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In der Liebe und im Kalten Krieg ist alles erlaubt Man schreibt das Jahr 1981, als Rasa ihr Zuhause verlässt, um in der litauischen Hauptstadt Vilnius eine Karriere im Staatsdienst anzustreben. Dabei kreuzen zwei bedeutsame Männer ihren Weg: Der umtriebige Valdas Grinfeldis, der sich als ihr Schlüssel zur Vergangenheit ihres Vaters erweist – und der gefürchtete KGB-General Rimantas Rutkus, der sie, eine junge Frau voller Ambitionen und Sehnsucht nach einem abwechslungsreichen Leben, für den sowjetischen Geheimdienst anheuert. Währenddessen wird der Ingenieur Algirdas Montvila, auch der »Eiserne Wolf« genannt, mit einem prekären Staatsgeheimnis betraut. Sein Aufstieg in die höchsten politischen Kreise scheint damit unaufhaltsam - doch tief in seinem Innersten ist Algirdas Patriot und muss Entscheidungen treffen, die ihn an seine Grenzen bringen. Der farbenprächtige und fesselnde Auftakt der »Eis und Bernstein«-Saga um die »Perle von Vilnius« und den »Eisernen Wolf« – eine Zeitreise in den Sowjetalltag der 1980er Jahre.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Eis und Bernstein
Staffel 1 der Eis und Bernstein-Saga
Ira Habermeyer
Eis und Bernstein
Historischer Roman
Cold War Fiction
Copyright: Ira Habermeyer 2023
Cover: Renée Rott, Dream Design Cover and Art
Ira Habermeyer, Moltkestr. 2 a, 85356 Freising
Wichtiger Hinweis an meine Leser*innen:
Dieser Roman ist für alle bestimmt, die zwielichtige und ambivalente Charaktere mögen. Daher auch die Darstellung expliziter Szenen, Age Gap, Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Traumata, Diktatur sowie von Folter und Gewalt.
Sämtliche Texte, sowie das Cover des Buches sind urheberrechtlich geschützt. Ähnlichkeiten mit Romanfiguren und real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, historische Persönlichkeiten, die kurze Auftritte haben, bzw. erwähnt werden, sind im Anhang aufgelistet.
Da der Roman zu Zeiten der UdSSR spielt, werden teilweise Ortsnamen vor 1991 verwendet, um die Authentizität zu wahren. Der Roman folgt in groben Zügen unter Berücksichtigung der Faktenlage wahren historischen Begebenheiten, wie auch den Nationalitätenkonflikten innerhalb der UdSSR während der 1980er und 1990er Jahre, sowie des Putschversuchs am 13. Januar 1991, der als Vilniusser Blutssonntag in die Geschichte einging. Allerdings handelt es sich bei einem Roman auch um ein fiktionales Werk.
Die Autorin ist auf Instagram und TikTok.
https://irahabermeyer.com
Dramatis Personae
In Kaunas:
Pranas Tarvydas Milizchef
Laima seine Frau
Gediminas sein Sohn, Major der sowjetischen Luftwaffe
Rasa seine Töchter
Julija
In Vilnius:
Valdas Grinfeldis Direktor des Kombinats Elektronika
Rūta seine Frau
Arūnas sein Sohn
Izabelė seine Tochter
Algirdas Montvila Ingenieur, Abteilungsleiter im Bauministerium
Milda seine Frau
Marius Aurelijus sein Sohn
Rimantas Kazimieras Ruktus General des KGB
Vytautas Šedvila Parteisekretär
Justas Šedvila sein Sohn
Audrijus Jurkevičius General der Sowjetarmee
Wladimir Petrowitsch Sorokin General des KGB (in Moskau)
Leonid Tarassow Architekt im Bauministerium
Kotrina Baltienė Rasas Cousine, Arbeiterin bei Elektronika
In Žalkalnis:
Daina Montvilaitė Algirdas‘ Schwester
Genovaitė Montvilienė Ihre Mutter
Karolis Pintulis Parteisekretär
Petras Gerulaitis Leiter der Kolchose Lenins Ruhm
Jurgis Valeika Pferdewart auf Der Kolchose Lenins Ruhm
Historische Persönlichkeiten
Leonid Iljitsch Breschnew 1906 – 1982;
Staats- und Parteiführer der UdSSR;
Jurij Wladimirowitsch Andropow 1914 – 1984;
Vorsitzender des KGB der UdSSR
Petras Griškevičius 1924 – 1987;
Generalsekretär der kommunistischen Partei
Litauens
Playlist
Thema: Fürst Igor
On The Radio
Donna Summer
Wuthering Heights
Kate Bush
Breakfast in America
Supertramp
Gloria
Laura Branigan
Con Elisa
Alice
Senasis Vilnius
Darius Ramanauskas
Turn me Loose
Loverboy
Love is a Stranger
Eurhythmics
What a Feeling
Irene Cara
Hymn
Ultravox
Petrowka 81
(Anspielung auf die sowjetische Agentenreihe Petrowka 38)
1.
Kaunas, Litauische SSR, im August 1981
Sanft glitten die Ruder in die träge Strömung des Nemunas. Gerade noch hielt sich genügend Helligkeit, so dass Rasa das Gesicht ihres Vaters erkennen konnte. Über dem Buchenhain, der zum Ufer hin abfiel, sank die Sonne als glühender Ball und hauchte die tief im Himmel hängenden Wolken rot an.
Pranas Tarvydas hob beide Ruder, einzelne Wasserperlen tropften zurück in den Fluss. Das Boot trieb langsam mit der Strömung, die Wellen schaukelten es unmerklich der Sandbank entgegen. Noch einmal stieß Pranas das Ruder am Grund ab. »Nimm«, sagte er. »Steuer du das Boot zu unserer Stelle.«
Rasa umfasste die Griffe, in ihren Fäusten lag das mit den Jahren dunkel gewordene glatte Holz. Sie fing den Blick ihres Vaters auf, graue Augen, die im schwindenden Licht der hereinbrechenden Nacht der Farbe des Himmels glichen. Tief über der Wasseroberfläche am seichten Ufer schwebten Schwalben, um in ihrem geschickten Flug zu trinken. Wie die Schwalben schweiften Rasas Gedanken ab, landeten auf dem nächsten Tag. Ein nervöses Kribbeln erfasste sie, senkte sich schwer zwischen ihren Rippen. Mit Aufregung und Vorfreude zugleich dachte sie an Vilnius, an die Fachschule und an die Arbeit, die sie neben ihrer Ausbildung zur Beamtin beginnen würde. Um sich nebenbei etwas Geld zu verdienen, zu sparen, und auch ihrer Schwester Julija – mehr ihrem Mann Antanas – den Anteil für die Unterkunft in ihrer Wohnung zuzuschießen. Ihre Cousine Kotrina lebte bereits seit ihrer Jugend in Vilnius, noch jemand, den sie kannte.
Pranas widmete Rasa einen beschwichtigenden Blick, erriet wohl ihre gemischten Gefühle. Dabei zuckte sein gepflegter blonder Schnauzbart. »Du bist unsicher, was dich in Vilnius erwartet, nicht wahr?«
»Ja und nein.« Sie seufzte, betrachtete den dunklen Fluss. Ein erstes gelbes Blatt trieb auf der leichten Strömung. »Natürlich bin ich aufgeregt, was mich am ersten Tag auf der Fachschule erwartet. Aber dass ich bei Julija und Antanas wohne, gibt mir Sicherheit. Ich kenne Vilnius nur von den Besuchen und unseren Ausflügen.« Das Blatt wurde von einem der kleinen Strudel eingesogen, blieb eine Weile unter Wasser, ehe es einige Meter weiter stromabwärts wiederauftauchte. »Genauso wie Valdas. Ich weiß nur, dass er uns zuletzt vor zwei Jahren besucht hatte.« Rasa wandte sich wieder ihrem Vater zu.
»Da er so etwas wie ein Sohn für mich ist, ließ er sich nicht zweimal bitten, dir die Stelle in seinem Kombinat zu geben. Er meinte, es täte dir gut, neben deiner Ausbildung ein paar Rubel zu verdienen.« Pranas beugte sich vor, zog die Angelrute unter den Bänken heraus. »Er ist mir noch einen Gefallen schuldig.«
»Welchen Gefallen, Tevas?«
»Das ist lange her, November Einundvierzig.« Er straffte die Schnur. »Der Abend dämmerte bereits, in der Luft lag der Geruch des ersten Schnees. Ich zog mit dem Partisanenregiment weiter, wir wussten, dass die Deutschen uns bereits voraus waren. Du weißt, ich war Partisan.« Sein Blick streifte den Himmel, ruhte wieder auf Rasas Gesicht.
