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Ira Habermeyer

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Beschreibung

Bonn 1972: Ein schillerndes Spielfeld der Macht und der Verführung, der Täuschung und des Verrats. Nach einem rigorosen Einsatz gegen Dissidenten in seiner Heimat Litauen wird der junge, charismatische KGB-Offizier Rimas Rutkus in die Bundesrepublik eingeschleust. Sein Auftrag: Unter der falschen Identität eines schwedischen Journalisten soll er sich über Gisela, einer Mitarbeiterin in Bundeskanzler Brandts Wahlkampfteam, Zugang zu den Bonner Regierungskreisen verschaffen. In Zeiten einer neuen Ostpolitik hat Moskau durchaus Interesse, seinen Einfluss auszuweiten. Was für Rimas als Romeo-Mission geplant war, nimmt eine dramatische Wendung – bald empfindet er mehr für die junge Frau, als er sollte. Auch der CIA-Agent Francis Haywood wird nach Bonn beordert. Dabei ahnt er nicht, wer der freundliche Schwede wirklich ist, der in seiner Nachbarschaft lebt. Bald wirft eine Spionageaffäre größeren Ausmaßes ihren Schatten auf die Bonner Republik, und auch Rimas droht, aufzufliegen. Kann er sich und Gisa aus der Schusslinie von BND und CIA retten?

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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10.
Riders on the Storm
Epilog
Frankfurt, Juni 1974
Liebe Leserin, lieber Leser,
Anhang

 

 

Ira Habermeyer

 

 

Bruderküsse

 

Spionageroman

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bruderküsse

Spionageroman

Copyright: Ira Habermeyer 2024

Covergestaltung: Renée Rott, Dream Design Cover and Art

Die Abbildungen auf den Seiten 637 und 638 wurden mit KI erstellt (Bing Image Creator/DALL-E)

 

Ira Habermeyer, Moltkestr. 2a, 85356 Freising

https://irahabermeyer.com

 

 

 

 

 

 

 

Dies ist keine Liebesgeschichte. Dies ist auch nicht der typische Schwarz-Weiß-Agentenroman, in dem die Bandbreite von Gut oder Böse ausreicht. Diese Geschichte wird tiefer schürfen als bis knapp unter die Oberfläche und die Farben werden sich vermischen. Bruderküsse spielt in der Welt der Geheimdienste, des Kalten Krieges sowie in den politischen Kreisen der ehemaligen deutschen Hauptstadt Bonn. Enge Moralvorstellungen oder idealisierte Erwartungen an die Charaktere gibt es hier nicht. Sie werden Dich an Deine Grenzen bringen, so wie sie zum Äußersten fähig sind. Die Geschichte von Rimas und Gisa wird heftig und ehrlich sein, wie das Leben manchmal spielt. Manche Entscheidungen werden Dir das Herz brechen, manche bedürfen viel Mut. Vielleicht ist dies doch eine Liebesgeschichte, unfassbar, düster, aber aufrichtig.

Zum Verständnis: Im Roman heißt es das KGB oder das Kommissariat (Komitet gossudarstwennoi besopasnosti – Komitee für Staatssicherheit) und die CIA, beziehungsweise die Agency (Central Intelligence Agency).

Auf die Darstellungen von Drogenkonsum, Alkoholkonsum, sexueller Inhalte, Traumata, Diktatur, Terrorismus, dem Gebrauch von Schusswaffen sowie von Gewalt und Folter wird vorab hingewiesen. Es sind die 1970er Jahre in all ihren Facetten und Extremen, die Erkenntnisse der 2020er Jahre können nicht von den Charakteren erwartet werden. Die im Roman vertretenen Ansichten entsprechen nicht der Meinung der Autorin.

Mit Ausnahme der im Anhang gelisteten historischen Persönlichkeiten sind alle Figuren frei erfunden. Die historischen Ereignisse, die Du nachrecherchieren kannst, bilden den Hintergrund der fiktiven Handlung.

Tatsache ist, dass Willy Brandt bis heute nichts an seinem Mythos und seiner Popularität eingebüßt hat.

 

 

 

 

Feindliches Operationsgebiet

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

1.

Bad Moon Rising

 

Kaunas, Litauische SSR, Mai 1972

Plätschernd rann das Wasser aus dem Hahn, während General Tarvydas sein Rasiermesser säuberte. In der Nische seines Dienstzimmers in der Milizpräfektur von Kaunas betrachtete er sein halb von Seifenschaum bedecktes Kinn. Hinter ihm stehend, die Hände in den Hosentaschen vergraben, beobachtete Rimas, wie er erneut die silbern aufblitzende Klinge über sein Kinn und seine Wange führte. Präzise an seinem blonden Schnauzbart vorbei, den Pranas Tarvydas stets pflegte und ihm sein strenges, aber eines Generals würdiges Aussehen verlieh.

»Zwei Tage und eine Nacht haben wir uns hier drin verschanzt«, sagte er, nebenbei kratzte das Messer die Bartstoppeln ab. »Hörst du diese Stille?« Er hielt in der Bewegung inne, wandte sich um.

Rimas blickte an sich herab. Noch immer trug er die gleiche zivile helle Hose, deren Bügelfalte an den Knien durchgesessen war, und das verschwitzte Hemd. Auch er hatte sich an dem kleinen Waschbecken nur mit einer Katzenwäsche erfrischt. Als Major des KGB, des Komitees für Staatssicherheit, würde er sich geduscht und in Uniform wohler und sicherer fühlen.

»Ja«, stimmte er zu. »Herrlich, nicht wahr?«

Von Pranas‘ nacktem Oberkörper stieg ihm das Gemisch aus abgestandenem Schweiß und der hartnäckigen Note von Trojnoj entgegen, und entführte ihn kurz in die süßen gemeinsamen Tage der Vergangenheit.

»Nach dem Krakeelen um ein freies Litauen und dem Klirren von Glas, wohl wahr«, pflichtete Pranas bei. »Sei kurz still – man kann den Gesang einer Amsel hören.«

Jetzt, als Pranas ihn darauf aufmerksam machte, vernahm Rimas klar das Jubilieren des schwarzen Vogels in einer Linde unten auf der Leninallee. Als das Amselmännchen in seiner Melodie innehielt, erwiderten ihm in der Ferne mindestens zwei Artgenossen ähnliche Tonfolgen. Fast wie in der Oper, wenn der Tenor die Arie sang und ein Chor sie wiederholte.

Seltsam entrückt lächelnd sah Pranas ihn an, schabte weiter über seine Wange. Hatten die beiden Tage am Rand des Bürgerkriegs so sehr an seinen Nerven gezerrt, dass er nun übergeschnappt war? Wurde er alt? Trotz der Übermüdung waren Rimas‘ Sinne mehr als geschärft. Diesen Aufstand, den die Rädelsführer angezettelt und die Partei, die Miliz und das Kommissariat gedemütigt hatten, würden sie bereuen. Die Institutionen, die Stützpfeiler der Sowjetunion, anzugreifen, schrie nach Vergeltung.

Rimas verschränkte seine Arme auf dem Rücken, ballte entschlossen seine Hände zu Fäusten. Auf Offiziere wie ihn konnte Moskau zählen, wenn sie in der Sagraniza, dem äußeren Rand, durchgriffen. Zerquetschen würde diesen Separatistenabschaum, der mit seinen gelb-grün-roten Fetzen von Nationalflaggen schreiend und randalierend durch Kaunas gezogen war. Die Verräter in den eigenen Reihen würden ebenfalls büßen.

Pranas beugte sich über das Waschbecken, formte mit hohlen Händen eine Schale und ließ Wasser hineinlaufen, wusch damit sein Gesicht. Wie Perlen verfingen sich einzelne Tropfen an der Spitze seiner vornehm wirkenden, aber doch markanten Nase und in seinen Wimpern. Während er sich mit einem Handtuch trockentupfte, wandte er sich Rimas zu, schnappte sich sein Hemd, das er auf die blaue Milizuniform über die Stuhllehne gelegt hatte, zog es an. Er streifte die Hosenträger über die Schultern, band gekonnt seine Krawatte. Prüfend legte er die Hand an den Knoten, schlüpfte in die mit Interimsordenspangen behängte Uniformjacke.

»Tadellos«, bemerkte Rimas.

»Du meinst den Umständen entsprechend«, entgegnete Pranas, legte die Koppel mit der Pistolentasche an. Darin steckte seine Makarow, deren leicht zerschrammter Griff herausguckte. »Bei den Randalen wurde ein Milizionär getötet. Ich kannte ihn. Ein guter Mann. Mir steht die traurige Aufgabe bevor, der Witwe zu kondolieren.« Mit einem Arm schlüpfte er in die Uniformjacke, richtete sie. Seine Gesichtszüge gefroren, als er Rimas ansah. Der ahnte, was es bedeutete, wenn Pranas‘ graue Augen zugeeisten Seen glichen. »Ich kann mich erinnern, dass das Kommissariat, die Partei und wir eine Nachrichtensperre verhängt hatten, nachdem sich dieser Irre angezündet hatte.«

Diese Feststellung klang wie eine Frage, auf die Rimas unverzüglich antworten sollte. »Wir hatten unsere Präsenz verstärkt und Subjekte aus nationalistischen Kreisen ununterbrochen observiert.«

»Trotzdem«, hob Pranas an, »muss es Idiotie, Versagen oder Mutwilligkeit gewesen sein, dass die Tat durchgesickert ist und Kalanta zum Märtyrer erhoben wurde.«

»Das sagst du mir als Tschekisten.« Ratlos zuckte Rimas mit den Schultern und fühlte sich wie ein dummer Schuljunge, den der Lehrer kalt erwischt hatte. Gleichzeitig tickte etwas in seinem Hinterkopf, als ihm Oberleutnant Antanas Damanskas einfiel. Als Führungsoffizier hatte Rimas ihn beauftragt, nationalistische Zirkel zu sprengen, damit sie die Selbstverbrennung des jungen Arbeiters Romas Kalanta nicht als Heldenmythos weiterverbreiten konnten. Irgendetwas war Rimas an Damanskas seltsam vorgekommen. Er hatte behauptet, die Berichte wären noch nicht fertig. Gleichzeitig legte er eine fast schon mechanische Dienstbeflissenheit an den Tag. Rimas würde herausfinden, dass ihn seine Instinkte nicht täuschten.

