Morgenrot des Aufbruchs - Ira Habermeyer - E-Book

Morgenrot des Aufbruchs E-Book

Ira Habermeyer

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Beschreibung

Vilnius 1983: Rasa macht sich mit einem ihrer ersten Undercover-Einsätze verdient und erklimmt dank General Rutkus‘ Gunst die Karriereleiter beim Geheimdienst KGB. Doch über ihr Glück mit Valdas legt sich ein Schatten und stellt die Beziehung der beiden auf eine harte Probe: Aus Angst, seinen Posten als Direktor des Kombinats Elektronika zu verlieren, scheut er davor zurück, sich von seiner Frau Rūta scheiden zu lassen. Ein riskanter Auftrag, einen Landsmann als britischen Agenten zu entlarven, der von London aus eine konspirative Untergrundgruppe unterstützt, bringt Rasa an ihre Grenzen. Wird es ihr gelingen, sich aus den Verstrickungen zu lösen, während sie nach Ruhm und Einfluss strebt? Schließlich zieht Mitte der 1980er Jahre Michail Gorbatschow im fernen Moskauer Kreml ein, und seine Reformen erwecken zarte Hoffnungen auf Veränderung und Freiheit ... »Ein Buch wie die ganz großen Filmklassiker, bei denen man in den ersten Minuten schon weiß, dass hier etwas ganz Großes erzählt wird.« »Litauen zur Zeit der Sowjetunion, sowie Kalter Krieg und Liebe – eine Mischung, die hier sehr prekär sein kann.« – Leserstimmen

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Dramatis Personae
Mutterland
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Die Perle von Vilnius
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Liebe Leserinnen, liebe Leser,
Die Autorin
Bisher erschienen

 

Morgenrot

des Aufbruchs

 

 

 

 

Staffel 2 der Eis und Bernstein – Saga

 

 

 

 

 

 

Ira Habermeyer

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Morgenrot des Aufbruchs – Staffel 2 der Eis und Bernstein-Saga

Historischer Roman

Copyright: Ira Habermeyer 2024

Cover: Renée Rott, Dream Design Cover and Art

 

Ira Habermeyer, Moltkestr. 2a, 85356 Freising

 

 

Wichtiger Hinweis an meine Leser*innen:

 

 

Dieser Roman ist für alle bestimmt, die zwielichtige und ambivalente Charaktere mögen. Daher die Darstellung expliziter Szenen, Age Gap, Drogenkonsum, Alkoholkonsum, Traumata, Diktatur sowie von Folter und Gewalt.

 

Sämtliche Texte, sowie das Cover des Buches sind urheberrechtlich geschützt. Ähnlichkeiten mit Romanfiguren und real existierenden Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt, historische Persönlichkeiten, die kurze Auftritte haben, bzw. erwähnt werden, sind im Anhang aufgelistet.

Da der Roman zu Zeiten der UdSSR spielt, werden teilweise Ortsnamen vor 1991 verwendet, um die Authentizität zu wahren. Der Roman folgt in groben Zügen unter Berücksichtigung der Faktenlage wahren historischen Begebenheiten, wie auch den Nationalitätenkonflikten innerhalb der UdSSR während der 1980er und 1990er Jahre. Allerdings handelt es sich bei einem Roman auch um ein fiktionales Werk.

 

 

Die Autorin ist auf Instagram und TikTok

Homepage: https://irahabermeyer.com

 

Dramatis Personae

In Kaunas:

Pranas Tarvydas Milizchef

Laima seine Frau

Gediminas sein Sohn, Major der sowjetischen Luftwaffe

Rasa seine Töchter

Julija

 

In Vilnius:

Valdas Grinfeldis Leiter des Kombinats Elektronika

Rūta seine Frau

Arūnas sein Sohn

Izabelė seine Tochter

 

Algirdas Montvila Ingenieur, Abteilungsleiter im Bauministerium

Milda seine Frau

Marius Aurelijus sein Sohn

 

Rimantas Kazimieras Ruktus General des KGB

Vytautas Šedvila Parteisekretär

Justas Šedvila sein Sohn

Audrijus Jurkevičius General der Sowjetarmee

Wladimir Petrowitsch Sorokin General des KGB (in Moskau)

Leonid Tarassow Architekt im Bauministerium

Kotrina Baltienė Rasas Cousine, Arbeiterin bei Elektronika

 

In Žalkalnis:

Daina Montvilaitė Algirdas‘ Schwester

Genovaitė Montvilienė Ihre Mutter

Karolis Pintulis Parteisekretär

Petras Gerulaitis Leiter der Kolchose Lenins Ruhm

Jurgis Valeika Pferdewart auf Lenins Ruhm

 

 

Historische Persönlichkeiten

Jurij Wladimirowitsch Andropow

1914 – 1984; Vorsitzender des KGB der UdSSR

 

Konstantin Ustanowitsch Tschernenko

1911 – 1985; Sowjetischer Staatsführer 1984 – 1985

 

Gorbatschow, Michail Sergejewitsch

1931 – 2022; sowjetischer Staatsführer 1985 – 1991

 

Petras Griškevičius

1924 – 1987; Generalsekretär der Litauischen KP

 

 

Playlist

 

Harden My Heart

Quarterflash

 

In the Air Tonight

Phil Collins

 

I Know There’s Something Going On

Anni-Frid Lyngstad

 

Love is a Battlefield

Pat Benatar

 

Careless Whisper

George Michael

 

Sarà perché ti amo

Ricchi e Poveri

 

Robert De Niro’s Waiting (Talking Italian)

Bananarama

 

Dancing in the Dark

Bruce Springsteen

 

Golden Brown

The Stranglers

 

Addicted to Love

Robert Palmer

 

This is not America

David Bowie & Pat Metheny

 

7. Symphonie (Leningrad)

Dmitrij Schostakowitsch

 

Mutterland

 

 

1.

 

 

Vilnius, Litauische SSR, Oktober 1983

 

Sandelholz. Ein Hauch von Valdas’ Rasierwasser schwebte zwischen den Wänden des Schlafzimmers und hinterließ eine Duftmarke auf Rasas Wange. Er hatte gerade die Wohnung verlassen. Mit angehaltenem Atem verbarg sich Rasa hinter dem Vorhang und lauschte in den dämmernden Herbstmorgen. Unten auf dem Asphalt vernahm sie seine Schritte, hörte das gleichmäßige Geräusch des Motors. Einen Wimpernschlag lang hielt sie inne, dann schritt sie über die Dielen des alten Eichenparketts zum Schrank und öffnete ihn. Bis auf ihre Uniformen und die Sommerkleider packte Rasa alles in den Koffer, spürte bei jeder Bewegung, wie ihr Bauch sie einschränkte. Sie war im sechsten Monat schwanger.

Vor dem Spiegel setzte sie die hellblonde Perücke auf, prüfte ihr ungewohntes Aussehen. Die schulterlangen Haare rahmten ihr Gesicht ein, das metallische Blond bildete einen aparten Gegensatz zu ihren dunklen Brauen und den wintergrauen Augen.

In der Diele hob sie den Telefonhörer ab, wählte die Nummer, die sie auswendig wusste. Gedehnt tutete das Freizeichen, die Leitung rauschte und knackte.

»Klausau?«, vernahm Rasa Leutnant Jonas Valaitis’ Stimme.

»Ich bin bereit«, gab sie ihm das Zeichen, legte wieder auf.

Um den Koffer aufzuheben, ging Rasa leicht in die Knie. Noch einmal blickte sie auf die Wohnung mit ihren hohen Decken und dem bunten Jugendstilglasfenster im Wohnzimmererker zurück, auf die Kaffeetasse, die Valdas auf dem Tisch hatte stehen lassen und den Aschenbecher, in dem zwei ausgedrückte Kippen der Marke Klaipėda lagen und kalten Rauch verströmten. Sollte sie Valdas eine Notiz hinterlassen? Vielleicht lieber nicht. Damit könnte sie den Einsatz gefährden. Oder? Ich komme zurück klang, als hätte sie nur kurz etwas zu erledigen, und sie schrieb diese unverfängliche Botschaft auf einen Zettel und schob die Ecke unter den Aschenbecher.

