satanischer Riten.

Doch erst einmal mussten sie sich um die jetzt anstehenden Probleme kümmern.

Hildegard schaute noch bei der Kranken vorbei. Aber die schlummerte gerade. Selbst in ihren Träumen schien sie von ihrem grausamen Ehemann heimgesucht zu werden. Ihre Beine zuckten immer wieder, als wolle sie ihm davonlaufen. Die Lippen waren zu einem schmalen Strich zusammengepresst.

Hildegard strich ihr sanft über die Schläfen.

„Hier seid Ihr in Sicherheit“, flüsterte sie und die Kronenwirtin entspannte sich sichtlich.

Gut, hier konnte sie im Moment nichts tun. Ein Tonbecher mit einem Aufguss aus Hirtentäschel stand auf einem Schemel in Griffweite der gemarterten Frau.

Bevor Hildegard ihre Kräuterstube aufsuchte, ging sie noch zu den zwei Wacholdersträuchern, die in der sandigen Ecke ihres Gartens prächtig gediehen. Dort hatten sie ausreichend Licht. Zwar wuchsen sie außerordentlich langsam in die Höhe, doch hatten sie sich gut verzweigt. Alle zwei, drei Jahre konnte Hildegard die begehrten Beeren ernten, die sowohl Walburga in ihrer Küche als auch sie selbst bei der Herstellung ihrer Kräutermischungen schätzte.

Sie schnitt zwei Zweiglein mit den immergrünen Nadeln ab. Zusammen mit einigen Rosmariennadeln und getrockneten Lavendelblüten würden sie beim vorsichtigen Räuchern in der Krankenstube diese mit wohltuenden und beruhigenden Aromen füllen.

Mit den Zweigen in der Hand schritt Hildegard ihre Kräuterbeete ab wie ein Feldherr die Front seiner Ritter. Nein, dieser Vergleich hinkte in vielerlei Hinsicht. Würde ein Heerführer seinen Rittern eher Kampfesmut und Standhaftigkeit befehlen, so kniete sich Hildegard schon mal hin, um hier ein Kräutlein vom Unkraut zu befreien, welches ihm Licht und Luft streitig machte oder dort eine verirrte Ranke hochzubinden.

Beim Eisenkraut blieb sie stehen. Das handspannenlange Pflänzchen, das Hedwigis hier vor mehr als vier Jahren gepflanzt hatte, hatte sich zu einem zwei Fuß hohen, kräftigen Strauch entwickelt und breitete sich beachtlich aus. Hildegard beschloss, sobald die Räuchermischung für die Kronenwirtin fertig war, dem Busch mit einem Messer zu Leibe zu rücken, bevor er noch die angrenzenden Thymian- und Salbeipflanzen überwucherte.

Einen Teil des Eisenkrauts würde sie trocknen und für ihre Kräutermischungen gegen Magengrimmen und Frauenbeschwerden nutzen. Ein, zwei Handvoll würde sie zu Walburga tragen. Die Köchin schätzte das leicht bittere Kraut zum Würzen ihrer Speisen ebenfalls. Sein kräftiger Geschmack erinnerte in etwa an ein Gemisch aus Rosmarin, Salbei, Rauke und Minze.

Hildegard bohrte einen Finger bis zur Hälfte in die Erde und prüfte, ob die Beete heute noch gewässert werden mussten. Auf einen ungewöhnlich harten und langen Winter war ein ausgesprochen trockenes und sonniges Frühjahr gefolgt.

Im Allgemeinen war der Blühmonat kühl und regnerisch und netzte das Erdreich mit genügend Wasser, auf dass in den Sommermonaten alles wachsen und gedeihen konnte. Heuer war es nicht so. Auch ein Blick in den wolkenlosen Himmel machte jede Hoffnung selbst auf den kleinsten Regenschauer zunichte.

Noch bewahrte sich das Erdreich eine Restfeuchte des schneereichen Winters und des morgendlichen Taus, aber lange würde das nicht für die mit Macht wachsenden und sprießenden Pflanzen reichen.

Hildegard mochte gar nicht daran denken, was es für eine Plackerei werden würde, müsste sie das Wasser von ihrem Nachbarn dem Mälzer, der über einen eigenen Brunnen verfügte und den Beginen dessen Nutzung gestattete, in Eimern heranschleppen. Vielleicht wäre es möglich, sinnierte sie, während sie den Garten verließ, den Badezuber auf den Maultierkarren zu laden und so eine für ein, zwei Tage ausreichende Menge Wasser auf einmal heranzuschaffen.

Hildegard ging am Zaun entlang und warf einen Blick in den angrenzenden Obstgarten. Dort werkelte Klara herum. Hildegard rief ihr im Vorbeigehen einen Gruß zu und Klare winkte zurück.

An der Mauer zu ihrem anderen Nachbarn, dem Getreidehändler Großpeter, waren die Stallungen für Hühner, Ziegen, Maultier und Eselchen und der Schweinekoben angebaut. Das Ferkel, welches Klara und Agnes im Frühjahr auf dem Viehmarkt ausgesucht hatten, war schon ordentlich gewachsen. Im Schlachtemonat, wenn die ersten Fröste ins Land gezogen waren, würde sich das Schwein in fette Würste, Schinken und Pökelfleisch verwandeln.

Schon wollte Hildegard ihr Häuschen betreten, welches an die Mauer zur Straße hin lehnte, als sie bemerkte, dass in der Schulstube, die unmittelbar an ihre Kräuterstube grenzte, das Fenster weit geöffnet war und die Tür sperrangelweit offen stand.

Vor der Pest hatte Mechthilda dort einige Mädchen, Töchter von Handwerkern und wohlhabenden Kaufherren, gegen eine Gebühr im Lesen, Schreiben und Rechnen unterwiesen. Auch die eine oder andere Tochter ärmerer Eltern durfte kostenfrei am Unterricht teilnehmen, vorausgesetzt sie brachte Fleiß und ein ausreichendes Maß an Witz mit.

Doch als vor mehr als zwei Jahren die dritte Pestwelle über Magdeborch hereinbrach, war es mit dem Unterricht vorbei gewesen. Wollte Mechthilda die Unterweisungen nun wieder aufnehmen?

Beschwingt betrat Hildegard die Schulstube und hatte schon einen gutgemeinten Spruch auf der Zunge, als ihr dieser auf den Lippen erstarb. Nicht Mechthilda werkelte in dem Raum herum, sondern Reinhyldis wischte eben mit einem feuchten Lappen Schultische und Stühle sauber.

Hildegard hatte mit der Witwe des Stadtmedikus Tiele Alemann vor einem Jahr keinen guten Start gehabt. Nicht nur, dass Reinhyldis mit einem Sohn der Alemanns, die regelmäßig einen der beiden Bürgermeister von Magdeborch stellten, verheiratet gewesen war, sie entstammte auch dem Patriziergeschlecht der Hiddes. Ihr Vater war angesehener Schöffe der Oldenstadt. Dementsprechend gab sich die Patriziertochter recht hochnäsig und unzugänglich.

