Die Langeoog Lektion - Antje Friedrichs - E-Book

Die Langeoog Lektion E-Book

Antje Friedrichs

4,5

  • Herausgeber: Prolibris
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2013
Beschreibung

Die Flut schwemmt einen Toten auf die Insel fürs Leben. Alles deutet auf ein Verbrechen hin, und schnelle Aufklärung ist in der Feriensaison besonders wichtig. Und wieder einmal sitzt Onno Tjaden, Kommissar in Wittmund auf der Langeoog-Fähre, um die Polizeiwache auf seiner alten Heimatinsel zu unterstützen. Als endlich die Identität des Toten ermittelt werden kann, wird schnell klar, dass das Opfer viele Feinde unter den Feriengästen hatte. Helfen die schillernden Personen - selbsternannte Ordnungshüter, verschrobene Künstlerinnen, Freizeitkapitäne, eine Rabenmutter und ein Marlboro-Mann - dem sympathischen Tjaden, den Mörder zu finden?

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Seitenzahl: 343

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Antje Friedrichs

Die Langeoog-Lektion

Langeoog Krimi

Prolibris Verlag

Handlung und Figuren dieses Romans sind frei erfunden. Darum sind eventuelle Übereinstimmungen mit lebenden oder verstorbenen Personen zufällig und nicht beabsichtigt.

Für Karl und Jochen!

Prolog

Sie setzte die Stöcke wie ein Automat: rechts, links, rechts, links ... Knirschend sanken die Spitzen in den Ebbsand ein, wie in Butter, die über Nacht im Kühlschrank gestanden hat. Es ging voran, sie tat etwas für ihren Körper. Ein gutes Gefühl. Gundi walkte. Früher war sie gejoggt. Ganz früher nannte man das Dauerlauf. Schlecht für die Gelenke, Beachwalking war besser. Wer hatte sich den tollen neuen Namen ausgedacht? Hoch im Kurs auf Langeoog. Sie schritt forsch aus, ihr Oberkörper bewegte sich im Takt. Forsch, und dabei die frische Morgenluft tief in die Lungen holen. Richtig atmen, darauf kam es an. Wer krank wurde, hatte falsch geatmet. Tief einatmen und ganz langsam ausatmen ... Und eins und zwei, und eins und zwei ...

Draußen rauschte die See. Noch lag die Sandbank nackt da, Möwen standen in langer Reihe und blickten alle in eine Richtung – wohin? Weg von der Frau jedenfalls, die war unwichtig, wo die Natur noch ganz für sich war. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Luft holen und ganz langsam ausatmen ...

Es war noch früh, erst kurz nach sieben. Kein Mensch war zu sehen. Auch keine Fußspur im Sand. Das war das Wunderbare an der See: dass sie immer wieder einen neuen Anfang macht mit jeder Flut, alle Schuld, alles Missglückte und Peinliche wegspült, als wäre es nie gewesen. Und eins und zwei, und eins und zwei ...

Wenn das im Leben doch auch möglich wäre. Immer wieder einen neuen Anfang machen. Jungfräulich. Rein.

Gundi schob ihr Stirnband hoch, das ihr fast über die Augen gerutscht war. Erste Spuren auf dem gerippten Boden, Fahrradspuren. Sie führten zum trockenen Dünenrand hinüber. Dabei konnte man im tiefen Sand doch gar nicht fahren, und schlecht fürs Rad war es auch.

Funkelnd und zischend rollte die Welle vor Gundis Füßen aus.

Wie weit war sie schon? An der Jugendherberge war sie längst vorbei, der blaue Turm der Rettungsschwimmer lag hinter ihr. Die Jugend schlief natürlich noch. Die kamen nicht aus den Betten, typisch, die lernten nicht, dass nur Anstrengung zu echter Lebensfreude führt, Anstrengung und Disziplin. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Auf der Dünenkette tauchte die Bake auf. Jeden Morgen bis zur Bake und weiter! Täglich das Pensum steigern! Bis zur Ostspitze, da war leider Schluss. Wie gern hätte sie sich gequält. Den inneren Schweinehund besiegen! Doch an der Ostspitze war alles zu Ende.

