Bruderland - Klaas Huizing - E-Book

Bruderland E-Book

Klaas Huizing

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Beschreibung

Ein Schnitt ins Hirn kann wahre Wunder wirken: Mittels operativer Eingriffe gelingt es dem Neurochirurgen Henk Apeldoorn, seinen Patienten verloren gegangene Emotionen zurückzugeben. Sein eigenes Gefühlsleben bekommt Henk allerdings nicht in den Griff. Bizarr verhält er sich gegenüber den Frauen, hektisch laviert er zwischen den getrennt lebenden Eltern, krampfhaft bemüht, es allen recht zu machen Maßstab dabei ist Henks älterer Bruder Moritz, dessen tragischer Tod die Familie gleichermaßen eint und trennt. Die Erinnerungen an ihn, an die Demütigungen durch ihn bestimmen Henks Leben noch immer. Tragikomisch und so einfühlsam wie messerscharf präsentiert Klaas Huizing das Psychogramm einer Familie. Der Familienroman ist als Kandidat für die Hotlist 2015 nominiert.

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Klaas Huizing

Bruderland

Ein Familienroman

g GOLLENSTEIN

Geh, wir haben grobe Sinne. Einander kennen?

Wir müssten uns die Schädeldecken aufbrechen und die Gedanken einander aus den Hirnfasern zerren.

Mareile 19

„Zu Kindern finde ich nur einen Zugang, wenn ich sie während der Narkose untersuche.“

Dieser Satz erreichte stets verzögert sein Ziel, musste offenbar zuerst von allen Wänden, Schränken, Bildern und Büchern zurückprallen, um endlich verbeult über das linke Ohr in das Innere der Frauen zu dringen – es war übrigens nahezu immer das linke Ohr, er sollte endlich diese Gewohnheit ändern, sich, nachdem er gekommen war, rechts neben die Frauen auf den Rücken zu legen, die sich sofort zu ihm hindrehten und schon wieder Körperkontakt suchten, wie kleine Kinder, die nicht entwöhnt werden wollten. „Komm, lass uns kuscheln, bitte.“ Einige sagten: „Bitte, bitte.“ Das erinnerte an Bettler, die einem ihren verkrüppelten Arm oder einen entzündeten Beinstumpf aufdrängten.

Dieses Mal dauerte es unfassbare neun Sekunden, bis sie reagierte. Er war heute offenbar in guter Form, hatte auf jeden ironischen Unterton verzichtet, der noch Diskussionen und Nachverhandlungen zuließ. Ironie war immer ein Zeichen von Schwäche. Eine klare, einfache, unmissverständliche Feststellung. Ein gezielt eingesetzter Stimmungsabturner. Basta. Mareile benötigte neun Sekunden.

Er nannte seine Freundinnen grundsätzlich alle Mareile, wenn er entschieden hatte, sich zu trennen. Auf Mareile war er gekommen, weil in seiner Lieblingssendung im Fernsehen, Brisant, gleich nach der Tagesschau um fünf, eine gewisse Mareile die ganzen Schrecken des Tages in Watte packte: Massenkarambolagen, Häuserbrände, Ehedramen mit mindestens einem Toten, der Tragödienanteil nahm mit jedem Bericht etwas ab, bis Mareile über die Botoxkrisen der Promis zu den schönsten und hässlichsten Ballkleidern auf dem roten Teppich bei irgendeinem dämlichen Event landete. Beim Abschied schloss sie immer einmal ganz kurz die Augen. Eine ihrer Vorgängerinnen hatte noch hauchen müssen: Alles wird gut. Mareile reichte der mutterwarme Blick. Die heilige Mareile der Verkehrsopfer. So versöhnt konnte er an seinen freien Tagen, oder wenn er die Sendung zeitversetzt auf seinem Laptop nach einem stressigen Operationstag angeschaut hatte, losziehen in die Nacht.

Diese Mareile neben ihm hatte Schlupflider. Henk liebte Schlupflider. Wer Schlupflider besaß, fiel aus dem Kindchenschema heraus. Er wollte definitiv keine Kinder, nicht einmal Freundinnen, die das Kindchenschema bedienten oder sich danach sehnten, es zu bedienen. Als im letzten Frühjahr eine Mareile mit weit aufgerissenen Augen wie ein kleines Mädchen vor ihm stand, das für ein Geschenk gelobt werden wollte: „Und was sagst du dazu, nun mach schon“, hatte er nur wie ein leicht dementer Wackeldackel mit dem Kopf genickt, die operierten Augenlider wehmütig musternd, er hatte sie nach dieser Verstümmelung nur noch von hinten beschlafen können, weil er den Anblick nicht ertrug. Diese Mareile hielt die bevorzugte Technik für einen Beweis von Nähe. Er hatte seine ganze Liste zur Abwehr von Gefühlen plündern müssen, um diese Mareile (es war Mareile 4, wenn er sich nicht täuschte) zu entlassen.

Mareiles Mundwinkel zuckten, die ersten Worte, genauer: die ersten Rudimente von Worten, hinkten an sein Ohr. Er musste gar nicht genau hinhören. Er wusste schon, was irgendwann kam. Diese unfassbar hässlichen Wortungetüme kündigten sich an. Biologische Uhr. Ticken. Wie eine Bombe. Nein, er war die Bombe. Und da war niemand, der die Bombe entschärfen konnte.