»Ja, Tevas, das weiß ich«, sagte sie, verdrehte die Augen. »Ich habe diese Geschichte mindestens dreißig Mal gehört.«
»Dann erzähle ich sie dir das einunddreißigste Mal«, entgegnete Pranas, fuhr fort: »Es war ein kalter Tag, der Wind fegte über die Waldlichtung, der Boden war gefroren und die Hufe unserer Pferde hinterließen ein hohles Geräusch auf der Landstraße. In der Dämmerung trauten wir uns aus unseren Verstecken, um voranzukommen.« Er sah sie an, als ordnete er seine Erinnerungen. »Ich hörte den Wind im trockenen Schilf, er klang wie ein wehmütiges Lied. Hätte sich nicht das letzte Abendrot so beeindruckend schön auf der dünnen Eisschicht des Wassergrabens gespiegelt, wäre ich nie auf das kleine dunkle Bündel an der Böschung aufmerksam geworden. Ich reckte den Hals, spähte zwischen die Zweige einer Trauerweide. Was war es wohl?« Seine Wimpern zuckten, als betrachtete er erneut das Knäuel zwischen Schilf und herabhängenden Weidenzweigen. »Es bewegte sich. War es ein Tier? Ein Wildschwein, oder gar ein altersschwacher Wolf? Ich gab den Männern ein Zeichen, fasste nach meinem Gewehr und hielt das Pferd an, um abzusteigen. Vorsichtig pirschte ich mich an. Das Bündel regte sich, hob den Kopf. Ich schaute in die großen schwarzen Augen eines kleinen Jungen. In ihnen lag so viel Angst und Traurigkeit, dass mir klamm ums Herz wurde.«
Erneut sah Rasa das Bild vor sich, das ihr Vater beschrieb, und fügte es zusammen. Das Kind aus den Sümpfen wurde zu dem dunkelhaarigen Mann, der auf dem Sofa im Wohnzimmer ihres Elternhauses saß, Kaffee mit einem Schuss Cognac trank und ihr und Julija die mitgebrachten Pralinen anbot. »Der Junge war Valdas, lass mich raten.«
»Ja«, antwortete Pranas. Mit einem unterdrückten Seufzer wanderte sein Blick zu den Wolkengebilden im Himmel. »Ein jüdisches Kind, das auf einem der Todesmärsche den Deutschen entkommen war. Er hatte seine Familie verloren, war aber für sein Alter ziemlich schlau. Du weißt, dass die Faschisten die Litvaks, die Juden, umgebracht haben. Einige haben überlebt, wie Valdas.«
»Weil du ihn gerettet hast.«
»Möglicherweise wäre er verhungert oder erfroren, wenn ich ihn nicht gefunden hätte. Trotz aller Schlauheit ist ein kleines Kind auf Erwachsene angewiesen«, fuhr er fort. »Wir nahmen ihn mit und brachten ihn bei der Familie deiner Mutter unter. Sie versteckten ihn auf dem Hof, ich sah immer wieder nach ihm, wie er heranwuchs. Dieses Leben im Geheimen schweißte uns zusammen.«
Während sie die Heimlichkeit und die Beklemmung nachempfand, betrachtete Rasa das Birkenblatt, das mit der Strömung trieb.
»Als wir mit Hilfe der Roten Armee die Deutschen besiegt hatten und der Krieg vorbei war, holte ich Valdas nach Kaunas.« Pranas suchte nach einem passenden Köder, eine silbrig gemusterte Feder. Er betrachtete sie scharf, atmete lange aus. Dabei wogte der feine Flaum der Feder. »Ich kam in der Miliz unter, Litauen brauchte junge Männer wie mich, die keine faschistische Vergangenheit hatten. Schließlich heiratete ich deine Mutter, und sie musste die Tatsache hinnehmen, dass ich ein Kind mit in die Ehe bringe. Begeistert war sie nicht davon, anscheinend war ihre Liebe doch größer. Dann kam Gediminas auf die Welt, und Julija.«
Wie ihre Mutter Valdas behandelt haben mochte, malte Rasa sich aus. Viel Liebe hatte sie ihr nie gezeigt. Je älter Laima wurde, umso mehr schien sie sich an ihren Mitmenschen zu stören und zog sich nach der Arbeit zurück. Immer häufiger blieb sie zu Hause, sagte, sie wäre krank. Gäste empfing sie nur widerwillig – und um einen Grund zu finden, sich zu betrinken. Das Kochen und den Haushalt übernahm inzwischen Rasa. Ihr wurde wieder deutlich bewusst, warum sie gerne von hier wegging, dieses Haus verließ und sich der finsteren Miene ihrer Mutter entzog.
Hinter einem Wolkenfetzen machte sie den aufgehenden Mond aus. Prall und orange glimmend wirkte er wie ein reifender Kürbis, spiegelte sich auf dem Fluss. Sie hob ihren Blick, betrachtete ihren Vater. Mit seinem verstümmelten befühlte Daumen Pranas die gestutzte Feder am Haken. Das Fischen war seine Lieblingsbeschäftigung, wenn er vom Dienst als Milizchef zurückkehrte. In seiner Freizeit fertigte er selbst die Köder aus Federn an, die er in den Flussauen und bei seinen Streifgängen fand. Geschickt benutzte er dabei Messer und feinen Draht. Rasa nahm die entspannten Gesichtszüge wahr, der Abendwind strich durch seine Haare, deren dunkles Blond dem Grau eines sechzigjährigen Mannes wich. Pranas fasste in die Köderdose. Ein glitschiger Wurm wand sich um die fehlende Kuppe seines Daumens, wehrte sich gegen die tödliche Spitze des stählernen Hakens.
Seitdem sie sich erinnern konnte, war die linke Hand ihres Vaters entstellt. Quer durch die Handfläche zog sich eine tiefe, helle Narbe und das erste Glied seines Daumens fehlte. Als sie ihn einst gefragt hatte, was ihm zugestoßen wäre, hatte er erklärt, er habe einen Faschisten fassen wollen. Der Mann habe einen Offiziersdegen aus den Zeiten der bürgerlichen Republik gegen ihn erhoben und mit der Klinge seine Hand zerteilt, dafür wäre er in den Gulag gekommen. Diese Geschichte hing anscheinend mit Valdas Grinfeldis zusammen, den er hatte ausbilden wollen, damit auch er zur Miliz ging.
»Nach seinem Wehrdienst wurde Valdas aber für die Technische Universität empfohlen«, fuhr Pranas leise fort. »Er war wohl froh, dass er seine Begabungen ausleben konnte.« Mit einer schwungvollen Bewegung holte er die Angelrute aus, die Schnur samt Haken und Köder versank im dunklen Wasser. »Er machte einen guten Abschluss in Mathematik, heiratete und wurde Leiter von Elektronika.«
»Wo ich arbeiten werde«, ergänzte Rasa, den Kreisen folgend, die die ausgeworfene Angelschnur weiterhin formte. »Eine bemerkenswerte Lebensgesichte. Valdas Grinfeldis, meine ich.«
Zustimmend nickte ihr Vater, dann verfiel er in jenes geheimnisvolles Schweigen, das ihr bedeutete, ebenfalls abzuwarten. Fast unsichtbar trieb die Angelschnur mit der Strömung. Sie kannte diesen angespannten Gesichtsausdruck, der sich erst dann lockerte, sobald ein Fisch anbiss. Beim Angeln hatte sie Geduld gelernt. Unmerklich atmete sie ein und aus, lehnte sich gegen die Holzwand des Kahns, hielt ihn gelegentlich auf Kurs, und folgte dem langsam wandernden Mond im nachtblauen Himmel.
Das fließende Licht des Vollmonds und der Kegel der Taschenlampe, die Rasa hielt, streiften die Stelle, in der die Schnur sich bewegte. Und wie sie sich bewegte! Ruckartig zog sie etwas Kräftiges nach unten, während sich die Angelrute in Pranas’ Hand bog.
»Da hat was angebissen!«, rief er, wandte sich ihr zu. »Schnell, den Kescher!«
Rasa tastete nach dem Stiel des Keschers, holte ihn unter der Bank hervor, streckte ihn aus. Pranas stand auf, stemmte sich breitbeinig gegen die Innenwände des Kahns, hielt mit beiden Händen die Angel. Am anderen Ende wehrte sich der Fisch, dessen Kopf aus dem Wasser auftauchte. Er verbiss sich noch mehr am Haken, während er mit Pranas kämpfte. Mit angehaltenem Atem beobachtete Rasa das Ringen zwischen ihrem Vater und dem Tier, sein Auge glänzte silbern im Mondlicht. Abrupt zerrte Pranas einen mehr als halben Meter langen Fisch aus dem nachtschwarzen Wasser, sein Körper wand sich über der Oberfläche hin und her. Rasa hielt das Netz unter die schlagende Schwanzflosse, beförderte ihn in den Kahn. Das Gewicht des Fisches musste Pranas’ Kräfte beanspruchen, als er das zappelnde Tier vom Haken löste. Platschend fiel der Fisch auf die Planken, schnappte mit seinem riesigen Maul. Dabei zeigte er seine scharfen, gebogenen Zähne, ähnlich einer giftigen Natter. Drohend stellte er seine Rückenflosse zu einem grünroten Fächer auf. Damit erinnerte er an einen wütenden Drachen. Sein glitschiger Körper zuckte, schlug auf Rasas Füße. Pranas tauschte einen einvernehmlichen Blick mit ihr aus. Sie nahm den Knüppel, zielte und erledigte den Fisch mit einem gezielten Schlag auf den Hinterkopf. Noch einmal bewegten die Muskeln den grünschwarz gemusterten Körper, dann gab er mit seinem weit aufgerissenen Drachenmaul seinen Kampf für immer auf.
»Und was da angebissen hat«, bemerkte sie.
»Mhmhm«, antwortete ihr Vater keuchend vor Anstrengung. Ihm entkam ein stolzes Grinsen. »Gut gemacht, du hast ihn mit einem Schlag erledigt. Das wird morgen ein Fest, ihn zu essen.«
»Rasa, pflück weiter die Äpfel.« Vorsichtig stieg Laima die Sprossen der Leiter hinab. Aus ihrem leisen Keuchen hörte Rasa die Ängstlichkeit ihrer Mutter heraus, ihre Bewegungen nicht mehr kontrollieren zu können. »Ich muss mich ums Essen kümmern, aber zunächst einmal den Kaffee aufsetzen. Julija und Antanas werden jeden Augenblick kommen.« Laima ließ die gelbgrünen Äpfel aus dem Netz des Pflückers in den Emailleeimer gleiten, sah dabei Rasa bedeutungsvoll an. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, wandte sie sich um und strebte auf die Veranda zu. Gestört in seinem Nickerchen hob der hochbeinige rote Kater den Kopf, blinzelte träge, ehe er erneut zusammensank und weiterdöste.