An ihrem rechten Stock war ein Stück Plastik hängen geblieben, das die Flut angespült hatte. Wohlstandsmüll, achtlos über Bord geworfen. Eine ausgeblichene Plastiktüte, in der sich Tang und Algen verfangen hatten. Sie schüttelte das ab. Und dort, nicht weit davon, lag ein Stück schwarze Plastikplane, ausgefranst von der Flut. Die gehörte zu den Sandsäcken, die man vor Jahrzehnten vergraben hatte, um die Insel zu schützen. Alles löste sich auf mit der Zeit, alles. Und eins und zwei, und eins und zwei ... Weitermachen, nicht grübeln, den Kopf frei halten ...

Plötzlich stoppte sie. Die Stöcke blieben in der Schwebe. Etwas lag vor ihr am Flutrand, ein dunkler Haufen. Schwarzes nasses Zeug, Haarsträhnen über Fleisch gekämmt, bläulich aufgedunsen, so viel Haar, dunkel von Wasser, mit Blasentang darin. Und schrecklich fremd. Gundi streckte die Hand aus, zuckte zurück. Ein Auge starrte sie an.

Sie schrie, rannte quer über den Strand, hinüber zur Dünenkette, rannte durch den nun tiefen Sand, stolperte, raffte sich auf, rannte weiter, wie blind.

Neben dem Körper lagen zwei Stöcke, gekreuzt, die Schlaufen verdreht. Darüber kreiste eine schreiende Silbermöwe.

Ein Mordswirbel

„Wer ist der Tote?“ fragte Hauptwachtmeister Küper. Er saß an seinem Schreibtisch und starrte auf den Bildschirm vor sich, doch der gab ihm keine Antwort. Der Bildschirmschoner war eingeschaltet: Küpers Traumlandschaft. Die Rocky Mountains ragten in den von der Abendsonne in Glutrot getauchten Himmel. „Du mit deiner Marlboro-Welt“, spotteten sie auf der Wache, aber Billy – sein Spitzname seit Jahrzehnten – hielt eisern daran fest. Er liebte Western. Und dass die Gerechtigkeit darin immer siegte. Also war er Polizist geworden. Schon auf der Polizeischule in Aurich hatten sie ihm den Spitznamen „Billy“ verpasst. Eigentlich hieß er Karl-Heinz, was zum Glück niemand mehr wusste. „Billy – das hat doch was! Echt!“, hatte Dennis Bode, sein junger Kollege aus Bremen, spontan gesagt, als er nach Langeoog geschickt worden war, zur Verstärkung in der Saison.

„Wer ist der Tote?“ Doch die Rocky Mountains blieben starr und stumm.

„Mach uns erst mal ‘nen anständigen Kaffee, Dennis!“, rief Billy, lehnte sich in seinem Sessel weit zurück und streckte die Beine aus. Cowboystiefel zu tragen war im Dienst leider nicht möglich.

Es war ein hektischer Morgen gewesen. Die Frau war durch die Dünen gehetzt, hatte Hasen aus der Sasse vertrieben, war von Dünenrosen und Sanddorn zerkratzt, als sie sich endlich, völlig erschöpft, zum Haus des Vogelwärters durchgeschlagen hatte. Im Schock war sie unfähig gewesen, den Fundort der Leiche anzugeben, was eine ausgedehnte Suchaktion nötig gemacht hatte. Inzwischen war der Tote nach Wittmund in die Rechtsmedizin transportiert worden.

Am Strand hatte es sich wie ein Lauffeuer verbreitet, dass eine Urlauberin aus Gütersloh – schon 68 Jahre, aber taff – beim frühmorgendlichen Beachwalken einen Toten gefunden hatte.