Ich bin ein moralisches Monster. Ein Scheißmonster! Ein ekeliger Fleischbeschauer!

Sie – beinahe hätte er laut aufgelacht, weil er im Moment gar nicht ihren wirklichen Namen erinnerte – war seine Vermögensberaterin. Bei der Sparkasse. Sparkasse, das war die spießige Seite an ihm. Wenn’s um Geld geht: Sparkasse! Seine Eltern hatten bei der Deutschen Bank während irgendeines Crashs viel Geld verloren, deshalb war er bei der Sparkasse gelandet. Die Sparkasse sei am besten durch alle Krisen gekommen. So lautete Mareiles Eröffnungssatz. Als sie lächelte, erahnte er die Torturen, die nötig gewesen waren, um ein so perfektes Gebiss zu bekommen. Ganz helles makelloses Zahnfleisch. Dieser Frau konnte man sein Geld anvertrauen. Als Bonus ging sie mit ihm ins Bett. Für eine Anlagesumme von fünftausend Euro. Das fand sie selbst etwas übertrieben. Nur am Wochenende legte sie roten Nagellack auf, während der Kundengespräche, so hatte ein Seminarleiter ihnen eingetrichtert, müsse der Lack transparent bleiben – Transparenz sei in Geldfragen alles. French Nails seien dagegen ein No-Go und ein Kündigungsgrund.

So wie bei ihm der Kinderwunsch. Er wollte um keinen Preis der Welt die Geschichte mit seinem Bruder erneut durchleben. Also sagte er seinen Satz.

Sie stammelte, als leide sie plötzlich an Agrammatismus infantilis. „Ich gern Kinder möchte. Meine Biouhr ticken.“

Eigentlich war der Agrammatismus sehr schwierig und nur in langwierigen Sitzungen zu behandeln, aber Mareile schüttelte sich einmal kurz, als würde sie eine lästige Fliege verscheuchen, setzte sich dann aufrecht hin, schaute auf ihre Hände, als stünde dort ein fehlerfreier Text. Etwas viele Okays las sie ab, das Wort war eher nicht typisch für sie und passte gar nicht zu einer Anlageberaterin der Sparkasse. Eher zu einer Fachverkäuferin in einem Pornoladen. Aber er war nicht ihr Rhetoriktrainer.

„Okay, Henk, ich habe es verstanden, okay, okay, ich hatte das offenbar falsch eingeschätzt. Okay? Ich kann mir dich gut als Vater vorstellen, verstehst du? Aber man muss das wirklich wollen, man muss voll und ganz dahinter stehen, ohne Wenn und Aber. Du bist vielleicht noch nicht so weit, bei dir ist der Biodruck auch nicht da, okay, ja, habe ich verstanden, dann muss ich das noch einmal neu einschätzen und durchrechnen (sie sagte wirklich: durchrechnen!). Du bist trotzdem total süß, Henky, weißt du, okay?“

Okay. Das Wort war unendlich idiotisch, aber so wunderbar bequem wie ein eingesessenes Sofa. Sie würden gleich noch zusammen ins Theater gehen, dann würde sie fürchterliche Kopfschmerzen bekommen (waren Kopfschmerzen nicht immer fürchterlich?), sich verabschieden und er müsste darauf vertrauen, dass ihre Anlageberatung sein Geld wachsen ließ. Und er war dieser Mareile sehr dankbar, dass sie nicht gefragt hatte, ob er über seine Kinderängste reden wollte.

Moritz 1

Ein Schluchzer arbeitete sich schmerzhaft nach oben, erreichte den Mund, seine Lippen zitterten bereits, aber diesmal zerkaute er den Schluchzer mit zusammengekniffenen Augen wie ein ekelig mit Sehnen durchzogenes Stück Fleisch und schluckte ihn wieder, unmerklich würgend, nach unten.

Dieser Bruder hier war vier Jahre älter, vier Jahre größer, vier Jahre stärker, vier Jahre schneller, vier Jahre klüger. Und hundert gottverdammte Jahre fieser. Henk ahnte das nur, denn er war ja erst sechs.

Sein Bruder trug den total bescheuerten Namen Moritz – wahrscheinlich hatten seine Eltern kurz mit dem Gedanken gespielt, ihn, den Zweitgeborenen, Max zu taufen, das hätte durchaus zum Familienhumor gepasst.

Dieser Moritz konnte als Erster an der Tischtennisplatte mit ihrem Vater Pingpong spielen und schaute dabei Henk nach jedem Punkt, den er geschenkt bekam, triumphierend an, obwohl sein Vater sich manchmal albern verrenken musste, um über den Ball zu schlagen. Moritz bekam als Erster Fußballschuhe von Adidas mit echten Stollen geschenkt, mit denen er noch am gleichen Abend auf Henks Lieblings-T-Shirt mit dem Smiley herumtrampelte. Moritz präsentierte als Erster bleibende Zähne, deren Abdruck eine Woche lang Henks Oberarm zierte, weil er es gewagt hatte, Moritz’ Fußballschuhe anzuprobieren. Und Moritz wechselte genau an dem Tag aufs Gymnasium, als Henk eingeschult wurde. Alle redeten nur über den großen Tag, an dem Moritz auf die höhere Schule ging. Sein Vater, ein Italienisch- und Französischlehrer, begleitete seinen Bruder zur Einführung aufs Gymnasium. An der Hand seiner Mutter, die Moritz zum Abschied unerträglich lange gedrückt hatte, länger als sie Henk gedrückt hatte, während sie ihm die selbstgebastelte Schultüte überreichte, ging er zur Einschulung. Drei Mal drehte sich die Mutter, nachdem sie sich vor dem Haus getrennt hatten, nach Moritz um: „Wir sind ganz stolz auf dich. Henk auch!“ (Sie trällerte: „Auhauch“.) Henk hätte sich am liebsten umgedreht und geträllert: „Neihein!“