»Ich muss dir nichts mehr erklären.« Widerwillig schnaubend ließ sich Pranas in den Sessel sinken, streifte über die goldenen Schulterstücke, als vergewisserte er sich, ob noch alle Sterne dran waren. »Rimas, schalt mal das Radio an. Es ist gleich neun«, bat er, nippte an der Kaffeetasse. Er zog die Nase kraus. Ob das an der Schnulze von einem Mädchen mit Liebeskummer lag, dem dramatischen Klang der Kanklė, oder am inzwischen kalt gewordenen Rest in der Tasse, würde Rimas gerne erraten.

Als Pranas den Filter seiner Klaipėda-Zigarette zwischen die Lippen klemmte und sie mit dem Streichholz anzündete, kribbelten der Schwefelgeruch und der Qualm in Rimas‘ Nase. Wie ein Schleier hüllte der blaugraue Rauch die akkurat drapierte rote Fahne Sowjetlitauens über Pranas‘ Sessel ein. Der Tabakqualm zog weiter zu Generalsekretär Breschnews Porträt.

Rimas schritt zur Balkontür, öffnete beide Flügel und sog tief die von Tau und Flieder erfüllte Morgenluft ein. Ungläubig, dass der beißende Gestank von verbranntem Plastik und Tränengas fortgezogen war, trat er ans Geländer. Diese Ruhe. Nicht einmal die nach Benzin riechenden Schigulijs knatterten über die Allee, es fuhr auch kein Bus. Lediglich Milizionäre und in Tarnfleck gekleidete Fallschirmjäger mit vorgehaltenen Gewehren patrouillierten und blickten grimmig drein. Wie eine Filmmelodie legte sich der Gesang der Amseln darüber. Das Gute am Ausnahmezustand war, dass die Welt wirkte, als wären alle Menschen verschwunden und die Uniformierten kontrollierten das Chaos nach der Apokalypse. Im sanften Wind, der vom Fluss zu Rimas heraufwehte, wogte das rote Tuch der Flagge, die vom Balkon herabhing. Oben im blauen, von Federwölkchen durchzogenen Himmel schwadronierte ein Hubschrauber. Rimas kam dieser Tag vor wie der erste einer neuen Schöpfung.

Und schon wurde er wieder gestört. Schellend läutete das Telefon. Rimas wandte sich abrupt um, sah, wie Pranas den Hörer abnahm und sich meldete.

»Da, konjetschna, Towarischtsch Gjenjeral«, wechselte er ins Russische und klang nicht mehr ganz so selbstbewusst. Er klemmte die Zigarette in die verstümmelte Hand, winkte Rimas zu sich.

Bevor Pranas ihm sagte, wer dran war, wusste er es bereits. General Dmitrij Bjalkow, der Leiter des Komitees für Staatssicherheit in Kaunas, Rimas‘ Vorgesetzter.

Ihn hämisch anblickend, als würde er ihm viel Spaß wünschen, reichte Pranas ihm den Hörer.

Rimas zog die Telefonschnur bis zum Anschlag an sein Ohr. »Major Rutkus, zu Befehl«, sagte er.

»Begeben Sie sich unverzüglich in die Zentrale!«, donnerte Bjalkow in seiner Bassstimme. »Was lungern Sie auch bei der Miliz herum, während unsere Zellen überfüllt sind mit Randalierern? Oder wollen Sie die Arbeit der Miliz übernehmen, eh?«

»Nein, natürlich nicht, Genosse General.« Krampfhaft schluckte Rimas sein aufwallendes Rebellieren herunter. Wie er es hasste, von Bjalkow heruntergeputzt zu werden – General hin oder her. Den russischen Offizieren gegenüber schlug er keinen so herablassenden Ton an, wenn er auch sie harsch anredete. Rimas vermutete, dass Bjalkow ihn auf dem Kicker hatte, weil er Litauer war. Das einzige, was ihm die schweigende Anerkennung des Generals brachte, war, dass er gewissenhaft seine Arbeit erledigte. Und noch eins draufsetzte – anders als seine Kameraden und die Unteroffiziere, die wie blutige Anfänger vorgingen, und sich mit ihrer Zugehörigkeit zum KGB profilieren wollten. Oder nationalistische Verräter waren, die meinten, mit dem Aufstand hätten sie der Union einen ordentlichen Tritt in den Hintern verpassen können.

»Dann schieben Sie Ihren Arsch ins Kommissariat, Rimantas Aleksandrowitsch«, blaffte ihn Bjalkow weiter an, und Rimas war kurz davor, den überquellenden Aschenbecher vom Tisch zu fegen.

»Zu Befehl«, erwiderte er, biss sich auf die Zunge. Ohne ein Wort des Lobes darüber fallen zu lassen, dass Rimas sich beeilte, legte Bjalkow auf.

»Und?«, fragte Pranas, saugte an seiner Zigarette. Knisternd verbrannte der Tabak fast bis zum Filter, dann drückte er den Stummel aus.

»Ich muss sofort in die Zentrale«, antwortete Rimas, reichte ihm den Hörer. »Nach den ganzen Verhaftungen gibt es viel zu tun.«

»Und das alles nur wegen eines Kerls, eines verdammten Hippies, der sich mitten in Kaunas angezündet und Freiheit für Litauen geschrien hat«, grummelte Pranas, erhob sich und nahm seine Kappe vom Schrank. »Gib Acht, Rimas, und kenne nicht nur deine Feinde. Gerüchte verbreiten sich schneller als Krankheiten.«

»Dieses Land ist von Grund auf krank«, presste Rimas zwischen den Zähnen hervor.

»Wohl wahr.« Vor dem Spiegel setzte Pranas seine Kappe auf, strich die abstehenden Haare hinter seine Ohren. Er straffte die Schultern, wandte sich um und strebte zur Tür. »Auch die Zellen hier sind überfüllt«, sagte er, wies mit der Hand das Treppenhaus hinab. Zackig hallten seine Schritte an den stuckverzierten Wänden wider. Wo früher der Doppeladler der Romanows und der Reiter der alten Republik den Stuck geschmückt hatten, prangten nun die aufgehende Sonne und der rote Stern der LTSR. »Unsere Häftlinge sind lediglich Nachschub für euch. Ihr seid fürs Politische zuständig, wir nur für Vergewaltiger und Diebe. Dabei sind wir mehr als die Wächter der staatlichen Ordnung. Wir sind medizinisches Personal, das darauf achten muss, dass keine Keime und Viren den Volkskörper verseuchen – weder von Außen noch von Innen.« Huldvoll erwiderte er im Korridor einem salutierenden Milizionär ein Nicken. »Eines dürften die Inhaftierten gemeinsam haben, ihr Schicksal. Sie werden alle im Gulag landen.«

Schwungvoll nahm Rimas die erste Stufe, umfasste dabei den marmornen Zapfen, der auf dem Geländer thronte. Was er mit den Randalierern anstellen würde, wusste er schon. Gründlich wie immer würde er die Zellen säubern. Er würde in den eigenen Reihen aufräumen. Und damit Sowjetlitauen vom Gift der Eigenstaatelei und Sonderwünsche befreien. »Oder an die Wand gestellt«, sagte er, grinste. »Dann ist gleich Ruhe.«

Offensichtlich war Pranas diese Lösung des Problems doch zu drastisch. Unter dem Schirm seiner Mütze kräuselte er die Brauen, sein Schnurrbart zuckte. »Soll ich dir gleich eine reinhauen?« Er klopfte Rimas gegen den Oberarm, blickte ihn streng mit seinen Eisaugen an.

Doch Rimas hatte keine Angst davor, dass er ihn wie die Schneekönigin im Märchen mit einem Bannstrahl erstarren lassen würde. »Hattest nicht du mir gelehrt, dass Staatsfeinde den Tod verdienen?«, erinnerte er Pranas an seine Worte als Lehrmeister.

Verlegen glitt sein Blick durchs Treppenhaus. »Am besten, man beseitigt sie anderweitig«, antwortete er, wandte sich wieder Rimas zu. »Übertreib nicht, wenn du für Ordnung sorgst. Schließlich könnt auch ihr nicht alle Kanäle in den Westen dicht machen. Also pass auf und halt dein Temperament im Zaum.«

Obwohl eine lange Geschichte hinter ihm und Pranas lag, er ihm ein väterlicher Freund und Förderer war, begehrte Rimas‘ Stolz gegen seine Belehrungen auf. Pranas war nicht sein Vorgesetzter, sondern sollte sich um die Angelegenheiten der Miliz kümmern. Dabei musste er als junger Mann hitzköpfig und provokant gewesen sein. Vermutlich hatte er sich damit selbst im Weg gestanden, in Vilnius etwas Höheres zu werden, so wie er verdient hätte.

»Sudie, Pranas«, sagte Rimas zum Abschied und lief die Stufen hinab.

 

Stunde um Stunde lieferten die vergitterten Milizwagen neue Fracht im Kommissariat an. Hier in Kaunas war jede Zelle überfüllt mit Männern und Frauen, Arbeitern und Studentinnen, und ein weiterer Transporter fuhr in den Innenhof. Hinter dem schweren Eisentor stand ein Ambulanzwagen bereit. Soviel bekam Rimas hier unten im Keller mit, wo das Blaulicht durch den Schacht zuckte und grelle Flecken auf die rotbraun getünchte Wand warf, und verzerrte Schattenspiele des Gitters zeichnete.