Allerdings musste sich Hildegard inzwischen eingestehen, dass sie selbst nicht dazu beigetragen hatte, Reinhyldis im Beginenkonvent mit Freundlichkeit zu begrüßen oder den sich aus der gegenseitigen Abneigung entspannenden Zwist beizulegen.

Dessen ungeachtet hatte Reinhyldis in der ihr eigenen Art im Herbst ihre halbjährige Probezeit bestanden und sich für ein weiteres Leben im Konvent entschieden. Und das Bier, das sie in dem eigens für sie errichteten kleinen Brauschuppen hinten im Obstgarten im Herbst zu brauen begonnen hatte, war durchaus schmackhaft. Das musste ihr selbst Hildegard zugestehen.

Zumindest waren die beiden zu einer Art von Waffenstillstand gekommen, auch wenn ihr Umgang miteinander nicht eben von Herzlichkeit getragen wurde.

Reinhyldis sah von ihrem Tun auf, als Hildegards Schatten das Licht, welches durch die Tür hereinfiel, verdunkelte. Auch sie hatte schon ein sparsames Lächeln im Gesicht, das sich augenblicklich hinter einer nichtssagenden Maske verkroch.

„Will Mechthilda den Unterricht wieder aufnehmen?“, fragte Hildegard, nur um nicht wortlos den Raum wieder zu verlassen, und bemühte sich um einen neutralen Ton.

„Nicht Mechthilda“, kam es ebenso teilnahmslos zurück. „Sie hat mich gebeten, hier für Ordnung zu sorgen, damit ich die Mädchen, so sich denn welche finden, unterrichte.“

„Riecht nicht eben angenehm hier.“ Hildegard machte einen Schritt in den Raum hinein.

„Wie sollte es auch, da mehr als zwei Jahre kaum gelüftet wurde und ich den Mäusedreck aus den Ecken kehren musste.“

„Ich will für die Kronenwirtin eine Räuchermischung aus Wacholder, Rosmarin und Lavendel zubereiten. Die duftenden Aromen werden sie beleben und die Nachtmahre vertreiben. Ich könnte dir ein Schälchen voll abgeben, dann kannst du es hier verbrennen.“ Die Worte waren heraus, ehe Hildegard recht darüber nachdenken konnte.

Reinhyldis war nicht minder überrascht als Hildegard über deren Angebot. „Ja, das wäre von Nutzen“, brachte sie deshalb nur hervor.

„Gut, dann mach ich das mal.“

Und schon trat Hildegard den Rückzug an, bevor sie sich noch zu weiteren Freundlichkeiten hinreißen ließ. Über sich selbst den Kopf schüttelnd betrat sie ihre Kräuterstube. Zum Teufel mit ihrer Hilfsbereitschaft. Andererseits, wenn hier wieder Unterricht stattfand, würde das dem Ansehen des Konvents zuträglich sein, von den Einnahmen einmal ganz abgesehen. Also machte sie sich an die Zubereitung der Kräutermischung.

Die richtigen Zutaten waren schnell zusammengetragen. In ihrer Stube herrschte mustergültige Ordnung. Von der Decke hingen an gespannten Schnüren Kräuterbüschel, welche regelmäßig auf Schimmelbefall oder muffige Nester überprüft wurden. Auf Regalbrettern reihten sich Tiegel und Töpfe, Krüge und Holzschachteln aneinander. Alles war mit kleinen Pergamentfetzen beklebt und akkurat beschriftet.

Derweil ihre Hände die Arbeit ohne langes Nachgrübeln taten, gingen ihre Gedanken eigene Wege. Wenn Reinhyldis den Unterricht übernahm, würde sie sicherlich die kleine Kammer unter dem Dach des Schulhauses beziehen. Das wäre Wand an Wand mit ihrer eigenen Kammer über der Kräuterstube. Aber damit nicht genug. Die beiden Kammern verband eine Tür, welche sich nicht verriegeln ließ. Da sich die Tür aber zu ihrer Kammer hin öffnete, überlegte Hildegard schon, ihre Truhe davorzuschieben.

Wenn sie denn überhaupt noch so lange im Konvent lebte. Hildegard seufzte tief. Nicht zum ersten Mal kreisten ihre Gedanken um diese Problematik. Eigentlich war sie immer felsenfest davon überzeugt gewesen, ihr Leben als Begine zu verbringen. Sie hatte ja nichts anderes kennengelernt.

Doch seit ihr Jugendfreund Witho Schwertner sie im Vorjahr als Händler Matteo Galbani auf einer langen und gefahrvollen Reise begleitet und beschützt hatte, hatte dieser Lebensentwurf erste Risse bekommen. Aber dann war Witho zu einer langen Bußfahrt aufgebrochen, die ihn bis ins Alpengebirge führte und darüber hinaus. Im fernen Venedig wollte er sich bei seinem Gönner, dem Handelsherrn Galbani, für dessen Wohltaten bedanken und sich von der Familie des Kaufherren verabschieden.

Im Frühjahr hatte er zurück sein wollen. Doch das Frühjahr ging langsam in den Frühsommer über und Witho hatte den Weg bisher nicht zurückgefunden.

Er war nicht allein davongezogen. Ritter Notger leistete ihm Gesellschaft. Ein weiterer Freund aus Jugendjahren, den sie schon gekannt hatte, als der noch ein geckenhafter Knappe mit Fasanenfeder am Samtbarett gewesen war.

Und Mats begleitete die beiden. Ein Bürschchen, das ihnen auf ihrer gemeinsamen, vorjährigen Reise zugelaufen war und sich in der Folge als sehr arbeitswillig und einfallsreich gezeigt hatte.

Hildegard hatte nur eine ungefähre Vorstellung, wie lang die Reise und wie hoch die Berge waren, aber dass die Fahrt voller Gefahren und Unwägbarkeiten war, drängte sich immer wieder in ihre Gedanken.

Bevor Witho aufgebrochen war, hatten sie sich geküsst, dort hinten im Obstgarten. Die Erinnerung daran verursachte ihr noch immer ein wohliges Erschauern.

Entschlossen drängte Hildegard diese Gedanken beiseite. Nach seiner ersten Reise über die Alpen als bewaffneter Begleitschutz für einen Warenzug hatte es sechs Jahre gedauert, bis der Freund den Weg nach Hause gefunden hatte. Sollte erneut eine so lange Zeit verstreichen, wäre sie eine alte Frau. Also lieber im Hier und Heute leben, als sich in unerfülltem Sehnen verzehren.

