Ein Mord zur Herrenmesse - Gudrun Krohne - E-Book

Ein Mord zur Herrenmesse E-Book

Gudrun Krohne

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Beschreibung

Magdeburg, September 1368, die alljährliche Herrenmesse steht vor der Tür. Handeltreibende von nah und fern kommen in die Hansestadt. Noch hat die Messe nicht begonnen, da wird ein Toter gefunden. Ratsmann Honstein soll der Meuchelmörder sein. Doch der kann sich an nichts erinnern. Die Zeit drängt. Vor dem Ende der Messe muss der wahre Mörder gefunden werden. Hildegard nimmt mit dem honsteinschen Hauswesen die Ermittlungen auf. Zur Seite steht ihr Witho, Knecht der Stadtwache. Hilfe erhoffen sie sich von der Fischmaulbande. Doch die haben mit eigenen Problemen zu kämpfen. Straßenkinder verschwinden spurlos. Hat dieser wirre Theriakhändler seine Finger im Spiel? Und was geht des Nachts auf der Schiffslände vor sich? Die Bösewichte schrecken nicht vor neuerlicher Schandtat zurück. Auf der Suche nach der Wahrheit begibt sich Hildegard in höchste Gefahr. Liebe Leser, leider hat sich auf Seite 350 eine leere Seite eingeschlichen. Auf dieser Seite fehlt kein Text. Sie verpassen also nichts.

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Personen

Das honsteinsche Hauswesen

Peter Honstein – Patrizier, Ratsmann und Weinhändler zu Magdeborch, kommt von Witz und Sinnen und findet sich unerwartet im Turm

Lucardis Honstein – sein Eheweib, muss nicht nur Handel und Hauswesen zusammenhalten, sondern auch einen Unschuldsbeweis erbringen

Hildegard – zuzeiten im Hause Honstein, begibt sich auf Mördersuche und findet weit mehr

Irmelin – auch in hauswirtschaftlicher Ausbildung

Jakob van Cohnen – vierzehnjähriger Sohn eines Kölner Handelspartners, taucht begeistert in untere Gefilde ab

Haug – Großknecht, ein gutmütiger Riese, solange sein Haus nicht bedroht wird

Martha – Magd und Köchin

Fricke – zweiter Knecht, entwickelt ungeahnte Talente

Lina – verhuschte Spülmagd

Bartolt – Handelsgehilfe, von großer Fahrt zurück, nicht immer angenehm

Die Magdeborcher

Witho – Knecht der Stadtwache, weiß, dass er mehr kann

Magister Conrad – Advocatus des Hauses Honstein, findet manche Finte, was ihm auch mancherlei Leckerei einträgt

Dietrich von der Furth – Stadthauptmann, sieht die Erzstiftlichen lieber gehen als kommen

Hartman von Querfurt – Ritter, hat Hildegard Schutz und Hilfe gelobt

Notger – sein Knappe, heftet sich an Hildegards Fersen

Nikolaus von Bismarck – Hauptmann der erzstiftlichen Garde und Vorsitzender der erzbischöflichen Verwaltungskommission (historisch verbürgt)

Hoie von Dodelegen – Unterführer der erzstiftlichen Garde, schielt nach dem Posten des Hauptmanns

Tobias Schreinemaker – Schreineschnitzer, bekommt Kuhaugen in Irmelins Nähe

Tiele Alemann – Medicus, findet sich unversehens in einer Zelle

Fischmaul – Bandenführer, spürt auf eigene Faust seinen vermissten Freunden hinterher

Gaukler – Mitglied der Fischmäuler, findet unerwartet einen neuen Wirkungskreis

Lüdeke von Osterwygk – Schultheiß von Magdeborch, sieht lieber Außerhalbsche schuldig als Einheimische (historisch verbürgt)

Rulf vom Kellere – Innungsmeister der Weinhändler

Ursula von Buch – Magistra im Beginenkonvent am Ulrichstor

Mechthilda – Tochter des Peter Honstein, Lehrerin im Konvent

Hedwigis – die Apothekerin des Konvents

Walburga – Köchin im Konvent, Hildegards Ziehmutter

Die Außerhalbschen

Rostislaw Jurjewitsch – Kaufmann aus Nowgorod, hat nur kurze Freude an der Herrenmesse

Melchior Godebus – Hansekaufmann vom Petershof in Nowgorod

Erasmus van Gent – Theriakhändler, reichlich wirr im Kopf, doch er weiß, was er will

Frans van Gent – sein Sohn

Enno Travesdörp – Hansekaufmann der Tyskebryggen in Bergen, Norwegen

Johann van Haren – ebenfalls in der Tyskebryggen tätig, kann ein wenig Licht ins Dunkel bringen

Inhaltsverzeichnis

Im Jahre des Herrn 1368, September

Prolog

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Glossar

Quellen

Ein Mord zur Herrenmesse

Im Jahre des Herrn 1368, September

Prolog

Leise schlugen die Wellen an das kleine Boot. Dunkle Wolken zogen noch immer über den Himmel und verhüllten den Mond. Der sintflutartige Regen des Abends war in einen feinen Sprühregen übergegangen.

Dem Schatten, der die Ruder vorsichtig ins schwarze Wasser der Elbe tauchte, war es recht so. Die Unbilden der Natur gehörten zu seinem Leben. Wasser, Wind und Wellen waren seine ständigen Begleiter. Zudem bedeckte ein Umhang aus gewalktem Tuch ihm Kopf und Rücken.

Ein im Gemüt wenig robuster Mensch hätte sich wahrscheinlich dreimal bekreuzigt, wäre er des fast lautlos dahingleitenden Bootes mit seinem schemenhaften Ruderer ansichtig geworden. Aber wer sollte sich bei diesem Wetter, lange nach dem Mitternachtsläuten, schon an das Ufer des Flusses verirren und in die Finsternis starren?

Kräftiger zog der Mann nun die Riemen durch. Die Schiffslände der Oldenstadt Magdeborch hatte er hinter sich gelassen und nur vereinzelte Lichter der dort vertäuten Schiffe wiesen ihm den Weg. Immer weg von diesem Lichtschein und er würde die langgestreckte Insel, die den Fluss teilte, nicht verfehlen können. Doch auch diese Wegweisung wurde schon bald von den dünnen Fäden des wieder stärker werdenden Regens verhüllt.

Schon befürchtete der Mann, sein Ziel verfehlt zu haben, als der Bug des Bootes gegen ein Hindernis stieß. Schnell wandte er sich um und erahnte, mehr als dass er es sah, das baumbestandene Ufer hinter sich. Ohne zu zögern sprang er ins seichte Wasser und zog das Boot bis unter die dicht stehenden Bäume. Dort drehte er es um, kroch darunter und wickelte sich in seinen Umhang.

Mit Anbruch des neuen Tages würde er zum Nordende der Insel wandern und die tiefe Grube ausheben, so wie es ihm sein Herr aufgetragen hatte. Die anderen würden die Beute bringen, die er dort bewachen sollte, bis sie sich auf die Heimfahrt machten. In zwei Tagen sollte die erste Lieferung eintreffen. Er würde sich sputen müssen.

Mit klammen Fingern tastete er nach dem Holzspaten mit der Eisenkante am Blatt und zog ihn dichter zu sich heran. Fast liebevoll strich er darüber. Dieser Spaten würde sein Leben verändern. Hatte ihm doch der Herr versprochen, wenn er gute Arbeit leistete, ihm die Freiheit zu geben, geschrieben und gesiegelt.

Und war er erst frei, bekam auch er seinen Teil von der Beute. Und hatte er erst Anteile an der Beute, würde er um Ingrun freien. Wispernd erzählte er sich selbst von seinem zukünftigen Leben, bedachte alle freien Männer, die als Nebenbuhler in Frage kamen mit kräftigen Flüchen, bevor er erneut seine Liebste mit schmeichelnden Worten umgarnte.

Dermaßen in angenehme Gedanken gefangen, glitt er in einen leichten Schlaf hinüber, wohin ihm seine Träumereien folgten. In Vorfreude auf glücklichere Zeiten schnurrte er wie ein zufriedener Kater. Das Lächeln, welches sich in seine harten Züge schlich, glich jedoch eher einem Zähneblecken.

1. Kapitel

Die spätsommerliche Sonne sandte ihre wärmenden Strahlen auf die Elbestadt Magdeborch, als wolle sie Maß nehmen für die Heiltumsweisung und die drei folgenden Tage der Herrenmesse. Noch zwei Tage dauerte es bis zur Prozession der Heiltümer, doch Pilger und anderes stadtfremde Volk hatte sich schon dermaßen zahlreich eingefunden, dass in den schmalen Gassen und Straßen kaum ein Durchkommen war.

Hildegard und Irmelin traten eben aus dem Hoftor des honsteinschen Anwesens, eines prächtigen, dreigeschossigen Patrizierhauses, gleich neben dem Schöffenstuhl am Alten Markt.

Die nächtlichen, starken Regenfälle hatten schon am Vormittag einem strahlend, blauen Himmel Platz machen müssen. Und nun, nach sonntäglichem Kirchgang und Mittagsmahl kündeten nur noch einige Schlammpfützen und vereinzelte dampfende Unratshaufen vom Unwetter der Nacht. Größtenteils war der Schmutz in der Nacht gen Elbe gespült worden und die Straßen waren jetzt ungewohnt frei und gut begehbar.

Vor dem Tor des Hauses verhielten die jungen Frauen den Schritt. Suchend glitten ihre Blicke über die sonntäglichen Spaziergänger, welche über den Markt flanierten. Noch bevor sie fanden, wonach sie Ausschau hielten, trat ein junger Mann an sie heran und verbeugte sich artig.

„Jungfer Hildegard, Jungfer Irmelin, darf ich Euch meine Begleitung an diesem strahlenden Nachmittag anbieten?“

Dabei reichte er der Jungfer Irmelin seinen Arm, den diese mit einem gnädigen Neigen ihres Kopfes annahm. Doch der Schalk blitzte in ihren Augenwinkeln und einem scharfen Beobachter wäre schnell klar geworden, dass diese Begegnung keine zufällige war.