Die Nadel griff in die Rillen der Schallplatte, die sich auf dem Teller des Plattenspielers drehten. Oboen spielten eine vertraute Melodie, nun setzten die Klarinetten ein, wanden sich wie Nattern. Fürst Igor, Rimas‘ Lieblingsoper. Zwischen ihm und dem Langhaarigen in seiner hellen Schlaghose senkte sich der Betonboden ab, mündete in einem Abfluss. In der Stirn des Mannes klebte eine Strähne an getrocknetem Blut fest. Vielleicht war es sein eigenes, möglicherweise aber das des Milizionärs, den er getötet hatte.

Rimas verlor sich in der Musik und blendete jedes Mitgefühl aus. Wie der Held, der einen feindlichen Angriff abwehren würde, betrat er eine Bühne. Seine Aufgabe lag darin, Stärke zu zeigen und zu siegen. Ein Held gab nicht nach und war nicht immer gnädig. Die Musik hüllte ihn ein wie in einen schützenden Umhang und hob ihn empor.

So wie bei seiner ersten Exekution vor sieben Jahren würde es ihm nicht mehr ergehen. Darauf, dass er als Tschekist Sabotageakte planen, Menschen entführen und töten würde, hatten ihn seiner Ausbilder vorbereitet. Nichts war dabei gewesen, auf Zielscheiben zu schießen, aber die Männer, die man aus dem Kleinlaster ohne Fenster herausgestoßen hatte, hatten nichts mit einer Figur aus Pressholz gemein. Der Vorwurf an sie hatte gelautet, dass sie eine Eisenbahnbrücke auf der Linie zwischen Kaunas und Riga gesprengt hätten, als ein Militärzug darüber gerollt war.

»Los, ihr Hunde!«, trieb Bjalkow die beiden durch den Wald.

Dürre Zweige knackten unter Rimas‘ zackigen Schritten, als er dem Trupp folgte. Die Scheinwerfer des Lastwagens verschwammen im Nebel, der zwischen den Kronen der Kiefern und Föhren in den Nachthimmel hochzog.Seine Muskeln spannten sich an, als wäre in dieser undurchdringlichen Dunkelheit jede Bewegung eine Herausforderung. Der Geruch von verrottendem Laub und feuchtem Moos hing in der Luft, während sich der Wald in eine gruselige Kulisse verwandelte. Ein eisiger Wind strich durchs Geäst, ließ die Blätter schaurig flüstern. Rimas fühlte sich von unsichtbaren Augen beobachtet, während er versuchte, Schritt zu halten.

Plötzlich zuckte er zusammen, als ihn ein Rascheln aufschreckte. Kleine Tiere huschten durch das Unterholz, und ihre Geräusche schienen im unnatürlichen Schweigen der Nacht zu explodieren. Sein Herzschlag beschleunigte sich, und er griff instinktiv nach dem Griff seiner Makarow.

Rimas' Atem wurde schneller, während er versuchte, die aufkeimende Beklommenheit zu unterdrücken. Ein Eulenschrei durchbrach die Stille, gefolgt vom fernen Heulen eines Wolfes. Ihm lief ein Schauer über den Rücken, als er abrupt anhielt und in Bjalkows schmale Mongolenaugen blickte. Seine Kameraden glichen schwarzen Umrissen zwischen den Kiefernstämmen. Am Rand einer Grube standen die beiden Männer, ihre Arme mit Handschellen auf den Rücken gefesselt.

»Die Wölfe wittern den Tod«, sagte Bjalkow an Rimas gewandt und bedeutete ihm mit einem Nicken, dass er ihn ausgewählt hatte. »Haben Sie schon einmal ein Urteil vollstreckt, Rutkus?«

»Nein, Genosse General«, antwortete Rimas und schluckte krampfhaft. Sollte er …?

»Dann tun Sie’s jetzt«, befahl Bjalkow, schrie die beiden Gefangenen an: »Auf die Knie!«

Mit starren Fingern nahm Rimas seine Pistole aus dem Holster, hörte, wie einer der Männer ihm auf Litauisch zurief:

»Lieber sterben wir im Stehen, als dass wir weiterhin auf Knien leben! Übersetz das deinem russischen Herrn, Junge.«

Rimas tat, worum ihn der Mann gebeten hatte. Seine Zunge verhaspelte sich, als er die Worte auf Russisch hervorbrachte.

»Ist mir scheißegal, wie diese Terroristen sterben«, winkte General Bjalkow ab. »Erschießen Sie sie, Rutkus.«

Stoßweise ging Rimas‘ Atem, als er die Makarow entsicherte. Ein Zittern durchlief seine Hand, aber er zwang sich, seinen Arm ausgestreckt auf die Stirn des ersten Mannes zu richten. Es war keine Übung mehr. Es war auch keine Jagd auf Rotwild. Vor ihm stand ein Mensch, der lebte, der atmete. Er hatte einen Anschlag auf die Sowjetunion verübt, und die Tscheka machte kurzen Prozess. Aber warum sollte er, Rimas, die Drecksarbeit für Volk und Partei erledigen?

Schieß endlich, schien der Mann ihn aufzufordern. Zögernd legte Rimas die Gelenke seines Zeigefingers um den Abzug. Er zitterte noch immer, versuchte, sich unter Kontrolle zu bringen. Kurz und schmerzlos – er drückte ab. Und nochmals. Die Schüsse zerfetzten die Stille, schreckten die Eule auf, und die Wölfe verstummten. Schlagartig wurde Rimas übel. Heiß stiegen ihm sein Mageninhalt und bittere Galle die Kehle hoch und er übergab sich ins Gebüsch.

Unter dem Gelächter seiner Kameraden riss Bjalkow ihn an der Schulter herum und verpasste ihm eine Ohrfeige.

»Sind Sie ein Mann oder eine Memme, Rutkus?«, herrschte er Rimas an. »Wiederholen Sie die Tugenden eines Tschekisten!«

»Ein Tschekist ist …«, stammelte er, keuchte. »Tschekist sein kann nur ein Mensch mit kühlem Kopf, … heißem Herzen und sauberen Händen … Ein Tschekist ist klar wie Kristall …«

»Bewahren Sie einen kühlen Kopf, Rutkus. Sie wollen doch befördert werden, und nicht Ihr Leben lang Akten wälzen und in den Zellen für Ruhe sorgen«, sagte Bjalkow und wandte sich nach der Grube um. »Der Erste ist nicht tot«, stellte er fest und trat an den schwach zuckenden Körper heran. »Ich weiß, dass Sie es besser können, wenn Sie sich Mühe geben. Man bringt es anständig zu Ende.«

Laub raschelte, dann krachte ein weiterer Schuss. Bjalkow stieß den Toten mit dem Fuß an und beförderte ihn somit in die Grube.

»Für Schwäche und Sentimentalitäten ist hier kein Platz«, erklärte er. »Gnade kann Ihren Tod bedeuten.«

 

Choralartig erhob sich auf der Schallplatte der Hintergrundgesang und schwang sich zum Höhepunkt auf.

»Du gehörst zu den harten Fällen, die das Maul nicht aufkriegen.« Entrückt hielt Rimas seine Makarow nach unten gestreckt vor sich, umkreiste mit hallenden Schritten die Vertiefung im Beton. Er blickte den Mann an, dessen Hände auf dem Rücken gefesselt waren. »Das einzige, was aus dir rauskommt, ist Litauen, Litauen, Litauen! Freies Litauen!« Ein trockenes Lachen entsprang Rimas‘ Kehle, das metallische Klicken erwiderte den Klang, mit dem er seine Pistole entsicherte. Der Sopran der Sängerin schwoll im Libretto an. »Ihr wollt zurück in Smetonas Zeiten, die angeblich frei waren. Fickt euch. War euch dieses freie Litauen zwei Tage Krawall wert? Die Toten? Eure Kumpane, die dicht an dicht in den Zellen hocken und von denen so ziemlich alle in den Gulag kommen?«

Der Mann antwortete ihm ein wütendes Grunzen, als klemmten ihm die Worte in der Kehle fest.

»Sprich, du Hurensohn! Ich hab dich was gefragt!« Rabiat packte Rimas seine strähnigen langen Haare, drückte ihm den Pistolenlauf ins Genick.

Unbeugsamer Stolz loderte in den Augen dieses Mannes und suchte die Herausforderung mit ihm. Aufsässigkeit war Rimas nicht fremd, aber er zeigte seine Überlegenheit.

»Ich fürchte, es hat keinen Sinn mit uns beiden«, bedauerte er gespielt. »Du hast einen Milizionär umgebracht. Du bist ein Mörder. Mörder kommen nicht einfach so in den Gulag.« Sobald er ihm gegenüberstand, hob er den Arm, zielte und feuerte ab.

In einer Fontäne spritzte Blut auf die rotbraune Lackfarbe, während der Kopf des Langhaarigen zurückfiel und sein Körper in seinen letzten Zuckungen zusammensackte. Mit aufgerissenen Augen und geöffnetem Mund, als hätte er widersprechen wollen, lag er auf dem Beton. Weiße Spritzer von Gehirnmasse klebten in seinen langen Strähnen, ein dunkelroter Strom rann in den Abfluss.

»Mörder verdienen den Tod.« Rimas steckte die Makarow in den Holster zurück, nahm den Tonarm hoch und pustete das kleine Staubknäuel von der Nadelspitze.

Mit dem Gefühl, dass er seine Pflicht erfüllt und den General nicht enttäuscht hatte, verließ er den Exekutionsraum. Ein Dutzend grauer Betonstufen führte hinauf zu einer Stahltür. Rimas stemmte sie auf, trat in den Innenhof. An der Mauer gelehnt schwatzten und rauchten die Sanitäter.

»Unten liegt einer«, rief er ihnen zu, machte ein Handzeichen. »Schafft ihn raus.«

Als er hochblickte, staunte er über den unwirklich transparenten Nachthimmel zwischen den Dächern. Er sog die kühle Luft ein, in der sich noch immer eine Spur von Qualm festkrallte, und hing den dahingleitenden Schwalben nach.

Damanskas war als nächstes an der Reihe.