Hildegard tat eine Probe ihrer Räuchermischung in eine feuerfeste Schale und entzündete diese mit einem Kienspan. Wohlriechende Rauchfäden schlängelten sich durch den Raum. Es knisterte ein wenig und zwei, drei Funken stoben auf. Das war wohl das Wacholderholz, obwohl das trotz seiner Nadeln kein Harz enthielt. Also, die Räuchermischung keinesfalls unbeaufsichtigt abbrennen.

Hildegard zog eine Wachstafel von einem Stapel und machte einen kurzen Vermerk. Dann legte sie die Tafel wieder zu den vielen anderen. Wenn sie einmal alt wäre und viel Zeit hätte, würde sie sich vom Pergamentmacher ein Buch anfertigen lassen und all ihr gesammeltes Wissen übertragen. Nicht dass sie berühmt werden wollte wie ihre über die Landesgrenzen hinaus bekannte Namensvetterin Hyldegardis vom Rupertsberg. Aber es wäre doch schade, sollten all ihre Erkenntnisse verlorengehen. Sollte es mit dem Buch nichts werden, konnte sie die Wachstafeln noch immer ihrer Nachfolgerin im Beginenkonvent vermachen. Wenn sie denn im Alter noch im Beginenkonvent lebte.

Ohje, da waren ihre Gedanken ja im Kreis gelaufen und wieder bei diesem leidigen Problem angekommen. Zugegebenermaßen verursachte dieses unleugbar eine Art angenehmer Unruhe.

Kurzerhand füllte Hildegard eine weitere Schale mit Räucherwerk, trug sie in die Schulstube und legte Reinhyldis nahe, beim Abbrennen nicht den Raum zu verlassen.

Sie erntete ein karges Lächeln.

2. Kapitel

Der heranpreschende Reiter zügelte sein Pferd, als er das Sudenburger Tor erreichte. Beim Anblick der noch fernen Stadtmauern Magdeborchs hatte er seinen Rappen zu einem übermütigen Galopp angetrieben.

Mit einem Schreckenslaut fuhr der Torwächter zurück, als der imposante, kohlrabenschwarze Hengst vor ihm auf die Hinterhand stieg. Verärgert musterte er den fremden Herrn. Weit gereist musste der sein, trug er doch nicht etwa ein breitkrempiges Samtbarett wie die einheimischen Herren oder eine Kappe aus edlem Stoff. Nein, ein besticktes Tuch hatte der sich mehrfach um den Kopf geschlungen, hatte es an der Seite kunstvoll verknotet und ließ ein bestimmt ellenlanges Stück des Tuches über die Schultern nach vorn hängen. So etwas hatte der Wächter noch nie gesehen.

Unter dem Tuch schauten dunkelblonde Haare hervor. Das Gesicht, glatt rasiert, ließ kantige, selbstbewusste Züge erkennen. Blitzschnell musterte der Wächter den Rest des Mannes: Umhang aus gutem Stoff, wirkte in seiner Buntheit aber auch reichlich fremdländisch. Darunter die Reisekleidung aus weichem Leder, Stiefel ebenso, Kurzschwert und Dolch an der Seite, der Waffengurt silberbeschlagen. Die breiten Schultern ließen auf beachtliche Körperkräfte schließen.

Und schon glitt der Blick zu dessen Begleiter, der eben zu dem ungestümen Reiter aufschloss. Der trug eine ebensolch eigenartige Kopfbedeckung. Unter dem Umhang schaute jedoch ein Waffenrock in den Farben des Querfurters hervor. Ein Langschwert an der Seite verriet, dass der junge, schlanke Mann mit den weizenblonden Haaren als Ritter im Dienste des Hartman von Querfurt stand.

Der Torwächter bedeutete den beiden Reitern zu warten, lief in die Wachstube, aus der gleich darauf einer von der erzstiftlichen Garde trat, den beiden Fremden einen forschenden Blick zuwarf und dann davoneilte.

Die Hand auf dem Griff des Schwertes schlenderte der Torwächter wieder herbei, gebot den Reitern abzusteigen und fragte nach dem Woher und Wohin.

„Was geht’s dich an?“, fuhr ihn der auf dem schwarzen Hengst an.

Der Wächter plusterte sich schon zu einer ebenso groben Antwort auf, als der andere von seinem Pferd sprang und den Wachhabenden zwar freundlich, nichtsdestotrotz fest beim Arm nahm.

„Hör zu Freund, wir haben eine lange Reise hinter uns, kommen aus dem fernen Venedig, haben die hohen Alpenberge bei Schneesturm und Steinschlag überquert, uns mit Diebsgesindel herumgeschlagen und wollen jetzt einfach nur nach Hause, hier in diese schöne Stadt. Mein Freund kann manchmal etwas ungehalten sein, wenn sich ihm ein Hindernis in den Weg stellt. Also, sei so gut und lass uns nun ein.“

„Ich darf Fremde nicht einfach einlassen, ohne nach ihrem Namen zu fragen“, protestierte der Torwächter und versuchte, seinen Arm aus dem Griff zu winden.

„Das ist nur recht und billig, Freund. Und damit es jetzt keinen weiteren Aufenthalt gibt, hier unsere Namen. Mein Freund ist Witho Schwertner und reist im Auftrag des Handelshauses Galbani in Venedig. Ich selbst bin Ritter Notger von Alvensleben, im Dienste Hartmans von Querfurt, Lehnsherr des Erzstifts. Und der da hinten auf der kleinen, zottigen Stute, der endlich auch herangekommen ist und das Packmuli führt, wird Mats vom Sumpf gerufen. Dürfen wir jetzt weiterreiten?“

Der Wächter warf einen Blick über die Schulter zurück, wo in diesem Augenblick eine Fünfergruppe der Stiftsgarde auftauchte. Mit einem Ruck befreite er seinen Arm und verzog sich hinter die Garde.

„Jetzt wird’s seltsam.“ Notger wandte sich zu Witho um, der noch immer auf seinem Pferd saß. „Seit wann versieht die Stiftsgarde Torwächterdienste?“

Der Freund konnte nur mit den Schultern zucken.

Der stämmige Anführer des Trupps trat näher. „Rutger Kleinschmied, Unterführer der Garde unseres Erzbischofs Albrecht“, stellte er sich vor. „Wir haben Anweisung alle Reisenden aus dem Welschland genauestens zu überprüfen.“

Witho stieg jetzt ebenfalls vom Pferd und trat näher. „Haben wir etwas verpasst auf unserer Reise über die Alpen? Wir waren wochenlang in einem Bergdorf eingeschneit. Befinden wir uns wieder einmal im Krieg mit den italienischen Städten?“

„Davon weiß ich nichts. Ich halte mich nur an meine Befehle. Und nun seid so gut und folgt mir mit Eurem Gepäck in die Wachstube, dass wir es einer gründlichen Überprüfung unterziehen können.“

„Ihr wollt unser Gepäck durchstöbern?“ Schon wollte Witho den Unterführer einfach beiseite schieben.