„Die ist direkt darüber gestolpert! Nun stellen Sie sich das vor!“

„Aufgespießt hätte die ihn beinahe! Wie so’ne Kröte. Unvorstellbar!“

„Das sind die Sandbänke. Die Leute sind ja so unvorsichtig! Da kommen die aus dem Ruhrpott hier auf die Insel, haben keine Ahnung von Ebbe und Flut, nehmen aber auch keinen Rat an. Und dann wundern sie sich, wenn sie als Wasserleiche enden!“

So tönte es von Strandkorb zu Strandkorb. Im Abschnitt J saßen einige ältere Urlauber, Dauergäste darunter, die schon von der Kurverwaltung für ihre Treue zur Insel geehrt worden waren, denn einige von ihnen kamen schon seit Jahrzehnten hierher. Früher mit ihren Kindern, nun mit Schwieger- und Enkelkindern.

Eine stattliche ältere Dame, im büstenbetonten petrolfarbenen Badeanzug mit Perlenkette und üppigen Ringen an den Händen, gab ihre Meinung lautstark kund, während ihr zarter Korbnachbar abzuwiegeln suchte: „Nicht so laut, Mäuschen!“

Doch die Frau war nicht zu bremsen. „Und dieser Aufstand! Dafür ist natürlich Geld da: Hubschrauber und alles. Wer weiß, wo der Kerl her war. Vielleicht vom Schiff gefallen irgendwo. Drogendealer oder was. Bestimmt Ausländer!“

„Ein Mensch mit Migrationshintergrund, Mäuschen!“

„Ist doch egal, wie man den nennt. Lebendig wird er davon auch nicht mehr.“

Der Tote trug keinen Ausweis bei sich und auch kein Portemonnaie. In den regionalen Fernsehnachrichten erschien eine Beschreibung: Männlich, ca. 40-50 Jahre alt, schlank, dunkles Haar, 1,82 m groß, bekleidet mit dunklen Shorts und einem schwarzen T-Shirt mit der Aufschrift: „Boss“.

„Labels übrigens rausgetrennt“, sagte Billy Küper zu seinem Kollegen. „Was auch immer das nun wieder zu bedeuten hat. Das ist doch wie bei dem Fall in England, auf dieser Themseinsel. Der Pianist oder was der nun war, der da total verwirrt am Strand aufgetaucht ist und kein Wort gesagt hat. Nur Klavierspielen konnte er, angeblich. Wenn sie den ans Klavier gesetzt haben, vergaß der alles um sich herum. Und die Labels rausgetrennt aus den Klamotten. Damit keiner merkte, wo der herkam.“ Küper nahm einen tiefen Schluck aus der Kaffeetasse. „Und wo kam der her? Aus Bayern!“

„Da ist ja wohl ein kleiner Unterschied“, belehrte ihn sein Kollege. „Unser Mann hier sagt auch nichts, aber der wird auch nie wieder was sagen, und ans Klavier setzt der sich auch nicht mehr.“

Ratlos starrten beide aus dem Fenster, als könnte von dort die Erleuchtung kommen. Auf der Straße „An der Kaapdüne“ zogen Familien vorbei, bepackt mit Badetaschen, behängt mit Bademänteln, Bollerwagen hinter sich herziehend, beladen mit Gummitieren und Kindern, hier gab es wirklich noch Kinder, alles strebte dem Strand entgegen an diesem herrlichen Sommerferientag im Juli. Ein kleiner Junge quengelte vor sich hin, dem ging es wohl nicht schnell genug. Sein Vater schwitzte schon unter der Last.

Nur nichts verpassen! Diesen Tag musste man ausnutzen, jeder Sonnenstrahl war kostbar. Und hoch oben auf der Kaapdüne thronte der Wasserturm. Frisch geweißt überstrahlte er alles, verheißungsvoll.

In der Polizeistation sah es umso trüber aus. „Hast du abgecheckt, ob es ‘ne Vermisstenmeldung gibt?“ fragte Billy Küper.

„Fehlanzeige. Jedenfalls nichts, was passen würde.“

„Lange im Wasser gelegen hat der aber nicht. Sonst sähe der noch ganz anders aus.“

„Du meinst, es könnte jemand von der Insel sein, von weit her kommt der nicht?“

„Gut möglich. Warten wir’s ab.“

Billy Küper erhob sich schwerfällig. „Ich seh schon, das wird ‘ne größere Sache.“

Das Telefon schrillte.