2.

Hoochie Coochie Man

 

Bonn, Bundesrepublik Deutschland

Hinter Baumstämmen und Villen funkelte der Rhein graugrün in der Morgensonne, versteckte sich und kam wieder zum Vorschein. In flottem Tempo preschte der Ford Granada die Uferstraße entlang. Francis blickte auf die dunklen Finger seines Fahrers, die entspannt das Lenkrad umschlossen.

»Was ich an Deutschland zu schätzen weiß, ist die Beschaulichkeit«, versuchte der Fahrer mit Francis ins Gespräch zu kommen. Dabei zeigte er ein blitzweißes, breites Grinsen. Ein Afro rahmte sein Gesicht ein, erinnerte ihn an einen der Jackson Five. Oder machte er einen auf Black Panther? An seiner Hosentasche baumelte die Zutrittskarte, die ihn als Officer Horace Delaney vom CIA auswies. »Sehen Sie die hübschen Fassaden an, die kleinen Türmchen und Erker an den Häusern. Fast wie in den Märchen der Gebrüder Grimm. Alles ist kleinteiliger hier. Anders als in den Staaten.«

»Hm«, erwiderte Francis einsilbig.

Die Tatsache, dass Neger inzwischen Laufbahnen in der Armee und im Geheimdienst einschlagen konnten und jemand wie Delaney den gleichen Rang innehatte und mit ihm plauderte, als ginge es zum Angeln, verdross ihn. Im Süden mochte sich die Zeit langsam wandeln, und das war auch gut so.

»Sind Sie müde, Sir?«, erkundigte sich Delaney in seinem Westküstenakzent, musterte ihn über den Nickelrand seiner Sonnenbrille.

»Nachdem ich gestern in Frankfurt gelandet bin, steckt mir der Jetlag in den Knochen«, antwortete Francis, mehr aus dem Bedürfnis, einstweilen Ruhe zu haben, als aus Lust an einer Konversation. »Mein erster Tag in Deutschland verlangt mir volle Konzentration ab.«

Durch den Fensterspalt strömte der Fahrtwind in sein Gesicht, zauste die dichten Haare an seinen Schläfen und belebte ihn.

»Oh man, no!«, fluchte Delaney, trat auf die Bremse und verlangsamte die Fahrt.

Francis blickte auf ein Stauende, unterdrückte einen Fluch und linste auf seine Armbanduhr. Die goldenen Zeiger standen auf kurz nach halb neun, und er wäre locker bis neun Uhr angekommen, um sich bei seinem Vorgesetzten zu melden. Wie es aussah, würde es knapp bis unmöglich werden, das zu schaffen.

»Es ist Freitagmorgen. Was zur Hölle ist los?«, rief er.

»Das Pfingstwochenende steht bevor«, erklärte Delaney, knetete seine Finger auf dem Lenkrad. »Jeder möchte noch schnell einen Kurztrip in die Eifel oder in den Süden unternehmen. Seit dem Transitabkommen zwischen DDR und BRD geht es mehr auf den Straßen zu. Familienbesuche im Osten. In Richtung Westen sind sie nicht so leicht möglich.« Kopfschüttelnd und lachend zugleich sagte er: »Weil ich den Stau mit eingerechnet habe, habe ich Sie früher abgeholt.«

Richtig, das Transitabkommen, das der westdeutsche Kanzler Willy Brandt mit der DDR abgeschlossen hatte – darüber war Francis vor seiner Versetzung in der Zentrale in Langley, Virginia, informiert worden. Dieser Brandt näherte sich dem kommunistischen Block so sehr an, dass man meinen könne, er tanzte engumschlungen mit einer Dame. Wandel durch Annäherung nannte er seinen Schmusekurs mit den Roten und hatte dafür den Friedensnobelpreis bekommen. Nicht alle Deutschen, hatte Francis erfahren, befürworteten den Kurs des sozialdemokratischen Kanzlers. Die konservative Opposition leistete vehementen Widerstand.

Francis spähte auf die Gegenfahrbahn, doch die war im Gegensatz zu den beiden Spuren vor ihm fast leer. Vereinzelt brauste ein VW-Käfer oder ein Opel Kommodore in Richtung Bad Godesberg. Wie er die Fahrer dafür beneidete, dass sie ohne Hindernisse vorankamen.

Delaney drehte den Regler des Radios auf und wogte sofort seinen Kopf zum Takt eines Bluessongs. Hoochie Coochie Man. Der schaukelnde Rhythmus und die kraftvolle Stimme waren so ansteckend, dass Francis seine Hand unter Kontrolle bringen musste, bevor er damit auf sein Knie trommelte. Unmerklich atmete er auf, als der Song endete.

»Here is AFN, the American Forces Network«, schaltete sich eine ernst und wichtig klingende Männerstimme ein.

Flüchtig begegneten sich Francis‘ und Delaneys Blicke. Delaney wechselte den Sender. Endlich wurde der Empfang deutlicher.

»Ich suche den Westdeutschen Rundfunk wegen der Verkehrsmeldungen«, erklärte Delaney

Deutsch verstand Francis in Wort und Schrift. Lange genug hatte er diese sperrige, konsonantenreiche, aber faszinierende Sprache gelernt.

»Auf der Bundesstraße 8 hat sich ein Rückstau von drei Kilometern Länge gebildet«, verlas die Frauenstimme im Radio.

»Ich nehme eine kleine Abkürzung«, beschloss Delaney. »Wir sind gleich da.«

Vielleicht war das keine so schlechte Idee angesichts der Bremslichter vor ihnen, die wie Signalfeuer auf- und abblendeten. Immer wieder ging es zwei, drei Autolängen voran, dann stand der Granada still. Innerlich verfluchte Francis die Insassen der vorantrudelnden Wagen dafür, dass sie nichts Besseres zu tun hatten, als an einem Freitagmorgen in ein verlängertes Wochenende oder gar in die Ferien aufzubrechen. Hatten die ansonsten für ihren Fleiß bekannten Germans nichts zu tun?

Die beiden Polizeiautos hinter der nächsten Kurve beantworteten Francis‘ Frage. Vier Polizisten hielten immer wieder einzelne Autos an, überprüften Personalien und kontrollierten das Innere.

»Seit dem letzten Bombenanschlag der Roten Armee Fraktion auf das Europa-Hauptquartier der US Army läuft die Fahndung nach den Terroristen«, erklärte Delaney. »Haben Sie davon gehört?« Entschlossen fuhr er auf die nächste Kreuzung zu.

Wenn sich die Kolonne erneut ein Stückchen vorwärts schob, würden sie diesen Höllenstau hinter sich lassen. Francis war die tragische Meldung in den CNN-Nachrichten sofort wieder präsent. Auf der anderen Seite des Atlantiks hatten die drei getöteten Soldaten tiefes Entsetzen und Wut ausgelöst

»Natürlich habe ich von dem Angriff auf unsere Leute gehört«, bestätigte Francis. »Verständlich, dass nach diesen Terroristen gesucht wird. Ich hoffe, sie werden gefasst und zur Rechenschaft gezogen. Stecken die Russen hinter dieser Red Army Faction?

Delaney setzte den Blinker, spähte nach einer Lücke. Leise tickte das Blinklicht, und Francis schnaufte durch, als sie die Hauptstraße verließen.

»Vermutlich werden diese linken Terroristen von den Russen und dem Ostblock unterstützt«, meinte Delaney. »Die Kollegen vom BND sind dahinter. Falls sie uns brauchen, werden sie mit uns zusammenarbeiten.

Zügig ging es weiter, an stattlichen Villen aus der Gründerzeit vorbei. In den Gärten standen hohe alte Bäume und Buchshecken fassten Rosengärten ein. Wie beschaulich die deutsche Hauptstadt war. Anders als Birmingham, Alabama, das zwar auch einen alten Stadtkern hatte, aber sich wie mit einem Lineal gezogene Straßen und Siedlungen aneinanderdrängten. Oder Washington, wo die Kuppel des Capitols das höchste Gebäude war.

»Hier wären wir«, sagte Delaney und zeigte auf einen herrschaftlich anmutenden Bau mit erhabenem Türmchen. »The US-Embassy, untergebracht im Schloss Deichmannsaue. Hübsch, nicht wahr?«

 

Ein leichter Wind bauschte die Stars and Stripes, Marines bewachten den Zugang zur Botschaft. Die Schatten ihrer Mützenschirme legten sich über ihre Gesichter. Delaney hielt vor dem Schlagbaum an, während Francis beeindruckt zum spitz in den Sommerhimmel aufragenden Türmchen hochblickte. Dahinter grenzte ein moderner, weißer Gebäudekomplex mit Flachdach an.

»Officer Delaney und Officer Haywood«, identifizierte er sich, nahm die Sonnenbrille ab, und Francis zeigte seinen Ausweis.

Der Marine spähte ins Innere des Wagens, musterte Francis genau und glich das Foto auf dem Ausweis mit seinem Gesicht ab. Dann reichte er ihm in weißen Handschuhen formell die Dokumente zurück, trat zackig einen Schritt beiseite und salutierte. Der Schlagbaum schnellte hoch und schloss sich genauso hastig, nachdem Delaney ihn passiert hatte.

Zwischen den in der Sonne glänzenden Autos stellte Delaney den Granada ab. Francis schlüpfte in sein helles Sommerjackett und blickte zu dem massiven Eichenportal des Altbaus.