„Meister Tobias, wollt ihr uns heute wieder Schutz und Beistand bieten und uns durch die Magdeborcher Fährnisse geleiten?“ Die dies sprach war die Zweite und noch ehe der Angesprochene antworten konnte, nahm sie seinen anderen Arm.

„Meister Schreinemaker.“ Die leise, nichtsdestotrotz befehlsgewohnte Stimme der Frau Lucardis, Herrin über das honsteinsche Hauswesen, rief das Dreigespann noch einmal zurück.

„Meint Ihr, dass es schicklich ist, mit zwei Jungfern am Arm durch die Stadt zu spazieren?“ Tadelnd stiegen ihre Augenbrauen bis zum gekräuselten Rand ihrer Rise empor.

Schuldbewusst zog der solcherart Gerügte seine Arme dicht an den Körper, als wolle er jeden Moment stramm stehen. Seine Wangen überzog ein flammendes Rot und die alte Unsicherheit flog den fast dreißigjährigen Mann wieder an. Er konnte nur noch stammeln: „Nein, nein, Frau Lucardis, ganz bestimmt nicht Frau Lucardis. Ich wollte nur, ich dachte...“ Verzweifelt ging sein Blick zwischen Irmelin, Hildegard und der Hausherrin hin und her.

„Schon gut Meister Schreinemaker, ich bin mir sicher, dass Ihr Sitte und Anstand wahren werdet.“ Sprach’s, drehte sich um und trat zurück auf den Hof.

Hildegard, die sich inzwischen bei Irmelin eingehakt hatte, schlug nun den Weg hinunter zur Schiffslände ein.

Die bevorstehende Herrenmesse bot schon an diesem Nachmittag allen Neugierigen vielerlei Sehenswertes am Elbufer. Täglich kamen neue Schiffe und ausladende Flussboote an, die Waren aus allen der Christenheit bekannten Ländern heranschafften. In wenigen Tagen würden diese auf dem Neuen Markt am Dom zahlungswilligen Kunden zum Kaufe angeboten werden.

Tobias Schreinemaker folgte ihnen ergeben.

Ob die Maid Irmelin wohl bemerkt hatte, wie fein er sich heute herausgeputzt hatte? Den Handwerkerkittel hatte er abgelegt, war gestern ins Badehaus am Heiliggeisthospital gegangen und hatte sich heute in sein burgunderrotes Wams und die hellbraunen Beinlinge gekleidet. Die weiten, geschlitzten Ärmel seines schneeweißen Hemdes leuchteten in der Sonne. Auch die neuen Schnabelschuhe wurden heute eingeweiht. Zwar waren deren Spitzen nur mäßig lang, nicht hochgebunden oder gar mit Glöckchen behängt wie bei so manchem Stutzer, doch kam sich der Handwerker inzwischen über Gebühr hinaus geputzt vor. Nur gut, dass er die mit Stickerei verzierte Samtkappe mit den zwei schillernden Fasanenfedern zurück auf seine Kleidertruhe gelegt hatte.

Die beiden Jungfern, nichts ahnend von des Schreinemakers Gedanken, betrachteten neugierig die anderen Fußgänger, vornehmlich die Frauen der reichen Kaufleute und der vornehmen Geschlechter der Stadt. Insbesondere letztere dachten nicht im Mindesten daran, sich den Kleidervorschriften, die der Rat immer wieder erließ, zu beugen.

Die zweihörnige Haube des Eheweibs des Schöffen Hidde reizte die Freundinnen zu verstohlenem Kichern. Sie waren sich sicher, so etwas würden sie nie aufs Haupt setzen. Noch trugen sie ein Schapel aus bunten, geflochtenen Bändern auf ihrem offenen Blondhaar, das sich fast bis zu den Hüften hinunter kringelte.

Irmelin hatte ihren Haarreif zusätzlich mit den Blüten des späten Löwenzahns geschmückt. So unterschieden sich die beiden zumindest in der Art ihres Haarputzes. Ihre große Ähnlichkeit in Gestalt und Aussehen wurde durch das blauweiße Gewand aus feinem Wollstoff unterstrichen, das eine jede trug. Ein Gürtel aus weichem Leder legte es in reiche Falten.

Ein flüchtiger Beobachter hätte sie für Zwillingsschwestern halten können. Jedoch war Hildegard um ein weniges größer und einige letzte, schon verblassende Sommersprossen hatten sich um ihre schmale Nase versammelt. Auch zählte sie ein gutes halbes Lebensjahr mehr als die Freundin. Ende November würde sie ihr achtzehntes Jahr vollendet haben. So genau wusste sie ihr Geburtsdatum nicht. Im November des Pestjahres 1350 war das nur wenige Tage alte Mädchen vor dem Tor des Beginenkonvents am Ulrichstor abgelegt worden. Nur ihre Ziehmutter, die Köchin Walburga sowie die Magistra des Konvents und die alte Mette wussten darum. Für alle anderen galt sie als Tochter der Köchin. Ihre wahre Herkunft war im Dunkeln geblieben.

Doch hatte eine liebende Seele dem kleinen Kind eine Anzahl wertvoller Schmuckstücke mit in die Wickeldecke gesteckt, welche die Magistra des Konvents wohlverwahrt in die Geldtruhe des Beginenhofs geschlossen hatte. So war zu vermuten, dass Hildegard von hoher Geburt war und ein Schicksalsschlag ihre Mutter bewogen hatte, sich von dem Neugeborenen zu trennen. Hildegard hatte die fehlende Kenntnis über ihre Herkunft nie als Mangel empfunden. Die Beginen waren ihr eine liebevolle, vertraute und bei Bedarf auch gestrenge Familie.

Irmelin versuchte Hildegard zu zügigerem Ausschreiten zu veranlassen. Ungeduldig setzte sie die Schritte weiter und Hildegard passte sich ihr an. Sie verstand die Aufgeregtheit der Freundin. Bevor sie beide seit Sommer dieses Jahres im honsteinschen Haus von Frau Lucardis in der Führung eines Hauswesens unterwiesen wurden, hatte Irmelin ihr ganzes Leben als Magd auf der Burg ihres ritterlichen Vaters, eines rechten Schandbuben, verbracht. Noch immer sog die junge Frau alles Neue, dass das Leben in der großen Stadt mit sich brachte, wie ein Schwamm in sich auf und bestaunte das bunte Leben und Treiben mit großen Augen.

Durch das Elbtor wehte ihnen der vertraute Geruch des Flusses entgegen. Fast nahmen sie dieses Gemisch aus den unterschiedlichsten Bestandteilen, sowohl angenehmer als auch weniger erfreulicher Natur, nicht mehr wahr. Da war zum einen die frische Luft eines fließenden Gewässers und zum anderen der leicht modrige Geruch nach nicht mehr ganz frischem Fisch, gemischt mit dem des aufgewühlten Flussgrundes, welcher von Ankern gepflügt wurde.

Schon bald verließen sie die Stadt durch das Tor. Heute lag über all dem gewohnten Odem ein Hauch von fremdländischen Gewürzen, fernen Stränden und exotischen Ländern. Aber vielleicht war es nur Einbildung und die Nase wollte den Augen in nichts nachstehen und sich an all den aufregenden Sinneseindrücken angemessen beteiligen.

Ein Stimmengewirr wie beim Turmbau zu Babel empfing sie auf der Flussseite des Tores. Fluchende, befehlende und gelassene Wortfetzen in fremden Zungen aber auch einheimische Satzteile, aus dem Zusammenhang gerissen, nicht weniger unverständlich als die Sprachen aus aller Herren Länder, bildeten einen undurchdringlichen Geräuschewirrwarr. Dazu das Knarren der Tretkräne und das Rumpeln einer eben anlegenden Kogge, die gezogen von zwölf schwerfälligen Ochsen die Elbe heraufgetreidelt worden war. Allgegenwärtig mischte sich das raue Lachen der Seeleute darunter, die trotz der schweren Lasten, welche sie von den Kähnen schleppten, jedem Rockzipfel hinterherjohlten.

Hier mengte sich der Geruch nach feuchtem Leder, nassem Tauwerk und geteertem Holz, durchsetzt mit den Ausdünstungen hart arbeitender Männer, dazu.

Vor Irmelin und Hildegard waren einige ältliche Matronen stehengeblieben, hielten sich mit Lavendel getränkte Dufttücher unter die Nase, konnten aber gleichwohl nicht ihre Blicke von den muskulösen Männern wenden, deren Oberkörper von Schweiß glänzte, als hätte sie jemand mit einer Speckschwarte poliert.

Kichernd drängten sich die jungen Frauen vorbei.

Eifersüchtig wachte der Schreinemaker darüber, dass die ihm anvertrauten Maiden diesem Teil der Schiffslände nicht zu nahe kamen.

Hildegard und Irmelin wandten sich nach rechts und gingen unterhalb der Stadtmauer in Richtung Brückentor. Von dort spannte sich eine hölzerne Brücke über die Elbe und erreichte die Insel Werder, die den Fluss teilte und sich fast über die ganze Länge der Stadt hinzog. Auch auf der Inselseite waren Landungsstege beiderseits der Brücke geschaffen worden, um alle auf dem Wasserwege anreisenden Händler aufnehmen zu können. Noch hatten dort nur zwei, drei breite Lastkähne angelegt.

Wer zu spät den Handelsort erreichte und auf der Insel festmachen musste, war gezwungen, einen der ortsansässigen Fuhrunternehmer in Dienst zu stellen, um seine Waren zum Neuen Markt transportieren zu lassen. Das schmälerte den eigenen Gewinn und war nicht erstrebenswert. Aus diesem Grunde reisten viele der Fernhändler schon Tage vor der Messe an oder schickten zumindest einen berittenen Boten voraus, der gegen eine entsprechende Gebühr einen günstigen Liegeplatz reservieren ließ.