„Polizeistation Langeoog.“ Küpers Stimme klang plötzlich sehr amtlich, während er sich wie auf Kommando wieder setzte und Haltung annahm.

„Verstehe“, murmelte er. „Jawoll. In Ordnung ... Wiederhören.“

Er schwenkte seinen Schreibtischsessel zur Seite und fasste den Kollegen ins Auge. „Das war Wittmund, der Chef persönlich. Er schickt uns Tjaden rüber.“

„Was? Der schon wieder? Muss das sein?“

„Scheint so.“ Küper nickte ergeben. „Die haben jetzt einen ersten Befund. Unser Mann ist zwar ertrunken, Wasser in der Lunge und so weiter, aber es gibt Anzeichen für Fremdeinwirkung: einen blauen Fleck am Oberarm, wo jemand etwas gröber hingefasst hat, möglicherweise. Und daneben ein Einstich. Die Untersuchungen dauern an. Was dem Mann da per Spritze verpasst worden ist, weiß man noch nicht. Jedenfalls soll der Tjaden die Sache übernehmen. Identität klären, Spurensuche und so. Sicher ist sicher.“

Der Bremer Kollege seufzte. „Der Tjaden macht immer so einen Wirbel.“

„Das kannste laut sagen. Einen Mordswirbel, echt!“

„Der bringt alles durcheinander. Dieser Besserwisser.“

„Stimmt. Na ja, dann sind wir aus’m Schneider, soll der sich blamieren und nicht wir. Und jetzt machen wir Mittag. Mahlzeit!“

„Tjaden, Sie machen das!“

Tjaden stand an Deck. Ein diesiger Morgen, der Wasserturm war kaum zu sehen. Für einen absurden Augenblick glaubte er, auf dem falschen Dampfer zu sein – unterwegs zur falschen Insel. Alles ein großer Irrtum? Dabei war es wieder einmal die gute alte „Langeoog III“, die, mit Urlaubern übervoll, durchs Wattenmeer pflügte.

„Tjaden, Sie machen das!“, hatte ihm sein Chef, Kriminalrat Ebbo Gerken, befohlen. Widerrede zwecklos. „Sie wissen doch, wie das ist, Mann! Ein Toter am Strand, das ist nun wirklich keine Reklame für unsere Inseln. Sie sind doch da zu Hause, das muss Ihnen doch am Herzen liegen! Gleich morgen früh setzen Sie über!“

Weshalb regte sich in ihm ein leichter Widerwille? Sein Urlaub stand kurz bevor. Eigentlich wollte er in der kommenden Woche mit Maria und dem Kleinen in den Schwarzwald fahren. Onno junior sollte mal echte Berge zu sehen bekommen. Im Herbst kam er in die Schule, und die höchste Erhebung, die er in seinem Leben erstiegen hatte, war die Langeooger Melkhorndüne. 21,1 Meter über dem Meeresspiegel. Das ging nicht an, man musste dem Kind doch Gelegenheit geben, seinen Horizont zu erweitern. Richtig tiefen, dunklen Wald wie in „Hänsel und Gretel“ oder „Rotkäppchen“ kannte er auch nicht, nur das Langeooger Wäldchen. Im Zeitalter von PISA waren die Eltern in die Pflicht genommen, ihr Kind zu bilden. Ferien auf dem Schauinsland, das Kontrastprogramm zur Insel fürs Leben!

Was wusste er denn, wie lange sich dieser neue Fall hinziehen würde. Notfalls musste Maria mit dem Jungen allein fahren, oder sie mussten beide nach Langeoog kommen. Seine Mutter moserte sowieso ständig, dass sie von ihrem einzigen Enkelkind gar nichts habe. Sie wartete doch nur darauf, sich auf den Jungen zu stürzen und ihn nach Strich und Faden zu verwöhnen: mit ostfriesischem Apfelkuchen und Eis rund um die Uhr. Mit ihrem Sohn hatte sie das nie so gemacht. „Ich seh den Kleinen doch viel zu selten, Onno! Einszweidrei sind sie groß, und man hat nichts von ihnen gehabt!“

Sie? Weshalb die Mehrzahl? Es gab nur einen, und es war auch kein Zweiter in Sicht, Maria arbeitete wieder, Teilzeit zunächst. Ganz wild war sie darauf, Schülern beizubringen, was falsch und was richtig war. Sie teilte sich eben gern mit und behielt ebenso gern Recht.