Laima würde in die Küche eilen und dort tellerweise Vorspeisen und Kuchen auf dem Tisch aufbauen, und wie verrückt Zwiebeln hacken, Eier kochen, den Topf mit den Kartoffeln hastig von der Herdplatte ziehen, bevor das Wasser schaumig über den Rand des Topfs quoll. Dann würde sie den Fisch mit den klein gewürfelten Eiern und den Zwiebeln füllen und ihn schließlich dünsten. Es war, als erwachte sie für Julijas Besuche erneut zum Leben.
Zwischen den Pfeilern der Veranda regten sich die in der Sommerwärme trocknenden Leintücher, Unterröcke und Strümpfe. Rasa war zwar die Betriebsamkeit ihrer Mutter gewöhnt, ihren Gang durchs raschelnde Gras, so, als fürchtete sie, der Boden gäbe unter ihr nach wie Sumpfland, aber für sie war diese Welt nicht der bedrohliche Ort, wie er Laima erscheinen mochte. Theoretisch konnte jeden Tag ein Krieg mit dem Nordatlantischen Bündnis ausbrechen, so hatte sie es bei den Pionieren gelernt. Aber wozu sollten die Amerikaner die Grenzen überrennen, wenn die Sowjetunion über ein größeres Atomarsenal verfügte? Außerdem würde nicht nur eine gut ausgerüstete Armee hinter den Dünen an der Ostsee die Amerikaner erwarten, sondern die mit Sturmgewehren bestückte Jugend Sowjetlitauens. Rasa erklomm die Sprossen, dabei sah sie ihrer Mutter nach. Nein, die Zeit bei den Pionieren war nicht angenehm gewesen. Die Gruppenleiter und Sekretäre hegten hohe Erwartungen, die Gleichaltrigen trauten ihr nicht zu, dass sie jemals etwas Schwereres gehalten hatte als eine Angelrute. Erleichtert dachte Rasa daran, dass sie morgen Kaunas zurücklassen würde. Laima nahm die Wäsche von der Leine, faltete sie geschickt vor der Brust und trug sie ins Haus.
Ihren Oberkörper an den Rahmen der Holzleiter gelehnt, streckte Rasa den Pflücker nach den hoch hängenden Äpfeln aus. Geschickt streifte sie mit den metallenen Zacken die Stiele von den Ästen. Die Äpfel fielen in das Netz. Eine einzelne Wespe umschwirrte Rasas Kopf. Nur nicht nervös werden, beschwor sie sich, während sie ihre Knie zittern spürte. Sie hörte das Surren der transparenten Insektenflügel, als es sich in unruhigem Flug zwischen ihr und dem Netz bewegte. Möglicherweise konnte die Wespe nicht entscheiden, was für sie verlockender war: Die reife Süße der Äpfel oder der blumige Duft von Rasas frisch gewaschenen Haaren.
Schritte hallten über den Gehsteig. Vertraute Stimmen und Gekicher begleiteten das Klappern hoher Absätze, lenkten Rasa von der Wespe ab. Diese bekam Gesellschaft von einer ihrer gelbschwarzen Schwestern. Rasa erspähte durch das Laub Inna und Odilė. Mit den beiden war sie zur Schule gegangen, noch immer hingen sie wie unzertrennliche Zwillinge aneinander. Das passt ja, lief es Rasa mit einem bitteren Lachen durch den Kopf, so wie eine Wespe nie allein nervt.
»Schau mal, wer da Äpfel erntet!« Inna hob ihre Stimme, stob ihre Freundin in die Seite. »Da ist Fräulein Weiß-alles-besser!«
»Ah, ja, die Tarvydaitė«, pflichtete ihr Odilė bei, reckte den Hals und sah abfällig grinsend zu Rasa herauf. »Was hat sie sich heute wieder hübsch gemacht. Zur Apfelernte zieht man doch kein Sommerkleid an.«
»Eine Schürze wäre ja unter ihrer Würde!«
Die Sticheleien hörten nicht einmal nach dem Schulabschluss auf. Rasa rang um Fassung, obwohl der Zorn auf die beiden in ihr hochschwappte. Sie lachten, und dieses fiese Lachen klang in Rasas Erinnerung nach. Einmal waren die Pioniere über eine sandige Waldlichtung gerannt, zwischen dünnen jungen Birken und Moosbeerenbüsche hindurch. Sie hatte ihr Pionierschiffchen verloren, doch das Gewehr fest an sich gepresst. Ihre Stiefel hatten Sand aufgestoben, daran erinnerte sie sich, und dann war sie gestolpert. Und gestürzt, während die grelle Sonne sie geblendet hatte. Erst als sie den dumpfen Stoß zwischen ihren Rippen gespürt hatte, hatte sie bemerkt, dass sie gefallen war. Der Gewehrkolben hatte sich in ihre Brust gebohrt und den unangenehmen Schmerz verstärkt. Als Rasa wieder vermocht hatte, Atem zu holen, waren die Geräusche um sie herum lauter geworden, der Ruf einer Spottdrossel und das Gelächter der Mädchen ... Wie das Surren der Wespenflügel klangen die Tuscheleien nach, die Gemeinheiten troffen vor Gift, ähnlich einem Stachel. Rasa konnte sich nicht erinnern, dass sie einer der beiden jemals etwas getan hatte. Ihre Anfeindungen konnte sie sich nur mit der Position ihres Vaters erklären. Aber wenn jemand Schwierigkeiten mit der Miliz hatte, war es ja schließlich seine Schuld.
Einen langen Augenblick funkelten Rasa und Odilė einander an. Innas Blick bekam etwas Hämisches, so, als wäre sie ihr überlegen.
»Komm!« Inna zupfte Odilė am Ärmel, grinste noch einmal Rasa an und setzte ihren Weg fort, dem Gehsteig folgend den Hügel zum Fluss hinab.
Wütend sog Rasa die Luft ein, hielt den Atem an. Ihre aufgewühlten Emotionen und die Hitze machten sie gleichermaßen benommen. Die Aussicht, dass sie mit Kaunas auch Inna und Odilė zurücklassen würde, tröstete sie. Rasa stieß einen langen Atemzug aus, als bewegte sie sich damit fort.
Tuckernd wie ein Rasenmäher quälte sich ein roter Schigulij den Hügel hinauf, Benzingeruch vermischte sich mit der Süße der Äpfel. Das waren Julija und Antanas. Ein Anflug von Freude machte sich in Rasa breit. Mit dem vollen, schweren Netz des Pflückers in der einen Hand stieg sie behutsam die Sprossen herab. Am Lächeln ihrer Schwester haftend ließ sie einen Apfel nach dem anderen in den Eimer kullern.
»Julija!« Rasa umarmte sie und die einjährige Alėna, deren zarter Kleinkindergeruch ihrer Nase schmeichelte.
Verlegen blieb Rasa vor Antanas stehen. Mit wenigen, doch umso entschlosseneren Schritten hatte er sich ihr genähert.
»Sveiki«, begrüßte er sie, nahm dann erst die Sonnenbrille ab. Besitzergreifend umfasste er Julijas Schulter, bewegte sie zum Haus.
»Ah ja«, sagte Rasa, »Mama ist fleißig dabei, zu kochen. Ich hoffe, wir machen sie nicht nervös, wenn wir hereinkommen.« Sie schob die Verandatür auf und rief in den Flur nach ihren Eltern: »Mama! Tevas!«
Blaue Gräten lagen auf den Tellern, blieben von dem großen drachenähnlichen Fisch übrig. Ein kleines Stück des festen, weißen Fleisches hatte Rasa auf den Tellerrand geschoben, um es aufzuheben. Pranas erhob sich, brachte die Flasche Degtinė. Bevor Laima sich bewegte, um ihren schwerfälligen Körper zwischen Tisch und Stuhl herauszuschälen, stand Rasa flink auf. Für einen flüchtigen Moment erwiderte sie den Blick ihres Schwagers Antanas. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Julija schien er wenig davon zu halten, dass sie fortan bei ihnen leben würde. Lediglich aus Höflichkeit gegenüber der Familie hatte er zugestimmt. Rasa warf ihrer Schwester ein wohlwollendes Blinzeln zu. Auf deren Schoß saß Alėna mit runden Wangen und gespitztem Mündchen, die hellblonden Haare von einer Schleife aus dem Gesicht gehalten.
Als Rasa in der Vitrine nach den zierlichen Gläsern griff, betrachtete sie die beiden Fotografien ihres Bruders. Auf dem ersten Bild machte Gediminas den ernsten Gesichtsausdruck, der zur Uniform eines Majors der Luftwaffe passte. Die zweite Aufnahme musste in einem Moment entstanden sein, in dem er gelöst war. Er stand im Overall neben einer MiG, ein heller Streifen auf der Metallhaut des Flugzeugs glitzerte wie Quecksilber im Sonnenlicht. Inzwischen war Gediminas in Afghanistan. Rasa erinnerte sich schwach an den Namen der Stadt, Kabul war es nicht ... Faisabad? Unmerklich seufzte sie. Er fehlte ihr, und ihr lagen Worte auf den Lippen, die sie ihm zu gerne sagen wollte. Wie es ihr gehe und wie sie sich fühle – ihr innerer Dialog mit Gediminas klag wie das Rauschen durch die Leitung in ein fernes, fremdes Land. Schließlich brachte sie den Mund auf, aber wandte sich an ihre Eltern und an ihre Schwester.
»Findet ihr nicht, dass die Luft ziemlich drückend ist?«, bemerkte Rasa. In ihrer Linken klirrten die Gläser aneinander, während sie den Fensterflügel öffnete. Nur ein träger Windhauch streifte die Spitzengardine. »Es sieht so aus, als würde noch ein Gewitter aufziehen ...«
Ein leises Kratzen an der Tür unterbrach sie. Ryžas, der rote Kater schlüpfte lautlos mit erwartungsvoll aufgerichtetem Schweif ins Wohnzimmer, strebte auf Rasa zu.