Hildegard zupfte an ihrem Brusttuch und strich sich die Haare hinter die Ohren. Obwohl sie nun schon acht Wochen im honsteinschen Haus lebte, hatte sie sich noch immer nicht recht daran gewöhnt, ihr Haar in der Öffentlichkeit – nur von einem Schapel gehalten zu tragen. Auch die Gewänder erschienen ihr mitunter zu bunt und zu freizügig. Bis vor Kurzem hatte sie sich noch in das züchtige, weite, graue Beginengewand mit dem Schleier gehüllt, sobald sie die schützenden Mauern des Konvents verlassen hatte.

Von den beiden vorausschreitenden Jungfern nicht bemerkt, verlangsamte Tobias Schreinemaker den Schritt. Wenn ihn seine Augen nicht täuschten, hatte die Kogge, welche sein Interesse weckte, einen sehr weiten Weg hinter sich. Die am Heck flatternde Flagge tat kund, dass dieses Schiff aus Bergen in Norwegen kam. Es segelte im Auftrag der Tyskebryggen, des deutschen Handelskontors jener Stadt.

Sehnsüchtig glitten seine Blicke über die Planken, die Aufbauten und das Segel des Schiffes. Nicht etwa, dass er davon träumte ein solches Gefährt selbst zu besteigen und die Meere zu bereisen, da sei Gott vor. Aber hin und wieder hatten Schiffe aus diesen Gewässern überaus wertvolle Walrosszähne oder Walknochen als Handelsware geladen. Könnte er etwas davon erwerben, wären die Reliquienschreine, die er in großer Kunstfertigkeit herstellte, um ein Vielfaches teurer zu verkaufen. Auch musste es wundervoll sein, ein so außergewöhnliches Material bearbeiten zu dürfen.

Solcherart in Träumereien verfangen, bemerkte der Schreineschnitzer nicht, dass die ihm anvertrauten Maiden unweit des Brückentores um ein Haar eine unerquickliche Begegnung mit mehreren Seeleuten gehabt hätten. Hier hatte sich schon vor langen Zeiten eine kleine Bucht gebildet, so dass die Liegeplätze fast bis ans Tor heranreichten.

Zwei junge Frauen ohne männliche Begleitung ließen bei den liebesdurstigen Burschen nur einen Schluss zu: Hier wollten sich zwei weniger ehrenwerte Frauensleute ein paar Münzen verdienen. Nicht bösartig, sondern eher neugierig, machten sich vier, fünf Fahrensleute gegenseitig auf die willkommene Abwechslung von harter Arbeit aufmerksam und schon flog das eine oder andere zweideutige Scherzwort von Bord gen Land.

Glücklicherweise verstanden weder Hildegard noch Irmelin die kehlige, harte Sprache der Fremden. Erst als einer an Land sprang, unter den Anfeuerungsrufen seiner Kameraden eine tiefe Verbeugung machte und nach Irmelins und Hildegards Hand griff, wurden sich diese ihrer bedrängten Lage bewusst. Sich hilfesuchend nach dem Schreinemaker umwendend, mussten sie zu ihrem Missfallen feststellen, dass der noch immer in träumerischer Begeisterung für die norwegische Kogge gefangen war.

Aber Hilfe nahte von anderer Seite. Seine Pike wie eine Lanze vorgestreckt stürmte ein junger, kräftig gebauter Brückenwächter herbei und richtete seine Waffe gegen die Brust des zudringlichen Seemanns.

„Nimm deine dreckigen Pfoten von den Jungfern, du Sohn eines besoffenen Heringsschwanzes!“, rief er dem verblüfften Schiffsknecht zu und ließ die Spitze der Pike unmissverständlich vor dessen Nase tanzen. Der schob jedoch nur die Unterlippe vor und wandte den Kopf zu seinen Kameraden. Die ließen nicht lange auf sich warten, sprangen ebenfalls an Land und gesellten sich zu ihrem Freund.

Doch auch der Brückenwächter erhielt Unterstützung vom nahen Stadttor. Der Stadthauptmann Dietrich von der Furth hatte schon gewusst, warum er gerade an diesem Tor, an dem sich alles drängte, um in die Stadt zu gelangen, die Besatzung verstärken ließ.

Es hätte nicht viel gefehlt und die schönste Keilerei wäre schon bald im Gange gewesen, wenn nicht von Bord des Schiffes eine tief dröhnende, harte Stimme die Fahrensmänner zurückbefohlen hätte. Sie grollte nicht wie ein entferntes Gewitter, sondern wie eines, welches sich direkt über den Häuptern der Betroffenen entlud. Flink sprang das Schiffsvolk zurück an Bord. Dort duckte es sich weg, als erwartete es, von der mächtigen Pranke, die zu dieser Stimme gehören musste, niedergestreckt zu werden.

Hildegard warf einen flüchtigen Blick auf diesen stimmgewaltigen Mann, bevor sie sich abwandte. Seine gesamte Erscheinung ging über das Normalmaß hinaus. Er musste weit mehr als sechs Fuß messen und auch sein Umfang war beachtlich. Brokatstoffe, verziert mit aufwändiger Goldstickerei, pelzverbrämten Besatz von weißen Fellen, erhaschte sie. Was sich ihr aber einbrannte, war der grimmige Blick aus schwarzen Augen, die umrahmt von einer schwarzen Lockenmähne und einem ebensolchen Bart sie und die Freundin verächtlich maßen.

Die halbe Portion, die neben diesem geputzten Bären stand und mit spöttisch verzogenem Mund dem Aufruhr folgte, nahm Hildegard nur unterbewusst wahr.

Irmelin hinter sich herziehend, eilte sie durch das Brückentor zurück in die Stadt.

„Was fällt Euch nur ein, ohne Begleitung zwischen den Schiffen und all dem üblen Gelichter herumzuspazieren?“ Entrüstet baute sich der breitschultrige Brückenwächter vor ihnen auf und stieß den Schaft seiner Pike ins Straßenpflaster.

„Ich freue mich auch, Euch zu sehen, Herr Stadtwächter“, antwortete Hildegard schnippisch. Obgleich sie selbst für eine junge Frau um ein Weniges zu groß erschien, musste sie den Kopf leicht in den Nacken legen, denn der Kerl vor ihr überragte sie wohl um Haupteslänge. „Wie ich sehe, dürft Ihr heute sogar Waffen tragen.“

„Warum soll der Wächter keine Waffen tragen?“, fragte Irmelin erstaunt. Und an den jungen Mann gewandt: „Habt Dank für die Rettung, Witho.“

Doch der funkelte noch immer wütend Hildegard an. Dass er heute mit einer Pike die Brückenwache verstärken durfte, war nur dem großen Andrang der Kaufleute mit all ihren Handelswaren, ihren Knechten und anderen Gefolgschaften geschuldet.

Kaum einer wusste, dass er ein entlaufender Leibeigener war. Dem Ratsmann Honstein verdankte er den Dienst bei der Stadtwache. Und dass er dort nur Knecht war, band er auch nicht jedem auf die Nase. Doch zu Hildegard hatte er von seinem Leben gesprochen, als er sie vor drei Monaten auf seinem Pferd zurück in die Stadt zum Beginenkonvent brachte. Irmelin war auf dem Pferd beim Schreinemaker mitgeritten. Gemeinsam hatten die ungleichen jungen Männer mit einigen Freunden die Maiden vor den Handlangern von Irmelins Vater, Arno von Quitzow, gerettet. Der unritterliche Ritter wurde verbannt, sich dem Deutschritterorden anzuschließen und befand sich nun auf einer siebenjährigen Kreuzritterfahrt im Kulmerland. Von dort würde er hoffentlich nie zurückkehren.

Damals hatte es den Anschein gehabt, als würden er und Hildegard trotz des Standesunterschieds Freunde werden können. Sie hatte ihn sogar eine Zeitlang im Lesen und Schreiben unterwiesen. Seit sie jedoch zum honsteinschen Hauswesen gehörte, hatten sie sich nur noch selten gesehen und die Unterrichtsstunden waren ganz ausgefallen. Witho presste, noch immer enttäuscht, die Lippen aufeinander. Da kam ihm Tobias Schreinemaker gerade recht, der den jungen Frauen hinterhergeeilt war und nun ratlos von einem zum andern sah.

„Habt Ihr die Aufsicht über die Maiden?“, blaffte Witho ihn an. Und ohne eine Antwort abzuwarten, denn die war an des Schreinemakers schuldbewusstem Blick abzulesen: „Wie konntet Ihr sie nur dem gierigen Schiffsvolk überlassen? Frau Lucardis wird das nicht gern hören.“

Tobias zog den Kopf vor dem Tadel des mehr als zehn Jahre Jüngeren ein. Mit der gestrengen Frau Lucardis zu drohen, verfehlte nie seine Wirkung. Mit Argusaugen wachte sie über die Tugend der ihr anvertrauten Jungfern.

„Wie gut, dass Ihr wieder einmal in der Nähe wart, Witho.“ Tobias schlug dem Jüngeren freundschaftlich auf die Schulter. Kurz überlegte er, ob er dem Wächter ein Geldstück geben sollte. Aber nein, der hatte, trotz seines niederen Standes, doch eine ganze Portion Stolz. Lieber ihn nicht noch zusätzlich verärgern. „Frau Lucardis muss doch hiervon nichts erfahren. Es ist ja nichts passiert. Niemand ist zu Schaden gekommen. Und die beiden Jungfern werden nun wohl gelernt haben, dass sie sich nicht eigenmächtig entfernen, wenn ihre Begleitung den Schritt verhält.“

„Was? Jetzt sollen wir Schuld sein, nur weil Ihr, ohne einen Ton zu sagen, mitten am helllichten Tag in einen Traum fallt?“, mischte sich nun Irmelin empört ein. Tobias war ihr bedingungslos ergeben und hoffte inständig, dass seine Innung einer Verbindung mit der mittellosen jungen Frau endlich zustimmen würde. Umso schmerzhafter trafen ihn ihre spöttischen Worte. „Demnächst wird uns Meister Schreinemaker noch am Gängelband durch die Stadt führen.“

Sie ergriff Hildegards Hand und ohne der beiden Männer weiter zu achten, schritten sie hocherhobenen Hauptes dem Alten Markt und dem Haus des Patriziers und Ratsmannen Honstein zu.