„Mir passt das auch ganz und gar nicht“, beschwichtige ihn Notger leise. „Doch wenn wir mit der Stiftsgarde Händel anfangen, landen wir womöglich mit einigen Blessuren im Turm. Und so habe weder ich mir, noch du dir unsere Ankunft in Magdeborch vorgestellt. Mal ganz davon abgesehen, dass eine gewisse Begine dich dann heute nicht mehr zu sehen bekommt.“

Letzterem Argument konnte sich Witho nicht verschließen. Händel mit der Stiftsgarde – warum nicht? Blessuren – das wären nicht die ersten. Aber ein aufgeschobenes Wiedersehen mit Hildegard – auf gar keinen Fall.

Also schickte er sich in das Unvermeidliche und schnallte die Gepäckstücke gemeinsam mit Mats und Notger vom Packmuli und trug sie in die Wachstube.

Ruther Kleinschmied war über alle Maßen hinaus gründlich bei der Durchsuchung. Er ließ auch nicht das kleine Päckchen aus, welches in einen wollenen Umhang und weiches Leder gewickelt war und sich in Withos Satteltasche befand.

Fast wäre ihm der handspannenhohe Kelch aus venezianischem Glas mit den schmückenden gelben Glastropfen vom Tisch gerollt. Witho hatte schon tief Luft geholt. Über hunderte Meilen hatte er das Geschenk für Hildegard gehütet, über Bergpfade und durch Schneestürme getragen, bloß damit es so ein tollpatschiger Gardist jetzt zerbrach?

Gerade noch rechtzeitig legte einer der anderen Gardisten die Hand auf den Kelch und Witho ließ die angestaute Luft langsam entweichen.

Schließlich war die Sichtung ihrer Gepäckstücke abgeschlossen, ohne dass der Unterführer irgendetwas Verdächtiges gefunden hatte. Darüber war fast eine Stunde vergangen.

Alle Packen und Bündel wurden erneut auf dem Muli festgeschnallt und ohne weitere Verzögerung durchritten die drei ungleichen Gefährten das Sudenburger Tor.

Am liebsten hätte Witho seinem Ajax erneut die Fersen in die Seiten gepresst, um ihn zu einer schnelleren Gangart anzutreiben. Doch ließ das allgemeine Gedränge und Geschiebe auf dem Breiten Weg leider nur ein geruhsames Schritttempo zu.

„Kannst es wohl gar nicht erwarten, dem Beginenkonvent, allen voran besagter Begine, einen Besuch abzustatten?“, foppte Notger den Freund.

„Pa“, machte der. „Du bist ja nur neidisch, weil es bei dir noch dauern kann, bis du der liebreizenden Jonatha deine Aufwartung machen darfst.“

Notger seufzte ehrlich bekümmert. Hartman von Querfurt war es zwar gelungen, die Zustimmung zur Eheschließung seines Dienstmannen Notger von Alvensleben von dessen Vater zu erreichen, doch bis er seine angebetete Jonatha wiedersah, konnte noch viel Zeit ins Land gehen.

Gestern, lange nach Einbruch der Dunkelheit waren sie auf der Egeler Burg angekommen. Hartman von Querfurt, Burgherr und Dienstherr Notgers, hatte sie heute nicht ziehen lassen, bevor sie das Mittagsmahl auf der Burg eingenommen hatten. Den lieben, langen Vormittag über hatten sie ihm ihre Reise in allen Einzelheiten schildern müssen.

Eben schlugen die Kirchenglocken der Stadt zur Non. Am liebsten wäre Witho augenblicklich zum Konvent der Beginen geritten, hätte sie nicht ein Auftrag Ritter Hartmans zuerst in dessen Stadthaus geführt, damit dort alles zu seiner Ankunft in zwei Tagen vorbereitet wurde.

Langsam ging es weiter auf dem Breiten Weg, bis sie schließlich rechter Hand zum Alten Markt abbiegen konnten. Wollten sie in dem zunehmenden Gedränge und Geschiebe noch irgendwie vorankommen, mussten sie absteigen und die Pferde am Zügel führen.

Viel zu langsam für Withos Geschmack schoben sie sich am nördlichen Rand des Marktes entlang, erreichten die Buttergasse und bogen dort ein. Und schon kam der Wohnturm des Querfurters in Sicht. Nur, dass darin niemand mehr wohnte, zumindest nicht von des Querfurters Familie oder seinen dienenden Rittern.

Der untere Bereich wurde teilweise als Lagerfläche genutzt oder diente als Waffenkammer. Die oberen Räume bewohnten der Majordomus und je nach Bedarf eine größere oder kleinere Truppe von Waffenknechten.

Noch ein paar Schritte weiter und der Blick fiel auf das Stadthaus des Ritters, dessen äußeres Bild von Reichtum, Wohlstand und Bedeutung seines Besitzers zeugte. Irgendwann war der Wohnturm zu eng, zu ungemütlich und nicht mehr standesgemäß geworden. Und im Zuge des Ausbaus der Stadtbefestigung auch nicht mehr zwingend notwendig.

Das dreigeschossige Haus grenzte unmittelbar an den Turm und gründete sich auf ein festes Fundament aus verfugtem Naturstein. Darüber erhob sich ein Geschoss aus Backstein. Die drei Fenster aus bleiverglasten, teilweise bunten Butzenscheiben schienen neugierig auf das Treiben der Menschen herabzustarren. Das Dachgeschoss war aus Fachwerk gefügt, die Balken rotbraun gestrichen, die Gefache schneeweiß gekalkt.

Der Innenbereich des Anwesens war von einer mannshohen Mauer umgeben, die Tordurchfahrt neben dem Haus geschlossen. Nun, das war zu erwarten. Warum sollte das Tor auch offenstehen? Das hier war kein Krämerhaus, wo beständig die Waren ein- und ausrollten.

Notger klopfte fordernd ans Tor. Keine drei Atemzüge später wurde aufgetan und der altehrwürdige Majordomus humpelte heraus. Er hatte kein Lächeln für die Ankömmlinge, obwohl er Notger augenscheinlich erkannte. Mitten im Tor blieb er stehen, ohne den Weg in den Innenhof freizugeben.

„Was ist, Nestor, wollt Ihr uns nicht einlassen?“ Notger machte einen Schritt auf den alten Mann zu. „Wir haben einen wirklich weiten Weg hinter uns und bringen zudem Nachricht von Ritter Hartman.“

Unschlüssig wich der Hausverwalter zwei Schritt zur Seite und Notger wollte schon durch das Tor in den Hof treten, als der Alte ihn unvermittelt am Arm packte und ihm zuraunte: „Flieht, junger Herr, flieht.“

Überrascht starrte Notger den Mann an. Was war denn in den gefahren? Nichtsdestotrotz wich er zurück. Noch ehe er eine weitere Frage stellen konnte, wurde der Alte durch einen groben Stoß in den Rücken beiseite gefegt und mehrere Bewaffnete drängten durch das Tor.