Ein wehmütiges Ziehen erfasste Rasas Brust, sickerte in ihre Magengrube, als sie das Schwarzweißbild betrachtete, das sie in eine Holzsprosse des Büffets geklemmt hatte. Das Foto war diesen Sommer auf dem Pier von Palanga entstanden. Valdas legte seinen Arm um sie und sie lächelte glücklich, während der Wind mit ihren Strähnen spielte. Trotz der fehlenden Farben ließ sich erkennen, dass Valdas mit seinen dunklen Haaren, den leicht buschigen, an Krähenschwingen erinnernden Brauen und der leicht gebogenen Nase ein attraktiver Mann war. Wahrscheinlich war es ihr unvermeidbares Schicksal gewesen, dass sie sich irgendwann so sehr zu ihm hingezogen fühlte und mehr empfand als Freundschaft. Als wühlte ein Sturm das Meer bis zu seinem Grund auf, spürte Rasa, wie sehr sie ihn noch immer liebte. So sehr, dass es weh tat. Krampfhaft schluckte sie den Kloß Traurigkeit herunter, zwang sich, tapfer zu sein und zog die Tür hinter sich zu.

Draußen auf der Žygimantų Gatvė wallte ihr der eisige Morgenhauch entgegen. Mehr als Null Grad hatte es nicht. An den Scheiben eines vorbeirollenden Trolleybusses waren über Nacht Eisblumen gewachsen, verdeckten die Fahrgäste dahinter wie eine Spitzengardine. Über den Türmen der Erzengel Raphael-Kirche schimmerte Hellrot der Bogen der aufgehenden Sonne. Silbern funkelnd überzog Frostreif die Hausdächer und umsäumte das bunte Laub an den Ahornbäumen mit einem kristallenen Rand.

Rasa bemerkte den blauen Lastwagen, der mit laufendem Motor an der gegenüberliegenden Straßenseite hielt, schleppte ihren Koffer neben sich her und spähte nach links und nach rechts. Zügig überquerte sie die Fahrbahn, während sie Jonas, der am Steuer saß, nicht aus den Augen ließ.

Er öffnete ihr die Beifahrertür. »Labas rytas«, grüßte er sie, beugte sich ihr über das Autotelefon hinweg entgegen und nahm den Koffer.

»Guten Morgen«, erwiderte Rasa, versuchte, halbwegs motiviert zu klingen. Mit einem kräftigen Ruck warf sie die Tür hinter sich zu. Erhoben auf dem Sitz spähte sie auf die Straße.

Bevor Jonas den Schlüssel im Zündschloss umdrehte, schien ihm noch etwas einzufallen. Aus der Tasche seiner Lederjacke fischte er eine kleine dunkelrote Schatulle. Er klappte den Deckel auf. Ein schmaler Ring aus Rotgold steckte in einem weißen Kissen.

»Jetzt sind wir offiziell verheiratet«, sagte er feierlich und schob den Ring über die Glieder ihres Fingers. Dabei gab er ihr mit einem Blick aus seinen grünen Augen zu verstehen, dass er sich wünschte, er wäre im realen Leben nichts lieber als der Mann an ihrer Seite. Seinen Ehering hatte er bereits angesteckt.

Der goldene Reif schmiegte sich an Rasas Ringfinger, als gehörte er dorthin. Sie unterdrückte ein wehmütiges Seufzen. Nur für diese Mission war sie Ehefrau. Im Gegenzug zückte sie zwei Pässe aus ihrer Handtasche. Marijonas Rimkus und Agota Rimkienė.

»Rimkus«, bemerkte Jonas, zog die Brauen hoch und betrachtete sein Schwarzweißbild mit der neuen Identität. »Klingt wie Rutkus.«

»War auch seine Idee«, bestätigte sie. »Fahren wir los.«

»Zu Befehl.«

 

Vor einem sandfarbenen, vierstöckigen Wohnblock im Stadtteil Antakalnis stellte Jonas den Lastwagen ab. Rasa blickte an der Fassade hinauf, betrachtete das Gemälde. Wissenschaftler beugten sich über Reagenzgläser, eine Frau hielt das Symbol für Kernenergie zwischen ihren schützenden Händen.

»Wir ziehen als die neuen Nachbarn des Doktors für Physik, Vilius Kudirka, ein. Er lebt hier mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen«, fasste Rasa den Einsatzbefehl zusammen. Behutsam klappte sie den Deckel der Akte auf ihrem Schoß auf, ließ Jonas auf das Schwarzweißfotos des Mannes linsen. Ein Herr mittleren Alters, gepflegt, Halbglatze, Bart und Brille. Er machte den Eindruck, dass er stets Anzug und Krawatte trug. »Kudirka arbeitet am Institut für Strahlenforschung und ist für die Brennkammern des Kernreaktors W.I. Lenin zuständig, der noch dieses Jahr ans Netz gehen soll. Es gibt Hinweise, dass Kudirka Informationen über den Reaktor an westliche Geheimdienste weitergibt.«

»Sobald wir ihn dabei erwischen, Zugriff und verhaften«, schloss Jonas.

»So lautet der Plan«, bestätigte sie, bemerkte die als Möbelpacker verkleideten KGB-Offiziere. Sie nickte ihnen zu, schlüpfte vom Beifahrersitz und glitt auf den Gehsteig.

Eine zierliche Frau um die Sechzig mit grau gesträhnten, zu einem hochgesteckten Zopf geflochtenen Haaren lief Rasa entgegen. An ihrer blauen Jacke trug sie zahlreiche Orden und Auszeichnungen aus dem Großen Krieg. Bevor sie den Mund aufmachte, wusste Rasa nicht nur, dass sie Russin war, sondern ihre Kontaktperson im Block. Und sie kannte ihre Geschichte. Sie hatte in Stalingrad gekämpft, wo sie ihrem Mann Dmitrij begegnet war. Nach dem Krieg waren sie nach Litauen umgesiedelt worden, hatten eine Tochter und einen Sohn, beide Ingenieure, und Dmitrij war vor zehn Jahren verstorben.

»Herzlich willkommen«, begrüßte die Veteranin Rasa und auch Jonas, schob sich zur Seite, als die ersten beiden Möbelpacker Teile eines Schrankes an ihr vorbeitrugen. Herzlich meinte sie ernst. Ihre Goldzähne blitzten auf, als sie Rasa ein warmes Lächeln schenkte und ihre Hände umfasste. »Ich bin Inna Nikolajewna, die Hausmeisterin. Wenn ich Ihnen in irgendeiner Weise behilflich sein kann, können Sie jederzeit bei mir vorbeikommen. Ich sehe, Sie erwarten ein Kind? Wie schön. Und Sie sind der Ehemann?«

»Ja«, antwortete Jonas überzeugt, hievte eine Kiste auf sein Knie.

»Dann freuen Sie sich bestimmt auf Ihr Kind und dass es in einer so schönen Gegend aufwachsen wird«, sagte Inna. »Nun will ich Sie nicht länger aufhalten. Ein Umzug bedeutet viel Arbeit.« Liebevoll strich sie Rasa über die Schultern, führte sie zum Hauseingang. »Kommen Sie. Ich habe Tee und etwas Gebäck. Sie sollten nicht zu schwer schleppen.«

Hinter Inna betrat Rasa die kleine Wohnung links neben dem Eingang. Auf einem Tischchen stand ein goldfarbener Samowar, ein Teppich bedeckte die Wand. Anscheinend hatte Inna sie bereits erwartet, der Esstisch war mit einem weißen Tuch, Teegläsern und kleinen Tellern eingedeckt. Süße, mit einer dünnen Zuckerglasur umhüllte Kringel stapelten sich kunstvoll in der Mitte. Rasa betrachtete die Fotografien eines jungen Paares in den Uniformen der Roten Armee. Der Mann sah äußerst gut aus. Obwohl er ernst dreinblickte, strahlten seine Mongolenaugen. Ihre Kinder auf den kolorierten Fotos sahen beiden sehr ähnlich.