»Mrrau!«, gab er von sich, schmiegte sich um ihre Beine, stupste sie mit der Nase an.
Als sie ihm über den Kopf und die samtweichen Ohren strich, grub er seine Schnauze in ihre Hand und begann laut zu schnurren.
»Du brummst wie ein Lastwagen«, konstatierte sie ihm. »Ich weiß, was du möchtest.«
»Muss das jetzt sein?«, fragte Pranas, rollte die Augen, sah zur Decke.
»Ja.« Rasa stellte ihm die Gläser hin, nahm ihren Teller. »Er scheint zu spüren, dass ich heute das Haus verlasse und für längere Zeit nicht zurück sein werde. Lass mich von ihm Abschied nehmen, Tevas.« Beim Blick auf das rotgolden gestromerte, seidige Fell des Katers spürte sie, wie ihr Herz sich zusammenzog. So, als sog ein Vakuum jede Kammer, jede pulsierende Ader ein. »Ateik čia, komm mit«, flüsterte sie Ryžas zu, ging mit ihm in die Küche und schob das Stückchen Fisch in ihren ausgedienten Kinderteller.
Sie strich über seinen Rücken, den er ihr entgegenstemmte. Einzelne lose Fellhaare flogen durch die Luft, schimmerten wie Bernsteinspäne im hereinfallenden, von Wolken gedämpften Nachmittagslicht. Der Abschied von Ryžas fiel ihr schwer, seit Jahren war er ihr Begleiter. Wenn er seinen nächtlichen Streifzügen zurückkehrte, erbat er sich Einlass in ihr Zimmer, rollte sich nach ausgiebiger Fellpflege zu ihren Füßen zusammen und schnurrte wohlig. Rasa wusste, dass sie ihn nicht mitnehmen konnte. Vilnius mit seinem tosenden Verkehr und den eiligen Schritten Tausender von Beinen, die sich über den Leninprospekt bewegten, wäre nichts für ihn. Katzen brauchten ihr gewohntes Revier, und Ryžas war der stolze Herrscher der Gärten und des Gebüschs am Fluss und würde nicht von den streunenden Rivalen in den Hinterhöfen der Hauptstadt geduldet werden. Leise seufzend verließ sie die Küche, kehrte ins Wohnzimmer zurück.
Prüfend betrachtete Rasa durch die beiseitegeschobene Gardine die bauschigen Wolken, die durch die Weite des blauen Sommerhimmels zogen. Mit ihren grauen Bäuchen wirkten sie, als trügen sie reichlich Regen mit sich. Sobald sie aneinanderstießen, würden Blitze funken und sich das geladene Wasser in Strömen ergießen. Rasa sah auf die Stadt herab, aus dem Tal der Hügel, die sie umgaben, ragten die weißen Türme der Jesuitenkirche. Als kleine rote Punkte hingen bewegungslos die Fahnen am Parteihaus. Und weiter unten wogte der Nemunas, schaukelte sanft den Kahn, den Pranas am Steg festgebunden hatte.
Julija fächelte sich mit der Hand Luft zu, rutschte in das Polster des Stuhls. »Mir bekommt die Schwüle nicht«, ächzte sie, schob ihre nackten Füße über den Teppich. Sie hatte ihre Schuhe ausgezogen, die Abdrücke der Riemen zeichneten sich auf der Haut ab. »Wenn ein Unwetter aufzieht, sollten wir rechtzeitig aufbrechen.«
»In der Tat«, sagte Antanas bestimmend. Sein Kopf zuckte zurück, als Rasa ihm das Glas hinstellte. »Ich habe keine Lust, bei Regen nach Vilnius zurückzufahren. Die schlechte Sicht und überhaupt.«
Gluckernd lief die klare Flüssigkeit in die Gläser, die Pranas füllte. Rasa brannte die Schärfe des Wodkas augenblicklich in der Nase, als sie ihres anhob.
Fast schon feierlich streckte ihr Vater den Arm aus. »Auf deine Zukunft, Rasytė«, sagte er. Dabei umspielte ein leichtes Lächeln seine Lippen. »Mögest du deine Ausbildung mit besten Noten bestehen und unserem sozialistischen Mutterland dienen.« Aus seinen Augen strahlten Vertrauen und Stolz. »Į sveikatą – zum Wohl!«
Wie das Klingen zarter Glocken stießen die Gläser aneinander. Zuerst das ihres Vaters, dann das Antanasʼ. Als sich Rasa ihrer Mutter zuwandte, mühte sich diese ein verkrampftes Lächeln ab. Doch aus ihren Augen schimmerte so etwas wie Wohlwollen – jedenfalls verstand Rasa, dass Laima ihren Weg begleitete. Mit einem zerbrechlichen Klang berührten sich die Ränder der beiden Gläser, dabei lief ein Tropfen über Rasas Daumen.
»Į sveikatą«, erwiderte sie, leerte den Wodka mit einem Schluck und zog die Nase kraus.
Ja, es war schwül und die Luft gewitterlastig. Die Degtinė würde ihr zu Kopf steigen, und nach einiger Zeit würde der leichte Schwindel wieder nachlassen.
2.
Žalkalnis, Nordlitauen, zur gleichen Zeit
»Da kommt Mama!« Marius‘ helle Stimme erscholl über das entfernte Hufgetrappel. Der Junge saß auf dem Holzzaun, neben ihm Daina.
Algirdas Montvila beobachtete, wie seine Frau auf dem Rücken eines braunen Pferdes über die Weide herangetrabt kam. Neben Milda ritt Jurgis Valeika, einer der Pferdewarte der Kolchose Lenins Ruhm. Aus dem niedrigen Gebüsch und dem Gras schallte das endlose Zirpen der Grillen, übertönt vom heulenden Klang eines Zuges. Dieses durchdringende Klagen drang aus dem Wald, die Bahnlinie führte hinauf in den Norden nach Riga. Von hier aus, dem Dorf Žalkalnis, war es nicht weit zur lettischen Grenze. Algirdas hob den Kopf, spähte in Richtung Wald. Er machte die Holzhäuser mit den patinierten Blechdächern im Dorf aus, sowie das backsteinerne Bahnhofsgebäude. Dort hatte sein Vater gearbeitet, die Schranken heruntergelassen. Die Züge, die ein paar Mal am Tag in Žalkalnis gehalten hatten, waren für Aurelijus Montvila der zuverlässige Tagesablauf gewesen. Für Technik, Maschinen und wie sie funktionierten, hatte Algirdas sich bereits als Kind begeistert, und so fiel ihm später sein Ingenieursstudium leicht. Noch immer waren Gebäude, Statik und deren spätere Nutzung etwas, was ihn faszinierte. Ganze Wohnsiedlungen in Vilnius und prestigeträchtige Kraftwerke wanderten als Pläne über seinen Schreibtisch, und er berechnete deren Statik. Immer weiter sah er sie wachsen, wenn er die Baustellen besuchte und seine Pläne mit dem Entstehenden verglich. Voller Zufriedenheit betrachtete er, wie sich Reihen von aufstrebenden Wohnblocks in neue Straßen und alte Wälder einfügten und Familien in ihre schlichte Funktionalität einziehen würden.
Schatten verdeckten das matte Nachmittagslicht, das Pferd schnaubte. Geschmeidig glitt Milda aus dem Sattel, setzte auf dem Boden auf. Ihre Schritte federten leicht über das Gras, während sie die Kappe abnahm. Goldene Lichtpunkte schimmerten auf ihrem blonden Zopf. Sie lächelte und entblößte ihre kleinen Zähne.
»Obwohl wir bereits Ende August haben, ist es noch ziemlich heiß«, bemerkte sie, zupfte an ihrer Bluse. »Auch die Pferde schwitzen und die Fliegen sind lästig.« Seufzend ließ sie ihren Blick zum Himmel schweifen, dabei verlor sich ihr Grinsen kaum.
Manchmal glaubte Algirdas, dieses verkrampfte Lächeln wäre ihr angewachsen. Bis ...
»Mama, ich will auch reiten!« Mariusʼ blitzende blaue Augen insistierten sein Verlangen.
»Es reicht schon, dass du unbedingt zu reiten anfangen musstest.«An diesem Vorwurf kauend musterte Algirdas Milda.
Jurgis umschloss die Zügel beider Pferde. Zweifellos galt sein Interesse Daina, kaum Milda. Seine Schwester, in der Kittelschürze einer Erzieherin über dem Sommerkleid, erwiderte dem stattlichen jungen Mann einen offensiven Blick. Sie thronte auf dem obersten Balken des Zauns und beobachtete seelenruhig das Geschehen.
»Ich hoffe, dein Ausritt hat dir trotzdem Vergnügen bereitet«, sagte Algirdas zu Milda. »So lange du nur verschwitzt bist und deine Knochen heil bleiben.«
»Oh, ja ... das werden sie«, erwiderte sie, immer noch lächelnd.
Offenbar hatte sie die Spitze seiner Worte überhört, was ihn erleichterte. Obwohl ihn ihre neuesten Anwandlungen verwunderten, wollte er nur, dass sie zufrieden war und sich ihr gespieltes Lächeln nicht in die üblichen Anschuldigungen verwandelte.
»Darf ich reiten?«, brachte sich Marius in Erinnerung.
Algirdas tauschte einen Blick mit Jurgis, dann mit Milda. Daina, deren Kniekehlen eine Zaunlatte umschlossen, damit sie das Gleichgewicht hielt, zuckte mit den Schultern. »An mir soll es nicht liegen«, rief sie, neigte den Kopf und zupfte an ihren Haarspitzen. »Marius hat so geduldig gewartet und unsere langweiligen Unterhaltungen ertragen. Nicht wahr, Bruder?«
»Was sollte ich dagegen einwenden?«, entgegnete Algirdas. Er stupste seinen Sohn auffordernd an.