Wo war nur das sanfte Wesen geblieben, als das Tobias Irmelin vor drei Monaten kennengelernt hatte? Er warf Witho einen entnervten Blick zu, doch der hatte sich schon schulterzuckend abgewandt und strebte wieder seinem Dienst an der Brücke zu.

***

Frau Lucardis bemerkte sogleich, dass etwas auf dem Spaziergang der drei vorgefallen sein musste. Zum einen war der Schreinemaker mit seinen Begleiterinnen schon nach recht kurzer Zeit zurück. Meist dehnten sie ihren sonntäglichen Nachmittagsspaziergang bis zum Abendessen hin aus. Zum anderen vermittelte Meister Tobias einen bedrückten Eindruck. Die beiden Maiden verabschiedeten sich von ihm recht kühl mit einem kaum wahrnehmbaren, gnädigen Neigen des Kopfes und verschwanden im Hausinnern. Unglücklich sandte ihnen der Verlassene noch einen Blick nach und verabschiedete sich dann von der Hausherrin.

Ein seltenes Lächeln umspielte die Lippen der Frau. Niemandem war verborgen geblieben, dass der Schreineschnitzer in eine heftige Zuneigung zu der jungen Irmelin entbrannt war.

Eigentlich hatte nur Hildegard am Siebenbrüdertag ins honsteinsche Haus eintreten sollen. So war es mit der Magistra des Beginenkonvents abgesprochen gewesen. Hier sollten der jungen Frau die Grundzüge eines gedeihlichen Wirkens in einem zukünftigen eigenem Hauswesen vermittelt werden. Doch dann war Irmelin mit einem Grüppchen schweifender Beginen auf der Flucht vor ihrem Vater im Konvent aufgetaucht. Nach und nach, je mehr der Schmutz und das Ungeziefer von dem unansehnlichen, jungen Ding abgewaschen wurde, kam ihre Ähnlichkeit mit Hildegard zum Vorschein. Sie wurden gar für Schwestern gehalten, obwohl rein gar keine bekannten verwandtschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden bestanden. Irmelin hatte bis dahin auf der väterlichen Burg nur Magddienste versehen und von der Führung eines eigenen Hauswesens so gar keinen Schimmer. Doch wenn der Schreinemaker es ernst meinte und mit ihr vor die Kirchenpforten treten wollte, dann musste sie zumindest Grundkenntnisse im Wirtschaften besitzen.

Also hatte Frau Lucardis mit ihrem Ehewirt Peter Honstein ein Gespräch geführt. Es war ein kurzes Gespräch gewesen. Der Hausherr hatte sich nicht nur um sein Amt als Ratsmann, sondern darüber hinaus auch um einen weit verzweigten Weinhandel zu kümmern. So hatte er in allen Angelegenheiten, welche die Führung des Haushaltes betrafen, seiner Frau stets freie Hand gelassen. Bisher hatte er es noch nie bereut. Als Folge dieses kurzen Gesprächs war auch Irmelin zum Siebenbrüdertag ins honsteinsche Haus eingezogen.

Dort war es Tradition, dass immer wieder Jungfern und Jünglinge aus befreundeten Häusern oder von Geschäftsfreunden des Weinhändlers aufgenommen wurden, um diese zu unterrichten und anzuleiten.

So lebte seit gut einem Jahr der jetzt dreizehnjährige Jakob van Cohnen, zweiter Sohn eines Kölner Handelspartners, bei ihnen. Er war ein etwas vorlauter, pausbäckiger Bursche, dem noch einiges an Ecken und Kanten abgeschliffen werden musste. Nichtsdestotrotz war er fleißig und bemüht, sich das Wissen eines Weinhändlers anzueignen, um dem älteren Bruder dereinst bei der gewinnbringenden Weiterführung und Ausweitung des väterlichen Handels beizustehen oder sich gar einen eigenen Handel aufzubauen.

Nachdem er gehört hatte, dass der Haushalt Zuwachs in Form zweier Maiden aus dem Beginenkonvent erhalten sollte, hatte er nur abschätzig die Lippen verzogen und kurz kommentiert: „Zwei so alte Tanten.“

Womit er nicht ganz unrecht hatte. Besonders Hildegard war mit ihren fast achtzehn Jahren doch schon reichlich alt für solcherart Unterweisungen. Andere Frauen in ihrem Alter waren bereits zwei, drei Jahre verheiratet und hatten schon ein, zwei Kindern das Leben geschenkt. Sowie das Gespräch auf den Ehestand zu sprechen kam, zögerte Hildegard nie, ihre Ansichten dazu kund zu tun. Sie hatte nicht die Absicht, sich der Munt irgendeines Mannes zu unterwerfen. Für sie stand felsenfest, dass sie nach Ablauf ihrer Lehrzeit wieder in den Beginenkonvent zurückkehren würde, um dort bis zu ihrem hoffentlich fernen Ende zu leben und zu wirken.

Frau Lucardis beschloss, die Maiden keiner Befragung zu unterziehen. Die zwei waren alt genug, kleine Unstimmigkeiten allein zu bewältigen. Und sollten sie einen Rat benötigen, würden sie das Gespräch mit ihr suchen.

Bis zum Abendmahl blieben Hildegard und Irmelin in ihrer Kammer und arbeiteten an ihrer Aussteuer. Irmelin mit weit größerem Eifer als Hildegard. Hoffte doch Erstere, dass Tobias ihr noch in diesem Jahr die Ehe antragen würde. Auch wenn sie ihn vorhin heftig angefahren hatte, so erwiderte sie doch seine Zuneigung und bereute nun schon ein wenig ihre schroffe Rede.

Hildegard stichelte eher lustlos an dem Betttuch aus feinem Leinen, das ihnen die Hausherrin zum Säumen überlassen hatte. Im Konvent hatten solche Aufgaben zu ihren alltäglichen Arbeiten gehört. Häufig traten wohlhabende Mütter an die Beginen mit dem Auftrag heran, besonders schöne Handarbeiten an Tischwäsche und Bettzeug für die Aussteuer ihrer Töchter anzufertigen. Dort war Hildegard immer eifrig bei der Sache gewesen, obgleich sie, trotz aller Bemühungen, in ihrer Kunstfertigkeit weit hinter den Weberinnen des Konvents zurückstand. Jetzt, wo es um ihre eigene Aussteuer ging, entwickelte sie weit weniger Ehrgeiz. Wozu eine Aussteuer, wenn sie doch nie vor die Kirchenpforten treten würde, um sich einem Manne zu unterwerfen?

Um sich von den unerquicklichen Gedanken abzubringen, beschloss sie, die Freundin ein wenig zu necken.

„Meinst du, dass der Tobias seine von kratzbürstiger Zunge verursachten Wunden genügend gepflegt hat, um uns demnächst womöglich auf den Neuen Markt zu begleiten? Dort sollen schon etliche Gaukler und andere Fahrensleute ihre Künste darbieten.“

„Ach der.“ Irmelin versuchte ihre eigene Unsicherheit in Bezug auf den Schreineschnitzer hinter einer gleichgültigen Miene zu verbergen. „Manchmal glaube ich, die zwölf Jahre Altersunterschied sind doch zu viel. Er ist immer so gesetzt, ernsthaft und geradlinig.“

„Nu ja, er ist ein gestandener Handwerksmeister, da kann er nicht umhertollen wie ein trunkener Springinsfeld. Doch er ist dir zutiefst zugeneigt“, hielt Hildegard dagegen. „Hat er schon einmal angedeutet, dass er die Absicht hat, um deine Hand anzuhalten?“

Irmelin verknotete den Faden und biss ihn ab. Dann zog sie einen neuen Faden in die Nadel ein und begann, den Saum fortzusetzen. Sie presste die Lippen aufeinander.

„Bei wem soll er denn um mich anhalten“, stieß sie schließlich verzagt hervor. „Mein Vater ist auf sieben Jahre verbannt und kommt, so Gott will, nie wieder. Meine Mutter ist eine freigelassene Magd. Zwar lebt sie jetzt im Beginenkonvent, aber kann Tobias sie fragen? Dann wäre da noch die Magistra. Nein, die wird sich auch nicht einmischen wollen. Vielleicht der Ratsmann, aber ich stehe doch nicht unter seiner Munt. Das geht auch nicht. Es gibt einfach niemanden, der mich dem Tobias geben könnte.“

„Ja, das ist verzwickt. Aber lass den Mut nicht sinken. Sprich doch mit Frau Lucardis darüber. Sie weiß bestimmt einen Rat.“

Über diese sorgenvollen Gespräche verging der Rest des Nachmittags.

Schließlich rief ein feiner Glockenton alle in die Küche. Martha, die Köchin, schwang das kleine Glöckchen und gab damit das Zeichen, dass sich das Hauswesen zum abendlichen Mahl versammeln solle.

Irmelin und Hildegard halfen Lina, der zwölfjährigen Spülmagd, Teller, Becher und Löffel auf dem sauber gescheuerten, breiten Tisch zu verteilen. Das schmächtige, schüchterne Mädchen dankte mit einem scheuen Lächeln. Irgendwie hatte man immer den Eindruck, ein verängstigtes, graues Mäuslein würde nach einem Schlupfloch Ausschau halten. Dabei hatte kaum jemand in diesem Hause je ein wirklich lautes Wort zu ihr gesagt. Einem so verhuschten Geschöpf womöglich mit harten Strafen zu drohen, bedurfte schon eines bösen Gemüts. Und das hatte in diesem Hauswesen, Gott sei’s gedankt, niemand.

Eben polterte Haug in die Küche. Vor dem muskelbepackten, hünenhaften ersten Knecht mit den wachsamen Augen unter der fliehenden Stirn konnte ein sanftes Wesen schon zusammenzucken. Doch die beiden Maiden wussten, dass hinter seinem groben Äußeren ein zuverlässiger Kerl steckte. Auch er hatte seinen Anteil daran, dass sie vor einem Vierteljahr glücklich aus der Hand der Entführer befreit worden waren.