»Das war mein Mann Dmitrij. Dima, so nannte ich ihn«, erklärte Inna, folgte Rasas Blicken, während sie den Tee in die Gläser schenkte. »Fast dreißig Jahre waren wir verheiratet. Ach …«

»Mein Beileid. Es war sicher ein schwerer Verlust für Sie«, bekundete Rasa aufrichtig, als sie bemerkte, dass Innas Augen glasig wurden. Bevor sie in Erinnerungen abschweifte, die ihr altes Herz wund machten, legte Rasa ihren Dienstausweis auf den Tisch. »Ich bin Ihre Kontaktoffizierin, Kapetan Rasa Tarvydaitė«, sagte sie.

Sofort durchfuhr ein Ruck Innas feingliedrigen Körper. Emsig holte sie eine Akte herbei, reichte sie Rasa. »Genossin Kapetan, hier ist der Tagesablauf des Doktors.« Über die dampfenden Schwaden des Tees hinweg suchte sie in Rasas Blicken nach Bestätigung, setzte das Teeglas an ihre Lippen.

»Danke«, erwiderte Rasa, schnappte sich die Akte und biss in einen der harten, nach Vanille schmeckenden Kringel.

Wohnung um 07:26 verlassen, ins Auto gestiegen. Ehefrau mit Kindern um 07:38 Wohnung verlassen. Rasa las die tägliche Routine der Werktage einer Familie. Um 16:27 Kinder von der Schule zurückgekehrt, nochmals um 17:11 aus der Wohnung, um auf dem Basketballfeld des Wohnviertels zu spielen. Ehefrau um 17:25 mit Einkäufen nach Hause gekommen, beide Söhne begleiten sie. Kudirka um 18:02 Uhr zurückgekehrt. Nochmals das Haus um 20:55 verlassen, allein. Um 22:14 Uhr zurückgekehrt.

Rasa erschien verdächtig, dass Kudirka am Abend nochmals ausgegangen war. Hatte er einen Westagenten getroffen? Das würde sich leicht mit den anderen Protokollen abgleichen lassen. Sie erinnerte sich an die Fotos, die ihr Rutkus gegeben hatte. Darauf befand sich neben Kudirka ein weiterer Mann. War das die Person?

»Manchmal ist er eine ganze Woche fort«, berichtete Inna beflissen, nahm einen Zuckerbrocken zwischen die Zähne und schlürfte einen Schluck Tee hindurch. »Dann ist er das Wochenende über zu Hause, um wieder eine Woche auszubleiben. Wot, pasmotritje. Hier«, ihr altersfleckiger Zeigefinger landete auf der Seite, die Rasa umblätterte, »habe ich alles für Sie aufnotiert.«

»Das sehe ich«, erwiderte sie.

In einer dieser Wochen musste Kudirka nach Sniečkus gefahren sein, wo er während seiner Arbeit im Reaktor in einem Hotel wohnte. Auch dort hatte das Kommissariat seine Offiziere, doch von ihnen war bisher nichts Auffälliges gemeldet worden. Kudirka war schlau genug, keinen Fehler zu begehen und aufzufliegen. In Vilnius hielt er sich allerdings für sicher genug, um seine Kontaktleute zu treffen.

»Sie leisten große Verdienste an unserem Mutterland, Inna Nikolajewna«, sagte Rasa, trank ihren inzwischen abgekühlten Tee aus. »Für Ihre Wachsamkeit und Treue wird sich der Staat erkenntlich zeigen.« Sich auf der Tischplatte abstützend stand sie auf, schlüpfte in ihren Mantel. Noch einmal spähte sie durch die Glasscheibe von Innas abgetrennter Nische. Von dort aus hatte sie den besten Überblick auf das Kommen und Gehen. Hausmeister eigneten sich als Informanten besonders.

»Kommen Sie gerne wieder, Genossin Kapetan«, rief ihr Inna hinterher, als sie aus der Tür trat.

 

»Nu?« Mit diesem universellen Laut der litauischen Sprache erkundigte sich Rasa bei Jonas nach dem Fortschritt des Einzugs.

Kreischend drehte die Bohrmaschine in seiner Hand eine weitere Schraube ins Bettgestell, während er auf dem Boden kniete. »Sieh selbst, das meiste steht schon«, antwortete er, blickte zu Rasa auf. »Heute Nacht schlafen wir bereits hier.«

Was für ein Gedanke, bei dem ihr ein leichter Schauer durch den Körper fuhr. Schon waren ihre Gefühle wieder bei Valdas. Um diese Zeit saß er bestimmt an seinem Schreibtisch, führte Telefongespräche oder bat wichtige Leute von Gosplan oder von der Armee in sein Büro. Noch ahnte er nichts.

Rasa sah sich um. Ihre Arme oberhalb ihres Bauches verschränkt durchschritt sie die drei kleinen Räume, ging in die Küche. Klappernd sortierte sie Besteck und Geschirr in die Schubläden und Kästen. In einem abwesenden, in sich selbst und mit Valdas verschlossenen Moment schweifte ihr Blick aus dem Fenster. Geschmeidig wiegten sich die Birken in ihrem goldenen Laubgewand und verstreuten ihre Blätter, dahinter lagen ein Spielplatz und ein Basketballplatz. Dort spielten also Kudirkas Söhne und begeisterten sich wie die meisten Leute für diesen Sport. Auch ihr Vater, der vor dem Krieg in der Basketballmannschaft des Jesuitengymnasium gespielt hatte, verfolgte gebannt die Übertragungen von Spielen im Fernsehen. Viel erzählte Pranas allerdings nicht über seine Schulzeit.

»Wo ist unsere Kiste mit dem Spezialwerkzeug?«, fragte Rasa, nachdem sie die Küchenutensilien eingeräumt hatte, und strich über die glänzende Front der Kleiderschranktüren.

»Woffu …« Jonas nahm die Nägel heraus, die er zwischen seinen Lippen eingeklemmt hatte und deutete auf eine blau lackierte Metallkiste. »Wozu brauchst du ihn?«

»Solange niemand in der Wohnung ist, will ich die Mikrofone installieren«, erklärte sie, hob die Kiste am Griff auf.

»Kommst du allein zurecht?«

»Sicher«, antwortete sie.

Schon verschaffte sie sich mit dem nachgemachten Schlüssel Zutritt zur Nachbarwohnung. In knapp zwei Stunden würde die Frau zurückkehren, also musste sich Rasa beeilen. Konzentriert und behände löste sie die Kanten der Tapeten im Gang, brachte die Kabel und Sender an. Dabei schielte sie zu dem Zinnteller, der den Eisernen Wolf des Großfürsten Gediminas darstellte, angefertigt zum 650. Stadtjubiläum 1973. Wie sie es in ihrer Ausbildung gelernt hatte, glättete Rasa die Kanten wieder. Sie schraubte die Sprechmuschel des dunkelroten Telefonapparats auf, platzierte darin eine Wanze.

Nachdem sie in allen Räumen die Abhörsender eingebaut hatte, verweilte sie einen Augenblick im Schlafzimmer. Sie betrachtete das gerahmte Hochzeitsfoto und die kolorierten Aufnahmen der beiden Jungen. Anscheinend legte die Familie Kudirka Wert auf Traditionen, der Ältere trug ein Trachtenhemd und eine gewebte Krawatte. Neugierig spähte Rasa in den Kleiderschrank. Die Frau verfügte über eine stattliche Garderobe, drei Kostüme, ein paar Kleider und zwei Abendroben hingen darin. Auch bei ihren Schuhen bewies sie Geschmack. Rasa kamen die Stücke bekannt vor, sie stammten aus der Sonderabteilung des Ersten Kaufhauses. Entweder kaufte die Familie dort ein, weil Kudirka Parteimitglied war und für seine wissenschaftlichen Verdienste Auszeichnungen erhalten hatte, oder weil er an Devisen kam. Darüber, dass manche Menschen bereit waren, für Dollar ihr Vaterland zu verraten, schüttelte Rasa den Kopf, während sie die Puderdose aus schwarzem und goldenem Plastik aufklappte. Sie nahm den zarten Rosenduft auf, der ihr aus dem festgepressten Puder entgegenströmte. In der Mitte kam bereits der silberne Boden der Dose zum Vorschein.

