Brüderchen, tanz mit mir - Antje Friedrichs - E-Book

Brüderchen, tanz mit mir E-Book

Antje Friedrichs

4,9

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Sommer 1992. Ein altes Familiengeheimnis führt Tine Korthus zurück nach Paderborn. Im Gepäck hat sie ein Fotoalbum aus dem Nachlass ihrer Mutter. Darin versteckt ist das Bild eines Säuglings. Wer ist dieses Kind? In ihrer alten Heimatstadt begibt sie sich auf Spurensuche. Doch ihre Fragen stoßen auf Ablehnung. Ausgerechnet auf Libori holen die Schatten der Vergangenheit sie ein, und Tine gerät in große Gefahr.

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Antje Friedrichs

Brüderchen tanz mit mir

Paderborn Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

Prolog

Es hockt auf dem Boden und starrt den Ausguss an. Das Becken war einmal weiß. Wo die Emaille abgeplatzt ist, kommt das Schwarze hervor.

Ich bin böse, denkt das Kind.

Das Abflussrohr ist voller Staub, darunter lauern die Spinnen. Wie das Rohr sich krümmt, bevor es in der Wand verschwindet.

Ich bin schuld, denkt das Kind.

»Nun komm doch da weg«, sagt die Mutter. Sie kippt den Eimer aus, es gurgelt und rülpst, bis in die Wand. Und wenn der Schmutz wieder hochkommt aus der Tiefe?

Die Mutter ist schön, wenn sie ausgehen will. Ihre Lippen sind geschminkt, ihr Kleid hat keine Ärmel. Das Kind mag es, wenn die nackten Arme der Mutter zu sehen sind, so rosigund fest. Auf ihrer Brust leuchten knallrote Blumen. Die Mutter geht oft aus. »Du bist doch schon groß«, sagt sie. »Wenn du Hunger hast, das Essen steht im Backofen. Und du lässt niemanden rein, hörst du!« Dann fällt die Tür ins Schloss.

Die Schüssel im Ofen brennt wie Feuer. Das Kind lässt sie fallen, so dass sie auf den Küchenfliesen zerbricht. Es holt den Putzlumpen und wischt und wischt, doch die Spur in den Fugen bleibt. Der Hunger auch.

»Was hast du nun schon wieder angestellt!«, ruft die Mutter, als sie spät am Abend heimkommt. Ihre Arme fest und rosig wie nie. »Kannst du denn nicht aufpassen?« Sie sammelt die Scherben vom Boden auf, ihre Fingernägel glänzen blutrot. »Es ist doch immer dasselbe«, schimpft sie. »Dich kann man eben nicht allein lassen. Nichts als Arbeit hat man mit dir. Ein bisschen Leben, ist das denn zu viel verlangt? Aber kaum kommt man nach Hause …« Sie bläst sich eine Locke aus der Stirn. Ihr starkes schwarzes Haar.

Ich mache alles kaputt, denkt das Kind. Allein im dunklen Flur, vor dem Ausguss mit dem Rohr, das sich krümmt vor so viel Schmutz.

Manchmal träumt es davon, nicht mehr allein zu sein. Wie Hänsel und Gretel. Oder Brüderchen und Schwesterchen. Was macht mein Kind, was macht mein Reh, jetzt komm ich noch einmal und dann nimmermehr. Ein kleiner warmer Körper an seiner Brust.

Aber schwer ist er. Zu schwer.

Du weißt schon, was du getan hast.

Du bist böse.

Du bist schuld.

Auf den Grund gehen

Schon der Wald kam ihr bekannt vor. Als der Zug über den Viadukt fuhr und sie auf die Bäume hinunterschaute, schlug ihr Herz schneller, sie konnte nichts dagegen tun. Nach Hause kommen? Als ob sie jemals nach Hause kommen würde.

Unten lagen Wege im Sonnenlicht. Ein Bach schlängelte sich glänzend durch das Tal, grün leuchteten die Wiesen. Dann öffnete sich das Land, breitete sich aus. Dieser weite Blick! Felder, Gehöfte, vereinzelt noch, am Horizont schon die Stadt: Dächer und Türme, wie zum Hohn auch siestrahlend in der Sonne.

Ihr Herz stolperte, jagte weiter, und noch immer schnürte ihr etwas die Kehle zu.

»Mit uns, das wird doch nichts mehr. Das hat alles keinen Sinn mehr«, hatte Thomas gesagt. »Was ist los mit dir? Fahr hin und geh der Sache auf den Grund!«

Wie gelähmt hatten sie nebeneinandergelegen. Nichts ging mehr. Knapp zwei Jahre hatte es diesmal gedauert, und sie war schuld. Wie immer.