Schon saß Notger im Sattel. Einer griff nach dem Zügel, wurde jedoch von einem kräftigen Tritt des Reiters in den Straßendreck geworfen. Weitere drängten heran.

„Fort!“, schrie Notger seinen Gefährten zu, sah aus dem Augenwinkel, dass auch Witho bereits im Sattel saß und Ajax steigen ließ. Fluchend sprangen die Angreifer vor den kräftigen Hufen beiseite.

„Zum Ulrichstor!“, rief Notger den Freunden zu. Rücksichtslos bahnte er sich auf seinem Pferd den Weg durch die Gaffer, welche sich augenblicklich dem Spektakel zugewandt hatten in dem Bestreben, sich diese aufregende Abwechslung keinesfalls entgehen zu lassen.

Am Breiten Weg angekommen, verlangsamte Notger das Tempo und sah sich um. Keine Verfolger in Sichtweite. Witho unmittelbar hinter ihm, von Mats keine Spur

„Wo ist der Junge?“

Witho schüttelte nur den Kopf. „Ist zu Fuß untergetaucht.“

„Gut, um den kümmern wir uns später. Lass uns durch das Schrotendorfer Tor reiten.“

„Noch besser durch das Krökentor.“

Notger nickte. Den unbekannten Angreifern konnte nicht entgangen sein, dass er den Freunden den Weg durch das Ulrichstor lauthals befohlen hatte. Also würden sie dort zuerst nach den Entsprungenen fragen. War ihnen dort kein Erfolg beschieden, würden sie weiterziehen zum Schrotendorfer Tor und erst dann zum Krökentor. Bis dahin konnten sie einen guten Vorsprung herausholen, sich ein geeignetes Versteck suchen und die unerwartete Lage besprechen.

Kaum hatten die beiden das Krökentor passiert, galoppierten sie in geradezu halsbrecherischem Tempo die nach Norden führende Straße entlang, ohne sich um irgendwelche Bauernkarren zu kümmern oder scheuende Pferde vor einem Kaufmannswagen zu beachten.

Schließlich zügelte Witho seinen Ajax und auch Notger ließ sein Pferd in Schritt fallen. Witho wies auf einen unscheinbaren Waldweg, der sich kaum sichtbar zwischen Vogelbeerbäumen ins Dunkel schlängelte. Der andere nickte verstehend.

Fast ein Jahr waren sie unter allerlei Gefahren und Unwägbarkeiten, ob nun von Mensch oder Natur verursacht, in fremden Ländern unterwegs gewesen. Bedingungsloses Vertrauen und Verstehen ohne Worte waren überlebendswichtig gewesen.

Vorsichtig führten sie ihre Pferde durch die tief herabhängenden Zweige, darauf bedacht, kein Zweiglein zu knicken.

Nach allen Seiten sichernd kroch Witho noch einmal zurück, verwischte mit einem Tannenzweig die Hufspuren, streute vorjähriges Laub auf den Weg und trat einmal kräftig gegen den Vogelbeerenstamm. Einige grüne Blätter segelten herab. Der Lücke zwischen den Bäumen sah man nun nicht mehr an, dass sich da gerade zwei Männer mit ihren Pferden hindurchgequetscht hatten.

Dann führten sie ihre Tiere etwa einhundert Schritte in den Wald. Schnell mussten sie feststellen, dass dieser Weg kein von Menschen getretener Pfad war, sondern nur ein Wildwechsel, der mal breiter, mal schmaler, sich verzweigte oder andere Pfade in sich aufnahm. Schließlich endete der Wechsel im dichten Unterholz.

Wieder nickten sich die zwei Gefährten zu, banden ihre Pferde fest und schlichen zur Straße zurück. Für Reisende oder Verfolger unsichtbar kauerten sie sich hinter einige dicht stehende Bäumen und ließen den breiten Karrenweg vor sich nicht aus den Augen.

„Kannst du dir einen Reim auf den heimtückischen Angriff machen“, raunte Witho dem Freund zu.

„Ich denke schon die ganze Zeit darüber nach. Wie lange haben die in Ritter Hartmans Haus schon auf uns gewartet? Und warum gerade auf uns?“, hauchte Notger.

„Womöglich kein Zufall, dass wir so lange am Sudenburger Tor aufgehalten wurden.“

„Richtig, einer von der Stiftsgarde hatte es augenscheinlich eilig, seinen Unterführer zu benachrichtigen, nachdem wir am Tor eingetroffen waren. Und der ließ sich viel Zeit mit unserem Gepäck.“

„Das würde ja bedeuten, die haben schon am Tor auf uns gewartet.“

Notger kaute auf seiner Unterlippe. Schließlich gab er sich einen Ruck. „Da ist noch etwas, was mir aufgefallen ist.“ Erneutes Zögern.

„Heraus mit der Sprache.“

„Mir schien es, als würde der, der die Befehle erteilte, auf seinem Waffenrock den kaiserlichen Adler tragen.“

„Das Kaiserwappen? Was um alles in der Welt hast du ausgefressen?“

Darauf wusste Notger keine Antwort.

***

Hatte sich Mats bei der Ankunft in Magdeborch noch gefreut, endlich am Ziel angekommen zu sein und dort auch Hildegard, seinen Freund Oleg und den Mönch der Barfüßer, Pater Kilian, wiederzusehen, war diese Freude schnell in Bestürzung umgeschlagen. In Magdeborch sollte doch ihr ruhiger Hafen sein, hier hätte er doch endlich sorglos die Beine ausstrecken sollen.

Nicht, dass er die monatelange Reise nicht genossen hätte. Die fremden Städte hatte er neugierig erkundet und alles Neue wie ein Schwamm aufgesogen. Dazu waren seine Reisegefährten recht umgängliche und lustige Männer. Selbst der, der sich bei ihrem Kennenlernen Matteo Galbani genannt hatte und in Wahrheit Witho Schwertner hieß, war, nachdem er in den Bergen irgendwelche Knochen zusammengesucht und in Gräber gelegt hatte, umgänglicher geworden und einem kleinen Schabernack hin und wieder nicht abgeneigt gewesen.

Noch vor einem Jahr hatte er, Mats, in einem winzigen Weiler irgendwo im Sumpf zwischen Havelberg und Campiel gelebt. Er wäre, wie sein Vater und der vor ihm, Fischer geworden, wäre da nicht eines schönen Tages diese seltsame Reisegruppe, bestehend aus Matteo Galbani – ähm, Herrn Witho – Frau Hildegard, Pater Kilian und dessen Novizen Oleg, durch ihren Flecken geritten. Nach einigen Verwicklungen hatte er sich denen kurzentschlossen angedient. Der beste Entschluss, den er je gefasst hatte.