Die obligatorische Bockwurst in der Hand, saß Tjaden an Deck und blickte über das Wasser. Ein junges Paar lehnte vor ihm an der Reling. Der Vater hielt das Baby in einem Öko-Tragetuch vor den Bauch gebunden, während seine Frau ihm die rechte Hand in eine Gesäßtasche seiner eng sitzenden Jeans geschoben hatte. Eine sehr intime Geste, Tjaden war irritiert. Kam da etwa Sexualneid in ihm auf? Der Mann war ein schmaler Typ, „knackig“, hätte Maria gesagt. Was wusste er denn, wie Männer auf Frauen wirkten! Die junge Frau erinnerte ihn an eine ehemalige Klassenkameradin aus Esens. Protestantisch bewegt und ungeschminkt, lief sie immer mit Klampfe, Anorak und Jesuslatschen herum. Ein weiblicher Naturbursche, falls es so etwas gab. Doch bei ihrem Klassentreffen nach 20 Jahren hatte das Mädel sich als ungeheuer sexy entpuppt. Nicht wiederzuerkennen! Auch in dieser jungen Mutter mochte ungeahntes Potenzial schlummern.

Sein Handy klingelte. Er fingerte danach, während es weiterklingelte, „Für Elise“, musste das wirklich sein? Endlich! Es steckte in der Innentasche seiner Jacke, wo es auch hingehörte. Aber dort suchte er immer zuletzt.

Der junge Vater blickte sich nach ihm um, sodass die Frau ihre Hand aus seiner Hosentasche ziehen musste. Der intime Moment war zerstört.

„Hallo?“

„Tjaden?“ Der Alte, sein Chef. Tjaden verschluckte sich an dem Bockwurstbissen, den er rasch loswerden wollte, und begann zu husten. Verdammt noch mal, nicht einmal auf der Fähre hatte er seine Ruhe.

„Tjaden? Hören Sie mich? Die Leitung ist schlecht. Hören Sie mich?“ Es rauschte, und das war nicht das Meer. Aber sein Vorgesetzter redete unbeirrt weiter. „Es spricht einiges dafür, dass der Mann vor seinem Tod auf Langeoog war. Der Pathologe meint, der Mann habe etwa zwei Tage im Wasser gelegen. Woher der Einstich am Arm stammt, wissen wir noch immer nicht, die Untersuchungen dauern an. Bisher sind die Tests alle negativ verlaufen. Manche Stoffe lassen sich nach einiger Zeit eben nicht mehr nachweisen. Klären Sie jetzt erst mal, wer der Tote ist. Wiederhören!“

Was sollte dieser Anruf? Der Chef hatte nichts wirklich Neues zu berichten, außer der Tatsache, dass es nichts Neues zu berichten gab. Wenn das als Motivationsspritze gedacht war, hatte es sein Ziel verfehlt.

Der Wasserturm war noch immer nicht zu sehen, er blieb im Dunst versteckt. Alles Vertraute schien plötzlich fremd geworden. So musste einer Wellhornschnecke zumute sein, der man das Haus zertrümmert hatte – ein Vergleich, den Tjaden sich sofort aus dem Kopf schlug.

Das Wasser war sehr grau. Langeoogs Silhouette am Horizont kam näher, lang dehnte sich die Dünenkette.

Sie fuhren in den Hafen ein. Ein Ruck ging durch das Schiff. Tjaden reihte sich in den Strom der Urlauber ein, ließ sich treiben, die Treppen hinunter zum Ausgang, hinüber zur Inselbahn, er stieg ein, ließ Wiesen, Buschwerk und Wäldchen, Reiter und Radfahrer vorbeiziehen, ohne sie wahrzunehmen, Kulisse war alles, bis er am Bahnhof ankam. Als er ausstieg, den Fuß auf die roten Pflastersteine setzte, fühlte er sich wie gestrandet. Wahrscheinlich war er nur urlaubsreif, nichts weiter.