„Sieh an: Die Nummer zwei der Apeldoorn-Jungs von der Paul-Gerhardt-Straße, wenn du nur annähernd so gut wie dein großer Bruder bist, dann stürmst du hier nur so durch die Klassen, ohne nach links und rechts zu schauen. Halt dich ran, junger Mann.“

Der Rektor mit den auffällig kleinen Händen, die nicht zu seinem Körper passten, lächelte breit, Henk lächelte schmal.

„Sag dem Herrn Rektor guten Tag, Henk.“

Seine Mutter schob, nein, schubste ihn ein Stück nach vorn.

„Sei nicht so schüchtern. Das kennt man ja gar nicht von dir.“

Der Vorwurf prallte auf seinen Nacken.

Henk sah, wie seine Hand sich in die des Rektors legte, spürte, wie sich Speichel in seinem Mund sammelte, aber er bekam kein Wort heraus, verbeugte sich nur, wie er es in einem Spielfilm gesehen hatte.

„Sehr vornehm, Henk, hoffentlich wissen das deine Mitschüler auch zu schätzen.“

Und dabei lachte der Herr Rektor laut und riss den Mund dabei so weit auf, dass Henk drei Lücken in den Reihen der Backenzähne erkennen konnte. Genau davor warnte seine Mutter jeden Abend, wenn Henk keine Lust verspürte, sich die Zähne zu putzen.

Die Röte in Henks Gesicht verflog den ganzen Vormittag nicht, in der Pause stellte er sich in eine zugige Ecke, aber die Hitze in seinem Gesicht blieb.

Bereits nach einer Woche auf dem Gymnasium, Lateinklasse, darauf hatte der Vater bestanden, war Moritz zum Klassensprecher gewählt worden.

Einstimmig!

„Einstimmig, das schafft nicht mal dieser Dachdecker Honecker in der DDR“, hatte sein Vater gescherzt und das Glas Rotwein gehoben.„Auf unseren Filius.“ Seine Mutter, Lehrerin für Französisch und Erdkunde, giggelte.

Moritz beugte sich über Henk: „Einstimmig, das schaffst du Pflaume nie. Besser als Honecker. Kapierste?“

Speicheltropfen fielen auf sein Gesicht, als müsste Henk von Moritz getauft werden.

Henk schluckte schwer, wischte sich das Gesicht ab, presste dann hervor: „Ich, ich, ich schaffe das noch besser als du“ und war ganz verwirrt, als er im vor Lachen weit aufgerissenen Mund seines Vaters auch drei Lücken entdeckte.

„Besser als einstimmig! Pah! Du bist so ein Knallfrosch. Schwirr ab. Mach schon.“

Moritz boxte mit aller Kraft auf Henks linken Oberarm.

„Sei großzügig, Moritz. Dein Bruder ist vier Jahre jünger als du. Da muss man noch nicht wissen, was Einstimmigkeit bedeutet. Und ob du wirklich präzise weißt, wer dieser Honecker ist, da bin ich mir gar nicht sicher.“

Moritz zuckte kurz, Henk befeuchtete mit der Zungenspitze die Lippen, spürte einen Schluckauf und sagte deshalb nichts.

„Aber in seinem Alter konnte ich bereits lesen. Der ist so blöd, der kann noch nicht einmal das ABC stammeln. Der Blödmolch.“

Moritz richtete sich auf, nur damit er verächtlich auf Henk hinunterschauen konnte.

„Sei gerecht, Moritz, damals lebte Oma Nordhorn noch und die hat dir sehr geduldig das Lesen beigebracht. Diese Chance hatte Henk leider nicht. Und eure Oma aus Zwolle spricht beinahe gar kein Deutsch. Also.“

„Bei dem hier hätten nicht drei oder sogar vier Omas gereicht. Der ist doch behindert.“

Henk schaffte es nicht einmal, beleidigt zu murmeln.

„Nun ist aber Schluss, Sportsfreund.“

Seine Mutter war plötzlich aufgestanden, blickte kurz zu ihrem Mann, der die Hände hielt, als würde er alle segnen, dann zwang sie eine Fröhlichkeit in ihre Stimme.

„Wisst ihr was, jetzt spielen wir alle vier zusammen Memory. Wer ist dafür?“

„Sehr gut, sehr gut, sehr gut“, bestätigte der Vater und segnete den Vorschlag ab.

Moritz schwenkte seinen Oberkörper hin und her, stöhnte lange, gab sich dann geschlagen.