Und nun so etwas! Warum hatte der Ritter, der sie in der Nacht zuvor so freundlich auf seiner Burg beherbergt hatte, ihnen in seinem Stadthaus eine Falle gestellt?

Als Herr Notger „Fort!“ geschrien hatte, war es ihm nicht mehr gelungen, sich auf seine kleine Stute Schnuppe zu schwingen, die hatte schon einer der Fremden am Halfter gefasst. Und auch das Packmuli war verloren.

Also blieb ihm nichts weiter übrig, als sich zwischen den Gaffern zu verkrümeln. Durch das Ulrichstor hatten Herr Witho und Ritter Notger fliehen wollen und sich dabei nicht einen Wimpernschlag um ihn gekümmert. Schöne Freunde!

Mats presste die Lippen aufeinander. Was sollte er jetzt bloß so ganz allein anfangen? Er kannte doch niemanden hier. Halt, das stimmte doch gar nicht. Da waren ja Frau Hildegard und Oleg und na ja, dieser verkrüppelte Pater. Die drei waren ihm auf der gemeinsamen Reise im Vorjahr immer freundlich begegnet.

Zu wem also zuerst? Oleg und den alten Pater würde er wohl im Kloster der Barfüßer finden. Dorthin könnte er sich durchfragen.

Frau Hildegard war eine Begine. Zwar hatte er gemeinsam mit Herrn Witho die junge Frau in deren Beginenhof im Vorjahr abgeliefert, aber dabei hatte er mehr Augen für das Treiben in der großen Stadt gehabt als sich den Weg dorthin einzuprägen. Wie, um aller Heiligen Willen, kam er jetzt dorthin? Ratlos drehte er sich einmal im Kreis.

Noch schwankte er einen Augenblick, ob er sich zu dem Beginenhof oder zum Kloster der Barfüßermönche durchfragen sollte. Die Entscheidung war schnell gefallen. Auch wenn Frau Hildegard mitunter unwirsch und aufbrausend handeln konnte und ihre Zunge empfindliche Stiche verteilte, so schien sie doch ein Herz für den zu jener Zeit recht mürrischen Herrn Witho zu haben.

Also, auf zu den Beginen.

Er hielt einen jungen Burschen, der mit einem Korb voller Brot an ihm vorbeieilen wollte, am Ärmel fest. Der packte sofort seinen Korb fester, presste ihn vor seinen Bauch und traktierte den Fremden mit finsterem Blick. Dachte der etwa, er wolle ihn beklauen?

„Hör mal“, tönte Mats großspurig, obwohl er mit seinen dreizehn Jahren deutlich jünger war. Aber er hatte die Welt gesehen. Das gab die nötige Selbstsicherheit. „Wo geht’s denn hier zu den Beginen?“

Der andere musterte ihn forschend, bequemte sich dann zu einer Antwort, nachdem er seinen Arm freigemacht hatte: „Beginen gibt’s verschiedene in Magdeborch. Da sind die Jacobibeginen und die Ulrichsbeginen und noch ein paar einzelne in kleinen Häusern. Welche sollen es denn sein?“

Mats blies die Backen auf.

„Frau Hildegard?“ Fragend sah er sein Gegenüber an.

„Das trifft sich gut. Frau Hildegard ist bei den Ulrichsbeginen. Ich bring dich hin. Ist auf meinem Weg. Ich muss die Brote bei ihrem Nachbarn Meister Großpeter abliefern.“

Unterwegs erfuhr Mats, dass sein Begleiter Hinner hieß und Junggeselle bei Bäckermeister Nürnberger war. Frau Hildegard kannte er gut, hatte sie doch im Haus des Bäckers vor Jahren eine alte Frau bis zu deren Tod gepflegt.

Auf seine Frage: „Was macht eigentlich so ‘ne Begine?“, konnte ihm Hinner auch zufriedenstellend Auskunft geben. Etwas Ehrbares, nichts anderes hatte Mats erwartet. Männerlos lebten die zusammen. Das war wieder komisch. Wie passte Herr Witho da rein? Na, das würde er auch noch rausbekommen.

Auf Hinners Frage hin, was er denn von Frau Hildegard wollte, antwortete Mats nur: „Soll was ausrichten.“ Den Teufel würde er tun und einem Fremden von seinen beiden Herren und dem Überfall erzählen. Zwar machte der Bäckergeselle einen recht freundlichen Eindruck, doch konnte das schnell umschlagen. Noch wusste er nicht, wer Freund und wer Feind war.

Schließlich kamen sie an der bestimmt acht Fuß hohen Mauer des langgestreckten Anwesens an. Über die Mauerkrone erhoben sich die Dächer von mehreren kleineren Häusern und eines größeren.

Hinner pochte kräftig an die Tür. Bei so sonnigem Wetter saß die Torfrau sicherlich auf ihrem Hocker neben dem Tor und hatte sich nicht in ihrem Häuschen verkrochen.

„Wer ist da und was wollt Ihr?“, tönte von drinnen eine Altfrauenstimme.

„Hier ist Hinner vom Bäcker Nürnberger. Ich bringe Besuch für Frau Hildegard.“

Die draußen Stehenden hörten die Frau rufen: „Sag mal eine Hildegard Bescheid, Besuch für sie.“

„Ich muss weiter“, verabschiedete sich Hinner von Mats und eilte zum Haus des Nachbarn. Meister Nürmberger duldete kein Herumgetrödele. Wenn nötig setzte es eine Maulschelle, egal ob Lehrbub oder Junggeselle.

Mats winkte Hinner hinterher und wandte sich dann der kleinen Tür zu. Innen fuhr eben ratschend der Riegel beiseite. Hildegard trat heraus und musterte den Besucher.

Der Bursche strahlte sie über beide Backen an.

„Ja?“, fragte sie abwartend.

„Frau Hildegard, ich bin es, Mats“, half er ihr auf die Sprünge. „Mats vom Sumpf.“

Freudiges Erkennen huschte über Hildegards Gesicht. Dann fühlte sie, wie ihr das Herz eng wurde. Mats allein? Was hatte das zu bedeuten? Hatte es ein Unglück gegeben? Mehrmals musste sie schlucken, bis es ihr gelang mit rauer Stimme zu fragen: „Wo sind denn die anderen?“

„Och, denen geht es gut. Bis vor kurzem jedenfalls. Aber in dem Haus von dem Ritter, da sind wir überfallen worden. Die beiden sind weggeritten. Ich konnte mich verkrümeln. Hinner hat mich hergebracht.“

Hildegard wurde aus den hervorgesprudelten Sätzen des Jungen nicht recht schlau. Nur, dass es einen Überfall gegeben hatte, fand Zugang zu ihrem Bewusstsein.