Im Schlepptau des ersten Knechts befand sich wie fast immer Fricke, der segelohrige, dürre zweite Knecht. Der war wohl Anfang Zwanzig und befand sich seit etwa zehn Jahren im Dienste des honsteinschen Hauses. Wie alt er genau war, konnte er nicht sagen. Als vielleicht Zehnjähriger war er nach einem besonders heftigen Frühjahrshochwasser an einen Balken geklammert aus der Elbe gezogen worden. Frau Lucardis, gerade auf dem Fischmarkt mit dem Erwerb eines Korbes fangfrischer Aale beschäftigt, war Zeugin der Rettung geworden. Kurz entschlossen nahm sie den verwirrten, halb verhungerten und erschöpften Jungen mit. Die Erinnerung an seine Herkunft war nie wiedergekehrt und sie gaben ihm den Namen Fricke. Auch hatte er die ersten Jahre nicht gesprochen, zu tief saß das Grauen über das Erlebte. Nachdem er jedoch die Sprache wiedergefunden hatte, schwatzte er den lieben, langen Tag und hatte zu allem und jedem eine Meinung. Doch an den Fluss, an den Fluss ging er nie.

Schließlich erschien auch Frau Lucardis, setzte sich als erstes und Gesinde und Jungfern nahmen auf den Bänken entlang des Tisches Platz. Der Stuhl des Ratsmannen blieb leer. Wahrscheinlich besuchte er in Vorbereitung auf die Messe eine der unausweichlichen Ratssitzungen.

Martha trug die Reste des Schmortopfes vom Mittagsmahl auf und stellte Platten mit gelbem Käse, ein Tontöpfchen mit Butter, eins mit Schmalz und einen Korb frischen Brotes dazu. Gerade begann sie die dunkle, kräftig gewürzte Soße mit den daumengroßen Fleischstücken und dem geschmorten Kohl in die Schüsseln zu füllen, als die Tür zum Hintereingang der Küche eilig aufgerissen wurde. Wie fast immer kam Jakob zu spät zum Essen. Seine pummelige Erscheinung hätte vermuten lassen, dass er stets der Erste an der Futterkrippe sein würde, aber weiß Gott, dem war nicht so. Dafür schaufelte er dann um so emsiger, um vermeidlich Versäumtes wieder aufzuholen.

Es war also nicht verwunderlich, dass er sogleich die Hand nach der nächsten gefüllten Schale ausstreckte. Doch Martha wusste den Kochlöffel, Zeichen ihrer Namensvetterin der Heiligen Martha, Patronin aller Köchinnen, wirkungsvoll gegen solcherart Ansinnen einzusetzen. Ein schmerzhafter Klaps veranlasste Jakob, sich zu gedulden. Die Köchin führte ein strenges, selbstbewusstes und umsichtiges Regiment in der Küche, dem sich kaum jemand zu widersetzen wagte. Zwar war die rotwangige Frau mittleren Alters wohlbeleibt, trotzdem aber rege und wendig genug, wenn es darum ging, vorwitzige Finger aus Honigtöpfen und dergleichen zu fischen. Sie war sich der Würde ihres Amtes im Hause Honstein wohl bewusst und kochte mit Liebe, Hingabe und viel Geschick.

Ihr Handwerk hatte sie in einer wohlhabenden Kaufmannsfamilie in Nürnberg erlernt. Doch dann kam die zweite Pestwelle und sie wollte sich zu ihrem Bruder nach Meißen flüchten. Der Treck, dem sie sich angeschlossen hatte, wurde unterwegs vom Schwarzen Tod aufgerieben. So strandete sie nach langen Irrungen in Magdeborch und hatte schließlich die Anstellung im Hause Honstein gefunden. Mitunter brachte sie deftige oder auch süße Speisen aus ihrer Heimat auf den Tisch, etwa die köstlichen Maultaschen oder die nicht minder leckeren Grießklößchen mit brauner Butter.

Doch ein solcher Tag war heute nicht.

Die Hausherrin sprach ein kurzes Dankgebet und dann hörte man nur noch das Scharren der Löffel. Der Schmortopf vom Mittag mundete allen nochmals.

Nach und nach beendeten alle ihre Mahlzeit, der letzte Soßenrest wurde mit einem Stück Brot aus den Schüsseln gewischt und die Becher aus den bereitstehenden Krügen mit Most, Bier oder Wein nachgefüllt.

„Kurz vor dem Essen kam ein Bote meines Mannes.“ Sofort hatte Frau Lucardis die ungeteilte Aufmerksamkeit. „Morgen zum Mittag erwarten wir mehrere Gäste, ein Handelsherr aus unserer Stadt sowie ein Handelspartner aus Nowgorod. Mein Gatte hat heute dessen Schiff an den Landungsstegen entdeckt und beide Händler zum Essen eingeladen. Wir werden also morgen alle Hände voll zu tun haben.“

„Nowgorod? Ist das diese Hansestadt weit im Osten?“Selbst Jakob hatte das letzte Stück Brot in seine Schüssel gelegt und interessiert zugehört.

„Richtig, Nowgorod liegt weit im Osten in der Kiewer Rus.“ Frau Lucardis hatte nicht nur ihr Hauswesen fest im Griff, sie wusste auch um weitreichenden Handelsverbindungen ihres Gatten.

„Ist das dieser Russe, groß und stark wie ein Bär, der vor vier, fünf Jahren schon mal hier war?“ Haug erinnerte sich an alle, die es an Größe und Muskelkraft mit ihm aufnehmen könnten.

„Auch das ist richtig. Rostislaw Jurjewitsch war schon einmal zu Gast bei uns. Und wer sich daran erinnert, dem wird auch wieder einfallen, dass dieser Mann nicht nur von riesiger Gestalt ist, sondern auch riesige Mengen vertilgen kann.“ Frau Lucardis sah belustigt in die Runde.

Martha seufzte , Haug und Fricke grinsten und Jakob fischte schnell den Brotkanten aus seiner Schüssel, als stände der Russe schon hinter ihm und wolle ihm den Bissen streitig machen.

„Wo hat denn das Schiff des Russen festgemacht?“, fragte Hildegard nun und warf Irmelin einen heimlichen Blick zu.

„Am Brückentor, wenn ich den Boten recht verstanden habe. Kaufmann Heideke Fewerhake wird ihn dort morgen abholen und mitbringen.“

Den Magdeborcher Fernhändler kannten fast alle. Er war schon des Öfteren im Hause Honstein zu Gast gewesen.

Auch Irmelin rutschte jetzt auf ihrem Platz beunruhigt hin und her. Hoffentlich war der Nowgoroder Gast nicht dieser geputzte Bär, der sie heute so abwertend gemustert hatte.

„Damit morgen auch alles zur Zufriedenheit ablaufen kann, gilt es entsprechende Vorbereitungen zu treffen. Martha, du wirst gleich am Morgen mit Hildegard und Irmelin auf den Markt gehen. Die beiden können dir dann auch in der Küche zur Hand gehen. Ich möchte, dass du Hammelbraten mit Kräuterkruste zubereitest, dazu in Sahne, Honig und Kräutern gedünstete Erbsen und ....“ Lucardis dachte einen Moment nach.

„Wie wär‘s mit geschmälzten Spätzle?“, sprang Martha ihr bei.

Die Hausherrin nickte und fügte hinzu: „Und Geflügelleber mit Apfelscheiben und Zwiebeln gebraten.“

„Und Küchlein von Honigseim!“, platzte Fricke dazwischen.

„Gut“, stimmte die Hausherrin zu. „Aber bedenke, Martha, dass du in ausreichender Menge kochst und brätst.“

Martha ließ nur ein beleidigtes Knurren hören. Noch nie hatte jemand hungrig von ihrem Tisch aufstehen müssen.

„Jakob, du ...“, doch weiter kam Lucardis nicht.

„Ich muss morgen Vormittag die sieben leeren Fässer schrubben“, grummelte der Junge. „Doch wenn Ihr andere Arbeit für mich habt ...?“ Hoffnungsfroh sah er Frau Lucardis an.

„Nein, mach das, was dir aufgetragen wurde.“ Dann wandte sie sich an die Jüngste am Tisch: „Lina, du wirst das Haus fegen, frische Binsen ausstreuen und das Silber- und Zinngeschirr putzen.“

„Und den Hof fegen“, wagte Lina mit gesenktem Blick einzuwerfen und verschränkte ihre Finger ineinander, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Das wird Fricke machen.“ Lucardis musterte das schüchterne Mädchen erstaunt.

„Der muss doch mit Haug den Wein zum Alemann schaffen“, hauchte dieses jetzt nur noch, scheinbar über seine eigene Rede entsetzt.

Überrascht wandten alle ihre Aufmerksamkeit der jungen Spülmagd zu. Die wurde wieder einmal zur grauen Maus, deren Augen nach dem nächsten Schlupfloch spähten. Niemand hätte ihr zugetraut, dass sie für mehr als ihre Spülküche und Töpfe und Pfannen Interesse hegte. Nun ja, vielleicht noch für das nächste Schlupfloch. Aber dass sie die Arbeitszusammenhänge durchschaute und sich darüber Gedanken machte, nötigte nun doch allen eine Portion Achtung ab.

„Gut gemacht, Lina.“ Das Lob der Hausherrin ließ das Rot auf Linas Wangen in ein durchsichtiges Blass wechseln, so dass man schon befürchten musste, sie würde gleich in Ohnmacht fallen.

Doch Martha tätschelte ihr die Hand und erneut huschte ein scheues Lächeln über das Gesicht des Mädchens. Den Blick von ihren Fingern zu lösen, wagte sie trotzdem nicht

„Also, Haug und Fricke liefern den Wein aus. Und ich bitte mir Höflichkeit aus.“ Ein mahnender Blick traf Haug. „Nicht dass der Alemann sich wieder beschwert, du hättest seinen Knecht mit dem Fass an die Wand gedrückt, dass der drei Tage nicht arbeiten konnte.“

„Dann soll der spillerige Kerl mir nich immer zwischen die Füße rumrennen“, knurrte der Gescholtene.