„Eigentlich bin ich dafür zu alt, aber von mir aus. Aber nur, wenn ich anfangen darf.“

Aber das Wort Memory weckte in Henk partout keine Freude. Moritz ließ ihm nie Zeit zum Überlegen, tippte oft eine falsche Karte an, wenn er an der Reihe war und grölte dann: „Ich lach mich schlapp, du hast ein Gedächtnis wie ein Sieb. Wie kann man nur so dämlich sein!“

Wenn sie nach dem Spiel die eroberten Kartenstapel nebeneinander stellten, hatte Moritz immer mindestens zwei Pärchen mehr als ihr Vater. Nur einmal, als Moritz hoch fieberte, hatte Henk so viele Pärchen wie sein Bruder ergattert. Das war eines seiner seltenen Unentschieden. In der Nacht hatte Moritz sich zu Henk ins Bett gelegt und ihn die ganze Zeit angepustet. Am anderen Tag stieg bei Henk das Fieber so hoch, dass seine Eltern einen Arzt rufen mussten.

„Ich habe keine Lust.“

Als hätte dieser Satz eine Zauberkraft, so erstarrten der Vater, die Mutter und Moritz für einen Augenblick. Als Erster löste sich der Vater aus der Versteinerung.

„Genau, mein Sohn, jetzt siehst du, wie schwierig es ist, Einstimmigkeit zu erzielen. Einer schert immer aus der Reihe, einer will immer Extrawürste braten, einer hat immer noch irgendeine Rechnung offen.“

„Du hast echt einen Schaden, ich lass mich herab zu diesem dämlichen Kinderspiel, und du spielst Mamas Schmusebacke. Mach einen Abgang. Los. Na mach schon!“

Moritz rempelte ihn mit der Schulter an.

„Wenn du also den Spielverderber geben willst, dann nimm dir ein Bilderbuch und setze dich an den kleinen Tisch dort drüben und halte dich ruhig. Ich will absolut keinen Mucks von dir hören, hast du das verstanden? Wir spielen mit Moritz dann Scrabble. Du kannst ja noch nicht lesen. Oder du gehst direkt ins Bett und machst sofort das Licht aus. Entscheide du!“

Henk starrte auf die schmal gepressten Lippen seiner Mutter und würgte den aufsteigenden Schluchzer nach unten.

Moritz gewann beim Scrabble, weil er einige neue Worte erfand.

Von Henk kein Mucks.

Neurowissenschaft 1

Henk hasste es, auf einen Anrufbeantworter zu sprechen, weil er seiner eigenen Stimme und seiner Zunge dann nicht traute. Aber diesen Anrufbeantworter musste er aus medizinischen Gründen nur abhören, immer und immer wieder. Über sechzig Mal hatte er bereits der Stimme gelauscht.

Gesine Gerritzen. Ich bin leider im Augenblick nicht verfügbar, rufe aber gerne zurück. This is Gesine Gerritzen’s voice mail. Sorry, I’m out at the moment. Please leave your name, number and message after the tone. I’ll call you back as soon as possible. Vous êtes bien chez Gesine Gerritzen, mais je ne suis pas là pour le moment. Veuillez laisser un message après le signal sonore. Je vous rappellerai dès mon retour. Merci.

Die Verspannung in seinen Rückenmuskeln wurde bei jedem Abhören stärker. Wenn er noch zehn Mal die Repeat-Taste drückte, würde der Schmerz wahrscheinlich unerträglich werden. Seine jämmerlichen Nieren zwickten wieder. Er drohte zu versteinern.

Wenn ich die Patientin aus medizinischen Gründen knebeln und ihr dabei Angst einjagen dürfte, vielleicht könnte ich sie dann überlisten. Wahrscheinlich muss man dafür aber einen Antrag bei irgendeiner verschnarchten Organisation stellen. So wie bei den Tierversuchen.

Diese Stimme auf dem Anrufbeantworter der Gesine Gerritzen war unauffällig, besaß eine leicht rheinische Stimmfärbung, wirkte aber nicht vulgär oder prollig, eher charmant.

Hey, Alter! Hast du wirklich „charmant“ gedacht? So eine spießige Vokabel poltert durch dein Hirn?

Konzentrier dich, bitte.

Oh, jetzt spricht Mom wieder aus mir.

Auch die Ansagen auf Englisch und Französisch wirkten unangestrengt.

Ist das Verarsche oder nicht? Oder ist das nur ein süßer kleiner Tic, um nach der Menopause nicht zu vereinsamen?

Ein Kollege hatte ihm diesen Fall weitergereicht. Mit einem spöttischen Augenaufschlag. Dieser Kollege mit den albernen Goldknöpfen an seinem Kittel war unfassbar karrierebewusst.

Nein, nein, nicht karrieregeil, an dem ist rein gar nichts geil!

Er sah in dem Fall Gerritzen kein Potenzial für eine Veröffentlichung in einem der großen medizinischen Periodika. Wissenschaftsmüll also.

„Du bist doch ein großer Heiler vor dem Herrn“, hatte er gesagt.

Dieses Durchschnittsekel! Aber vielleicht ist doch etwas an dem Fall dran, das ich ausschlachten kann. Das Henk-Apeldoorn-Syndrom. So wie das Tourette-Syndrom. Dann wäre ich unsterblich. Dann würde zumindest Mom endlich Ruhe geben. Und der Scheißkollege würde seine Bifokalbrille vor Neid zertrampeln. Eine Bifokalbrille in dem Alter! Lächerlich. Wahrscheinlich prügelt er sich jede zweite Nacht durch einen Darkroom!