Besaß Kudirka Notizbücher? Hatte er die Adressen seiner Kontaktleute aufgeschrieben? Rasa legte die Puderdose zurück, machte sich auf die Suche nach seinen Adressbüchern. Hier im Schlafzimmer befanden sie sich nicht. Inzwischen wurde die Zeit knapp, auf der Uhr an der Wohnzimmerwand standen die Zeiger bereits auf kurz nach Vier. In den Schubfächern der Vitrine fand Rasa nichts, außer zwei Kalenderbüchern aus den Jahren 1982 und 1981. Hastig blätterte sie die Seiten durch. Nur die Wochen, in denen Kudirka anscheinend nicht in Vilnius gewesen war, hatte er mit Kugelschreiber angestrichen. Institut, Vortrag, Auszeichnung als Held der Wissenschaft. Rasa entzifferte einige Namen. Die würde sie abgleichen lassen. Vielleicht würden sich daraus Hinweise ergeben. Schnell steckte sie die Bücher unter ihren Pullover, prüfte mit einem herumschweifenden Blick, ob sie keine Spuren hinterlassen hatte, und verließ die Wohnung.

 

Während Rasa die schlabberigen Nudeln aus dem Kooperativladen auf die Gabel stocherte, lauschte sie durch die Kopfhörer den Gesprächen nebenan. Auch Jonas hörte mit. Schweigend, einander ansehend, verfolgten sie das belanglose Familiengeplänkel. Die Frau klapperte mit dem Geschirr, Wasser lief. Sie ermahnte die Kinder, sich an den Tisch zu setzen. Anscheinend war drüben ebenfalls Essenszeit.

»Geschieht denn nichts Spannendes?«, klagte Jonas, nahm die Kopfhörer ab und räumte die Teller ab. »Heute erledige ich den Abwasch.«

»Unsere Arbeit ist Warten«, entgegnete Rasa gleichmütig, nippte an ihrem Glas Gira. Sie zuckte leicht zusammen, als das Schrammen von Stuhlbeinen und das ungestüme Poltern zweier Jungen auf sie einprasselte.

In der Stille, die nebenan einsetzte, vernahm Rasa das feine Knistern der aufsteigenden Kohlensäurebläschen in ihrem Glas. Jonas hantierte mit dem Geschirr. Das Klappern des Porzellans machte sie nervös. Endlich stellte er die Teller in das Abtropfgitter über der Spüle.

»Nächste Woche fahre ich wieder in den Norden«, sagte Kudirka schließlich.

Rasa schob den Bügel der Kopfhörer zurück, gab Jonas ein Handzeichen und legte beschwörend den Finger auf ihre Lippen. Kein Wort wollte sie verpassen.

»Ah, ja.«

»Es wäre schön, wenn du mir ein paar Hemden bügeln könntest.«

»Wie viele brauchst du?«

»Genügend für eine Woche.«

Erwartungsvoll horchte Rasa in die Schalen, deren Polster sich weich an ihre Ohren schmiegten. Sie brannte darauf, dass Kudirka aufstand, sich entschuldigte und die Wohnung verließ. Sobald seine Wohnungstür zuschnappte, war Rasa auf dem Sprung und würde ihm unauffällig wie ein Schatten durch diesen nebligen Abend folgen.

Doch er enttäuschte sie. Zischend öffnete er eine weitere Dose Bier und schaltete die Nachrichten der LRT ein. Danach trieb er es mit seiner Frau. Auch das gehörte zur Arbeit, die Bürger selbst in den intimsten Momenten zu belauschen und mehr über ihre Vorlieben zu erfahren, als Rasa lieb war. Vor Peinlichkeit atmete sie flach, hoffte, dass er es seiner Frau endlich besorgte, er bald fertig war und ihr etwas anvertraute. Einen Ort, einen Namen. Oder dass sie misstrauisch nachfragte, was er im Norden zu tun hatte. Abgesehen von animalischen Lauten und du bist wundervoll, ich begehre nur dich, ja, öffne die Beine, gab Kudirka nicht viel von sich, was Rasa weiterbrachte.

Resigniert und erschöpft legte sie die Kopfhörer kurz ab und rieb sich die Schläfen.

 

Auf der Seite des Bettes, die Rasa gewohnt war, rollte sie sich zusammen. Angespannt lauschte sie Jonas‘ Schritten, die sich aus dem Bad in die Diele bewegte. Er löschte das Licht, betrat das Schlafzimmer. Durch die Lücke zwischen den Vorhängen floss das kalte Blau der Straßenlaterne, aus dem Jonas’ Umrisse scharf hervortraten. Rasa wagte kaum zu atmen, als er sich neben sie legte. Ächzend gab die Matratze nach.

»Heute konnten wir Kudirka noch nicht überführen«, sagte er, griff nach der raschelnden Federdecke.

Zögerlich streckte Rasa ihre Glieder aus, neigte den Kopf leicht in seine Richtung. »Er wird kaum mit seiner Frau über seine Arbeit sprechen«, entgegnete sie, lachte trocken auf. »Jeder, der am Bau des Reaktors beteiligt ist, hütet ein Staatsgeheimnis und verschweigt seinem Partner, was er macht. Aber jemand wie Kudirka, der was weiß ich was mit den Brennstäben zu tun hat, verrät unsere Technologie an den Westen.«

»Das ist Irrsinn«, pflichtete ihr Jonas bei. Er drehte sich zu ihr. »Und Verrat.«

»Ja«, stimmte sie ihm zu, kaute überlegend auf ihrer Unterlippe.

»Morgen hefte ich mich im Institut an ihn dran«, sagte er. »Ich bin schließlich Mitarbeiter.«

»Sobald wir mitbekommen, dass er sich mit einem Kontaktmann trifft, folge ich ihm.«

»Bring dich nicht in Gefahr«, warnte er. In der spärlichen Helligkeit konnte Rasa aufrichtige Besorgnis in seinen Augen erkennen. »Ich kann für dich gehen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich gehe, weil ich den Einsatz leite«, sagte sie bestimmt, fügte hinzu, um weniger streng zu klingen: »Mach dir um mich keine Sorgen. Eine schwangere Frau ist am unverdächtigsten.«

Jonas stieß einen langgezogenen Atemzug aus, näherte sich ihr zögernd. Sein jetzt regelmäßigerer Atem streifte ihre Wange, kitzelte sie. Mit Mühe unterdrückte Rasa das Zucken, das sie bis in ihre Zehen erfasste.

»Stell dir vor, wir wären verheiratet«, hob er an. Behutsam tastete er sich zu ihren Haaren vor, die sie von der hellblonden Perücke befreit zu einem losen Knoten zusammengebunden hatte. »Ich würde dich auf der Stelle heiraten, egal, ob du von einem anderen Mann ein Kind erwartest. Ich würde es mit dir großziehen.«

Ergeben ließ Rasa zu, dass er seinen muskulösen Arm um ihren Leib legte und sie ein Stück an sich heranzog. Normalerweise würde sie ein schlechtes Gewissen bekommen, wenn er auf seine Liebe zu ihr anspielte. Doch in diesem Moment fühlte sie sich wohl und sicher, weit entfernt von ihren vorsichtigen Hoffnungen für die Zukunft.

»Wirklich?«, entschlüpfte ihr unbedacht.

»Wirklich«, antwortete Jonas, und sie hörte ein Lächeln aus seiner Stimme. Wieder vergrub er seine Finger in ihrem Haar.

Er war ein guter Kerl. Er würde sie auf Händen tragen, wenn sie seine Gefühle erwiderte. Wenn … Wenn sich Rasa vorstellte, ein anderer Mann als Valdas berührte und küsste sie, stürzte ein Eiskrater in ihr zusammen. So sehr sie wollte, eine stärkere Kraft hielt sie davon zurück, ihn zu verlassen. Liebe. War es noch Liebe? Oder Angst, ihn zu verlieren?