Mit einem Satz sprang Marius vom Zaun, strebte auf das Pferd zu. Geräuschvoll schnaubte es, scharrte mit dem Vorderhuf Steinchen und Staub auf und schüttelte seine Mähne. Erschrocken wich er zurück.
»Hab keine Angst«, sagte Milda.
»Langsam«, gebot ihm Jurgis, zurrte die Steigbügel höher und half ihm in den Sattel. »Halt dich am Knauf fest.«
Marius strahlte vor Stolz. Seine Hände umschlossen das dicke Leder des Sattels. Als Jurgis beide Pferde an den Zügeln führte, schaukelte sein Oberkörper auf und ab.
»Wir treffen uns bei den Ställen«, rief ihm Daina hinterher. Geschmeidig drehte sie sich im Sitzen um, schwang sich dann vom Zaun hinab. Sie strich Schürze und Rock glatt. »Gehen wir. Ich sollte mich noch umziehen und ein wenig zurechtmachen, denn heute Abend ist doch das Kolchosfest.« Missbilligend betrachtete sie ihre staubigen flachen Schuhe, die an den Zehen offen waren, und blickte an ihrem Kleid herab. Ihrem Gesichtsausdruck nach zu schließen fand sie ihre Aufmachung zu schäbig und würdelos. »Wo unsere produktivsten Bauern ausgezeichnet werden. Dafür kommt der Bezirkssekretär Pintulis.«
»Und nimmt die Auszeichnungen mit großem Trara vor, Genossen, die Partei birst vor Lob, dass wir unseren Plan in diesem Jahr zu hundert Prozent – nein, zu einhundertfünfzehn Prozent übererfüllt hat!«, imitierte Algirdas die Funktionärssprache. Dabei reckte er sein Kinn in die Höhe, um so blasiert wie die Parteisekretäre zu wirken, die er aus den Gremien kannte. Wenn sie ihr Allwissen über seine Statiken und die Pläne seiner Architekten stellten, denn die Partei hat immer Recht. »Ja, wir sollten uns alle ein wenig schöner machen, um dem Genossen Pintulis würdig unter die Augen zu treten«, kehrte er in seine normale Tonlage zurück, ohne dabei das spöttische Blinzeln zu unterdrücken.
Dainas Wangen erröteten wie die flammenden Gladiolen in den Vorgärten der Holzhäuschen entlang des Dorfangers. Mit gesenktem Kopf lief sie einige Schritte voraus. Schwalben stiegen in den Himmel auf, ihr Wiid-wiid hallte im geballten Grau der Wolkendecke wider. Daina sah zu ihnen auf, folgte dem Zug der geschickt tiefer gleitenden Vögel.
Unter der Wolkenkuppel lastete der bittere Rauch der Strohfeuer. In den Furchen der abgeernteten Roggenfelder staksten Saatkrähen. Daina bemerkte die übriggelassenen Garben am Feldrand, die jemand ineinandergeflochten hatte. Es war ein heidnisches Dankesritual an die Feldgeister, die eine gute Ernte begünstigt hatten. Auf ihrem Weg zum Kulturhaus ließ Daina die ersten Anzeichen des Herbstes an sich vorbeiziehen.
»Genosse Pintulis, es ist mir eine große Ehre«, übte sie leise die Begegnung ein, der sie entgegenfieberte. Doch diese Worte stellten sie nicht zufrieden.
Im Himmel nahm sie Bewegungen wahr. Ihre Gedanken drifteten ab, sie hob den Kopf. Mit weit ausgebreiteten Flügeln schwebte eine Gruppe von vier Störchen über die grünpatinierten Blechdächer und Ziegelsimse der Dorfhäuser hinweg. Sie ließen sich in der Wiese unterhalb des sanften, mit Birken gesäumten Hügels nieder, fast noch in der Luft stehend landeten sie mit einem Flügelschlag. Ihre schlanken roten Beine staksten zwischen Binsen und blauen Feldblumen, während ihre langen Schnäbel nach Blindschleichen und Fröschen stocherten.
»Bringt mir Glück«, flüsterte Daina den schwarzweißen Vögeln zu, »denn heute möchte ich, dass er auf mich aufmerksam wird. Karolis Pintulis, ein sehr wichtiger Mann. Und auch noch gutaussehend. Ich habe gehört«, sie drehte den goldfarbenen Schmetterling, der den Gürtel über ihrem blauen Plisséekleid schloss, in die Mitte, »dass er nicht verheiratet ist. Es wäre mein Glück, eine Lücke zu füllen.«
Über dem Wald neigte sich die Sonne zum Untergehen. Zwischen den Baumspitzen und den dunklen Wolken leuchteten glutrote Lichtbündel, als Daina vor dem Kulturhaus ankam. Mit Banderolen wie Die landwirtschaftlichen Brigaden der litauischen SSR erfüllen stets den Plan geschmückte Mähdrescher und Traktoren standen vor dem zweistöckigen Gebäude aus hellem Klinkerstein. Frohlockend erkannte sie auf der staubigen Fläche des Vorhofs Pintulisʼ schwarzen Moskwitsch. Als streichelte sie seine Wangen, glitten ihre Finger über die spätsommerliche Wärme ausdünstende Motorhaube. Daina betrachtete ihre Silhouette in der Windschutzscheibe, setzte ein selbstsicheres Lächeln auf und strebte auf den angelehnten Türflügel zu.
Kaum ein Lufthauch bewegte die rote Flagge mit den grün-weißen Balken, die schlaffen Stofffalten verschluckten Hammer und Sichel fast komplett. Um die Hausecke wehte der verlockende Duft saftiger, auf Holzkohle gegrillter Schaschlikspieße, der Daina das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Jahr für Jahr bereitete ihre Mutter Eimerweise das in feine Streifen geschnittene und über Nacht in Rotwein eingelegte Fleisch zu und erteilte den Männern der Kolchose Anweisungen, wie lange sie es über der Glut brutzeln sollten, bis eine leckere, leichte Kruste entstand. Noch einmal ließ Daina ihren Blick kreisen, konnte aber ihre Mutter in der Betriebsamkeit zwischen Grill und stoßweise Porzellantellern nicht entdecken. Dann ging sie hinein. Im Korridor standen zwei Landarbeiterinnen, rauchten und plauderten. Auch sie hatten sich für die Ehrungen herausgeputzt, trugen ein paar Auszeichnungen an ihren Jacken.
»… doch nicht im Ernst!«, empörte sich die eine Arbeiterin wohl über den neuesten Tratsch im Dorf.
»Wenn ich es dir sage! Alle wussten, dass es zwischen denen nicht mehr stimmt …«
»Wo ist sie jetzt?«, formten roséfarbene Lippen.
»In Rokiškis.« Andere Lippen legten sich um einen Zigarettenfilter, Finger schnippten die lang gewachsene Asche in einen Messingaschenbecher, der auf der Holzleiste stand.
Anscheinend merkten beide nicht, dass sie Daina den Weg versperrten. Sie berührte die andere Arbeiterin an der Schulter. Ein flüchtiger, fragender Blick, dann trat die Frau zur Seite.
Im Versammlungssaal angekommen hielt Daina nach Pintulis Ausschau. Noch war die üppig dekorierte Bühne mit ihren Arrangements aus Gladiolen und Sonnenblumen, den glänzenden roten Vorhängen und den sich einander ansehenden Porträts Lenins und Breschnews leer, das Mikrofon stand einsam da. Im hinteren Bereich ließen sich das Schlagzeug und die Instrumente von Jurgisʼ Gruppe erkennen. Aber auch die Umrisse des Klaviers. Als sie ein Kind war, hatte Algirdas vor dem vollen Kultursaal gespielt. Tschaikowskij, Rachmaninow, Beethoven. Die Finger ihres großen Bruders waren über die Tasten geflogen, teilweise hatte er auswendig gespielt und seinen Beifall erhalten. Bis er das Dorf verlassen hatte, um zu studieren, war Algirdas der Sonnenschein aller gewesen, so talentiert, so geschickt und hilfsbereit, so beliebt.
Dainas Herzschlag beschleunigte sich. In ihrer Kehle spürte sie einen Knoten anwachsen, als sie sich überlegte, was sie dem Parteisekretär mit gesenkter Stimme sagen wollte. Dieser Klumpen würgte ihr die Luft ab, verdarb ihr den Appetit und –
Neeee! Ihre Wangen mussten glühen, während sich ihre Stirn eiskalt anfühlte und ihre Knie weich wurden. Algirdas winkte ihr zu. Langsam, als steckte sie bis zu den Fesseln in zähem Sumpfboden, bewegte sie sich auf den Ehrentisch zu. Ihr Bruder, seine Frau und ihre Mutter nahmen dort selbstverständlich Platz, ebenso Petras Gerulaitis, der Kolchosleiter. Genovaitė Montvilienė war eine der hochdekoriertesten und ausgezeichnetsten Arbeiterinnen auf der Kolchose, und sie hatte wohl guten Grund, nicht am Grill zu stehen und persönlich die dampfenden Schaschliks auf Teller zu servieren. Doch das war es nicht.
Als sich Daina niederließ, blickte sie in Karolis Pintulisʼ sonnengebräuntes und von den ersten feinen Fältchen durchzogenes Gesicht. Ein Wimpernschlag und sie nahm einen Blick aus seinen blaugrünen Augen auf. Er deutete das schmale Lächeln aller Funktionäre an, dabei rahmten kleine Grübchen seinen schön geformten Mund ein. Aber wer war sie, dieses unscheinbare Ding neben ihm in der Kluft des Komsomol? Sie war strohblond, entweder hatte sie bei der Ernte einen Sonnenstich abbekommen oder eine Neigung hatte ihre Wangen so rot wie die Hautlappen einer Pute gefärbt. Vielmehr sah sie aus wie ein rosiges, wohlgenährtes Ferkel.