„Mein Mann traut sich mit mir überhaupt nicht mehr in die Öffentlichkeit!“, hatte die Patientin gleich beim ersten Kontakt mit einem starken, völlig überzogen wirkenden russischen Akzent gesagt.

Dieser verzweifelte Blick, mit dem sie den Satz kommentierte, verursachte ihm damals spontan Übelkeit.

Herrgott, warum um alles in der Welt bin ich nicht Pathologe geworden. Die Klientel hält wenigstens still.

Wenn ihr verzweifelter Blick nicht Regie in ihrem Gesicht führte, wirkte es sehr ebenmäßig, beinahe archaisch. Die alten Griechen hätten sie in Stein gemeißelt und Opfergaben vor ihr abgelegt.

Schweif nicht ab!

Ja, Mom.

Danke.

Die Patientin Gerritzen trug ihre Haare, blonde Haare, die wahrscheinlich chemisch etwas aufgehellt waren, zu einem Knoten gebunden. Dadurch wirkte sie unnahbar.

Triple A. Nur für Börsenmakler mit Boni-Garantie.

AAA!

„Aussiedlerin. Die Kollegen meines Mannes, die mich zum ersten Mal treffen, halten mich für eine Aussiedlerin. Das lese ich in ihren Augen.“

Ich darf ihr nicht in die Augen schauen. Eine zweifarbige Iris. Wie bei Mareile 16.

„Wenn ich nicht noch etwas viel Gemeineres in den Augen der Kollegen meines Mannes lese. Kollegenfrauen, Herr Doktor, das ist die Pest.“

Henk kratzte sich grundlos am Unterarm. Es war ein alter Reflex, denn das Ekzem, das in der Pubertät dort hartnäckig ausgeharrt hatte, war längst narbenfrei verheilt.

„Russlanddeutsche! Nein, nein, nicht, was Sie jetzt denken, von mir aus darf jeder Russe mit dubiosen Vorfahren hier Asyl bekommen und arbeiten, doch, arbeiten müssen sie natürlich schon und nicht unsere Sozialsysteme plündern, von mir aus kann auch der ganze Balkan hier auftauchen, in gewissen Sparten findet man kaum noch Arbeitswillige. Und natürlich bin ich für Mindestlohn.“

Die guten alten Ressentiments lösen doch immer wieder die Zunge. Aber Mindestlohn. Na klar. Und die Zweitstimme für die Grünen. Ihre Oberlippe wurde offenbar mit Botox ruhig gestellt.

Wenn er sich konzentrieren wollte, dann dachte er immer an eine Tiefkühltruhe. Als Kind hatte seine Mutter ihn, nicht seinen älteren Bruder, in den Keller geschickt, um etwas aus der Tiefkühltruhe zu holen. Das eingefrorene Fleisch sah immer gleich aus, oft musste er alle Körbe durchwühlen und die Etiketten mit der sehr kleinen Schrift seiner Mutter entziffern, bis er endlich die verlangten Rouladen oder Würste gefunden hatte. Seine Mutter schien nur eine Angst zu kennen: Gefrierbrand. Gefrierbrand gehörte seit seiner Jugend zu seinen Lieblingswörtern. Wie Gefrierbrand genau aussah, hatte er erst über fünfzehn Jahre später im Internet recherchiert. Ekelig. Beinahe täglich hatte er die Bilderseiten auf Google aufgerufen. Noch immer kannte er den Wikipedia-Artikel, den er in den Nullerjahren immer wieder verbessert hatte, auswendig:

„Zu den Verfärbungen kommt es durch die Sublimation der Eiskristalle in den Randschichten der Produkte. Dabei bilden sich Hohlräume, welche das einfallende Licht diffus streuen und die Oberfläche meist heller erscheinen lassen. Weiterhin kommt es zu einer Denaturierung von Proteinen und Oxidation von Fetten und anderen Lebensmittelinhaltsstoffen. Dadurch wird vor allem der Geschmack der betroffenen Stellen stark beeinträchtigt. Im mikrobiologischen Sinne ist das Produkt durch einen Gefrierbrand nicht automatisch verdorben, aber in der Regel ungenießbar. Häufig reicht es aus, die betroffene Stelle herauszuschneiden.“

Er legte die Hände ineinander, das wirkte wahrscheinlich sehr vertrauensvoll, aber es hatte einen ganz einfachen Grund, allein der Ausdruck „Gefrierbrand“ kühlte ihn augenblicklich aus. Seine linke Hand in seiner rechten Hand wärmte ihn auf und täuschte ihm eine echte Berührung vor.

Seinem Mund entrang sich endlich ein Satz.

„Seit wann quält Sie der Wunsch, mit einem starken russischen Akzent zu sprechen?“

Mein Lächeln, das den Satz begleitet, wirkt wahrscheinlich etwas seifig.

Sein Satz schien ihr den Ton abzudrehen, denn sie schaute ihn mit halb geöffnetem Mund an, schluckte, starrte etwas hilflos.

Dieser Scheißkollege, warum tu ich mir das an! Professionell bleiben, den Blick jetzt nicht preisgeben. Und nicht dem Kribbeln auf der Kopfhaut nachgeben. Sich nicht über das Gesicht reiben.

In ihrem Gesicht schlug Ärger aus.

„Sie nehmen mich nicht ernst.“

Sie betonte jede Silbe.