Die beiden jungen Männer auf der Bank gegenüberpackten ihre Bücher zusammen und griffen nach ihren Rucksäcken. Studenten, die in einer anderen Welt lebten als sie. Auch sie hatte einmal dazugehört, aber das war vorbei. Wenn sie nach Berlin zurückkam, würde sie sich einen Job suchen müssen. Vielleicht wäre in der Stadtteilbibliothek etwas möglich, wenigstens für den Anfang. Dort, wo sie eigentlich einmal als Bibliothekarin arbeiten wollte. Jetzt konnte sie froh sein, als Hilfskraft hinter dem Tresen zu stehen und für Ordnung in den Regalen zu sorgen. Alles in Reih und Glied, in Reih und Glied.

Aber erst einmal musste sie Ordnung in ihr eigenes Leben bringen. Und hier musste sie damit beginnen, sonst würde sie in Zukunft gar nichts mehr auf die Reihe bekommen. Ohnmächtig für immer.

Fahr los, geh der Sache auf den Grund! »Aber pass auf dich auf, Tine«, hatte Marion gesagt. »Ich würde ja mitkommen, wenn du …«

Ein rührendes Angebot, das sie nicht annehmen konnte. Ihre Freundin hatte mit sich selbst genug zu tun. Sie war frisch verliebt, und ihr Neuer wollte unbedingt mit ihr nach Südfrankreich reisen. Die Liebe ging vor.

Der Zug war voll. Helle Farben überall. Bei den Alten dominierte Beige, die Jüngeren gaben sich bunter. Viele Frauen in Neonzeug, das den Augen wehtat. Tine musste wegschauen, damit ihr nicht schwindelig wurde. Dann wieder knallrote Blumen auf einem Top, das sich über dem Busen spannte. Auch da schaute sie lieber weg, hinaus aus dem Zugfenster.

Die Stadt am Horizont kam unaufhaltsam näher. Noch fuhren sie durch Äcker und Wiesen, an Hecken vorbei, als ihr rechter Hand eine Leiter an einem Apfelbaum auffiel. Nein, das war ein verkappter Hochsitz. Anstatt Äpfel zu pflücken, knallte man das Reh ab, das arglos aus dem Wald heraustrat.

Täuschung überall. Gewalt. Und Tod.

Das Herz ist ein einsamer Jäger. Ein schöner Satz, den sie nie vergessen würde. Aber hier war sie nicht im amerikanischen Süden, sondern in Ostwestfalen, unterwegs zur »Metropole des Hochstifts«, die – wie es in der Schlagzeile des aktuellen Anzeigenblättchens vom 27. Juli 1992 hieß, das neben ihr auf der Bank liegen geblieben war – bereit war »für die fünfte Jahreszeit«!

Sie sah es schon von Weitem: Aus den Luken des Domturms züngelten helle Fahnen. Gelbweiß, erinnerte sie sich, die Festtagsfarben. Libori. Ein Wort, das nach Kindheit klang. Komm, wir gehen auf Libori!

Menschen über Menschen, und sie selbst im Gedränge, tief unten wie auf dem Meeresgrund. Riesen um sie herum. Jemand hebt sie hoch, damit sie besser sehen kann: Männer in dunklen Gewändern mit komischen bestickten Kappen auf dem Kopf bahnen sich ihren Weg durch die Menge, auf den Schultern etwas Schweres, Goldenes tragend, das vorbeischwankt. Eine Schatztruhe! Weihrauch weht herüber.

Ihre Hand in einer anderen, größeren Hand.

Libori. Eine spitze Tüte mit blauen Sternchen darauf, gebrannte Mandeln. Krachend splittern sie im Mund. »Nicht beißen, das macht die Zähne kaputt!« Und jetzt ein Los an der Bude mit den Puppen in Reih und Glied und den riesigen Teddybären! »Das ist zu teuer, komm hier weg!«

Aber einmal Karussell fahren, einmal! Sie darf in ein Auto klettern, knallrot glänzt sein Lack, stolz dreht sie am Steuerrad und drückt auf die Hupe, damit die Gestalt am Rand ihr lachend zuwinkt.

Viele Jahre später die Stimme eines Mannes, wütend: »Verdammt noch mal, was ist denn los? Warum willst du nicht ans Steuer? Dann kannst du den Führerschein doch gleich abgeben. Da bitte ich dich einmal, mich zu fahren – und jetzt? Wozu hab ich dich denn mitgenommen!« Der Mann konnte ausrasten, wenn er getrunken hatte.