»Es ist nicht richtig, was wir tun.« Rasa löste Jonas’ Finger von ihrem Bauch, stützte sich auf ihren Arm und blickte zu Jonas herab. Förmlich konnte sie ihn zerbrechen sehen. Langsam, bevor er es selbst realisierte, und dann in kleinen Stücken. Er tat ihr leid. Sie presste die Luft durch ihre Zähne, entschärfte ihre Worte: »Ich mag dich, Jonas.«

»Du bist lieber unglücklich mit ihm, eh?«

»Darüber will ich nicht sprechen«, entgegnete sie leise, schluckte den dicken Kloß Deprimiertheit herunter. »Ich bin deine Vorgesetzte. Also würde es niemals mit uns gut gehen.«

Das Schweigen lastete wie das Halbdunkel zwischen ihr und Jonas. Weder war es hell genug, um seine Gesichtsregungen zu deuten, noch legte sich die Nacht versöhnlich über beide.

»Schlaf gut«, sagte Rasa. Um irgendetwas wiedergutzumachen, berührte sie seinen Oberarm. Dann drehte sie sich von ihm weg, zog ihre Knie wieder an und versuchte, selbst zur Ruhe zu kommen. Wie sollte sie die Mission erfolgreich zu Ende bringen, wenn sie so begann?

 

 

 

 

 

 

 

 

Lustlos stopfte Valdas den letzten Bissen des dick mit Sprottenpaste und Zwiebeln belegten Brotes in sich hinein, spülte ihn mit einem ordentlichen Schluck Bier herunter. Selbst wenn ihm jemand einen mit Steinpilzen gefüllten Kalbsrücken, dazu knusprige Strohkartoffeln, oder den ersten gebratenen Fasan der Jagdsaison vorgesetzt hätte, ohne Rasa schmeckte ihm nichts. Vielmehr ohne die Gewissheit, dass sie später von ihrem Dienst kommen würde.

Valdas steckte sich eine Klaipėda an und sinnierte zum gefühlt tausendsten Mal über die knappe Botschaft, die noch immer unter dem Aschenbecher klemmte. Ich komme zurück, stand wie ein Versprechen in ihrer fließenden, zierlichen Handschrift auf dem Zettel. Warum hatte sie ihm diese Nachricht hinterlassen? Woher wollte sie zurückkommen? War sie zwischenzeitlich zu Hause gewesen und Einkaufen gegangen? Die Läden schlossen um Sechs. Besuchte sie ihre Freundin? Oder Julija? Wenn Rasa nach Kaunas gefahren wäre, um nach ihren Eltern zu sehen, hätte sie ihm davon erzählt.

Inzwischen standen die Zeiger der Uhr an der Küchenwand auf kurz vor Zehn. Unruhe erfasste Valdas. Jede weitere tickende Sekunde ließ ihn innerlich erzittern. Spätestens um diese Zeit kehrte Rasa vom Dienst zurück. Seitdem ihre Schwangerschaft fortgeschritten war, gab Rimas ihr andere Schichten, und es wurde nicht mehr so spät. Resigniert streifte Valdas die Asche von der Zigarettenspitze. Vielleicht hatte sich Rasa mit ihrer Freundin verquatscht. Wo wohnte Ona gleich wieder? In Fabijoniškės, dessen Plattenbauten einander glichen und wo man sich zwischen den Blocks verirren konnte. Eine Hausnummer wäre dabei nützlich. Doch Rasa würde ihr Adressbuch nicht wie andere Leute einfach in eine Schublade stecken. Sie war Offizierin des KGB und würde ihre sensiblen Daten stets bei sich tragen. Und Julija besaß keinen Telefonanschluss.

Entschlossen, sie aufzusuchen, trug Valdas den Teller in die Spüle, drückte die Zigarette aus und schlüpfte in seinen Mantel und in die Schuhe. Einsam hallten seine Schritte durch das Treppenhaus. Als ihn draußen die feinen, feuchtkalten Nebelperlen einhüllten, fühlte er sich plötzlich winzig und verloren. Aus der Neris stieg der Dunst in die Schwärze. Der Nebel und der Fluss waren eine einzige wabernde Masse, die die Stadt verschlang. Valdas lief am Ufer entlang, bereute sofort, dass er seine Persianerkappe nicht aufgesetzt hatte, und zog seinen Hals in den Mantelkragen ein. Hier und da flimmerte verschwommen das orangegelbe Licht der Laternen, wirkte gespenstisch wie Augen in der Finsternis. Noch unheimlicher spannte sich die Vrubelskio an der Kathedrale entlang. Dort waren sämtliche Lichter erloschen, offenbar war ab zweiundzwanzig Uhr der Strom abgestellt worden. Vorsichtig, um nicht über das wackelige Gehsteigpflaster zu stolpern, bewegte sich Valdas auf Julijas Haus zu.

Die alte, ächzende Tür war verschlossen. Er brannte ein Streichholz an, leuchtete mit der Flamme auf das Klingelschild und fand die Nummer von Julijas Wohnung. Dann drückte er den Knopf, hörte das metallische Scheppern der Glocke durch das Treppenhaus.

In der Wohnung flackerte das Licht auf. »Wer ist da?«, rief Antanas herunter.

Valdas trat unter das Fenster, gab sich zu erkennen.

»Was gibt’s?«, raunzte Antanas zurück. Anscheinend waren er und Julija bereits zu Bett gegangen. Seinen heiligen Schlaf zu stören, gab ihm sicher einen Grund mehr, Valdas zu hassen.

»Valdas?« Julija schob sich an ihrem Mann vorbei, packte sich in den Morgenmantel. »Ist etwas mit Rasa?«

»Nein … das heißt, doch …«

»Antanas, warum lassen wir ihn nicht hereinkommen?«, vernahm er ihre aufgebrachte Stimme. »Komm, Valdas.«

Kurz darauf öffnete ihm Julija. Ihre zierlichen Füße steckten in Pantoffeln, über ihrem Nachthemd trug sie einen Kamelhaarmantel. Sie richtete sich ihre blonden Haare. Ungeschminkt wirkte sie noch blasser und die Angst in ihren Augen verwässerte ihre graublauen Iriden.

»Ist Rasa bei euch?«, fragte Valdas leise, um die Neugierde der Nachbarn nicht noch weiter anzufachen. Doch die hatten bestimmt den Lärm von vorhin mitbekommen und hafteten mit den Ohren am Türholz.

»Nein«, erwiderte Julija überrascht.

»Sie ist noch nicht zu Hause«, erklärte er. »Sie hat mir nur eine Nachricht hinterlassen, sie würde zurückkommen. Ist sie aber bis jetzt nicht. Darum dachte ich, sie wäre vielleicht bei dir.«

»Habt ihr euch gestritten?«, flüsterte sie.

Entschieden schüttelte Valdas den Kopf. Er merkte, wie seine Hoffnungslosigkeit ein immer größeres Loch in ihn hineinbohrte.

Julija ließ sich auf den Treppenabsatz sinken, klammerte sich am Geländer fest. »Hoffentlich ist ihr und dem Kind nichts zugestoßen«, sagte sie.

Die gleiche Sorge schnürte Valdas die Luft ab. Hatte Rasa einen Unfall gehabt? Dann sollte er von zu Hause aus die Miliz anrufen.

Julija schien den gleichen Gedanken zu fassen. »Frag Tevas, was wir tun können.« Seufzend streckte sie ihre Beine aus, umfasste die Kniekehlen und sah zu Valdas auf, als erhoffte sie sich eine Rettung von ihm.