„Ich bin eine völlig normale Mitteleuropäerin, Herr Doktor. Es ist kein Zwang. Ich habe mich völlig in der Gewalt, aber meine Zunge kann nicht anders, als jeden Satz mit russischem Akzent zu sprechen. Mit einem französischen Akzent könnte ich leben, der gilt als niedlich, aber nicht mit einem russischen Akzent, einige Kollegen meines Mannes glauben, er habe mich aus einem Bordell herausgekauft. Ich möchte nicht mit Ihnen darüber diskutieren, wo genau die Prostitution auch in der Ehe anfängt, darüber haben Sie sicherlich auch eine eindeutige Meinung, aber das ist hier nicht unser Thema, Herr Doktor. Ich bin definitiv nicht verrückt, ich bin ganz normal krank.“

Seine Konzentration hüpfte wieder davon.

Den Gag verkauf ich Woody Allen. Der lässt alle Frauen in seinem Film plötzlich mit russischem Akzent reden. Und dann kommt ein Freak und muss sie heilen. Und dieser Freak bin ich.

Sie stand mit einem Ruck auf, als hätte jemand auf einen Knopf gedrückt. Sie starrte ihn so böse an, als könnte ihr Blick ihn in den Boden rammen.

„Gnädige Frau!“

Herr im Himmel! Warum nur wähle ich in solchen Stress-situationen immer diesen österreichischen Edelnuttenausdruck?

„Ich halte Sie in keiner Weise für verrückt, wie käme ich dazu. Nehmen Sie wieder Platz, bitte. Wir werden jetzt diesem Symptom sehr professionell zu Leibe rücken. Zunächst machen wir eine kleine Anamnese, Auffälligkeiten, vergessene Stürze, verschleppte Gehirnerschütterungen, ich werde Sie durch alle Röhren dieser Welt schicken, um einen Apoplex, also einen Schlaganfall, ausschließen zu können. Und wenn wir chirurgisch etwas ändern können, dann sind Sie bei mir an der richtigen Stelle.“

Klare Fragen stellen! Los!

„Vielleicht besitzen Sie noch eine Tonaufnahme mit Ihrer früheren Stimme, damit ich mir ein Bild von Ihrem verlorenen Sprachduktus machen kann? Hatten Sie bereits Kontakt mit einer Logopädin?“

In Zeitlupe nahm sie wieder Platz.

„Ja, schon, die Dame übt mit mir, wie man die Vokale weniger diphtongiert, wie ich die U hinter dem O ausmerze, die Rachenlaute einschränke, aber wir kommen nicht voran, wir treten auf der Stelle und beginnen bei jeder Sitzung wieder von vorne.“

Ich habe nicht die leiseste Ahnung, wie ich dieser Frau helfen kann.

Keine Ahnung, Henk?

Nein, Mom! Keine Ahnung!

Mutter 10

Es gehörte zum festen Ritual: Wenn er zu seiner Mutter fuhr, hörte er unterwegs ein ganz bestimmtes Lied von John Lee Hooker. The great flood of Tupelo, Mississippi.Tupelo, Mississippi, das war für Henk: Münster, Paul-Gerhardtstraße.

Er glaubte jedes Mal, in Gummistiefeln durch knietiefes Wasser zu waten, wenn er das Elternhaus betrat. Sein Mund wurde dann wächsern. Die Farbe wich aus den Bildern, als würde er verschossene Fotos mustern. In seinem Nacken verdichteten sich alte Ängste. Er tastete sich mit ausgestreckten Armen wie ein Blinder nach vorne. Der Geruch nach eingewecktem Obst kratzte in seiner Kehle. Er musste dann husten und dieser Husten ließ alle Sätze, die er sich zur Begrüßung ausgedacht hatte, zerspringen. Er kramte nach einer Stimme, die unaufgeregt wirken sollte, aber nicht den Eindruck machen durfte, er würde eine Anamnese vornehmen.

Jetzt bloß keine Schweigeminute!

Die nackten Augen seiner Mutter.

„Trägst du jetzt Kontaktlinsen?“

Schwachsinn!

„Ich habe meine Brille kurz abgesetzt, weil ich mich plötzlich so müde fühlte. Hallo, zunächst. Ich freue mich, dass dein Navi mal wieder den Weg zu mir gefunden hat.“

Er spürte zwei Hände auf dem Rücken. Ihre Hände. Ihr kräftiger Druck. Eine Wange an seiner Wange. Ihre Wange. Noch immer dieser vertraute Geruch nach Fenjala.

„Deine Wangen sind auffällig warm. Hast du Fieber?“

Schwachsinn.

„Ein leichter Katarrh vielleicht. Du weißt ja, meine Schwäche sind die Bronchien.“

„Ich kann dir nachher ein Medikament besorgen.“

Schwachsinn.

„Das ist lieb von dir, Henk, aber mein Hausarzt hat meine Gesundheit gut im Griff. Während der zehn Jahre, als du in den USA studiert und geforscht hast, musste ich mit dem heimischen Personal auch zurechtkommen.“

Jetzt hielten sie sich an den Händen, seine Mutter trat einen Schritt zurück und musterte ihn mit schief gehaltenem Kopf.

„Du hast Ränder um die Augen. Schiebst du wieder viele unregelmäßige Dienste?“

„Du hast auch Ränder um die Augen, kannst du nicht gut schlafen?“

Schwachsinn.

Jetzt lachte seine Mutter. Warmer Atem streifte ihn.