Šartva! Wie kann eine so hässliche Ziege neben ihm sitzen? »Guten Abend, Genosse Pintulis«, grüßte Daina ihn, verbarg ihre Abneigung seiner potentiellen Geliebten gegenüber. Bei der letzten Silbe ließ sie ihre Stimme sinken wie die Sonne über einem der mit Schilf und Seerosen bewucherten Tümpel am Waldrand.
»Labas vakaras«, erwiderte Pintulis. »Genossin Montvilaitë.« Dann wandte er sich seiner Begleiterin zu, die ihren Kopf senkte.
Daina löste ihre Blicke von ihm, widmete ihre Aufmerksamkeit Algirdas. Erst jetzt bemerkte sie, dass zwischen ihm und Milda die Luft zum Schneiden war. So angesäuert wie sie vor sich hinstarrte, könnte man meinen, sie hätte in einen Apfel gebissen, der unreif zu Boden gefallen war. Oder sie hatte wieder einmal mit Algirdas gestritten. Genovaitė kniff die Lippen zusammen, als schluckte sie an einer Bemerkung. Sie war eine gutmütige Frau und als Großmutter noch fürsorglicher; wenn sie ihre Gesichtszüge derart entgleiten ließ, musste ihr jemand zugesetzt haben.
Das leise Rascheln von Papier lenkte Dainas Aufmerksamkeit zu Pintulis zurück. Möglichst unauffällig schielte Daina zu ihm. Er spickte an der Tischkante auf seine Rede. Die Blonde bemerkte ihre Neugierde, sah Daina unverwandt an. Šartvų motėris!Du hässliches, unverschämtes Mädchen, gab sie der Blonden mit angehobenem Kinn und zusammengekniffenen Augen zu verstehen, am liebsten würde ich dich in die Jauchegrube stoßen, oder dich bei deinem Gruppenleiter melden! Schlagartig schwenkte sie auf ein zurückhaltendes Lächeln um, als Pintulis sie anblickte.
Daina richtete ihren Oberkörper auf, drückte im Schoß ihre Handflächen aneinander, fragte: »Werden Sie Ihre Rede vor oder nach dem Essen halten? Ihr Vorgänger hat immer davor zu unseren Arbeitern und Bauern gesprochen, denn sobald die Schaschliks aufgetischt werden, ist es vorbei mit der Konzentration.«
Algirdas griff nach der Wodkaflasche in der Tischmitte, schraubte sie auf und füllte die Gläser. Er streckte seine langen, muskulösen Beine aus. »Die Schaschlik unserer Mutter sind nämlich so gut, dass danach niemand mehr klar denken kann«, erklärte er, goss Wodka in Pintulisʼ Glas.
»Davon habe ich bereits gehört«, sagte er, tupfte mit dem Taschentuch den Schweiß von seiner Stirn, hob das Glas.
Er stieß mit Algirdas an, dann mit Daina, bevor er seine Begleiterin vergas. Anscheinend war die den scharfen Alkohol nicht gewöhnt, doch auch Daina spürte das Brennen der klaren Flüssigkeit in der Nase und das Pulsieren ihres Bluts in den Wangen. Die Degtinė war eindeutig ein Getränk für die Männer.
Applaus brandete auf, die blassen Scheinwerfer setzten die roten Vorhänge in ein glimmendes Feuer. Daina wandte ihren Kopf in Richtung Bühne. Jurgis hatte sie gerade betreten, er setzte einen Schritt an den Rand und breitete wie ein Künstler die Arme aus. Hinter ihm zeigte sich seine Band, zwei Männer in seinem Alter. Soviel Daina wusste, war der eine Traktorist und der andere in der Melkbrigade. Jurgis hatte sich für seinen Auftritt mehr herausgeputzt als die Jahre zuvor, der Lichtkegel schimmerte in seinen mit reichlich Pomade zurückgekämmten Haaren, und er trug ein gestärktes weißes Hemd zur Jeans. Moment – warum eine Jeans? Das hatte er zuvor noch nie gebracht.
»Genossinnen und Genossen!«, schallte seine launige Stimme durch den Saal. Sein Blick flog hinterher, blieb auf Daina landen. Seine Lippen weiteten sich zu einem selbstsicheren Grinsen. »Bevor wir die Rede unseres neuen Bezirkssekretärs hören, möchte ich mit einem Lied in den Abend einstimmen. Wir haben guten Grund zu feiern, nachdem uns in diesem Sommer Sonne und Regen gleichermaßen verwöhnt haben.« Er gab seiner Band ein Zeichen.
Elektronische Popbeats begleiteten Jurgisʼ Gesang. Er spielte ein Lied von Blumen und Stadtmädchen an, und den Gesichtsausdrücken ihrer Mutter und Pintulis‘ nach zu schließen, war das kaum die Musik, die deren Geschmack traf. Milda blickte weiterhin sauertöpfisch drein, stützte das Kinn auf, und die Blonde schien nicht zu wissen, was sie von der Musik halten sollte.Daina bemerkte wohl, dass Jurgis ihr immer wieder Blicke zuwarf, so, als wollte er sich sichergehen, dass sie ihn bewunderte oder gar anschmachtete. Von wegen, sie strich das Tischtuch glatt, sog dessen Geruch nach Waschmittel und trockener Sonnenwärme ein. Herausfordernd schielte sie zu Pintulis, wobei ihr klar war, dass sie die gleiche Rolle wie Jurgis spielte. Zu ihrer Erleichterung dauerte es nicht lange, bis er sein Stück auf der Bühne beendete. Gnädig spendete der Saal Beifall, einige Landarbeiter applaudierten allerdings lauter und überzeugter.
»Danke, ačiu jums«, wandte sich Jurgis an den Saal. »Später am Abend werden wir ruhigere Tanzmusik spielen. Doch nun spricht unser Bezirkssekretär, der Genosse Pintulis zu uns. Applaus bitte!«
Erneut spendete der Saal Beifall, Daina klatschte vornehm in die Hände. Mit geneigtem Kopf betrachtete sie Pintulis. Der verzog den Mund zu einem gepressten Lächeln, zog dabei das Kinn hoch. Eine Narbe, wahrscheinlich die Spur eines kleinen Unfalls in der Jugend, trat hervor. Er nahm seine Rede.
»Laimingų – viel Erfolg«, piepste die Blonde.
Zielstrebig bewegte er sich mit Gerulaitis zur Bühne, nickte links und rechts der Menge zu. Er mochte nicht so groß sein wie Algirdas, doch hinter dem Mikrofon war er eine durchaus stattliche Erscheinung.
»Heute Abend, nachdem das Kollektiv von Lenins Ruhm seit der ersten Aussaat im Frühjahr bis zum Spätsommer unermüdlich auf die Planerfüllung hingearbeitet hat, wollen wir gemeinsam unseren Erfolg feiern!« Seine Stimme erscholl, füllte den Saal, brachte das leiseste Flüstern an den Tischen zum endgültigen Verstummen.
Daina ließ ihre Blicke über die Tische schweifen. Mit ausdrucklosen Gesichtern saßen die Landarbeiterinnen und die Traktoristen, die Brigadeführerinnen und die Bauern da. Weder zeigten sie Begeisterung noch Desinteresse; sie saßen einfach nur da. Hörten sie zu, wenn er davon sprach, dass die Amerikaner die Sowjetunion zu höheren Rüstungsausgaben zwangen und die Bauern die Vormacht des Kommunismus damit stärkten, indem sie die Felder bestellten? Wie war es damit, dass die Kolchosen die Union ernährten? Ein wenig mehr Leidenschaft hätte sie Karolis Pintulis zugetraut, wenn er ein paar anfeuernde Slogans in den Raum warf und dabei schwitzte.
Sie applaudierte ihm. Aus den Augenwinkeln sah sie zu ihrem Bruder. Dessen Gesicht drückte ungeduldige Langeweile aus, anscheinend kreisten seine Gedanken bereits um die Schaschliks. Insgeheim konnte sie es Algirdas nicht verübeln. Pintulisʼ Rede tropfte träge dahin, ähnlich den an Giebeln und Dachrinnen verfangenen Wasserperlen, die langsam nach einem heftigen Gewitterschauer herunterplatschten.
»Doch bevor ich zum Ende meiner Rede komme, wir gemeinsam essen, trinken und tanzen, darf ich im Auftrag der Partei all jene Genossinnen und Genossen ehren, die sich ganz besonders verdient haben und ihnen eine Auszeichnung verleihen, die sie mit Stolz tragen können.« Zwischen seinen Fingern raschelte das Papier, als er die Liste vor seine Rede sortierte, und er begann, Name für Name vorzulesen.
Nachdem er den letzten Namen aufgerufen hatte, wartete er den Applaus ab. »Für ihren Einsatz, unsere Kinder nach den Werten des real existierenden Sozialismus und als vollwertige, mündige und verantwortungsbewusste Mitglieder unserer Gesellschaft zu erziehen, möchte ich im Namen der Partei die Genossin Daina Montvilaitė auszeichnen.«
Als kündigte ein greller Blitz ein unerwartetes Unwetter an, zuckte Daina zusammen. Hitze schoss ihr in die Wangen, auf denen hektische rote Flecken entbrennen mussten. Das konnte sie auf den Wodka schieben.