„Keinen Ärger mit dem zukünftigen Bürgermeister!“

2. Kapitel

Hildegard streckte sich gähnend und hätte am liebsten die Decke über die Ohren gezogen. Das Läuten der Glocken zur Prim zeigte das Ende der Nacht an. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber ein erstes Dämmerlicht tauchte die Kammer in ein schummriges Licht. Nur noch wenige Wochen und es würde beim Läuten zur ersten Tagesstunde zappenduster sein.

Aber es half ja alles nichts. Heute stand ein arbeitsreicher Tag an. Und gemeinsam mit diesem Gedanken stellte sich sofort ein anderer ein, der für einiges Unwohlsein sorgte. Der Russe. Würde er sie und die Freundin wohl erkennen? Vorausgesetzt, es war der, welchen sie auf dem Schiff gesehen hatten.

Gestern Abend hatte sie mit Irmelin noch lange hin und her geredet, wie sie sich verhalten sollten. Einfach so tun, als würden sie ihn nicht kennen? Oder ihn wütend anstarren, weil sein Schiffsvolk sie belästigt hatte? Oder sich krank melden und den Fuß heute nicht aus der Kammer hinaussetzen? Nein, Letzteres ging gar nicht. Würde es doch bedeuten, dass sie Martha und Frau Lucardis mit all den Arbeiten allein lassen würden. Nein, das konnten sie nicht tun.

Und vielleicht würde dieser Bär, mit dem sie heute das Mahl teilen sollten, ein ganz anderer sein, als der von der Bucht am Brückentor.

Nach einem schnellen Morgenmahl machten sie sich zeitig auf den Weg zum Markt.

Einige letzte Schwalben hatten sich auf dem First der Tordurchfahrt zusammengefunden. Vor etwa zwei Wochen hatte Martha des Morgens vor sich hingemurmelt: „An Mariä Geburt fliegen die Schwalben wieder furt.“ Wenige Tage später waren die Nester, die sich im Pferdestall dicht unter der Decke an die Wand schmiegten, verlassen. Die Natur bereitete sich auf die kalte Jahreszeit vor und die Menschen taten es ihr nach. Aber noch nicht an diesem Tag. Das sonnige Wetter hatte sich gehalten. Schäfchenwolken zogen in Bändern über den Himmel und versprachen weitere trockene Tage.

Nur wenige Schritte und schon waren sie im dichtesten Marktgetümmel. Je näher die Herrenmesse rückte, umso mehr Menschen zog die Stadt an. Fast hatte man den Eindruck, die Einwohnerzahl habe sich verdoppelt. Nicht nur Kaufleute, Fernhändler und allerlei fahrendes Volk waren in die Stadt geströmt. Nein, auch Scharen von Pilgern von weit her trugen das Ihre zu den kaum noch passierbaren Straßen und Plätzen bei.

In drei Tagen zum Mauritiustag fand die große Heiltumsweisung statt. Die Schädelreliquie des Heiligen Mauritius, des Schutzpatrons Magdeborchs, und andere anbetungswürdige Heiltümer würden in prunkvollen Prozessionen durch die Straßen der Domfreiheit getragen werden.

Immer wieder hielt Hildegard unter den Pilgern Ausschau, ob sie ein bekanntes Gesicht erspähen würde. Aber nein, alle die Gestalten in den Kutten, mit breitkrempigem Pilgerhut, Wanderstab und Pilgertasche über der Schulter, waren ihr unbekannt.

Martha schritt mit einem großen Korb am Arm zielsicheren Schrittes voraus. Hildegard und Irmelin folgten mit nicht minder großen Körben. Nach und nach wanderten allerlei schmackhafte Zutaten dahinein. Gern hätten die beiden an dem einen oder anderen Stand eine kleine Pause eingelegt, aber der Köchin zügiges Ausschreiten ließ ihnen auch nicht die kleinste Gelegenheit dazu.

Keine noch so lautstarke oder wortgewandte Anpreisung von Ware, keine noch so verlockenden Düfte nach Schmalzgebäck und gerösteten Mandeln ließen die Köchin innehalten. Einem vorwitzigen Kerzenzieher, der es wagte, sie beim Ärmel zu packen und zu seinem Stand ziehen zu wollen, klopfte sie schmerzhaft auf die Finger. Die leise Verwünschung, die er ihr nachsandte, beeindruckte sie ebenso wenig, wie das nächtliche Kläffen eines Hundes je den Mond von seiner Bahn abbringen könnte.

An den Fleischscharren hatte Martha schon den fetten Rücken eines jungen Hammels und den eines zarten Lamms in den Körben der jungen Frauen verstaut, dazu Zwiebeln und ein Säckchen Erbsenschoten.

Nun ließ sie sich vom Geflügelhändler mehrere Gänselebern in einen mitgebrachten Tontopf füllen, den sie im eigenen Korb verstaute.

Bei den Brotbänken prüfte sie dann gewissenhaft die angebotenen Brotteller. Sie mussten fest genug sein und durften keine Poren aufweisen. Ansonsten sickerten Soßen und Bratensaft hindurch und verdarben das Tischtuch. Nach dem Mahl würden die mit fettiger Soße vollgesogenen Brotteller an die Bettler verteilt werden, die auf dem Markt oder an der nahen Johanniskirche immer Ausschau nach einem nahrhaften Bissen hielten.

Am Stand des Bäckermeisters Nürnberger fand sie schließlich, was sie suchte. Während der Geselle Martha acht Brotteller in den Korb schichtete, bewachte der zwölfjährige Hinner die Backware gegen Langfinger. Er grinste Hildegard an und die grinste zurück. Sie waren alte Bekannte und die junge Frau hatte schon manchen Kuchen, den ihr die Bäckersfrau zugesteckt hatte, mit dem ewig hungrigen Lehrjungen geteilt.

Martha sinnierte mitten im größten Gedränge kurz, ob sie nun alles beisammen habe, entschied sich noch für ein Töpfchen frischen Rahm und nickte dann zufrieden. Der erfolgreichen Kocherei stand nun kein Mangel im Wege.

Eben wollte die Köchin den Heimweg antreten, als sie abrupt stehenblieb. Mit zusammengekniffenen Augen starrte sie zum Rolandstandbild hinüber. Sie erhob sich sogar ein wenig auf die Zehen, um besser sehen zu können. Ohne ein Wort zu sagen, strebte sie dann dem Denkmal zu, wohl wissend, dass die Jungfern ihr folgen würden.

Irmelin warf Hildegard einen fragenden Blick zu, doch die zuckte nur die Schultern. Neugierig schlossen sie zu Martha auf, bevor die Gasse, die die ältere Frau in das Gedränge pflügte, sich wieder schließen konnte.

Vor dem Standbild hatte sich ein Menschenauflauf gebildet. Mittelpunkt war der einachsige Karren eines fahrenden Händlers. Der dunkelgrüne Kastenwagen war mit allerlei schwarzen und roten Fabelwesen bemalt. Geflügelte Drachen verfolgten sich windende Schlangen, die ihrerseits zappelnde Affen umschlungen hielten und ihre spitzzahnigen Mäuler aufrissen. Über allem schwebte ein weißes Einhorn, das die Drachen-, Schlangen- und Affenbrut unter seinen Hufen zu zerstampfen trachtete. So empfand es jedenfalls Hildegard. Ein anderer mochte anderes in die Bilder hineindeuten.

Der langaufgeschossene Händler, dessen Alter wohl irgendwo zwischen dreißig und vierzig lag, hatte die hintere Tür des Wagenkastens ausgehängt und mithilfe von zwei Schragen als Verkaufstisch aufgestellt. Mit flinken Händen baute er darauf kleine Tontiegel, nicht größer als eine Kinderfaust, auf. Seine Kleidung wäre eines wohlhabenden Bürgers würdig gewesen, wenn sie nicht schon vor zehn oder mehr Jahren im mottenzerfressenen Beutel eines Almosenpflegers gelandet wäre.

Jetzt wandte er sich seinem Publikum zu, breitete die Arme aus und erhob seine kräftige Stimme: „Theriak, liebe Leute, reinster Theriak nach der Rezeptur des Emirs von Cordoba. Theriak gegen Pest und rote Ruhr, gegen Haarausfall und Schwermut, gegen Verdauungskümmernisse und Anfallsleiden.“ Flinke, kluge Augen huschten hin und her und gaben ihm den Anschein von Verschlagenheit.

Er machte eine kleine Pause, nahm in jede Hand ein Tiegelchen und bot es seiner Zuhörerschaft dar. Hoffnungsvoll sah er in die Runde. Stetig schweifte sein Blick aus fast schwarzen Augen, die in seltsamem Kontrast zu seinen grauen, wirren, schulterlangen Haaren standen, über die Menge, als hielte er nach irgendwem oder irgendetwas Ausschau.

Martha schob sich weiter vor. Die Maiden folgten.

Noch zögerten die Umstehenden zuzugreifen. Doch der Theriakhändler gab nicht auf. Wer genau hinsah, konnte die winzige Spur von Verzweiflung sehen, die durch sein hageres Gesicht huschte. Doch gleich straffte sich seine Gestalt wieder und er setzte die fröhliche Anpreisung seiner Ware fort.

„Gefährliche Reisen zu Wasser und zu Lande habe ich auf mich genommen, die Länder der Mauren und Sarazenen bereist, um euch, liebe Leute, dieses Wunder der Arzeneienkunst zu bringen. Reinster Theriak, auch gegen Furunkel aufzutragen.“

Martha machte einen schnellen Schritt nach vorn, Hildegard und Irmelin folgten.