„Das hast du auch früher immer gemacht. Man stellte dir eine Frage und die kam postwendend zurück. Dank dieser Methode hast du meine Fragen niemals beantwortet.“

Henk spürte, wie sich ihr Handschweiß mit seinem mischte. Aber er fror leicht.

„Also, mein Herr Sohn und Doktor. Ich komme ohne Schlaftabletten aus, vertraue auf mein Johanniskraut. Aber bevor du nachhakst, ja, an manchen Tagen, wenn sich sein Geburtstag oder der Tag seines Abiturs nähert oder als kürzlich seine letzte Freundin geheiratet hat, an diesen Tagen nehme ich dann, wie du das so schön nennst, einen Aufheller.“

„Davon kann man abhängig werden.“

Schwachsinn.

„Erstens hast du mir das bereits mehrfach gesagt, zweitens kann ich auch die Beipackzettel lesen. Ich bin schon groß. Kannst du dich eigentlich noch an seine letzte Freundin erinnern?“

„Die mit den großen Füßen?“

Besser.

Wieder streifte ein warmer Atem seinen Hals.

„Genau. Schuhgröße 44. Wie oft hast du darüber gespottet. Die kommt von der Küste, da benötigt man große Füße, um bei einer steifen Brise nicht umzufallen. Und Moritz hat dann immer auf deinen Oberarm geboxt. Dein Oberarm hat viel aushalten müssen.“

„Er hat es überlebt.“

Tödlicher Schwachsinn.

Seine Mutter ließ seine Hände los.

„Ja, ja. So ein paar blaue Flecken heilen wieder aus. Das heilt wieder. Aber wenn alles kaputt ist, dann bleibt es kaputt.“

Als seine Mutter sich umdrehte, strich sich Henk die Hände an den Hosenbeinen trocken.

„Komm, wir trinken einen starken Espresso. Hast du oder hat Moritz mir damals diese Maschine geschenkt? Ich weiß es gar nicht mehr.“

„Ich habe sie dir geschenkt, aber wenn ich ehrlich bin, kam der Vorschlag von der Großfüßigen.“

Seine Stimme klang immer noch, als würde er durch Wasser waten.

„Gerda, die Großfüßige, sie hat einen Banker geheiratet. Früher machten Banker was her, heute ist einen Banker zu heiraten eher eine karitative Großtat. Man schämt sich ein bisschen, sagt lieber Volkswirt oder so etwas.“

„Arbeitet der bei der Sparkasse?“

Ich erschieß mich gleich.

„Wieso kommst du gerade auf Sparkasse? Nein, ich glaube irgend so ein internationaler Konzern. Target oder so. Ist das wichtig?“

„Nein, nein, gar nicht. War ganz spontan gefragt. Ganz spontan.“

Seine Stimme wirkte wie in Watte eingehüllt.

Wie komme ich aus der Nummer raus!

„Begleitest du mich nächste Woche ins Theater?“

Endlich ein vorbereiteter Satz in einem eher beiläufigen Tonfall.

„Wenn nicht King Lear gegeben wird, gerne.“

„Keine Sorge, keine Sorge. Ein Stück von Moritz Rinke. Ganz modern. Ganz modern.“

Seine Mutter strich sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Kurz verfing sich darin Licht und ließ es glänzen.

Zwei Vorschläge vermischten sich in seinem Kopf. Er schüttelte ihn leicht, um wieder Ordnung herzustellen. Seine Mutter war mit einer Frage deutlich schneller.

„Wie steht es um dein Habilitationsprojekt?“

„Mach dir keine Sorgen. Ich bin an einer großen Sache dran. Ich forsche ganz intensiv an einer sehr seltsamen neurologischen Störung, die man vielleicht nur chirurgisch heilen kann. Es gibt Menschen, die wachen plötzlich morgens auf und sprechen einen kräftigen Akzent. Eine meiner Patientinnen spricht mit einem sehr starken russischen Akzent, das wirkt total übertrieben, wie ein Komiker, der Russlanddeutsche nachmacht. Und keine Therapie greift. Irgendetwas übersehen meine Maschinen und ich.“

„Furchterregend. Männer deuten das bestimmt als Anmache.“

Der Puls an ihrem Hals war deutlich sichtbar.

„Ganz genau. Ganz genau, Mama.“

Eine kleine Flutwelle von Glück überspülte ihn.

„Die Frau ist total mit den Nerven fertig. Ehrlich gesagt, halte ich sie für stark selbstmordgefährdet.“

Idiot.

Das Geräusch der Espressomaschine kassierte den letzten Satz. Seine Mutter schüttelte sich.

„Ich nehme immer die lila Kapseln. Der Espresso schmeckt am besten.“

„Lila, ja, klar, die sind super. Die favorisiere ich auch.“

„Moritz hatte damals vor, nach Konstanz zu wechseln, um dort in Psychologie zu promovieren. Über Glückstheorien.“

Ablenken. Ich muß sie ablenken.

„Ja.”

Die Kurve seiner Stimme verlor sich im Nirgendwo. Bis in die Beine kroch die Angst vor diesen Pausen.

„Willst du eigentlich wirklich frühzeitig in Ruhestand gehen? Ich kann mir dich eigentlich nur als Lehrerin vorstellen.“

Henk wischte sich über den Mund, aber der Satz war schon weg. Seine Mutter rieb sich den Nacken, als müsse sie die Worte von hinten herauspressen.