»Vielleicht weiß er einen Rat«, meinte Valdas, streckte ihr den Arm entgegen und half ihr auf. »Versuch zu schlafen. Hoffentlich bekommst du meinetwegen keinen Ärger mit Antanas.«

»Der soll still sein«, winkte sie ab. »Gute Nacht, und lass mich wissen, wenn du etwas von Rasa hörst.«

 

Zurück in der Wohnung klemmte sich Valdas den Filter einer Klaipėda zwischen die Lippen, zog an. Hellrot versengte die Glut den Tabak und das Papier. Ihm war zum Heulen zumute. Er schluckte seine verzweifelten Tränen herunter und griff zum Telefon. Die Nummer seiner Zieheltern in Kaunas kannte er auswendig. Durch das Knacken und Rauschen in der Leitung tönte das Freizeichen. Quälend lang, bis jemand abhob. Pranas klang verschlafen und mürrisch, als er sich meldete.

»Du, Valdas? Um diese Zeit?«, knurrte er, doch die Besorgnis hob seine Stimme. »Was ist los, dass du mich um elf Uhr nachts aus dem Bett klingelst?«

»Rasa ist nicht nach Hause gekommen«, antwortete Valdas. Aus Pranas’ Schweigen hörte er heraus, wie seine Gedanken ratterten.

Er stellte die gleichen Fragen wie Julija, ob sie sich gestritten hätten.

»Heute nicht«, gestand Valdas, blies den Rauch aus. »Hin und wieder provoziert mich Rasa mit bissigen Bemerkungen Rūta gegenüber, wann ich mich denn scheiden lasse.«

»Das solltest du endlich mal tun«, sagte Pranas streng. »Dass Rasa launischer ist, hat mit den Hormonen zu tun. Schwangere Frauen verhalten sich manchmal sonderbar.«

»Aber darum verschwindet sie doch nicht einfach so«, entgegnete Valdas. »Sonst hätte sie mir keine Nachricht hinterlassen.«

Gedehnt atmete Pranas aus, als würde er sich setzen. »Vergiss nicht, dass Rasytė Offizierin des KGB ist«, mahnte er. »Möglicherweise hat sie einen Auftrag erhalten und darf nicht mit dir darüber sprechen. Kann sein, dass sie noch ein paar Tage ausbleibt. Sei unbesorgt, Valdas. Würde ihr etwas zustoßen, würdest du es erfahren. Das Kommissariat hat seine eigenen Krankenhäuser. Aber gehen wir einmal nicht vom Schlimmsten aus.«

Valdas fasste sich an seine Brust, die sich gerade sehr, sehr eng zusammenzog. Der leise Anflug der Vorstellung, dass Rimas ihm die Nachricht überbringen würde, Rasa wäre als Heldin für den Sozialismus gestorben, schleuderte sein Herz aus dem Takt. »Was macht dich so sicher?«, fragte er.

»Ich kenne das Kommissariat«, antwortete Pranas ungerührt. »Und ich habe vollstes Vertrauen zu Rasytė. Gerade jetzt wird sie umso besonnener sein und auf sich aufpassen. Du solltest dich ausruhen. Vielleicht ist sie schon morgen wieder zurück.«

Zweifelnd, ob sich Pranas’ beschwichtigende Worte bewahrheiten würden, legte Valdas auf. In der Küche schraubte er die Wodkaflasche auf, machte sich nicht einmal die Mühe, ein Glas aus dem Schrank zu nehmen, und trank einen großen Schluck. Die Schärfe des Alkohols trieb ihm Tränen in die Augen. Blinzelnd nahm er seine Reflexion im Fenster wahr, und sah einen traurigen, verzweifelten Mann. Ohne Rasa war das Leben nicht schön. Umso mehr flehte er inständig, sie möge heil zurückkehren.

 

2.

 

 

 

 

Vilnius – Moskau

 

»Sie sitzen auf Platz 1 D«, sagte die Stewardess an Bord der Antonow An-26 nach Moskau, wies Algirdas den Sitz zu, reichte ihm die Bordkarte zurück.

Er saß Laukaitis gegenüber, der sich bereits mit Deimantė eingefunden hatte, und so wie er hatte er einen Fensterplatz. Mit zur Delegation, die das Regionalflugzeug füllte, gehörten der Leiter des Atomkraftwerks Ignalina, einige Ingenieure und General Jurkevičius. Über den Gang hinweg sandte Deimantė Algirdas ein sparsames, doch warmes Lächeln zu. Er erwiderte es höflich, wandte sich dem Bullauge zu. Regentropfen, dünn wie Schnüre, zerplatzten auf der Scheibe. Die Betonplatten der Startbahn glänzten dunkelgrau vor Nässe. Algirdas betrachtete die runden Tröpfchen und Linien aus Wasser, die sie wie geheime Spuren am Glas hinterließen.

Als er Jurkevičius bemerkte, dessen Kappe und Aktentasche die Stewardess im Gepäckfach verstaute, suchte er Deimantës Lächeln. Doch sie bemerkte ihn nicht.

»Wenn Sie vielleicht mit dem Genossen General …«, raunte ihr Laukaitis zu, hob den Kopf und die Hand. »Audrijus!«, rief er Jurkevičius entgegen. »Komm, setz dich. So können wir uns während des Flugs besser unterhalten.«

Flink wechselte Deimantė über den Gang, strich ihren schwingenden schwarzen Glockenrock glatt, ließ sich im Polster nieder.

»Wie es aussieht, sind wir Sitznachbarn«, sagte Algirdas, seine Befangenheit überspielend.

»Angenehm, ja«, erwiderte Deimantė. Auf ihren Lippen schimmerte der frostige Hauch ihres roséfarbenen Lippenstifts, ihre blauen Augen hatte sie mit einem gekonnten Kajalstrich betont.

Sie war durchaus hübsch, ihr Lächeln und der angenehm blumige Duft ihres Parfüms streiften ihn wie eine sachte Berührung. Sein Leben lang war Algirdas nicht darauf aus gewesen, sich jeder Frau, die ihm gefiel, anzunähern. Während seine Kameraden in der Marine mit der Zahl ihrer Mädchen aufgeschnitten und einander gegenseitig überboten hatten, hatte er in der Koje Onegin gelesen und seine Gelegenheiten gerade einmal an zwei Fingern abgezählt. Er beließ es dabei, Deimantė ansehnlich zu finden und Laukaitis heimlich zu beneiden, stützte den Ellenbogen auf und blickte auf die nasse Fläche der Startpiste. Hinter dem Vorhang aus Regen verschwammen der Wald hinter dem Zaun, die Hangars und die auf dem Vorfeld stehende zweite Regionalmaschine.

Schwirrend begannen sich die Propeller zu drehen, das Flugzeug rollte langsam an. Fast unmittelbar vor ihm erklärte die Stewardess die Sicherheitsanweisungen. Dann beschleunigte der Pilot, rumpelnd setzte die Maschine ab und hob ab. Die Schwerkraft drückte Algirdas in den Sitz, er spürte Höhe und Geschwindigkeit in seiner Magengrube kribbeln. Er blickte aus dem Fenster, wo Vilnius sich trotz strömenden Regen von seiner Postkartenseite zeigte. Die ziegelrote Burgruine thronte über dem in rostfarbenem Herbstlaub gehüllten Hügel. Dunkel und ruhig, wie Wasser nur zu dieser Jahreszeit dahinfließen konnte, regten sich die Neris und die Vilnia, filigrane Kreuze schimmerten matt auf Kirchtürmen, und am von dichten Nadelwäldern gesäumten Horizont zerriss die Nadel des Fernsehturms schwarzgraue Wolkenschleier. Algirdas schaute auch auf sein Vilnius, auf emporragende Wohnsiedlungen, an die sich Kiefernwäldchen schmiegten, Augen gleichenden Straßenschleifen, und er konnte seine Baustellen aufzählen. Immer kleiner schwanden Wohnblocks, Autos, Straßen und Wälder, hauchdünne Wolkenfetzen glitten die Flugzeugwand entlang. Blauer, strahlender Himmel tat sich auf, als existierten jenseits davon weder Regen, Unwetter, noch Schnee. Algirdas schob die Manschette seines Hemds zurück, die Zeiger seiner Armbanduhr zeigten half zwölf an. In zwei Stunden würden sie in Moskau landen, er rechnete eine Stunde Ortszeit voraus. Allmählich erreichte das Flugzeug Reisehöhe.