Behütet

Geplant war es nicht, aber er hatte es nicht vermeiden können. Rein zufällig – oder war es mütterliche Intuition? – stand Mutter Tjaden gerade bei Feinkost-Behringer am Gemüsestand vor der Tür und wählte mit kritischem Blick Strauchtomaten aus, die sie so vorsichtig wie rohe Eier in eine Plastiktüte legte, als ihr Sohn, die Reisetasche geschultert, sich am liebsten ganz unauffällig hinter ihr vorbeigedrückt hätte. Dem zu erwartenden Ansturm von Mutterliebe fühlte er sich im Augenblick nicht gewachsen. Doch das war nur ein flüchtiger Impuls, und seine Mutter hatte ihn ohnehin längst entdeckt.

„Junge, was siehst du schlecht aus!“, begrüßte sie ihn prompt. „Du arbeitest zu viel. Muss das denn wirklich sein?“ Und noch ehe er sich dazu äußern konnte, entschied sie: „Natürlich wohnst du bei uns.“

Um seiner Mutter gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, sagte er: „Lass man, ich wohne im Aquantis. Da hatten sie noch Platz. Ist schon alles geregelt.“ Auch wenn das Tjadensche Haus „Wattfried“ am Melkerpad wie jedes Jahr bis unters Dach mit Feriengästen belegt war, für Sohn Onno stand immer das Küchensofa parat. Danach war ihm aber nun gar nicht zumute. Doch er musste wenigstens seine Mutter nach Hause begleiten und ihr Fahrrad mit den Einkaufstaschen schieben, das war er ihr schuldig. Der Tote konnte es ihm nicht mehr übel nehmen, wenn er sich ihm erst in einer Dreiviertelstunde widmen würde, und sein Chef war weit. Eine ordentliche Tasse Tee konnte Tjaden jetzt sowieso gebrauchen.

„Du wirst ja schon grau, Junge!“ Mutter Antje zupfte an seinem Haar herum. Wie er das hasste!

„Natürlich! Soll ich mir etwa die Haare färben?“

„Na ja, hast ja Recht. Man muss zu seinem Alter stehen. Was soll ich denn da sagen? Aber bei diesem Wind musst du ‘ne Mütze aufsetzen. Irgendwas auf den Kopf, Junge! So, und nun mach ich dir erst mal ‘nen Tee. Apfelkuchen hab ich auch gebacken, ganz frisch.“

Sie setzten sich in die Küche. Auf dem Tisch lag eine leuchtend rote Plastikdecke, und die Eckbank war seit seinem letzten Besuch im Frühjahr neu bezogen worden: eine Orgie in Beige, mit Noppen besetzt, aber wenigstens Natur, kein Plastik. Mutter Antje legte ihm zwei Stücke Kandis in die Tasse mit der ostfriesischen Rose, füllte sie mit Tee und ließ endlich von einem kleinen Löffel Sahne hineinlaufen. Es wölkte wie eh und je. Umgerührt wurde nicht, das machten nur Zugereiste, Fremde eben, wer das tat, hatte sich als Nicht-Ostfriese zu erkennen gegeben, was neudeutsch „outen“ hieß. Tjaden hasste dieses so genannte Denglisch, diese Mixtur aus Deutsch und Englisch, aber immerhin hatte auch er jenes Wort – „outen“ – gerade eben schon gedacht.

„Dieser Tote am Strand“, sagte seine Mutter unvermittelt und setzte ihre Teetasse ab. „Weißt du schon, wer das war?“

Das war doppeldeutig. Fragte sie nach der Identität des Toten oder unterstellte sie, es sei ein Täter im Spiel? Witterte sie einen Mordfall, und ihr Langeoog war in ihren Augen schon wieder ein Tatort?