»Frauen wie die Genossin Montvilaitė tragen nicht nur in der Produktion und auf den Feldern zum Fortschritt und zum Vormarsch des Sozialismus bei, sondern in der Bildung. Und die kann nicht früh genug beginnen.« Langsam, fast wie geronnen in der Zeit, wandte sich Pintulis zu ihr um, lud sie mit einem Handzeichen ein. »Bitte, kommen Sie auf die Bühne. Auch Sie, Genossinnen und Genossen, die ich vorhin erwähnt habe.«
In Dainas Ohren rauschte das Blut. Sie konnte nicht unterscheiden, ob die ineinander klatschenden Hände oder das Pochen in ihr sie fühlen ließen, als steckte ihr Kopf in einer Glasglocke. Algirdas drückte sie kräftig an sich, holte sie aus ihrer Benommenheit.
»Glückwunsch«, sagte er, danach gratulierten ihr ihre Mutter und eine noch immer schmollende Milda.
Über den Tisch hinweg berührte sie ein Blick, zerrte an ihr. Die Blonde spitzte die Lippen, um auch ihren Anteil an Dainas Auszeichnung zu nehmen.
»Vielen Dank«, erwiderte sie, ergriff die ihr angebotene Hand an wie den Zipfel eines nassen Küchentuchs.
Lächelnd erhob sie sich, strebte auf die Bühne. Sie hatte sich wieder vollständig unter Kontrolle. So wenig die Scheinwerferlampen vermochten, für gleißende Helligkeit zu sorgen, kam ihr das Licht dennoch vor wie gebündelte Sonnenstrahlen. Darin stand er, Karolis Pintulis. Er warf ihr einen Blick zu, der sie traf wie ein Pfeil. Einem nach dem anderen widmete er sich den Bauern, den Landarbeiterinnen, den Melkern und Traktoristen, nahm aus Gerulaitisʼ Händen Urkunden und Medaillen entgegen. Etwas unbeholfen heftete er diese an Jacketts, Kleider und Jacken, bedachte jeden mit ermutigenden Worten. Beide Brauen hochgezogen blickte Pintulis Daina an. Jetzt war sie an der Reihe.
Daina spürte, wie das ungeduldige, nervöse Kribbeln wieder von ihr Besitz ergriff. Doch sie kämpfte dagegen an, denn jetzt war ihre Gelegenheit gekommen. Unmerklich sog sie die Luft ein, drückte den Rücken durch, hob die Brust. Sie näherte sich ihm, hielt seinem Blick kaum noch stand.
»Ich hatte Ihnen einige Worte gewidmet«, sagte Pintulis. Weniger als zwei Handspannen entfernt von ihr konnte sie die Wärme seines Körpers spüren und den kräftigen Moschus von Trojnoj. Seine Orden funkelten im Scheinwerferlicht. »Sie haben die Auszeichnung verdient.«
Ausweichend starrte Daina auf seine Hände, beobachtete, wie seine Finger in Zeitlupe die Anstecknadel öffneten und langsam auf sie zuwanderten. Wie mochte es sein, wenn er sie in den Arm nahm? Ein angenehmes Ziehen breitete sich in ihrer Brust aus, durchströmte ihren Körper, als er die goldfarbene Medaille mit dem funkelnden roten Stern an ihrem Kleid befestigte.
»Ich danke Ihnen, Genosse Pintulis«, sagte sie um Fassung ringend und schritt mit ihrer Urkunde an ihm vorbei.
Als umgaben die aufgedunsenen Gewitterwolken, die draußen donnernd und polternd ihre schwere nasse Last entluden, ihren Kopf, saß Daina am Tisch. Abwesend strich sie über die Naht der Tischkante, während die fröhliche Musik der Volkstänze erklang. Doch sie nahm die Melodien so gedämpft wie durch den tosenden Regenschauer vor den Fenstern wahr, spürte die Lücken um sich herum wie den kühlen Lufthauch des Unwetters. Wohl wissend, dass sich ihre Laune nicht bessern würde, riskierte sie einen Blick zu den tanzenden Paaren.
Anscheinend hatte Algirdas Milda besänftigt, er führte sie zum Dreivierteltakt, drehte sich mit ihr vornehm an den anderen Pärchen vorbei, sandte hier und da ein entschuldigendes Grinsen aus, wechselte einige Worte mit früheren Schulkameraden. Und mit Karolis Pintulis ... Vergnügt hielt er die Blonde im Arm, seine Hände ruhten auf ihrer Taille, während sie seinen Hals umschlang und lachte.
Bittere Wut wallte in Daina auf. Wozu hatte sie ihr Lieblingskleid angezogen und den Lippenstift aufgetragen? Damit er sie nicht weiter beachtete? Grell zuckte ein Blitz durch das Fenster, ein ohrenbetäubender Donnerknall folgte, ließ das Glas erzittern. Daina kniff die Lippen zusammen, als wollte sie damit verhindern, dass sie vor Zorn und Eifersucht platzte. Mit dem Verhallen des Grollens im Himmel atmete sie auf, wandte ihren Blick von Pintulis und seinem Mädchen ab.
Genovaitė und Marius saßen als Einzige am Tisch, liebevoll legte sie dem Jungen den Arm um den Rücken, flüsterte ihm etwas zu. Sein reines, kindliches Lachen erklang, übertönte für einen Moment die Musik.
»Du siehst nicht gerade aus, als würdest du dich freuen«, bemerkte Genovaitė, sah Daina tief in die Augen.
Sie senkte die Lider, um sich von dem forschenden Blick ihrer Mutter zu schützen. Weder sie noch Algirdas konnten Genovaitė verheimlichen, was in ihnen vorging und wie sie sich fühlten. Vielleicht war das die Fähigkeit jeder Mutter, das Befinden ihrer Kinder zu deuten.
»Doch, doch, Mama.« Daina setzte ein Lächeln auf und hoffte, sie damit zu täuschen. »Ich spüre nur, wie anstrengend dieser Tag war.«
»Was würde ich erst sagen?«, entgegnete ihre Mutter, ließ ihren Arm von Mariusʼ zierlichen Rücken gleiten, um ihren Kopf in die Hände zu stützen. Herausfordernd sah sie sie an, zog die Brauen hoch.
Bevor Genovaitė aufzählen konnte, was sie getan hatte, um die Feier vorzubereiten, kehrte Algirdas zurück. Seine Stirn glänzte vor Schweiß, so wie seine Haare zimtbraun im Licht schimmerten. Er lockerte die Krawatte und griff nach dem Bierglas. Er zwinkerte Daina zu, löschte seinen Durst mit ein paar kräftigen Schlucken.
»Oh, Schwester, du sitzt da, als hätte man dich vergessen«, bemerkte er.
Unter Genovaitės und Mildas neugierigen Blicken verkniff sie sich die Antwort: In der Tat hat mich jemand vergessen! Stattdessen schwindelte sie: »Ich habe Kopfschmerzen.«
»Tatata, meine schöne Schwester sitzt nicht mit Kopfschmerzen am Tisch.« Galant wie immer schwang er sich um den Tisch herum, streckte ihr einladend die Hand entgegen. »Wenn du mir die Ehre erweist, machst du mich glücklich.«
»Glücklicher als deine Frau?« Die Überheblichkeit in ihrer Stimme brach durch, richtete sich gegen Milda. Er würde niemals zugeben, dass sie Recht gehabt hatte, ihn vor dieser besserwisserischen, herrischen Frau zu warnen.
»So glücklich wie ein großer Bruder sein kann«, antwortete er, führte sie auf die Tanzfläche unter der Bühne.
Erwartungsvoll sah Daina hinauf zu der Gruppe in ihren bunten Trachten. Die Frauen und Männer stammten alle aus Žalkalnis. Während die Männer lange graue Gehröcke trugen, die sie mit gewebten Gürteln zusammenhielten, leuchteten die Samtmieder der Mädchen in rot und gelb, wogten ihre karierten Röcke, auf ihren Zöpfen thronten mit Spitze, Perlen und glänzenden Goldfäden durchwirkte Hauben. Sie erinnerten Daina an Kronen aus einer fernen, unbekannten Zeit. Eines der Mädchen legte seine Violine unter dem Kinn an, strich sachte über die Saiten. Algirdasʼ Füße wippten bereits zu einem langsamen Takt, bevor die Instrumente der Männer erklangen.
Schritt für Schritt führte Algirdas Daina zum Klang eines Liebeslieds, tröstete sie mit seinem warmen Lächeln, das den einen Tick zu breiten Mund umspielte. In seiner Gegenwart fühlte sie sich so sicher und vertraut, als seien sie noch immer die Kinder, die über die Felder gerannt waren und sich in den Scheunen und Ställen versteckt hatten. Als lugte sie hinter der Bretterwand des Traktorenschuppens hervor, spähte sie über Algirdasʼ Schulter nach Pintulis und der Blonden.
Da – er rückte näher an dieses quietschende Komsomolmädchen heran. Wie sie sich zierte. Wie er ihr über die Wange strich und sie dümmlich zurückwich, um ihm doch nachzugeben. Wie kindisch sie durch sein Haar fuhr ... Ah, fast schon süß, die beiden.
»Viskas gerai – alles gut?«, erkundigte sich Algirdas, der wohl bemerkte, wie sie ihr Lachen unterdrückte.
Pintulis nahm Notiz von ihr, hielt ihrem Blick eine Sekunde lang stand und fing ihr Lächeln auf. Ihre Wangen hoben sich spürbar, sie sandte ihm ein Strahlen entgegen, ehe sie sich wieder abwandte.
»Ja«, antwortete sie, erleichtert, dass er sich mit ihr drehte.
Als wäre sie völlig unbeteiligt, sah Daina weg, fing Algirdasʼ Blick wieder auf. Darin las sie seine Verwunderung, die er damit betonte, dass er zu Pintulis herüberschielte. Ihr Bruder wirkte noch verwunderter, große Fragezeichen prangten in seinen blauen Katzenaugen, aber er sagte nichts. Wortlos wiegte er sie über das Parkett, während sie sich anstrengte, nur ihre Mutter und Milda zu beachten und dem Takt zu folgen.