»Darf ich Ihnen Getränke anbieten?« Die Stewardess schob ihren Wagen in den Gang, darauf reihten sich Wasser, bonbonfarbene Limonade und Pepsi Cola ein, aber auch Bier, Cognac und Wodka.

In seiner Unterhaltung mit Jurkevičius unterbrochen, orderte Laukaitis: »Cognac für uns alle!« Auf Deimantës skeptischen Gesichtsausdruck erwiderte er: »Kommen Sie schon, Genossin Petrauskienė. Ein Gläschen schadet keinem!«

Na dann, dachte Algirdas, schwenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit im bauchigen Glas, atmete die schwere herbe Süße des Alkohols ein, und stieß mit Laukaitis, dem General und Deimantė an.

 

Moskaus Gehsteige und Plätze waren von einer dünnen Schneeschicht bedeckt, die nicht lange bleiben würde. Trüb spannte sich der Himmel über der Hauptstadt, als Algirdas unter den kuppelförmigen Deckenlüstern im sowjetischen Energieministerium die Pläne und Baufortschritte in Ignalina präsentierte.

»Genossen, alles ist fertiggestellt«, verkündete er, die Hände auf dem Rücken verschränkt und das Kinn angehoben. In seinem Russisch mochte der tiefe Schmelz seines litauischen Akzents vibrieren, seine Haltung mochte stolz sein – er, Algirdas Montvila, Ingenieur und ZK-Kandidat hatte diesen Reaktor erbaut. Es war sein Reaktor. »Vom Hochleistungsrechner bis zu den Turbinen und den Behältern für die Brennstäbe ist alles einsatzfähig. Exakt am 31. Dezember werden Sie, verehrter Genosse Minister, den größten Reaktor der Sowjetunion ans Netz nehmen. Wir sind stolz, Ihnen dieses Bauwerk, dieses Monument an Größe, Einsatz und Willensstärke unseres Volkes zu übergeben und damit den halben Westen unseres Landes mit Energie zu versorgen.«

Der Russe erhob sich, applaudierte. Stuhlbeine schrammten über den Parkettboden, als alle eilig aufstanden und Beifall zu klatschen.

Nach den gegenseitigen Lobesreden und Gefälligkeiten eröffnete er das Bankett: »Bitte sehr, Genossen, im Nebenraum ist der Tisch reichlich für Sie gedeckt. Trinken und essen wir!«

Voll von den üppigen Speisen und berauscht von Wein und Wodka trat Algirdas auf die Stufen ins Freie. Klar und kalt umfing ihn die Moskauer Nacht, der frostige Hauch des nahenden Winters belebte ihn ein wenig. Neben sich bemerkte er Deimantės Bewegungen, als sie sich ihren Mantel überziehen wollte.

»Bitte sehr.« Hilfsbereit nahm er ihr den Wollmantel ab, ließ sie mit den Armen hineinschlüpfen und schloss grinsend den weichen Pelzkragen unter ihrem Kinn.

Lachend standen sie einander gegenüber, fast Nase an Nase. Ihre Brillengläser beschlugen. Als die beiden SIL-Limousinen vorfuhren, wandte er seinen Blick von ihr ab.

Hinter ihm trat Jurkevičius polternd aus dem schweren Portal, er hörte Laukaitis lallen: »Was f-für eine Verschwendung! Kaviar, Blinij, Rebhühner … ach … N-noch ein Wodka nach jeder Runde weiterer Fresserei!«

»Trinken wir noch einen in der Bar?«, entgegnete Jurkevičius, wankte neben Algirdas vorbei die Stufen hinab, sah ihn an und tippte an den Schirm seiner schief sitzenden Kappe. Lorbeeren um den roten Stern, wie es einem frisch beförderten General gebührte. »Die Bar liegt im obersten Stockwerk. Ich habe mir sagen lassen, die Aus-s-sicht auf Moskau muss groß …« beinahe rutschte er auf der untersten Schwelle aus.

»Gehen Sie mir damit!«, wehrte Laukaitis ab, klammerte sich an der offenen Autotür fest. »Wenn ich noch einen trinke, kotze ich. Verzeihung, wir haben eine Frau dabei.« Er wandte sich nach Algirdas um, der Deimantė seinen Arm anbot, um sie sicher zur Limousine zu geleiten. »Montvila, Sie bringen meine Deimantė Petrauskienė sicher ins Rossija, nicht wahr?«

»Mein Wort«, versicherte Algirdas und ließ ihr den Vortritt.

Um diese Uhrzeit lag selbst über den grell beleuchteten Prachtstraßen der Hauptstadt eine schläfrige Stille, nur einzelne, wie verirrt wirkende Autos kamen ihnen entgegen. Zwischen schwarzblauen Wolkenbauschen schien eine schmale Mondsichel und tauchte die wuchtigen Hochhäuser in ein fahles, kaltes Licht. Deimantė schmiegte sich an Algirdas, legte ihren Kopf auf seine Schulter. Unmittelbar nahm er die Wärme ihres Körpers wahr, spürte, wie ihre Haare seine Wange streiften. Schon lange hatte er die Nähe und die Zuneigung einer Frau nicht mehr verspürt, fürchtete, er würde Deimantės Geste falsch verstehen. Vielleicht war sie nur müde und angeheitert. Ihr Arm schob sich zwischen dem Sitzpolster an seinem Rücken vorbei, versuchte, sein breites Kreuz zu umfassen. Unweigerlich rutschte er ein Stück vor.

»Was würde Ihr Mann dazu sagen, dass sie mir so nahe kommen?«, fragte er.

Sichtlich erheitert hob sie den Kopf. »Ich habe keinen Mann mehr«, antwortete sie. »Geschieden. Mit zwei Söhnen. Und Ihre Frau?«

Beim Gedanken an Milda und an die überflüssigen Wortgefechte entkam seiner Kehle ein trockener Laut. Was war er für ein Idiot gewesen!

»Also nicht.« Deimantė wurde forscher, ihre Hand strich über sein Knie, wanderte die Innenseite seines Schenkels hinauf, fasste in seinen Schritt.

Eine heiße Woge flutete Algirdas‘ Unterleib, fuhr ihm bis in die Zehenspitzen und stieg schnell hinauf in seine Wangen. »Sind wir schon beim Du?«, presste er hervor, umfasste Deimantės Nacken und zog sie heran, um sie zu küssen.

Während Jurkevičius und der Minister irgendwo zwischen Hotellobby und den Aufzügen versandet waren, stolperte Algirdas mit Deimantė in deren Zimmer. Ihre Lippen und Zungen ineinander verhakt, zerrten und nestelten ihre Hände an Mänteln und Jacken, an Hosen und Reißverschlüssen. Sie legte ihre Brille ab, zog ihn zu sich heran, ihre Finger wanderten die Vertiefung seiner Wirbelsäule hinunter. Mit dem sanften Geräusch eines Flügelschlags glitt Deimantės Abendkleid zu Boden. Der grüne Stoff blieb an ihrem Absatz hängen, als sie sich Algirdas näherte und ihn sachte, aber bestimmt auf das Bett schob.

»Du hast mir schon immer gefallen, Algis. Aber: Was in Moskau geschieht, bleibt in Moskau«, beschwor sie ihn, dabei streifte ihr heißer Atem seinen Bauch.

Gleichgültig, was sie mit diesen Worten meinte, nickte er. Seine Hände umfassten ihre Brüste, die sich unter der schwarzen Spitze ihres BHs wölbten. Ihr geschickter Handgriff rettete ihn aus der Unbeholfenheit, mit der er die Haken zu lösen versuchte. Er fühlte, wie sich ihre bloßen Brüste gegen seinen Oberkörper drückten, als sie sich auf ihn setzte. Fest griff er in ihre Seiten und in ihren Hintern. Sie sollte nicht das Gefühl haben, er hielt sich zurück, als sie ihre Hüften anhob und sie wieder sinken ließ. Schneller und heftiger, bis seine Lust ihn und sie gleichzeitig wie ein Sturm durchfegte.