„Gegen Sommerfieber und Winterhusten entfaltet diese Medizin seine wundertätigen Heilkräfte.“

Schon wollten sich die ersten abwenden, als ein schauerlicher Schrei sie zusammenfahren ließ. Unweit der Stelle, wo die drei Frauen standen, wichen die Leute angstvoll zurück. Ein breitschultriger Bursche rempelte Hildegard an, so dass sie gestürzt wäre, hätte er sie nicht rechtzeitig am Arm gepackt und wieder auf die Beine gezogen.

„Entschuldigt, edle Frau.“

„Witho, was machst du denn hier?“ Unbewusst war sie wieder zum vertrauten ,Du‘ übergegangen. „Bist du heute zum Marktaufseher abkommandiert?“ Ein Lächeln huschte über ihr Antlitz. Dann besann sie sich, wie er sie am gestrigen Tag angefahren hatte und ihr Blick wurde kühl.

„Oh, Jungfer Hildegard, ich hatte Euch nicht erkannt.“

„Ach, und wenn du mich erkannt hättest, dann hättest du mich in den Straßenschmutz fallen lassen?“ Sich über die eigenen schroffen Worte ärgernd, biss sich Hildegard auf die Lippen.

Witho stieß nur einen unwilligen Laut aus und wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Schauspiel zu, das sich unweit von ihrem Standplatz zutrug. Dort, wo vor Kurzem der gepeinigte Schrei erklungen war, schob sich durch eine Gasse, die die Zuschauer gebildet hatten, ein Bündel Mensch auf allen Vieren vorwärts. Immer wieder zusammensinkend, sich in Zuckungen windend und mit Schaum vorm Maul schob sich der Elende näher und näher dem Wagen des Theriakhändlers.

Witho stutzte, beugte sich etwas vor und grinste. Abweisend musterte ihn Hildegard.

„Was erfreut dich so an der Pein dieses armen Mannes?“

„Wartet ab.“

Flehend streckte jetzt der Kriechende seine Hand gegen den Händler aus.

„Bitte, ehrwürdiger Mann, habt Erbarmen. Nur ein ganz klein wenig Eurer Arznei“, flehte er mit ersterbender Stimme.

Der Theriakhändler hob ablehnend die Hände und schüttelte heftig den Kopf.

„Nur gegen Bezahlung, ich muss Weib und Kinder daheim ernähren.“

„Nun gib ihm schon eine Probe, Alter. Wir wollen sehen, wie es wirkt.“ Der städtische Medicus Tiele Alemann, studierter Spross der weitverzweigten Patriziersippe der Alemanns, hatte sich rücksichtslos vorgedrängt. Mit herabgezogenen Mundwinkeln musterte er den zerlumpten Händler.

„Nein, nein, edler Herr, das geht wirklich nicht.“ Unstet irrten die Augen des Händlers hin und her und seine Finger umkrampften sich.

Die elende Kreatur war indes bis auf Armeslänge herangekommen. „Versagt einem Sterbenden nicht Euren hilfreichen Beistand“, jammerte sie krächzend.

„Was zögerst du noch, hilf dem Krüppel.“ Der Medicus schnippte dem Theriakhändler siegessicher eine kleine Münze zu. „Oder verkaufst du nur Straßendreck gerührt in Maultierpisse.“ Höhnisch wies er mit dem Kopf auf das magere Maultier, das im Geschirr des Wagens den Kopf fast bis aufs Straßenpflaster hängen ließ.

Was blieb dem Händler nun anderes übrig. Gab er dem Sterbenden nicht vom Theriak, würden ihn die Zuschauer einen Quacksalber heißen und seinen Wagen und seine Tiegel zerschlagen. Gab er ihm etwas, würden sie ihn auch einen Quacksalber heißen und Wagen und Tiegel zerschlagen. Denn dass sein Kräuterbrei bei jemandem, der schon in den letzten Zügen lag, helfen würde, wagte er nicht zu hoffen.

Einen letzten Versuch dem Unheil zu entgehen, unternahm er noch: „Es wirkt nur, wenn man es über längere Zeit regelmäßig anwendet.“

„Genug der Ausreden, Alter.“ Der Medicus griff sich einen Tiegel, öffnete ihn, fuhr mit der Spitze seines Dolches hinein und hielt ihn dem auf dem Pflaster Liegenden hin. „Schneid dir aber nicht die Zunge ab. Die lässt Maultierpisse nämlich nicht nachwachsen.“

Beifälliges Lachen und angespanntes Geraune der Umstehenden bestärkte den Medicus in seinem Tun.

Gleichwohl, wenn es um Leben oder Tod ginge, würde das einfache Volk doch eher den Bader holen oder sich in der Dämmerung zu einer der Kräuterfrauen schleichen, die vor den Toren der Stadt verborgen im Wald oder in der Heide lebten.

Mit zitternder Hand wischte der Beschenkte mit zwei Fingern die Paste vom Dolch und leckte diese dann gründlich ab.

Langsam schob sich der Händler zurück. Wenn er schon nicht Wagen und Tiegel retten konnte, wollte er wenigstens das eigene Leben in Sicherheit bringen. Doch auch daraus wurde nichts. Kräftige Handwerkerhände griffen nach ihm und schoben ihn zurück in den Kreis der Zuschauer.

„Nur nicht so bescheiden“, spottete der Medicus.

Ein spitzer Schrei zu ihren Füßen veranlasste alle, ihre Aufmerksamkeit wieder dem Leidenden zuzuwenden. Dessen Krämpfe wurden heftiger, seine Arme und Beine strampelten über die Steine. Dann ein letztes Aufbäumen. Mit einem pfeifenden Laut sackte er zusammen und tat keinen Mucks mehr.

Ein gequältes Aufstöhnen ging durch die Menge. Sie rückte näher an den Händler heran. Dessen Augen suchten verzweifelt nach einem Fluchtweg. Schon griffen erste Hände schmerzvoll nach ihm.

Doch was war das? Der soeben Verstorbene begann erneut zu zucken, zog röchelnd die Luft ein. Jetzt erhob er sich gar auf die Knie, keuchte zum Gotterbarmen und spie schließlich einen haarigen, schleimigen Klumpen in den Straßendreck. Dann, oh Wunder, richtete er sich vollends auf, machte ein paar torkelnde Schritte und fiel dem Theriakhändler schließlich aufschluchzend um den Hals. Dankesworte stammelnd drückte er dem verblüfften Händler die Hände, straffte die Schultern und schritt mit noch immer unsicheren Beinen davon.

Nun gab es für die Zuschauer kein Halten mehr. Im Handumdrehen hatte der Händler an die zwölf Tiegel verkauft. Auch Martha erstand einen und nun endlich machten sie sich auf den Heimweg.

Wie selbstverständlich blieb Witho an Hildegards Seite und bot ihr gar an, ihren Korb zu tragen. Zuerst zögerte sie, doch dann dachte sie: Pah, warum nicht?

Außerdem zwickte sie die Neugier. Woher hatte Witho wohl gewusst, dass dort auf dem Markt ein kleines Wunder geschehen würde? Um diese Neugierde zu stillen, schob sie auch gern den Groll auf ihren Begleiter zur Seite. Zumindest vorübergehend.

„Es scheint dich nicht verwundert zu haben, dass der Theriakhändler derart heilkräftige Tinktur zu verkaufen hat.“

Witho lachte auf und seine Augen blitzten sie von der Seite her an. „Der Leidende war mir kein gänzlich Unbekannter.“ Zufrieden mit sich ob dieses Satzes reckte er die ohnedies schon breiten Schultern. Immer besser gelang es ihm, sich in gepflegter Sprache auszudrücken.

„Nu ja, du kommst in der Stadt sicher weiter herum als ich. Grässlich, wie der arme Kerl sich plagen musste.“

„Der arme Kerl musste sich gewiss nicht plagen. Ich vermute eher, dass er seine helle Freude an seiner Plage hatte.“

„Wie kannst du nur so herzlos sein? Der Dienst bei den groben Stadtwächtern tut dir wahrlich nicht gut. Als du deinen Freund Oleg Buntauge damals in unseren Konvent getragen hattest, dachte ich wirklich, es wäre dir zu Herzen gegangen, dass die Mordbuben dem armen Jungen ein Auge ausgestochen hatten.“ Hildegard hatte sich in Fahrt geredet und unternahm einen Versuch, Witho den Korb zu entwinden. Von so einem rohen Kerl wollte sie sich nicht helfen lassen.

Doch der schlenkerte den schweren Korb mit Leichtigkeit aus ihrer Reichweite und erwiderte nun ebenfalls eine Spur erzürnt: „Oleg ist nicht nur mein Freund, er ist mir wie ein jüngerer Bruder und nach wie vor besuche ich ihn ein, zweimal die Woche bei den Barfüßern. Doch dieser Bursche dort eben, braucht Euer Mitgefühl nicht. Das war Gaukler und all sein Leiden entsprang seiner großen Kunst, sich zu verstellen und andere an der Nase herumzuführen."

„Was? Du meinst, der Theriakhändler führt einen Gaukler mit sich, um mit ihm ein betrügerisches Schauspiel aufzuführen?“ Hildegard war aufs Äußerste entrüstet, ob des Missbrauchs ihrer Anteilnahme.

„Nein, nicht irgendein Gaukler. Dieser hier ist ein Freund von mir mit Namen Gaukler. Er gehört zu den Straßenjungen, bei denen ich und meine Schwester eine Zeitlang lebten, bevor der Ratsmann mich bei den Stadtwächtern unterbrachte.“

Hildegard verstand. Dass ihr Begleiter, nachdem er und seine Schwester ihrem Grundherren entflohen waren, anfangs in Magdeborch bei den Straßenkindern gelebt hatten, wusste sie. Was sie lieber nicht wissen wollte, war, wie diese Kinder und Halbwüchsigen ihren Lebensunterhalt verdient hatten.