Die Gasse vor dem Anwesen einmal rauf und einmal runtergucken. Nichts Auffälliges. Hildegard zog Mats in den Konvent und verriegelte die Tür sorgfältig.

„Komm mit in meine Kräuterstube. Da sind wir ungestört und du erzählst mir alles der Reihe nach und in Ruhe. Aber zuerst: Sind die beiden heil und unversehrt?“

„Sah so aus, als sie wegritten. Aber der alte Mann, der lag blutend auf der Straße.“

Alter Mann? Hatte es einen weiteren Reisegefährten gegeben?

In der Kräuterstube angekommen, drückte Hildegard ihren Besucher auf einen Schemel und wollte schon eine inquisitorische Befragung beginnen, als ihr etwas anderes einfiel. „Hast du Hunger?“

„Ich habe zum Mittag auf der Burg gegessen.“ Dann, nach einer kleinen Pause: „Aber das ist schon lange her.“

Hildegard nickte, alles andere hätte sie auch gewundert. Sie hastete in die Küche, griff selbst nach Messer, Brot und Schmalztopf. Auf Walburgas Protest hin rief sie ihr, schon im Hinauseilen begriffen, zu: „Da ist ein Bote, sein Maul will geschmiert sein.“ Und schon war sie in ihrem Kräuterreich zurück.

Mats hatte eben den Topf mit dem Wacholdersirup entdeckt und leckte sich schmatzend einen Finger ab.

„Das ist ein Heilmittel“, wies ihn Hildegard zurecht. „Bist du krank?“

Kopfschütteln.

„Na also.“ Und mit den Worten: „Schlag hier deine Zähne rein und dann erzähl endlich.“, reichte sie dem Jungen das Schmalzbrot und hörte sich dann seinen Bericht an.

Doch schon nach den ersten Sätzen unterbrach sie ihn. „Das ist jetzt sehr interessant, doch ich will nichts von eurer Reise hören, das heb dir für später auf. Erzähl von dem Überfall.“

Das war schnell erledigt. Da gab es ja nicht viel zu berichten. Sie waren zu dem Haus gelaufen mit den Pferden am Zügel. Der alte Mann hatte gesagt: „Flieht, junger Herr, flieht!“ Dann waren die Soldaten rausgestürmt, Herr Witho und Herr Notger waren im Galopp davon geprescht und er, Mats, wurde von Hinner zu den Beginen gebracht.

Und davor hatte es gar nichts Außergewöhnliches gegeben? Na ja, am Stadttor war ihr Gepäck von den Torwachen auf das Gründlichste durchwühlt worden.

Hildegard schob nachdenklich die Unterlippe vor. „Das ergibt doch gar keinen Sinn“, überlegte sie laut. „Warum sollte Ritter Hartman den beiden in seinem Haus eine Falle stellen? Haben sie sich gestritten gestern oder heute auf der Burg?“

Mats schüttelte entschieden den Kopf. „Wir sind gestern ganz spät auf der Burg von dem alten Ritter, Eurem Oheim, angekommen. Der hat sich mächtig gefreut. Heute Vormittag hat er uns nicht ziehen lassen, bevor Herr Witho und Herr Notger ihm alles genau berichtet haben von unserer Reise. Auch da ist kein böses Wort gefallen. Er hat uns höchstpersönlich dann an seinem Tor verabschiedet.“ Mats zuckte unglücklich die Schultern, dass er so gar nicht weiterhelfen konnte.

Hildegard presste die Lippen aufeinander und dachte nach. Konnte denn nicht einmal etwas einfach sein? Musste immer alles dermaßen verworren sein? Da waren die Freunde hunderte von Meilen geritten, hatten die unwirtlichen Berge bezwungen, nur um dann hier, endlich an ihrem Ziel angekommen, in einen Hinterhalt zu geraten und fliehen zu müssen.

Gab es denn gar nichts, was sie zur Aufklärung tun konnte? Vielleicht war alles nur ein dummes Missverständnis und die Soldaten in Hartmans Haus hatten jemand ganz anderen erwartet. Aber warum hatte der alte Nestor dann Notger gewarnt und den Freunden somit die Flucht ermöglicht?

Hildegard merkte, wie sich ihre Gedanken im Kreis zu drehen begannen. Sie musste sich mit jemandem beraten, der eine unvoreingenommene Sicht auf die Ereignisse hatte.

„Du bleibst hier und wartest auf mich“, wies sie Mats an. Schon in der Tür drehte sie sich noch einmal um und ermahnte den Jungen: „Und lass dir ja nicht einfallen, deine neugierige Nase und deine lange Zunge in irgendwelche Töpfe zu stecken. Womöglich erwischst du ja die Faulbaumrinde. Die ist auch mit Honig vermischt, hält dich aber mindestens drei Tage auf dem Abtritt fest.“

Mats machte große Augen und zufrieden schlug Hildegard den Weg zum Refektorium ein, um gleich darauf im oberen Geschoss an Mechthildas Tür zu klopfen.

Geduldig, ohne eine Zwischenfrage zu stellen, hörte sich die Magistra Hildegards Bericht an. Auch sie wusste sich keinen Reim auf die Ereignisse zu machen.

Schließlich fragte sie: „Und was wirst du jetzt tun? Es sollte mich sehr wundern, wenn du in dieser Angelegenheit untätig die Hände in den Schoß legen würdest und die Aufklärung anderen überlässt.“

Hildegard gestattete sich ein kleines Grinsen. Ja, das wäre wirklich absonderlich.

„Ich habe mir überlegt, selbst in Ritter Hartmans Haus zu gehen.“ Und noch ehe Mechthilda Einspruch erheben konnte, fuhr Hildegard schon fort: „Mats hat erzählt, dass die Soldaten den alten Nestor zu Boden gestoßen haben, so dass der sich wohl verletzt hat. Ich könnte einen Krankenbesuch machen.“

Mechthilda wiegte überlegend den Kopf hin und her. „Ja, das wäre unverfänglich. Aber nimm Reinhyldis mit.“

Schon wollte Hildegard Protest einlegen, doch Mechthilda kam ihr zuvor: „Das Putzen der Schulstube kann sie auch später zu Ende bringen. Noch haben wir keine Mädchen ausgewählt.“

„Und was machen wir mit Mats?“ Nur ungern würde Hildegard den neugierigen Jungen über Stunden allein zwischen ihren Tiegeln und Töpfen wissen. Irgendwann würde ihn dessen Neugierde alle Ermahnungen vergessen lassen. Die Faulbaumrinde wäre dabei noch das kleinere Übel, das den Burschen erwischen konnte. Schlimmer wäre es, käme er an eine der Drogen, die in geringer Dosierung hilfreich waren, in größerer Menge genossen jedoch schlimme Vergiftungen hervorrufen würden.