Nachdem sie die Sicherheitsschleuse passiert hatten, sagte Delaney: »Ich geleite Sie zu Vice Director Connelly, dem Leiter unserer Abteilung. Die CIA-Residentur sitzt drüben im Neubau.«

Auf dem Weg, der über langgestreckte, von Tageslicht und weichen, leicht gelblichen Lampen geflutete Flure führte, witterte Francis den Geruch von Mörtel und Holz. Alte Mauern eben. Neben ihm nestelte Delaney seine Krawatte aus der Hosentasche, schlug den breiten, spitz zulaufenden Kragen seines Hemds hoch und zog das dunkelblau und weiß gemusterte Stoffband durch. Geübt schlang er einen Windsorknoten wie aus dem Bilderbuch, lief dabei weiter und passierte eine stählerne Zwischentür. Die Glasscheibe war verspiegelt, also konnte Francis nur erahnen, dass sich dahinter der Operationsbereich der Agency befand. Erneut wurden Ausweise und Zugangsberechtigungen kontrolliert, dann war er drin. Die Mitarbeiter, die ihre Akten umherschleppten und ihm entgegenkamen, schienen es ziemlich eilig zu haben. Plante der Osten etwas? Oder war das der normale Tagesbetrieb, in dem jeder mit angespannten Nerven und schwitzigen Fingern umherrannte?

»Hier ist Connellys Büro«, sagte Delaney, blieb neben Francis vor einer Tür stehen und klopfte an. »Gewöhnen Sie sich daran, dass wir in einem hermetisch abgeriegelten Kubus arbeiten, fast wie Reptilien im Terrarium.« Er schürzte die Lippen, kehrte auf dem Absatz um.

»Warten Sie«, hielt Francis ihn zurück. »Sie und ich – sind wir Kollegen?«

»Ja, Sir, sind wir«, antwortete Delaney. Dabei wirkten seine dunklen Augen undurchdringlich. »Es wird mir eine Ehre sein, Sir.«

Wie sollte Francis den ironischen Unterton verstehen? Die Schwarzen wurden selbstbewusster, nachdem die Rassentrennung aufgehoben worden war. Unterschwellig hörte er den Vorwurf an ihn als weißen Mann heraus, gerade dass Delaney ihn nicht abschätzig mit Master angesprochen hatte. »Das Vergnügen ist ganz auf meiner Seite«, erwiderte er, als Delaney davonschritt

Als Francis ins Vorzimmer trat, straffte er sich. Kaffeeduft stieg ihm aus der Glaskanne der Maschine entgegen, die ihn den ganzen Tag über warm halten würde. Die Sekretärin, die auf ihrer elektronischen Schreimaschine noch stakkatoartig getippt hatte, hielt inne. Sie war eine gepflegte Brünette, etwa Mitte Zwanzig mit rosa schimmernd lackierten Fingernägeln. Hinter ihr wuselten zwei weitere Officers herum, Papier raschelte, als sie ihre Aktenmappen durchblätterten und die Schubladen eines Metallschranks rollten auf und zu.

»Officer Haywood«, meldete sich Francis bei der Sekretärin an.

Bevor sie zum Hörer greifen konnte, öffnete ein Mann in hellgrauem Anzug und mit Nickelbrille die Tür.

»Haywood, ich habe Sie erwartet«, rief er in seinem Akzent und machte eine einladende Geste. Das musste Daniel Cameron Connelly sein, eindeutig ein Yankee. »Dies ist meine gute Seele, Lutricia O‘Ryan«, stellte er Francis die Sekretärin vor, die lächelnd winkte. »Zur Begrüßung möchte ich Ihnen Ihre Abteilung zeigen.« Und schon bewegte sich Francis wieder durch den Schlauch an Fluren. »Hatten Sie eine angenehme Anreise?«, erkundigte sich Connelly.

»Bis auf den Stau, ja«, antwortete Francis.

»Die leidigen Fahndungen. Dafür sind Sie pünktlich zu Ihrem Dienstantritt erschienen«, erwiderte Connelly. »Ich kann Ihnen gerne die Aussicht zeigen und Ihnen einiges erklären«, begann er, stellte sich an eines der hohen Fenster, die auf den Rhein, das gegenüberliegende Ufer und grün bewaldete Höhenzüge zeigten. »Hier drüben liegt Königswinter. Vielleicht erkennen Sie es von hier aus, Schloss Drachenburg. Finden Sie nicht auch, dass Deutschland ein sehr mystisches Land ist? Jedes Anwesen ist ein Schloss, und die Namen lassen die Fantasie erblühen. Ob den Deutschen ihre Romantik, wie Goethe sie beschwor, noch bewusst ist? Ich fürchte, der Krieg und die nachfolgenden Bereinigungen haben sie davon entfremdet.«

»Das kann ich mir denken, Sir«, pflichtete Francis halbherzig bei.

»Sprachkenntnisse sind für unseren Job von Vorteil«, fuhr Connelly abrupt fort. »Wobei Deutsch ein wenig hart und bedrohlich klingt. Drachenfelsen. Sehen Sie das feuerspeiende Ungetüm schon vor sich, Officer Haywood?« Anscheinend schweifte er gerne ab. Um zurück auf den Punkt zu kommen, fragte er: »Welche Sprachen beherrschen Sie noch?«

»Spanisch, Sir«, antwortete Francis. »Und ein wenig Russisch, als ich mich um den Posten bewarb.«

»Ihre Russischkenntnisse sollten Sie vertiefen, denn das KGB ist Ihr Hauptansprechpartner. Auch die Russen haben es sich am Rhein eingerichtet«, meinte Connelly, wechselte dann das Thema: »Gefällt Ihnen Ihr neues Zuhause?«

»Oh, ja«, brachte Francis überrascht hervor, fand dann seine Lockerheit wieder. »Meine Frau Juniper richtet gerade das Haus in Bad Godesberg ein und mein Sohn genießt die freien Tage, bevor er die International School besucht.

»Wie alt ist Ihr Junge?«

Das Schöne an den Amerikanern war, dass jede Konversation offen und freundlich verlief, selbst wenn man sich nicht nahestand. Vermutlich führte das auf den Pioniergeist zurück, als Fremde in einem fremden, großen, weiten Land einander halfen. Wer nicht feindlich gesonnen war, galt als Friend.

»Fünfzehn, Sir.«

Connelly nickte. »Wenn Ihnen Ihr Dienstplan es gestattet, kommen Sie morgen Abend bei mir vorbei. Meine Frau und ich geben zu ihrem Geburtstag eine Grillparty. Es wäre gut, wenn Brenda und Juniper einander kennenlernen, denn wer in ein fremdes Land kommt, freut sich über Anschluss unter seinesgleichen.«

»Vielen Dank für die Einladung, Sir. Gewiss«, erwiderte Francis höflich.

Vor einer Zwischentür blieb Connelly stehen, schob seinen Ausweis in ein Lesegerät und tippte einen Code ein. »Der Zugangscode ist immer das Datum und der Monat«, erklärte er, zog die summende Tür auf.

Dahinter verbarg sich ein Raum mit allerhand Bildschirmen und blinkenden Geräten. Die Antennen an den Kopfhörern waren auf Empfang, Schreibmaschinen klapperten im Akkord. Eine Uhr, auf der ein goldfarbener Seeadler mit gespreizten Flügeln thronte, zeigte die Zeit an. Es war zwanzig nach neun. Neben der amerikanischen Flagge und dem Porträt von Präsident Richard Nixon hingen zwei große Landkarten an der Wand: Einmal Westdeutschland in Gesamtgröße und der Ausschnitt von der DDR über Polen bis zum westlichsten Zipfel der Sowjetunion an der Ostsee. Darin glommen rote Glühbirnchen.

»Das sind die Militärbasen der Russen, auf denen wir Atomraketen vermuten«, erklärte Connelly. »Sind sie scharf, blinken sie auf und wir haben gerade noch die Zeit, Warnungen nach D.C. herauszugeben. Aber Ihr Job ist es, herauszufinden, was in den deutschen Abgeordnetenbüros besprochen wird und ob nicht bereits die Russen ihre Spitzel entsandt haben. Oder sonstiges vorhaben.

Oder sonstiges vorhaben, wiederholte Francis für sich, verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. Darum wäre es nett, wenn sie uns vorher Bescheid geben. Er spähte umher, sah Männer und Frauen mit Kopfhörern an Tischen sitzen und protokollieren.

»Deutschland ist ein Spielbrett der Supermächte.« Fast schon kumpelhaft klopfte Connelly Francis auf die Schulter und wies ihn an: »Ihr Platz ist hier hinter der Tür. Sie und Officer Delaney werden die übersetzten Funksprüche auswerten und Operationen leiten.«

»Jawohl, Sir«, bestätigte er und betrat den kleinen Raum, der nun sein Dienstzimmer sein sollte. Er ließ sich auf dem Stuhl unterhalb des Geräts mit den Tonspulen nieder.

Delaney sandte ihm ein Grinsen zu, das bedeutete, wir werden uns arrangieren, und nippte an seiner Kaffeetasse. Er streckte seinen Arm aus, zog damit die Schublade über Francis‘ Knien auf und nickte. Zu seiner Überraschung entdeckte Francis einen einfachen Schreibblock, wie es ihn überall in den Staaten zu kaufen gab, sowie Bleistift, Spitzer, Radiergummi und einen Hefter. Nun konnte er mit seiner Arbeit beginnen.

Geplättet und den Kopf voller belangloser, für die Abwehr wenig nützlichen Telefonaten deutscher Abgeordneten und ihrer Bürodamen kehrte Francis zurück nach Bad Godesberg. Matt nahm er wahr, dass er ein fremdes Haus betrat, obwohl Juniper die Möbelpacker angewiesen hatte, Sideboards, Teppiche und Bilder genau dort zu platzieren, wo sie sich in Birmingham befunden hatten. Die doppelflügelige Glastür, die den Eingangsflur vom Wohnzimmer trennte, war noch gewöhnungsbedürftig.

»Hi, Sweetheart«, begrüßte Francis seine Frau, die wohl das letzte Geschirr im Buffet verstaute.

Mit einem Stapel Dessertteller in den Händen wirbelte Juniper um ihre eigene Achse, dabei wippten die in Locken gelegten blonden Haare. »Oh, du bist schon zurück«, entgegnete sie lächelnd. Erst als sie die Teller verstaut hatte, gab sie Francis einen flüchtigen Kuss, der sich in seinen Mundwinkel verirrte.