„Was mir aber nicht ganz klar ist“, fuhr Witho nachdenklich fort, „warum hat Gaukler dem Theriakhändler geholfen. Denn der wusste nichts vom Schauspiel seines Kunden.“

„Stimmt“, pflichtete Hildegard ihm bei, „dazu war er viel zu sehr darauf bedacht, deinem Freund seine Medizin zu verweigern. Hast du auch bemerkt, dass er sich sogar aus dem Staub machen wollte?“

„Ich werde Gaukler bei Gelegenheit fragen.“

„Ach, zieht es den Herrn Stadtwächter noch immer zu den Lumpenkindern und Tagedieben?“ Die Frage klang spöttischer als sie gemeint war. Hildegard biss sich erneut auf die Unterlippe, denn schon bereute sie den Vorwitz ihrer spitzen Zunge.

„Diese Lumpenkinder und Tagediebe, wie ihr sie nennt, sind meine Familie. Aber das könnt Ihr ja nicht wissen. Was wisst Ihr überhaupt vom Leben, die Ihr behütet bei den Beginen aufgewachsen seid?“ Sprach's und knallte Hildegard den Korb vor die Füße. „Und im Übrigen hat Euch eines dieser Lumpenkinder das Leben gerettet und dafür ein Auge eingebüßt.“

Witho blitzte Hildegard dermaßen wütend an, dass sie einen Moment befürchtete, er würde sie packen und schütteln. Doch schloss und öffnete er nur mehrmals die Fäuste, bevor er sich abrupt abwandte und kurz darauf hinter einem Ochsenkarren verschwand.

Eigentlich hatte Witho ihr noch sagen wollen, dass sie nun gleich alt waren, denn heute, drei Tage vor Sankt Mauritius, war sein siebzehnter Geburtstag. Doch das war nun undenkbar. Wütend schubste er einen sich auf zwei Krücken dahinschleppenden Burschen zur Seite. Den kannte er auch. Der würde heute Abend fröhlich pfeifend seine Almosenausbeute zählen. Von Lahmheit wäre dann keine Spur mehr. Allerdings durfte er sich nicht von Meister Hardo, dem Henker der Stadt, erwischen lassen. Der vergab die Bettelberechtigung in Form von speziellen Münzen und strich dabei seinen Anteil an den Almosen ein.

Beim Gedanken an den heutigen Abend musste Witho nun doch grinsen. Er hatte am frühen Morgen auf Geheiß des Wachführers des Brückentores einen Stralsunder Hansekaufmann zum Neuen Markt geführt. Einige Pfennige waren sein Lohn gewesen. Heute würde er endlich sein Vorhaben wahr machen und die Lustigen Forellen am Fischmarkt aufsuchen. Das war sein Geburtstagsgeschenk an sich selbst. Da konnte ihm diese hochnäsige Hildegard gestohlen bleiben.

***

„Warum musst du nur immer mit Witho streiten?“, zischte Irmelin ihr zu, als sie die Einkäufe in die Küche trugen.

„Weil er ein hochnäsiger Stoffel ist, der auch nicht den kleinsten Spaß versteht“, zischte Hildegard zurück.

„Seine Freunde als Lumpenkinder und Tagediebe zu bezeichnen war nun wirklich kein Spaß.“ Auch Irmelin war nicht erfreut, wenn jemand sie an ihre Dienste als Magd auf der väterlichen Burg erinnerte. „Vielleicht vermisst er es, dass du ihn im Schreiben und Lesen unterwiesen hast“, versuchte sie zu vermitteln.

„Ja, und wie soll das gehen? Meinst du, Frau Lucardis hätte ihre Freude daran, wenn der Stadtwächter in ihrem Haus ein und aus ginge, um sich von mir unterrichten zu lassen? Oder soll ich mich mit ihm im Pferdestall der Stadtwache treffen?“

Bevor Irmelin darauf eine Antwort geben konnte, verteilte Martha die weiteren Aufgaben. Hildegard würde sich ans Auspahlen der Erbsen machen, derweil Irmelin Liebstöckel, Majoran, Kerbel, Petersilie, Rosmarin und Minze aus dem eigenen Garten oder aus den Vorräten der Köchin im Mörser zu einer Paste verarbeiten sollte.

Martha befreite indes das Fleisch von der harten Lederhaut und den Flechsen. Die wanderten sogleich in einem Topf auf den Herd, wo eine kräftige Fleischbrühe daraus köcheln konnte.

So gingen die nächsten Stunden mit der Vorbereitung des Mittagsmahls dahin und Hildegard und Irmelin fanden kaum noch die Gelegenheit ein, zwei Worte miteinander zu wechseln, die nicht die Kocherei betrafen.

Darüber hinaus drängte ein ganz anderes Problem in den Vordergrund, von dem Hildegards Verärgerung über Witho, aber auch über sich selbst, schnell beiseite geschoben wurde. Wie sollten sie sich verhalten, wenn der Nowgoroder Gast sich als der stimmgewaltige Kaufmann von gestern herausstellte?

Kurz gab sich Hildegard der Hoffnung hin, dass sie und die Freundin womöglich gar nicht bei diesem gewichtigen Essen dabei sein würden, sondern sich stattdessen der Zubereitung der weiteren Gänge in der Küche widmen könnten. Doch diese Hoffnung zerschlug sich ebenso schnell, wie sie aufgekommen war.

Martha schickte Hildegard mit den Brottellern in die gute Stube ins erste Obergeschoss, um diese dort auf den mit zierlicher Schnitzerei versehenen und mit Bienenwachs polierten Holzbrettern auf dem Tisch zu verteilen.

Frau Lucardis überwachte das Decken der Tafel. Gerade rückte sie die Gläser aus geschliffenem Glas, die von einem Netz gehämmerten Silbers umgeben waren, zurecht. Hildegard reichte ihr die dicken, festen Brotscheiben.

Lina polierte, ohne aufzusehen, die großen feinziselierten Zinnplatten, auf denen die Speisen serviert werden sollten.

Schnell ließ Hildegard ihren Blick über den großen, eichenen Esstisch huschen. Sieben der dunkel gepolsterten Stühle mit den hohen Rückenlehnen aus sich kunstvoll verzweigenden Ranken und Blüten waren an den Tisch gerückt. Hildegard erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich auf dem weich gepolsterten Leder bei ihrem ersten Besuch im Hause Honstein wie auf einem Thron gefühlt hatte. Für sieben Personen war gedeckt. Sie schluckte.

„Ihr erwartet fünf Gäste?“, fragte sie mit einem letzten Anflug von Hoffen in der Stimme.

„Drei Gäste“, berichtigte die Hausherrin sie. „Rostislaw Jurjewitsch, seinen deutschen Handelspartner Melchior Godebus und Heideke Fewerhake.“ Sie reichte Hildegard die tönerne Aquamanile in Form eines Steinbocks. Dessen lange, gekrümmte Hörner reichten bis zum Schwanzansatz und bildeten so den Griff des Wassergefäßes für die Handwaschungen. „Jakob soll das Gefäß putzen und mit sauberem Wasser füllen. Er wird uns heute als Mundschenk zu Diensten sein.“

„Sollen Irmelin und ich während des Mahls weiterhin Martha in der Küche zur Hand gehen?“ Einen letzten Versuch war es wert, dem Zusammentreffen mit den Fremden zu entgehen.

„Fast könnte man meinen, du willst unseren Gästen aus dem Weg gehen.“

Hildegard fuhr herum und stand dem Ratsmann Peter Honstein gegenüber. Gutgelaunt grinste er sie an. Er maß nur zwei, drei Fingerbreit mehr als Hildegard und so waren sie fast auf Augenhöhe. Auch war er nicht besonders breit, trotzdem füllte die Persönlichkeit des Mittfünfzigers den Raum augenblicklich aus. Seine kräftige, volltönende Stimme trug das Ihrige dazu bei.

„Peter, du bist wieder im Keller herumgekrochen“, tadelte Lucardis ihren Gatten übertrieben vorwurfsvoll und putzte ihm mit kräftigem Klopfen staubigen Kalk von der Schulter seines burgunderroten Wamses

„Lass gut sein, Weib“, wehrte er gutmütig ab. „Du sollst nicht immer an mir herumzupfen. Wie stehe ich denn vor dem Hauswesen da?“

Dann wandte er sich wieder Hildegard zu. „Der Empfang und die Bewirtung von Gästen sind eine wichtige Lektion, die jede junge Frau erlernen muss“, dozierte er.

„Gewiss mein fürsorglicher Ehewirt, kümmere du dich um den Keller, den Wein und die Geschicke der Stadt. Die Unterweisung der Mädchen überlass mir.“ Mit diesen Worten schob sie ihren lachenden Gemahl, der Hildegard über die Schulter hinweg noch aufmunternd zuzwinkerte, durch die Tür hinaus.

Dann blieb gerade noch Zeit, sich Gesicht und Hände zu säubern, die Haare zu einem kunstvollen, seitlichen Zopf zu flechten und über ein sauberes leinernes Untergewand die blauweiße Surcotte zu streifen, welche sie auch schon am Sonntag getragen hatten. Leider besaßen sie nur dieses eine gute Gewand, das ihnen Frau Lucardis anlässlich ihres Eintritts in das Honsteinsche Hauswesen hatte anmessen lassen.

So harrten Hildegard und Irmelin in der Stube der Dinge, die da nun kommen sollten. Die Glocken hatten eben zur Sext geschlagen. Von der Fensterbank her versuchten sie durch das gelbliche Butzenglas hindurch die Straße im Blick zu behalten, um das Herannahen der Gäste nicht zu verpassen.

Trotzdem wurden sie kurz nach dem Glockenläuten der Johanniskirche durch das kräftige Pochen an der Haustür überrascht. Hildegard spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte und ihre Hände feucht wurden. Und auch Irmelins Blick erinnerte an den eines Rehs auf der Flucht.

Lina ließ die Gäste in die Diele treten, wo sie vom Hausherrn in Empfang genommen und sogleich die breite Treppe hinaufgeführt wurden.

Heideke Fewerhake ließ die Hand ein wenig neidisch über das Geländer aus kunstvoller Holzarbeit gleiten und nahm sich zum wiederholten Male vor, den Honsteiner nach dem Holzschnitzer zu befragen, der eine solche Arbeit anfertigen konnte.