»Ich kann nicht. Ich kann nicht.«

Aber damals auf dem Karussell, fröhlich hupend, unbekümmert in dem knallroten Ding. Und die Großmutter am Rand.

Ein anderes Bild schob sich darüber. Sie selbst am Steuer, ein Ferienjob bei einer Buchhandlung. Sie soll Bücher vom Großhändler abholen und gleich weiter zu Kunden bringen. Plötzlich geht nichts mehr. Rechts ran und anhalten. Schweißausbruch, Atemnot. Alles dreht sich. Schluss.

»Ja, haben Sie denn nun den Führerschein oder nicht?« Die Stimme ihres Chefs ist nicht wütend, nur total verständnislos.

Was sollte sie ihm erzählen? Das war doch viel zu persönlich. Er wollte eine Person, die ihm die Bücher transportierte, weiter nichts. Was sich in deren Psyche oder sonst wo abspielte, konnte ihm egal sein. Die Konkurrenz saß ihm im Nacken. Direkt nebenan hatte gerade eine dieser großenKetten eröffnet, was kümmerte ihn Christine Korthus, die kleine Studentin, die bei ihm jobbte. Was sollte sie ihm von der Fahrstunde erzählen, der hatte mit sich selbst genug zu tun.

Sie erinnerte sich noch genau an den Jungen auf dem Bürgersteig, drei, vier Jahre alt. Er trottete neben der Mutter her, die einen Buggy mit einem kleineren Kind schob. Und Tine sah, wie der Junge vom Bürgersteig hüpfte, genau vor ihr Auto, vor die Räder.

Sie trat auf die Bremse, der Wagen stoppte so abrupt, dass sie in dem Gurt nach vorne gerissen wurde, und ihr Fahrlehrer schnauzte: »Was soll das denn?«

»Das Kind«, stammelte sie. Im Rückspiegel sah sie, wie der Junge an der Hand seiner Mutter weiterzockelte.

Bill, ihr Fahrlehrer, war nur grob, wenn er sich selbst erschrocken hatte. Jetzt legte er ihr die Hand aufs Knie. »Immer mit der Ruhe, Chris. So schnell passiert nichts, da pass ich schon auf.«

Sie mochte Bill. Die Hand auf dem Knie hatte sie nicht gestört, im Gegenteil. Sie hatte immer schon eine Schwäche für Männer gehabt, die den Ton angeben konnten. Wenn einer sich väterlich gab und ihr zeigte, wo es langging, wurde sie schwach. Sie musste nur tun, was er von ihr wollte, und es war gut. Sogar ihren Ordnungstick hatte sie dann im Griff. Für kurze Zeit.

Draußen zog schon der Straßenverkehr vorbei, an einem Bahnübergang warteten Autos auf beiden Seiten der Schranke. Auch Frauen am Steuer.

Ja, sie hatte den Führerschein bekommen. Wenn Bill sagte, da sei kein Kind auf der Straße, dann war da auch kein Kind. Basta. Das kriegen wir hin, war sein Lieblingsspruch.

Wenig später aber war diese Panik wieder da, die Panik am Steuer. Die Angst, ein Kind zu überfahren, ein Kind, das die anderen nicht sehen konnten, nur sie selbst. Das plötzlich auf die Straße lief, hinter dem geparkten Auto hervor, das Kind, das an ihrem Auto abprallen, durch die Luft gewirbelt würde, die kleinen Glieder verrenkt, und das nur noch daliegen würde. Still geworden. Bleich und still.

Und sie war schuld.

Gefunden

Der Zug fuhr in den Bahnhof ein. »Paderborn, Paderborn, der Zug endet hier!« Die Frauenstimme aus dem Lautsprecherhatte keinerlei ostwestfälischen Anklang. »Paddaboan, Paddaboan, der Zuch endet hier!«, so kannte Tine das noch von früher, doch jetzt war bei der Bundesbahn wohl steriles Hochdeutsch angesagt. Damit niemandem mehr seine Herkunft anzumerken war? Plötzlich wurde ihr bewusst, dass sie dem Wort »Heimat« ausgewichen war. Es lauerte irgendwo im Hintergrund und zog den Kopf ein. Bloß nicht auffallen oder gar vorpreschen!

Sie hatte ihren Besuch nicht angekündigt, niemand erwartete sie.

Das Transportband für das Gepäck funktionierte nicht. Sie schleppte ihre Reisetasche also die Treppe vom Bahnsteig hinunter in die Unterführung, wo LIBORI 1992 sie von bunten Plakaten ansprang: Riesenrad und Pfauenfeder, dieses

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