»Schon ist gut«, sagte er, grüßte seinen Sohn Byron, der in einem Sessel lehnte und den Baseball zwischen Hand und Fanghandschuh hin und herwarf. »Du hilfst deiner Mom, nicht wahr?«

»Doch, das hat er getan. Wir sind fast fertig«, antwortete Juniper hastig. »Zwischendurch waren wir einkaufen. Es hieß, es wären Geschäfte in der Nähe, doch wir sind ein ziemliches Stück gelaufen. In dem einen Laden haben wir Lebensmittel gekauft, in dem anderen Getränke.« Sie seufzte, als steckte ihr die ungewohnte Anstrengung noch in den Knochen. »Möchtest du etwas trinken, Fran?«

»Ein Bourbon wäre in der Tat nicht schlecht«, sagte Francis, und er wusste, wo er ihn bekam. In seinem Koffer, der oben im Schlafzimmer stand. Von dort holte er die Flasche, die er wohlweislich noch in den Staaten gekauft hatte, und suchte nach einem Glas.

»Bitte sehr«, reichte ihm Juniper eines. »Doch auf Eis musst du leider verzichten. Ich glaube nicht, dass das Wasser inzwischen gefroren ist.«

»Macht nichts.« Nach dem ersten Tag in dem stickigen Kabuff war ihm egal, ob der Whiskey zimmerwarm oder gekühlt seine Kehle herunterfloss. Hauptsache er dämpfte das unterschwellige Gefühl zwischen Unterforderung und einer Art von Hilflosigkeit. Nicht unbedingt Hilflosigkeit, aber war man im Kalten Krieg nicht auch so etwas wie ein Soldat? »Oh, June …« Er widmete seiner Frau ein dankbares Lächeln.

»Wie war dein Tag? Welche Aufgaben erfüllst du hier für die Regierung?«

June konnte wirklich bezaubernd sein, eine wahre Southern Belle, die ihm den Rücken freihielt. Dass sie sich nach seinem Befinden erkundigte und für seinen Alltag interessierte, war rührend. Was würde er nur ohne sie tun?

»Wir haben eine Abmachung«, erinnerte Francis sie vorsichtig, stellte sich in die offene Terrassentür und blickte in den kleinen Garten.

»Frag mich nie nach meiner Arbeit.« Er atmete tief ein. Die laue Luft eines Frühlingsabends, der sich hellblau und erfüllt von Vogelgesang zwischen den satten Kronen der Ahornbäume ausdehnte, tat wohl. Versöhnlicher wandte er sich um. »Du wirst dich in Deutschland genauso um deine Aufgaben kümmern wie ich mich um meine. Übrigens hat uns mein Vorgesetzter am Wochenende eingeladen. Sieh zu, dass du dich mit ein paar Frauen anfreundest. Wir wollen uns doch gut einleben, nicht wahr?«

 

Zischend öffnete Francis die Büchse Bier aus der Heimat, beobachtete Byron, wie er gemeinsam mit einem anderen Jungen Baseball im Garten spielte. Mit einem hohl klingenden Aufprall schlug Byron den Ball in weitem Bogen von sich. Sein neuer Spielkamerad warf sich dem Ball entgegen und bei dem Versuch, ihn mit dem ledernen Fanghandschuh zu erwischen, rutschte er im Rasen aus.

»Sehr gut«, ermutigte Francis seinen Sohn, der leidenschaftslos den Baseballschläger senkte. »Pass aber auf, dass du keine Scheiben einschlägst.«

»Nein, Dad, ich gebe Acht«, versicherte Byron ihm und tauschte mit dem Jungen Handschuh und Schläger. »Jetzt ist Bill an der Reihe, und wenn etwas zu Bruch geht, ist es seine Schuld.«

Lachend winkte Francis ihm zu und wandte sich wieder Connelly zu. Umringt von einem kleinen Grüppchen Frauen stand June und erwiderte Francis ein Augenzwinkern, als er in ihre Richtung sah. Ihre Haare hatte sie kunstvoll hochgesteckt, und in dem blaugrünen Kleid wirkte sie wie eine leichte Sommerbrise, die diesen Abend umwehte. June führte den Filter ihrer Zigarette an den Mund, setzte ihre Plauderei fort.

»Francis!« Von der Seite näherte sich Connelly, klopfte ihm kumpelhaft auf die Schulter und drängte ihn leicht in Richtung der drei hohen, schattenspendenden Fichten am Rand des Grundstücks. Fast wirkte der Garten so, als ging er in das kleine Wäldchen dahinter über. »Ihre Frau und Ihr Sohn scheinen sich wohlzufühlen«, bemerkte Connelly beiläufig. »Das Wetter steht heute wahrlich auf unserer Seite.«

Francis betrachtete die verschworene Gemeinschaft der CIA-Mitarbeiter. Bisher war ihm gelungen, June und Byron aus seinen Angelegenheiten herauszuhalten. So würde es auch bleiben. Abwartend, worauf Connelly hinauswollte, kräuselte er die Brauen und kniff die Augen zusammen.

»Ich möchte nur ein wenig mit Ihnen plaudern, da wir während der Dienstzeit kaum Gelegenheit dazu haben«, erklärte der, blieb schließlich im kühlen Schatten der Bäume stehen und nippte an seinem Bier.

»Dafür sind diese Partys gut«, entgegnete Francis.

Allmählich löste sich sein Misstrauen auf. Vermutlich lag es auch daran, dass er keine größeren Menschenansammlungen mochte. Allgemein konnte er weitgehend auf die Gegenwart von Menschen verzichten. Sie nervten mit ihren Problemen, ihren Macken und ihrer Neugierde. Ohnehin waren die meisten falsch und hinterhältig und bettelten in Wirklichkeit um eine führende, harte Hand.

»Sie eignen sich, um seine Officers näher kennenzulernen«, fuhr Connelly fort, deutete mit dem von der Bierdose abgespreizten Zeigefinger auf ihn. »In Ihrem Dossier habe ich gelesen, dass Sie zuvor in Honduras stationiert waren. Dies ist ein Land, in dem die Kommunisten versuchen, durch Guerillakämpfe Einfluss zu gewinnen.«

»Gegen die wir die honduranische Militärregierung erfolgreich unterstützt haben«, ergänzte Francis, hob sein Kinn an.

»Damit haben Sie sich als Kommunistenfresser einen Namen gemacht«, sagte Connelly anerkennend. »Auch für Ihre Verdienste im Koreakrieg wurden Sie ausgezeichnet.«

Geschmeichelt grinste Francis, nickte. »Ich habe lediglich die Sicherheit und die Interessen Amerikas verteidigt. Destabilisierung und sozialistische Umtriebe brauchen wir am wenigsten in den Reihen unserer Verbündeten«, erklärte er. »Darum müssen wir alles tun, um sie zu unterbinden, bevor die Jugend und die protestierenden Studenten vom roten Virus infiziert werden. Das gleiche gilt auch für das freie Europa, das ähnlich bedroht ist.«

Leicht wogten die Wipfel der Fichten im Wind, als wichen sie gebührend für die Sonne beiseite. Ein Lichtstrahl blendete Francis. Reflexhaft blinzelte er, doch die Vergangenheit holte ihn ein.

 

In gleißendem Weiß hoben sich die schneebedeckten Berge von den geballten Wolken ab. Der schneidende Wind fegte ein dichtes Flockentreiben durch die Gassen des koreanischen Dorfes. Francis marschierte der Vorhut nach, umfasste den Schulterriemen seines StG-Maschinengewehrs. Trotz der Handschuhe schienen seine Finger zu gefrorenen Gebilden erstarrt zu sein, so wie die Eiszapfen, die von den Giebeln der Holzhäuser hingen. Außer ihm, dem Trupp und einer streunenden, abgemagerten Katze, befand sich keine Seele draußen. Was andersherum bedeutete, dass die Bewohner in ihren Häusern waren und er die Verdächtigen antreffen würde.

Kims nordkoreanische Volksarmee hatte eine wichtige Brücke gesprengt, und ein paar seiner kommunistischen Banditen den US-Stützpunkt angegriffen. Im Feuergefecht, das wie ein Gewitter aus dem Nichts hereingebrochen war, hatten elf US-Marines ihr Leben verloren. Francis ging den Hinweisen nach, dass einige Dorfbewohner die Kommunisten unterstützten, mit ihnen die letzten Reiskörner teilten und ihnen Unterschlupf gewährten.

»Können Sie mir die Namen vorlesen, die auf den Tafeln stehen?«, murmelte Francis in den hochgeschlagenen Kragen seiner Feldjacke, sah dabei den koreanischen Dolmetscher an, der neben ihm herlief.

»Hier steht, dass die Familie Lee dieses Haus bewohnt«, antwortete der Mann.

Einige der Schriftzeichen, die kleinen Gemälden glichen, konnte Francis inzwischen entziffern, aber er war sich unsicher.

»Dort, Lieutenant«, machte ihn der Dolmetscher aufmerksam, nachdem sie einige Häuser passiert hatten, »wohnt die Familie Sun.«

Das protestierende Aufheulen des Windes füllte das Schweigen. Sun – nach diesem Clan suchte Francis. Seinen Informationen nach waren sie Rote, und versteckten Kims Kämpfer. Francis blieb stehen und hob die Hand.

»Stillgestanden!«, befahl er den Marines. »Durchsucht das Haus auf Kommunisten!«

Die beiden Soldaten hämmerten gegen die Tür, traten sie mit ihren Stiefeln auf. Entrüstete Wortfetzen einer Frau und eines älteren Mannes drangen zu Francis. Er ließ den gesamten Trupp vorbeilaufen, dann schritt er über die Bambusmatten, die den Raum bedeckten und unter seinen Sohlen raschelten. Ein alter Mann kniete neben dem niedrigen Esstisch, hob seine Hände und flehte etwas auf Koreanisch. An der Feuerstelle kauerte eine verängstigte junge Frau und wimmerte. Fest schlang sie die Arme um ihre Brust, schielte argwöhnisch zu Francis und den Soldaten.