„Noch keine neuen Erkenntnisse, Mutter. Wir wissen so gut wie nichts. Aber du weißt ja, ich darf nichts sagen über den Stand der Ermittlungen.“

Seine Mutter sah ihn enttäuscht an. Musste ihr Sohn es wirklich so genau nehmen? Schließlich saßen sie doch hier, in ihrer Wohnküche, und wer sollte ihm so nahe stehen wie seine Mutter?

„Ich will dich auch nicht in Schwierigkeiten bringen. Stell dir vor, du lässt bei Wilma etwas raus, und das spricht sich dann rum ...“

„Wilma?“, empörte sie sich. „Mit der rede ich zur Zeit doch so gut wie gar nicht! Guten Tag und Guten Weg, das hat meine Mutter immer schon so gemacht. Klatsch und Tratsch ist nicht meine Sache. Und Wilma, die ist ja so unmöglich, weißt du, wie die ihr Enkelkind verwöhnt, so’ne Hätschelei, das kann man gar nicht mit ansehen, aber bei uns immer stökern: Was macht denn euer Kleiner, den kriegt man ja gar nicht zu Gesicht. Die Leute reden schon. Ist da auch alles in Ordnung?“

Vom Küchenfenster aus sah er den makellos geschnittenen Kopf der Seeschlange, die sich um „Haus Wattfried“ herumwand: Vaters Werk. Mit der Heckenschere konnte Tjado Tjaden zaubern. Warum ließ er sich denn nicht blicken?

Als hätte seine Mutter Onnos Gedanken gelesen, sagte sie schnell: „Vater ist beim Fußball. Du weißt doch, die Freiburger sind wieder da. Die trainieren gerade für das Freundschaftsspiel am Sonnabend. Vater muss natürlich zugucken. Der ist immer noch so fußballverrückt wie früher. Das hört auch nie auf! Aber irgendwas muss der Mensch ja haben ...“ Der Redestrom seiner Mutter war unerschöpflich.

Die Freiburger hielten traditionellerweise ihr Sommertrainingslager auf Langeoog ab, diesmal allerdings kürzer als sonst, weil sie abgestiegen waren und die Sponsoren knauserten.

„Ich muss los!“ Tjaden stopfte den Rest seines Kuchens in den Mund und schob sich aus der Eckbank.

Beim Hinausgehen griff seine Mutter nach der Prinz-Heinrich-Mütze, die auf der Hutablage der Garderobe hing, und drückte sie dem Sohn auf den Kopf. Hier, hat wieder mal ein Gast vergessen. Junge, du musst auf dich aufpassen! Auch wenn die Sonne scheint, der Wind ist kalt!... Und grüß mir den Kleinen!“, rief sie ihm noch nach, als er durch die Blumenrabatten im Vorgarten auf den Melkerpad hinausstrebte. Das war’s: Enkelentzug! Sie war auf Turkey, wie man heute sagte. Sie brauchte den Enkel zur seelischen Auffrischung.

Tjaden würde sehen, was sich machen ließ.

Allein auf weiter Flur

Im „Aquantis“ stand er am Fenster und blickte auf das sich darbietende Panorama. Es hatte aufgeklart, die Sonne hatte die Wolken besiegt. Vor ihm lag grün die Dünenkette, dahinter das blaue Band der See. Zwischen Dünen und Wasser war ein weißer Streifen zu erkennen, da rollte die Brandung heran. Schaum, alles Schaum. Die Fahne am „Seekrug“, dem auf einer Düne thronenden gläsernen Palast, flatterte kräftig. Am Horizont ein einsames weißes Segel. „Ach, wer da mitreisen könnte ...“, kam es Tjaden in den Sinn.

In der Ferne zogen Containeraufbauten vorbei. Und wenn er sich weit aus dem Fenster beugte, war im Westen, hauchdünn, der Leuchtturm von Norderney zu ahnen. Auch er allein auf sehr weiter Flur, mitten im Meer. Ob Segel oder Leuchtturm, Tjaden fühlte sich beiden verwandt.