Mechthilda konnte die unausgesprochenen Bedenken ihrer Apothekerin nachvollziehen. „Bring ihn zu Klara, da kann er sich im Garten oder beim Viehzeug nützlich machen.“

Mats saß artig auf dem Schemel, als Hildegard wieder ihre Kräuterstube betrat, und sah ihr erwartungsvoll entgegen. Sie wusste bestimmt einen Weg, wie seinen beiden Herren zu helfen war.

Hildegard suchte Salben, Leinenstreifen und Tinkturen für eine Wundbehandlung zusammen. „Ich werde mich mal in Ritter Hartmans Haus umsehen. Du sagtest ja, der alte Mann wäre verletzt. Vielleicht bringe ich in Erfahrung, was dort vor sich geht. Du kannst in der Zeit, bis ich wieder zurück bin, Klara im Garten und bei den Tieren helfen.“

„Kann ich nicht mit Euch gehen? Ich trage auch Euren Korb.“

„Nichts da. Du warst bei dem Überfall dabei. Stell dir mal vor, du wirst erkannt. Wenn sich vielleicht auch niemand an die Narbe auf deiner Stirn erinnert, diese Segelohren dürften niemandem entgangen sein.“ Gutmütig zupfte Hildegard Mats an einem seiner wirklich auffällig abstehenden Ohren.

Schon in der Tür zum Hof, drehte sich Hildegard noch einmal um. „Und kein Wort zu jemandem, dass Ritter Hartman mein Oheim ist oder über Bruder Lukas oder über sonst wen aus meiner heimlichen Familie.“

Mats verdrehte die Augen. „Ja, ja, das habe ich schon im vorigen Jahr verstanden, dass keiner wissen soll, dass Ihr hochwohlgeboren seid. Außer Herrn Witho“, zählte er dann mit monotoner Stimme auf, „Herrn Notger, Bruder Kilian, Oleg, Ritter Hartman, Dame Petronella, Eurer Mutter – ähm Mutter Gertrud von den Nonnen – und Eurem Vater, dem Mönch. Habe ich wen vergessen?“

Hildegard gab dem Jungen einen gut gemeinten Katzenkopf. „Du bist ja ein richtiger Schelm geworden. Kein Wunder bei den Reisegefährten.“ Die Erinnerung an die beiden vertriebenen Reisenden verbannte die kurzzeitige Belustigung aus Hildegards Gesicht und auch Mats schaute wieder betrübt aus der Wäsche.

Am Maultierstall angekommen, wo Klara gerade frisches Stroh einstreute, ließ der Junge den Kopf hängen.

„Die haben mir Schnuppe weggenommen“, brachte er traurig hervor.

Im Vorjahr war die kleine, zottige Stute Hildegards Reittier auf ihrer wochenlangen Reise gewesen. Sie hatte das treue, zutrauliche Tier nicht auf dem Pferdemarkt dem erstbesten Schinder verkaufen wollen und so war Schnuppe an Mats weitergereicht worden, auf dass die Stute den Jungen über die Alpen und zurück trage. Was sie auch getreulich getan hatte.

„Wir werden Schnuppe zurückholen“, versprach Hildegard.

„Und das Packmuli!“

„Und das Packmuli.“

Sobald Klara Mats mit Arbeit eingedeckt hatte, suchte Hildegard die Schulstube auf.

Der Duft nach Wacholder, Rosmarin und Lavendel kräuselte sich in Form eines kleinen Rauchwölkchens durch die offen stehende Tür ins Freie. Reinhyldis stand gebeugt vor der hinteren Wand und wedelte mit einem Federwisch den aufsteigenden Rauchfaden in die Ecke. Dann richtete sie sich auf und beräucherte die Wand bis unter die niedrige Decke.

„Das riecht hier doch schon viel besser“, lobte Hildegard und ein ganz klein wenig kitzelte sie die Freude, dass die zukünftige Schulmeisterin ihrer Räuchermischung so bald Beachtung geschenkt hatte.

„Ein guter Einfall, das mit den Kräutern“, gab Reinhyldis zurück, nachdem sie sich umgewandt hatte.

Dann standen sich beide abwartend gegenüber und wussten auf die Freundlichkeit der anderen erst einmal nichts weiter zu sagen. Ein wirklich ungewohnter Zustand, sich höflich zu begegnen.

Bevor das Schweigen peinlich werden konnte, brachte Hildegard Mechthildas Weisung vor: „Im Haus des Ritters Hartman von Querfurt gibt es einen Krankenfall. Du sollst mich dorthin begleiten.“

Schon öffnete Reinhyldis den Mund, um zu widersprechen. Schließlich hatte sie Besseres zu tun, als Hildegards Anhängsel zu sein. Dann sagte sie aber nur: „Wenn es nicht gar so dringlich ist, werde ich erst noch zu Ende räuchern. Es wäre schade, wenn die Kräuter irgendwo ungenutzt verglimmen.“ Auf die zusammenrückenden Augenbrauen Hildegards hin fügte sie hinzu: „Es dauert nicht lange. Keine drei Vaterunser.“

Hildegard nickte stumm und suchte dann ihre Kräuterstube auf. Vorsorglich legte sie in den schon bereitstehenden Korb noch ein Leinensäckchen mit Weißdornblättern und –blüten. Ritter Hartmans Majordomus war schon recht betagt. Womöglich hatten die Vorkommnisse sein altes Herz in Mitleidenschaft gezogen. Da wäre ein Aufguss aus Weißdorn hilfreich.

Auch bei der Kronenwirtin sah sie noch einmal vorbei. Die war inzwischen aufgewacht, hatte sich in ihrem Bett etwas aufgesetzt und starrte teilnahmslos vor sich hin. Die Hände lagen mit fest ineinander verschlungenen Fingern auf der Bettdecke.

Als Hildegard mit einem leisen Gruß eintrat, sah sie auf, die Augen von tiefen, dunklen Ringen untermalt, die Lippen zitternd.

„Was soll bloß aus mir werden?“, hauchte sie. „Ich kann doch nicht zu dem zurück. Der schlägt mich tot, dass ich ihn so ins Gerede gebracht habe.“

„Wenn er Euch so übel misshandelt hat, wie die alte Franziska sagt, dann könnt Ihr die Aufhebung der Ehe vor Gericht beantragen. Ihr müsst Anklage erheben.“ Hildegard hatte eindringlich gesprochen, setzte sich auf die Bettkante und ergriff die verkrampften Hände der armen Frau.

„Seid Ihr wahnsinnig. Könnt Ihr Euch auch nur vorstellen, was der mir antut, wenn ich ihn dermaßen dem Gespött der Leute aussetze?“ Entsetzt entriss die Kronenwirtin Hildegard ihre Hände und barg sie vor der Brust.