Sein Blick huschte durch den Raum, zum Altar, an dem Räucherstäbchen für die Ahnen glommen und ihren schweren Duft verströmten. Eine Fotografie war aufgestellt, sie zeigte eine Frau mittleren Alters mit kunstvoll geformten Haaren und in der traditionellen Kleidung.

»Sag ihnen, was wir wollen«, verlangte er vom Dolmetscher, streifte die Handschuhe ab und bewegte seine starren Fingerglieder. Hier drinnen war es merklich angenehmer.

»Der Alte behauptet, er hat keine Kämpfer der Volksarmee gesehen und dass er mit Politik nichts zu tun hat. Er möchte in Frieden leben und seine Schwiegertochter auch«, übersetzte der Dolmetscher.

»Wer’s glaubt«, knurrte Francis und deutete auf die Frau. Sein Grinsen ängstigte sie, und das gefiel ihm. »Sie hier – was weiß sie? Warum ist sie allein? Wo ist ihr Mann?« Er nahm eine Lucky Strike aus der Packung, schob den Filter zwischen die Lippen und inhalierte genüsslich den Rauch. Währenddessen übersetzte der Dolmetscher, was ihm die Frau erzählte. »Gefallen ist er? Warum steht hier kein Bild von ihm?« Um ihr zu zeigen, dass er tun konnte, was ihm beliebte, nahm Francis die gerahmte Fotografie vom Ahnentisch und begutachtete sie. »Auf welcher Seite hat er überhaupt gekämpft? Für den Süden? Hier war bis vor Kurzem Kims Territorium.«

Verzweifelt artikulierte sich die Frau, der Alte mischte sich ein. Francis stellte das Foto zurück, bewegte sich auf ihn zu. Unter seinen Stiefeln klang es hohl, verdächtig hohl. Bestimmt befand sich unter den Matten und den Dielen eine Kammer. Mit Blicken und der Haltung seiner Zigarette machte er die Soldaten darauf aufmerksam und bereitete sie vor. Ihre Gewehrläufe peilten langsam in Richtung Boden.

»Sie sagen, es gäbe nur ein Hochzeitsfoto, und die republikanische Armee hätte ihnen noch kein Bild zukommen lassen. Wie auch, wenn die Linien bis vor einiger Zeit noch durchtrennt waren?«, bemühte sich der Dolmetscher.

»Was, wenn ich ihnen kein Wort glaube?« Francis stampfte mit dem Absatz auf die Bohlen. Nun war allen klar, dass er das Versteck gefunden hatte. »Erklär ihnen, dass ich sie mit auf den Stützpunkt nehme und die Wahrheit aus ihnen herauslocken werde. Die Wahrheit kann wehtun.«

Ehe er sich versah, sprang eine Klappe im Boden auf und Gewehrmündigen richteten sich auf ihn und die Soldaten. Er blickte Kims Soldaten in die Augen. Salven klatschten durch den Raum, Holz und Porzellan zersplitterten und die furchtbaren Schreie Verwundeter und Sterbender folgten. Francis legte sein Maschinengewehr an, drückte den Abzug. Aus dem Augenwinkel bekam er mit, wie der Alte und die junge Frau zu Boden gingen.

Dann herrschte Ruhe. Nur das Stöhnen und Fluchen der angeschossenen GIs durchbrach die unheimliche Stille. Eines der Ostküsten-Weicheier kotzte. Instinktiv tastete Francis seine Brust ab. Da er nichts mehr spürte, weder Hitze noch Kälte, weder Angst noch Erleichterung, ging er davon aus, dass er entweder tot oder unversehrt geblieben war. Als er die leblosen Körper der Frau und ihres Schwiegervaters bei den drei Leichen der Volksarmisten entdeckte, begriff er, dass er überlebt hatte. Myers, einen seiner Männer, hatte es erwischt. Scheiße … Sein StG, das gute deutsche Qualitätsstück, auf die Koreaner gerichtet, stieg Francis über sie hinweg und stieß mit der Stiefelspitze gegen ihre Körper. Als er bei der Frau angelangt war, die mit dem Gesicht zum Boden lag, rollte er sie vorsichtig mit dem Fuß beiseite. Dabei verschob sich der Stoff ihres Gewandes und offenbarte die sanfte Wölbung ihres Bauches. Francis hielt den Atem an. Sie war schwanger – gewesen.

»Lieutenant? Sir?« Die Berührung auf seiner Schulter riss ihn zurück in den Moment und er wandte sich nach Sergeant Ricci um. »Wir haben einen Gefangenen. Was machen wir nun? Wir warten auf Ihre Befehle, Sir.«

»Ja …«, erwiderte Francis weggetreten, fasste sich wieder. »Bringen Sie ihn ins Hauptquartier und zünden Sie diese verdammte Hütte an.«

»Alles in Ordnung?«

Perplex starrte Francis Connelly an, der sich nach ihm erkundigte. Mit aller Macht hatte die Erinnerung an Korea die Realität beiseitegeschoben. Erst jetzt nahm er die Musik wahr, die über den Garten scholl, und die fröhlichen, ausgelassenen Stimmen.

»Ja … verzeihen Sie, ich war nur kurz abwesend«, entschuldigte sich Francis. »Aber auf einer Party kann man sich das erlauben, nicht wahr?«

Sein Blick fing June ein, die sich sichtlich amüsierte und mit den anderen Frauen tanzte. Er winkte ihr zu.

 

»Aufwachen, Sportsfreund. Wir sind zu Hause.«Sachte rüttelte Francis Byron an der Schulter, der auf der Rückbank des Mercedes eingenickt war.

»Die Party war ziemlich lang für ihn, vor allem, als die anderen Jungs sie bereits verlassen hatten«, bemerkte June, stieg vom Beifahrersitz. »Zudem hatte er sich zuvor verausgabt.«

Verschlafen rieb sich Byron die Augen, sah ungläubig zum Haus, das in der frischen Dunkelheit der Frühlingsnacht lag, und zu Francis hoch. Behäbig setzte er einen Fuß in die Einfahrt und trottete zur Haustür.

Auch June wackelte auf ihren Absätzen über den Kieselweg. Leicht zerrte das Gewicht ihres Körpers an Francis‘ Ellenbogen, wo sie sich unterhakte. Offenbar hatte sie einen Julep’s zu viel getrunken.Nachdem sich Francis trotz des heimtückischen Schlags seiner Erinnerungen mit dem Alkohol zurückgehalten hatte, gönnte er sich einen Absacker und schenkte sich Bourbon in eines der Gläser mit Kristallschliff. Knackend zersprang der Eiswürfel.

»Gute Nacht!«, rief Francis Byron scharf hinterher, der ohne ein Wort zu sagen die Stufen hinaufstieg. »Zu unserer Zeit hätten wir uns nicht erlauben können, einfach so zu Bett zu gehen. Mein Vater war sehr streng, was das betraf. Niemand stand nach dem Essen vom Tisch auf, bevor er dies nicht ausdrücklich sagte. Meine Geschwister und ich stellten uns wie ein Spalier Soldaten in der Halle auf, um ihn zu begrüßen, wenn er von der Arbeit nach Hause kam, und redeten ihn mit Sir an. Manchmal frage ich mich, ob wir unserem Sohn gegenüber nicht zu weich sind.«

June lehnte sich gegen das Sideboard, seufzte nachdenklich. »Zu weich glaube ich nicht«, erwiderte sie, wandte ihr Gesicht Francis zu. »Heute sind die Kinder ganz anderen Einflüssen ausgesetzt als wir. Mehr als Byron klare Regeln und Vorgaben zu setzen, können wir nicht tun.«

Andere Einflüsse, das waren die Hippies, die Anti-Vietnam-Demonstranten, die neue Freizügigkeit und die Drogen. Traditionen wurden ebenso in Frage gestellt wie Erziehungsmethoden. Ob seine Entscheidung, die Familie mit nach Deutschland zu nehmen, richtig gewesen war, stellte er in Frage. Dass er June gebeten hatte, mit ihm nach Bonn zu kommen, hatte daran gelegen, dass sie beabsichtigt hatte, ihn verlassen. Hätte er stattdessen das Scheitern seiner Ehe hinnehmen sollen? Aber darüber wollte Francis zu dieser späten Stunde nicht mehr diskutieren. Er schwenkte das Glas und atmete den kräftigen Geruch des Bourbons ein, ehe er einen Schluck davon trank.

»Hast du dich denn gut auf der Party amüsiert?«, fragte er June.

»Du hattest Recht, Fran«, antwortete sie, wickelte ihre Perlenkette um den Zeigefinger, »ich sollte unter den Ehefrauen deiner Kollegen Freundschaften schließen. Mit Brenda Connelly, der Gattin deines Vorgesetzten, habe ich mich sehr gut verstanden.«

Was sie erzählte, klang schon einmal hoffnungsvoll. June sollte kaum Zeit haben, die Heimat und das Leben in den Staaten zu vermissen. Auch Byron sollte in diesem fremden Land Freunde finden. Fürs Erste.

»Das freut mich für dich, June, Sweetheart.« Wenn er sie so nannte wie in den Zeiten, als er sie freitags ins Diner und anschließend zum Tanzen ausgeführt hatte, bekam er ihre volle Aufmerksamkeit.

Junes Finger glitt aus der Kette, streifte über den auf ihrer Brust straff gespannten Stoff ihres Kleides. Francis stellte das Glas ab, näherte sich ihr und umfasste ihre Taille. Überrascht funkelten ihre saphirblauen Augen auf, ehe sie zaghaft ihre Arme um seine Schultern legte. Als er sie küsste, wich sie nicht zurück. Vielmehr rückte ihr Becken an seines. Fordernder umkreisten seine Hände ihren Hintern, wanderten herab.