Er ließ seine Reisetasche unausgepackt stehen und ging über den Flur ins Treppenhaus, hinunter zur Rezeption. In der zweiten Etage standen Schuhe vor der Tür, lauter Sportschuhe, vor jeder Tür mehrere auf einmal, und ein Schild mit handgeschriebenen Blockbuchstaben klebte an der Scheibe der Eingangstür: „Autogramme von 18-19 Uhr!“

Auf der Treppe kamen ihm zwei junge Burschen entgegen. Er bemerkte ihre muskulösen Waden, die meisten schwarz behaart. Das waren Kerle! So wie er nie einer war und auch nie werden würde. Baumlang, kraftstrotzend. „Moin!“, schallte es ihm freundlich entgegen. Das hatte ihnen ihr Trainer wohl eingebleut. Da, wo sie herkamen, hieß es doch „Grüß Gott!“ Die alte Public Relation-Masche, dachte Tjaden. Wie sagte man das eigentlich auf Deutsch? Sich beliebt machen bei den Einheimischen. Das Image musste stimmen. Oder: Bloß nicht negativ auffallen!

Er schnappte sich das Fahrrad, das der Verwalter ihm ausgeliehen hatte – Nummer 13, hoffentlich ein gutes Omen – und radelte über den Hospizplatz zur Barkhausenstraße hinunter. Ein paar Jungen kickten den Ball über die Wiese. „Tor!“, schrien sie begeistert, als er in die Blumenbeete rollte. Bald würde Onno junior hier mitspielen; der Opa versuchte schon, ihm Tricks beizubringen.

Auf der Straße wuselten die Urlauber herum wie eh und je. „Absteigen!“, herrschte ihn jemand an. Automatisch stieg er vom Rad und spürte, wie ihm das Blut in den Kopf stieg. Natürlich, es war gegen elf, um diese Zeit war das Fahrradfahren mitten im Ort verboten. Das wäre ein gefundenes Fressen für seine Kollegen, wenn die ihm ein Strafmandat verpassen könnten oder wenigstens eine saftige Verwarnung mit der Auflage, drei Runden Bier und Bommerlunder in ihrer Stammkneipe auszugeben.

„Um diese Zeit herrscht Schiebegebot!“ Der Mann, der hier den Ordnungshüter mimte, trug geblümte Bermudas und ein weißes T-Shirt mit der Aufschrift „Netter älterer Herr“, was blanker Hohn war. Mit der Prinz-Heinrich-Mütze auf dem Kopf war er geschützt vor Wind und Sonne, ganz wie es vernünftig war. Der Rentner oder Pensionär mit Bauchansatz stand auf seinen kurzen Beinen wie verwurzelt am Straßenrand und beobachtete, wie Tjaden gehorsam sein Rad an der Hand führte. Dass auch alles seine Ordnung hatte! Denn die war wichtig, auch oder gerade im Urlaub und auf Langeoog sowieso. Vielleicht ein zukünftiger Ehrengast, der gerade zum 24. Mal auf der Insel weilte. Der sollte lieber eine Bank mit Seeblick stiften, um seinen Namen zu verewigen, dann hätte er es nicht mehr nötig, sich als Hilfspolizist aufzuspielen.

Aber dann leuchteten Tjaden die sonnenfarbenen Schirme des Cafés Leiß vertraut entgegen wie immer und erzeugten ein warmes Gefühl in der Magengegend, so als breitete sich dort Ostfriesentee mit Kandis und Sahne aus, und als würde man seine Hände am Bauch der Kanne mit der ostfriesischen Rose auf dem Stövchen wärmen, inmitten der vielen Menschen, die über die Barkhausenstraße flanierten.

Einmal nicht einsames Segel, einmal nicht Leuchtturm sein! Dazugehören, das war’s. Diese Sehnsucht, die ihn nie verließ.

Süße Lale

“Wer das ist? Nee, keine Ahnung!“ Billy Küper schüttelte den Kopf, während im Hintergrund die Rocky Mountains im Abendrot standen. Er meinte den Toten, nach dessen Identität Tjaden sich gerade erkundigt hatte, doch es klang so, als sei es auch auf ihn, Kriminalhauptkommissar Onno Tjaden aus Wittmund, gemünzt. Wer du bist? Keine Ahnung. Bild dir bloß nicht ein, wir würden hier alle nach deiner Pfeife tanzen!

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