Der Schlussakkord verklang und Daina spannte die Sehnen ihrer Waden an. In dem Moment, als sie ihre Hände von Algirdasʼ Schultern löste, spürte sie die Luft erzittern.
»Darf ich deine Schwester um den nächsten Tanz bitten?« Jurgis Valeika stand zwischen ihr und Algirdas. Unter der kastanienbraunen Welle, die seine Augenbrauen bedeckte, funkelte ein verliebter Blick voller Begehren.
Ach … Nur mit Mühe schloss Daina ihren Unterkiefer. Wirklich?
»Fragen Sie sie selbst«, entgegnete Algirdas, sah sie an, als prüfte er ihre Zustimmung.
Sie überlegte kurz, entschied, und hakte sich bei Jurgis unter. Dessen angetanes Grinsen entblößte seine Zähne, und die Lücke neben dem rechten Schneidezahn. Sie erschauderte, fasste sich und überwand sich zu einem Lächeln.
»Dann lasse ich euch beide allein«, sagte Algirdas, streifte ihre Schulter im Vorbeigehen. »Viel Vergnügen.«
Energisch packte Jurgis ihre Taille, als der erste Takt erklang. Erschrocken fuhr Daina zusammen, rückte dann näher an ihn heran.
So leicht ist es, einen Mann zu beeindrucken, dachte sie, erwiderte sein Grinsen. Nicht den, den ich mir wünsche, aber besser als keiner. Sie nahm seinen scharfen Moschus der Anstrengung und Verausgabung auf, blickte ihm tief in die taubengrauen Augen.
»Glückwunsch zu deiner Auszeichnung«, sagte er. »Hat dir unser Auftritt gefallen?«
Sein Atem streifte ihr Kinn, ihre Wangen. Tatsächlich war er ihr ebenbürtig.
»Ja«, antwortete sie knapp. »Das ist die Musik, die im Radio läuft … auf dem anderen Kanal. Etwas anders als die, zu der wir tanzen.«
»Wohl wahr«, pflichtete er ihr bei.
»Du überraschst mich.« Daina senkte den Blick, um sich zu schützen. Eine greifbare Spannung lag zwischen ihr und Jurgis, doch umfasste sie die festen Muskeln seines Oberkörpers, würde sie eine Kraft ähnlich eines Lichtbogens zurückwerfen. Sie hob die Hand von seiner Schulter, nur noch ihre Fingerspitzen wagten, ihn zu berühren. »Ich hatte nicht gewusst, dass du, der Pferdewart, ein so talentierter Musiker bist.«
»Ich und die Jungs haben dieses Jahr die Unterhaltung übernommen, nachdem die andere Gruppe aufgehört hat«, erklärte er, nickte in Richtung Pintulis. »Anscheinend teilt nicht jeder unseren Musikgeschmack. Hoffentlich war es nicht gleich unser letzter Auftritt in Žalkalnis und im Bezirk Rokiškis.«
»Hoffentlich«, wiederholte sie, dehnte jede Silbe.
Unwillkürlich sah sie zu Pintulis. Dessen Gesicht leuchtete, als ihn das Mädchen anhimmelte. Daina fühlte sich, als hätte sie eine Menge rauer, schmutziger Steine geschluckt, die nun schwer und unbeweglich im Magen lagen. Jurgis kam ihr recht, jede seiner Gesten sprach den Wunsch aus, sie zu erobern, von ihr Besitz zu ergreifen und sie an seiner Seite zu haben. Wie könnte sie ihm diesen Wunsch ausschlagen? Seitdem sie mit Vierzehn alles rundliche, kindliche abgelegt hatte und zu einer schlanken, anmutigen jungen Frau mit braunen Haaren und leicht schrägen blauen Augen geworden war, wurde sie sich ihrer Anziehung auf die Männer bewusst. Sie hatte sich von ihnen hofieren lassen und ihre Erfahrungen gesammelt. Lange war sie nie alleine geblieben, nachdem die fragilen Bande sich gelöst hatten. Männer hatte sie immer gefunden, doch noch keinen Ehemann, was ihre Mutter beklagte. Immerhin sei Algirdas längst verheiratet und habe ein Kind. Du solltest dich allmählich umsehen und heiraten, hörte sie Genovaitės Mahnungen, ansonsten stehst du bald wie übriggeblieben da! Ans Heiraten dachte Daina sehr wohl – solange ihr Auserwählter Einfluss und Erfolg versprach. Und ihre Wahl hatte sie getroffen …
Entweder kippe ich um, oder ich brauche ein Glas Degtinė! Daina spürte ihren Atem, panisch wie ein Fisch an Land musste sie nach Luft schnappen. Obwohl sich die Gewitterwolken inzwischen abgeregnet und die Nacht und den Himmel bereinigt hatten, lastete eine klebrige Schwüle über ihr.
»Atleisk! Verzeih!« Ihre Hände ruhten auf Jurgis‘ Brust, dann stieß sie sich von ihm ab, entwand sich seinem Griff und strebte nach Draußen.
»Daina!«, hörte sie ihn wie durch eine Wand aus Watte nach ihr rufen.
Gesichter und Farben flogen an ihr vorbei, als sie den Saal durchquerte. Wie im Flug nahm sie wahr, dass Algirdas, der alte Kartenzinker, von seiner Partie mit den Jugendfreunden aufblickte. Farben, Könige und Zehnen verschwammen. Sie hoffte, Jurgis würde ihr nicht folgen. Oder sollte er?
An der Türschwelle verlangsamte Daina ihre Schritte. Der Regen hatte nachgelassen, doch der Wind, den das Gewitter freigesetzt hatte wie einen schlafenden Geist, jagte mit kühler Schärfe die letzten Wolkenreste durch den Himmel. Hin und wieder lugte ein bleicher, runder Mond mit seinem Kratergesicht zwischen den Fetzen hervor. Einzelne Regentropfen benetzten Dainas Stirn, weich und kühl linderten sie das Gefühl von Beklemmung und Enge. Sie trat auf den aufgeweichten Weg, unter dem Rost der Grills sammelten sich nasse Asche und einzelne schwarze Holzkohlebrocken. Sie durchquerte das Gras, spürte die Nässe auf ihren Füßen, strebte auf die Gruppe dreier hochgewachsener Birken zu. In deren tiefhängenden Zweigen verfing sich der Wind, raschelte und flüsterte. Sie lauschte, wandte sich um, ob ihr Jurgis oder Algirdas gefolgt waren … oder Karolis Pintulis? Sollte sie enttäuscht sein? Erleichtert? Sie strich über den glatten weißen Stamm einer der Birken, ordnete ihre Gedanken und gab einen Seufzer von sich, der wie das Zerren und Spielen des Windes im Geäst klang.
»Ein anderes Mal«, tröstete und ermutigte sie sich.
Warmer Dampf entwich durch das Fenster des Waschhauses, vermengte sich in einem Wirbel aus winzigen Tröpfchen mit der kühlen Morgenluft. Algirdas wischte den beschlagenen Spiegel über dem Waschbecken frei. Das Gefühl, sein beschauliches Heimatdorf zu verlassen, erinnerte ihn an seine Zeit bei der Baltischen Flotte. Er hatte auf Landgang den Zug von Riga nach Rokiškis genommen, um nach seiner Mutter und Daina zu sehen. Mit ihnen hatte er im Wald die reifen Beeren und Pilze des Spätsommers gesammelt. Er hatte den Geruch von Dill, Milch und erdiger Roter Bete eingeatmet und die monoton geleierten Ave Maria gehört, wenn Genovaitė zu festgelegten Tageszeiten betete … Nach Wochen auf der schwankenden Korvette hatte er sich geerdet gefühlt. Kaum hatte er sich daran gewöhnt, hatte er nach Riga zurückkehren müssen.
Sinnierend, dass er jetzt mehr mit der Erde zu tun hatte, als er sich damals hätte vorstellen können, nahm Algirdas sein Hemd vom Schemel in der Ecke, zog es über. Die letzten Dunstschwaden verflüchtigten sich zwischen den Brombeersträuchern und den wilden Wein auf der Veranda.
Als Algirdas die Küche betrat, nahm er den vertrauten Geruch von Dill, süßsaurem Einmachsud und an den Deckenbalken trocknender Kräuter und Heilpflanzen auf. Dieses Gemisch umgab ihn wie eine warme, weiche Wolke aus Kindheitserinnerungen, regte seinen noch immer müden Verstand an. Dass diese Wolke zerplatzt war, zerriss jäh die wortlosen Bilder. Er verabschiedete sich von den wohlbekannten Gerüchen, denn heute kehrte er nach Vilnius zurück.
»Labas rytas«, grüßte ihn Daina. »Guten Morgen.«
Erst jetzt bemerkte er sie, erwiderte den Morgengruß. Sie fegte Brotkrümel vom Tisch, der mit angeschnittener Wurst, Käse, weich werdender Butter und einem duftenden Laib Roggenbrot ein vorheriges Frühstück verriet. Sicher packte Milda inzwischen die letzten Sachen in die Koffer.
»Hast du gut geschlafen?«, erkundigte sich Daina, ließ die Brösel in den Abfluss der Spüle rieseln.
Sie trug bereits die Kittelschürze des Kindergartens und wirkte, als müsste sie jeden Moment aufbrechen. Nur auf das Nötigste reduziert geschminkt sah sie strenger aus. Mit einer flinken Bewegung nahm sie einen dampfenden kleinen Aluminiumtopf von der Herdplatte, schaufelte Kaffeepulver in die unberührte Tasse vor Algridas und brühte es mit heißem Wasser auf.
»Die Nacht war zu lang und zu kurz«, antwortete er.