»Lass uns beide neu anfangen«, presste Francis hervor, während er ihren Rock hochhob und er über den festen Stoff ihres Strumpfgürtels strich. »Ich möchte nicht, dass wir noch einmal für so lange Zeit getrennt sind. Immerhin ist doch alles so gut mit uns beiden. Ich meine … Du bist das Beste, was mir passiert ist, June.« Er schloss sie in die Arme, spürte ihren Atem an seiner Wange, als sie ihren Kopf in seine Schulter grub.

3.

Crimson and Clover

 

Kaunas, Juni 1972

In gemächlichem Tempo rollte Rimas in seinem neuen Wolga den Leninprospekt entlang, der parallel zum Nemunas verlief. Neben ihm saß Damanskas, den er für die Patrouille eingeteilt hatte. Über den Hügeln, die die Stadt wie eine schützende Hand umfassten, zogen dunkle Wolken auf, während auf dem Leninprospekt noch kräftige Sonnenstrahlen fielen. Der Wind, der den Regen ankündigte, wirbelte Staub auf. Alles schien wieder in seinem normalen Takt zu verlaufen. Zwei junge Mütter schoben schwatzend ihre Kinderwagen über den Gehsteig, Menschen standen Schlange vor einem Kooperativladen, andere warteten auf Busse, die sie zurück in ihre Satellitenstädte in den Außenbezirken brachten. In manchen Fassaden ersetzten Pappkartons und Bretter die zerschmissenen Schaufensterscheiben, darüber bauschten sich rote Flaggen in den lebhaften Böen. Als unmissverständliche Botschaft prangte 50 Jahre UdSSR auf einer Hausmauer. Litauen sollte spüren, dass es sich gegen das größte Land der Welt erhoben hatte. Und das gelang nur mit der eisernen Hand, die fest die aufsässige Sowjetrepublik umklammerte.

»Kommt es Ihnen nicht merkwürdig vor, wie rasend schnell sich die Kunde von Kalantas Selbstverbrennung verbreitet hatte?«, fragte Rimas herausfordernd, spähte zu Damanskas herüber.

Der rutschte im Beifahrersitz hoch, spannte seinen Rücken an und schien sich eine Antwort zu überlegen.

»Die ganze Scheiße ist jetzt einen Monat her. Je mehr Zeit vergeht, je mehr ich über die Tage nach dem 14. Mai herausfinde, drängt sich bei mir der Verdacht auf, dass wir einen Maulwurf hatten«, fuhr Rimas fort.

»Wenn das stimmt, wäre es unerhört«, erwiderte Damanskas, sah Rimas eindringlich an. So, als wollte er seine Unschuld beteuern.

»Unerhört? Käme das den Genossen in Moskau zu Ohren, wären die Konsequenzen ziemlich unangenehm«, sagte Rimas. »Wir alle müssten uns rechtfertigen, wie wir nicht mitbekommen konnten, dass einer unserer Offiziere aus dem Schatten agiert und den Nationalisten zugespielt hat.«

Wie ein Luchs spähte Rimas aus dem Fenster, musterte die Gesichter der Passanten nach einer verdächtigen, widerwilligen Regung. Wohl registrierten ihn die mit Einkaufsnetzen und Aktentaschen bewehrten Frauen und Männer, doch niemand von ihnen wagte, in Richtung des schwarzen Wolgas zu gucken. Sie wussten, wer darinsaß. Rimas hörte und las stets mit, was die Tippsen, die Malocher und die Alten über die Tscheka raunten. Ängstlich wichen sie einander aus; wer länger als zwei Sekunden Blickkontakt hielt, lächelte, oder gar einen Unbekannten ansprach, stand selbst im Verdacht, fürs Kommissariat zu spitzeln.

Neben sich hörte Rimas Damanskas‘ Atemzüge. Offenbar bemühte der sich, die Frequenz seines Atems ruhig zu halten, doch Rimas vernahm die leichte Erregung darin.

»Eigenartig, Genosse Damanskas«, murmelte Rimas, durchdrang ihn mit einem Seitenblick. »Als ich Ihre Berichte über die Observation der Zielpersonen einforderte, erklärten Sie mir recht kleinlaut, sie bräuchten noch etwas Zeit dafür. Mir hätte gereicht, was Sie bis dahin zusammengetragen hatten. Oder hatten Sie gar etwas zu verheimlichen?«

Mit einem winzigen, nervösen Zucken seiner Lider verriet sich Damanskas.

»Nichts, Genosse Major«, erwiderte der. »Ich habe gründlich meine Pflichten erledigt.«

»Die da wären, gegenseitige Rechenschaft«, fuhr Rimas tonlos fort und ließ ihn zappeln.

Aus dem Augenwinkel bemerkte er das junge Pärchen, das händchenhaltend unter den smaragdgrünen Linden flanierte.

»Ich fahre mal langsamer«, sagte er, drosselte sofort das Tempo.

Der Junge auf dem Gehsteig trug längere Haare, seine Begleiterin ein wallendes, bodenlanges Kleid und Sandalen. Ihre Augen verbarg sie hinter einer riesigen Sonnenbrille wie Janis Joplin.

»Die zwei Hippies nehmen wir uns vor«, erklärte Rimas grimmig, hielt an.

Offenbar bemerkten die beiden jungen Leute den Wolga. Wie angewurzelt blieben sie stehen, der Mann umfasste die Hände seiner verunsichert wirkenden Freundin. Sie schienen sich auszutauschen, was sie am besten tun sollten. Lange Haare reichten, um verdächtig zu sein, den nächsten Aufruhr anzuzetteln und dabei irgendetwas von Liebe und Frieden zu labern.

Rimas riss die Fahrertür auf, sprang auf den Gehsteig. »Kommissariat für Staatssicherheit«, bellte er den beiden entgegen, zückte seinen Ausweis mit Schild und Schwert über dem Sowjetstern.

»Worum geht es?«, fragte der Kerl.

Seine Freundin klammerte sich an seinem Arm fest. Die Fahrertür schlug krachend zu, jetzt war auch der Unteroffizier endlich zur Stelle.

»Mitkommen!«, erwiderte Rimas schroff, zerrte den jungen Mann von ihr weg, drehte ihm den Arm auf den Rücken und schubste ihn gegen den Wolga. Mit dem Fuß stieß Rimas zwischen seine Beine, damit er sie breit machte. Schnell, aber gründlich tastete er den Körper des jungen Mannes ab, fasste in die Taschen seiner Jeans. Außer einem Schlüssel und einer Packung in buntem Papier eingehüllter Sobranie-Zigaretten fand er nichts Verdächtiges bei ihm. Demonstrativ schnüffelte Rimas an der Packung, als vermutete er Rauschgift darin. »So, so, Sobranie rauchst du also, du Schwuchtel«, rief er dem Kerl entgegen, riss die Hintertür auf und schob ihn in den Fond.

»Was haben wir Ihnen getan?«, protestierte das Mädchen, nahm zögernd die Sonnenbrille ab. Sie hatte schöne, mandelförmige blaue Augen. Doch die Verzweiflung machte sie stumpf wie zerkratzte Edelsteine.

Ohne ihr zu antworten, packte Rimas ihren Arm, bugsierte sie ebenfalls auf den Rücksitz. Klack, klack, schnappten die Handschellen zu. Sich wie diese Haschisch rauchenden Gammler zu kleiden, die beim Aufstand vor ein paar Wochen die Stadt verwüstet und die Partei verhöhnt hatten, reichte aus, um verdächtig zu sein.

»Fahren wir in die Zentrale!«, herrschte Rimas Damanskas an, ließ sich in den Sitz fallen. Genugtuend blickte er nach hinten. Dort gab es keine Türgriffe. Jeder Fluchtversuch wäre zwecklos. Ohnehin würde er die beiden sofort erschießen. Unter seinem Jackett spürte Rimas den Holster, in der seine Makarow steckte.

Durch eine Wolkenlücke stach grell die Sonne hervor. Rimas setzte seine Sonnenbrille auf, stützte den Ellenbogen auf und genoss das berauschende wie überaus befriedigende Gefühl, wie nach einer Jagd mit seiner Beute heimzukehren.

 

Das graustichige Gebäude, in dem die KGB-Zentrale von Kaunas untergebracht war, rückte in Rimas‘ Sichtfeld. Förmlich konnte er spüren, wie furchterregend es auf die beiden Verdächtigen wirken musste. Jeder, der daran vorbeilief, schlug einen weiten Bogen darum oder wechselte die Straßenseite.

Rimas bog kurz vor dem Haus, dessen Fenster im Erdgeschoss vergittert waren, in eine Nebenstraße ein. Vor einem drei Meter hohen Stahltor postierte eine Wache mit den petrolgrünen Schulterstücken des KGB. Der Mann salutierte Rimas, dann öffnete er das Tor. Hinter sich vernahm er das leise Schluchzen der jungen Frau. Sie schien es zurückhalten zu wollen, doch die Tränen, die er im Spiegel sah, verrieten sie. Schwerfällig ächzend schrammten die stählernen Flügel über das Kopfsteinpflaster, bevor Rimas in den Innenhof fuhr. Als er anhielt, ging der Atem der Frau schneller. Er stieg aus, riss die Fondtür auf.

»Los, raus!«, schnarrte er.

Eingeschüchtert kroch die Frau heraus, schluchzte. Ihr Begleiter starrte in den Himmelsausschnitt, den eine graubauchige Wolke verdeckte. War es ferner Donner, oder das Geräusch, mit der Rimas die Hintertür öffnete? Er lief in den durch die rote Lackfarbe düster wirkenden Korridor. Das matt hereinsickernde Tageslicht erhellte ihn ein wenig. Durch den Spalt einer angelehnten Tür blickte er auf einen Schreibtisch in einem Dienstzimmer. Der Offizier kehrte ihm den Rücken zu, schien mit etwas beschäftigt zu sein. Rimas wandte sich um, prüfte, ob Damanskas die beiden Verdächtigen eskortierte. Erkannte er etwa stilles Widerstreben in Damanskas‘ Augen? Damit verriet er sich mehr als mit Worten.