„Damals, nach dieser Tragödie, habe ich mich in die Arbeit vergraben, so wie auch dein Vater sich in die Arbeit vergraben hat. Und so wie auch du dich in die Arbeit vergraben hast und dann für zehn Jahre in die USA geflohen bist. Wie in einem Märchen, wo ein Kind in einen Wald geht und sich verirrt. So kam es mir vor.“

Sie fixierte einen Punkt in der Ferne.

„Zehn Jahre lang nur kurze Telefonate. Immer hast du einen guten oder schlechten Grund gefunden, warum wir dich nicht besuchen konnten. Oder durften. Irgendwann glaubte ich, du könntest vielleicht gar kein Deutsch mehr verstehen. Vielleicht hätten wir auf Englisch miteinander reden sollen.“

Aufhören, bitte! Das sind für mich schwarze Löcher, Mom. Ich habe mich weggesperrt. Zehn Jahre Laborknast. Ohne Besuchszeiten. Nur einen Tag in der Woche Freigang. Irgendeine Frau aufreißen und sich den Verstand wegvögeln. Das war alles.

„Ich fürchtete mich jedes Jahr vor den großen Ferien, war froh, wenn es danach endlich wieder losging. Ich habe mich sogar freiwillig für alle möglichen Klassenfahrten nach Frankreich gemeldet. Habe niemanden mehr neben mir wahrgenommen. Dann kippte es plötzlich, es war wie ein Ekzem, das sich ausbreitete, ich bekam unüberwindbaren Ekel vor der Schule. Ich habe mich mehrfach übergeben, weil ich diesen grauenhaften Pubertätsgeruch nach verbrannten Zwiebeln und Knetmasse, den die Mädchen an ihren Deos vorbei verströmen, einfach nicht mehr ertragen konnte.“

Henk sprach mit dem Blick zum Boden.

„Okay, aber was machst du dann?“

Seine Mutter knetete noch immer ihren Nacken.

„Vielleicht eröffne ich mit einer Freundin ein Café.“

„Okay.“

„Weißt du eigentlich, dass Papa eine neue Freundin hat?”

Vater 7

Sie saßen beide nebeneinander auf einer Couch, die darum bettelte, in die Moma-Sammlung aufgenommen zu werden, mit durchgedrücktem Kreuz, ihre Oberarme berührten sich leicht, den Blick geradeaus gerichtet, die Oberlippe seines Vaters zuckte leicht, sie schien ihm Kamerafestigkeit demonstrieren zu wollen, er lächelte etwas klebrig, aus allen Poren quoll ihr Selbstbewusstsein, sie summte leise, die Ferse des linken Fußes fuhr regelmäßig aus den Pumps heraus, sein Vater wartete sehnsüchtig auf das erlösende Blitzlicht.

Henk wusste nicht, welche Taste er drücken sollte. Deshalb blieb die Atmosphäre geladen.

Fünf Gesprächsanfänge hatte er hinuntergeschluckt, mehrfach trocken gehüstelt, aber das Hüsteln galt noch nicht als Rede, sein Verstand nahm gerade jetzt eine Auszeit, seine Gedanken waren zu borstig, nicht glatt genug, um nach draußen zu gelangen.

Und warum sagte sein Vater nichts und saß dort wie ein

Ölgötze?

Ölgötze. Das ist ein Ausdruck meines Vaters, warum kommentiere ich diese Scheißsituation mit den Vokabeln meines Vaters?

Sein Vater schwieg verstockt und lächelte schwachsinnig wie ein dementer Alter.

Sperr endlich den Mund auf, Dad, damit kommst du bei mir nicht durch!

Er verbot seinen Fingern, an einem Nasenflügel zu knibbeln. Sein Magen war sehr unbeherrscht, rumorte laut und schien das Sprechen übernehmen zu wollen.

Diese Frau neben seinem Vater verströmte die Aura der neuen Eigentümerin. Den habe ich mir auf dem schicken Flohmarkt in der Vorstadt geangelt und wieder teuer aufgepolstert, der sieht nicht mehr aus wie das Leiden Jesu höchstpersönlich, der hat trotz der Tragödie um deinen Bruder, die ich ja gar nicht leugnen oder, Gott bewahre, kleinreden möchte, jedenfalls hat dein Vater wieder oft Spaß am Leben wie Bolle, und du gönnst ihm das gefälligst, du bist doch selbst kein Kind von Traurigkeit, wie dein Vater nicht ohne Stolz in der Stimme immer behauptet, also spare dir das etwas ekelig moralinsaure und selbstgerechte Grinsen, ich bin günstiger als jede Psychotherapeutin, mich gibt es ohne Krankenschein und Rezept, also lächle, aber ein bisschen plötzlich.

In Gedanken duzt sie mich, klar, sie fickt mit meinem kleinen Daddy, dann duzt man natürlich auch den Bubi!

Ein mutwilliges Blinzeln in ihren Augen. Er spürte, wie seine Adern an den Schläfen blau anliefen.

„Um das gleich klarzustellen“, hatte sein Vater am Telefon mit diesem typischen Nachdruck gesagt, „und unterbrich mich bitte nicht, du neigst dazu, wie deine Mutter Menschen dauernd zu unterbrechen und zu belehren, bitte!“