 

Der Himmel war hell und grau, als der Telefonapparat auf dem Beistelltisch schellte. Soviel Algirdas benommen durch die Gardine erkannte, rieselten einzelne dicke Flocken auf das grüne Dach des Kremlpalasts herab. Obwohl ihn der Ausblick an ein Postkartenmotiv erinnerte, Schnee im Oktober hielt sich nie lange. Sein Kopf fühlte sich an, als drückte ein großer Stein auf seiner Stirn. Eindeutig hatte er gestern zu viel getrunken und ihm fehlten etliche Stunden Schlaf.

Neben ihm richtete sich Deimantė auf, eine Strähne ihrer zerzausten Frisur umspielte ihre nackte Schulter. Sie blinzelte verschlafen, küsste ihn flüchtig und eilte ans Telefon. Knapp beantwortete sie auf Russisch, legte wieder auf und wandte sich ihm in ihrer ganzen Pracht zu. Konnte es sein, dass er sich in diese Frau verliebt hatte? Was er empfand, fühlte sich nicht nach einem flüchtigen Abenteuer an.

»Wir müssen los«, sagte sie, kletterte aufs Bett, beugte sich über ihn. Ihre Fingerspitzen strichen über seine Schulterblätter, wanderten jeden einzelnen Rückenwirbel hinab.

»Leider«, bedauerte Algirdas, umfasste ihr Gesicht und rang ihr einen langen, intensiven Kuss ab. »Vielleicht sollten wir überdenken, ob wir alles, was letzte Nacht geschehen ist, in Moskau lassen.«

»Vielleicht?«, meinte sie geheimnisvoll, stand auf und begann, ihre Garderobe für den Rückflug zurechtzulegen.

Er stützte sich auf den Ellenbogen, um sich vom Bett zu erheben und schlüpfte in Hemd und Hosen. Zum Abschied küsste er sie auf die Wange, verließ das Zimmer und beglückwünschte sich selbst. Was war ich nur für ein Idiot, dachte er sich grinsend.

 

 

 

 

 

Vilnius

Aus den Kopfhörern schallten die Stimmen der beiden Jungen in Rasas Ohren. Währenddessen versuchte sie, still Kontakt mit Jonas aufzunehmen. Bitte sei nicht mehr gekränkt, sandte sie ihm mit einem Wimpernschlag zu. Der Schmerz, ihn als Freund zu verlieren, brachte sie an die Grenze zum Heulen. Nur mit Disziplin zwang sie ihre Tränen mit einem Blinzeln zurück. Ich würde dich noch mehr verletzen, wenn ich vorgäbe, dich so zu lieben, wie ich Valdas liebe. Am liebsten würde sie Jonas an der Schulter packen und durchschütteln, damit er wieder zur Besinnung kam. Seit mehr als einer Woche beschränkten sich ihre Unterhaltungen nur auf das Nötigste, und Jonas blieb so formell wie er vor ihr als Vorgesetzten sein musste. Dienst nach Vorschrift, nannte man das.

»Ich gehe nochmal an die frische Luft«, sagte Kudirka, nachdem seine Söhne das Wohnzimmer verlassen hatten.

Augenblicklich fuhr ein Ruck durch Rasas Körper. Sie straffte die Schultern, rutschte an die Kante des Stuhls. »Hörst du das?«, flüsterte sie Jonas zu.

Endlich sah er ihr direkt in die Augen. »Hm«, machte er verschnupft.

»Unternimmst du einen deiner abendlichen Spaziergänge?«, fragte die Frau, räumte geräuschvoll den Tisch ab.

»Ich sagte nur, ich muss einmal Luft schnappen«, antwortete Kudirka, stand hörbar auf. »Es ist auch ziemlich warm in der Wohnung.«

»Findest du?«

Schritte knarzten auf den Dielen. Er nahm wohl gerade seinen Mantel von der Garderobe.

»Ich gehe«, sagte Rasa entschieden, erhob sich.

»Zu Befehl, Genossin Kapitonė«, erwiderte Jonas knapp.

Im Flur schlüpfte sie in ihre Stiefel, legte den Holster mit der Makarow an, auf deren Lauf der Schalldämpfer geschraubt war, und warf ihren Mantel darüber. Sie schob die Mikrokamera in die Tasche. Mit angehaltenem Atem lauschte sie ins Treppenhaus. Damit Kudirka keinen Verdacht schöpfte, ließ sie ihm so viel Vorsprung, dass er die Haustür erreichte. Als sie das Quietschen der Tür hörte, verließ sie die die Wohnung.

Ein Hauch von Schnee wehte Rasa mit der eisigen Luft entgegen, als sie auf den Gehsteig trat. Wie erstarrt hingen die roten Flaggen zum bevorstehenden Feiertag der Oktoberrevolution an der Fassade, überzogen von feinen Frostkristallen. Im Lichtkegel der Laterne sah sie, wie Kudirka, die Hände in die Manteltaschen vergraben und die Schirmmütze tief in die Stirn gezogen, in einen Durchgang zwischen den Wohnblocks abbog. Rasa folgte ihm auf Abstand. Zwei Mädchen, die einen Hund an der Leine führten, kamen ihr entgegen. Kudirka lief den gepflasterten Weg entlang durch einen kleinen Park. Dahinter erhoben sich schemenhaft der Zaun des Basketballfelds und die Rutschen und Schaukeln des Spielplatzes. Sie verlangsamte ihre Schritte, wich auf die Rasenfläche aus, damit sie sich nicht mit dem Klappern ihrer niedrigen Absätze verriet.

Als wartete er dort auf jemanden, schlenderte Kudirka neben dem Basketballplatz. Rasa drängte sich dicht an den zusammengewachsenen Stämmen einer Birke, spähte zu dem Mann. Bisher hatte er sie noch nicht bemerkt. Er bewegte seinen Ellenbogen, als blickte er auf die Uhr, wippte angespannt mit den Beinen. Scheinwerfer streiften das schüttere Gebüsch, scharf traten die Umrisse der Zweige und der einzelnen Blätter hervor. Das Lichterpaar brannte weiter, obwohl der Fahrer ausstieg. Kudirka hielt in der Bewegung inne, als dumpf eine Tür zuschlug. Zaghaft bewegte er sich auf das parkende Auto zu. Ein Mann in hellem Mantel und mit einer Uschanka auf dem Kopf kam auf ihn zu. Wie elektrisiert lauschte Rasa, was die beiden sprachen. Dem Klang der Vokale nach war es Englisch. Mit der Kamera in der Hand pirschte sie um den Birkenstamm, drückte in dem Augenblick den Auslöser, als Kudirka einen Umschlag unter seinem Mantel hervornestelte und ihn dem Mann überreichte.

»Thank you, Mister Kudirka. Great job.« Das knarrende Englisch klang eindeutig nach einem Amerikaner. Er gehörte sicher der CIA an.

Rasa schlich einen Schritt näher, um eine schärfere Aufnahme zu schießen, da knackte ein Zweig unter ihrer Sohle. Sofort zuckte sie zusammen, verbarg sich hinter der doppelten Birke und atmete lautlos ein. Ihr Herz galoppierte vor Aufregung und vor Angst, entdeckt zu werden. Bestimmt war der Amerikaner ebenfalls bewaffnet. Eine Schießerei und dabei verwundet zu werden oder gar draufzugehen, konnte sie am allerwenigsten gebrauchen.

Die beiden Männer hielten inne. Wahrscheinlich horchte der Amerikaner in die Stille, während er sich Rasa gefährlich näherte.

»Das war sicher ein kleines Tier«, vermutete er, entfernte sich wieder.

»Vielleicht«, wiederholte Kudirka, hielt inne. »Das Kernkraftwerk W.I. Lenin nimmt zum 31. Dezember seinen Betrieb auf. Davor wird der Reaktor testweise hochgefahren.«

Angestrengt musste Rasa zuhören, um jedes Wort zu verstehen.

---ENDE DER LESEPROBE---