Fürchte dich nicht - Klaas Huizing - E-Book

Fürchte dich nicht E-Book

Klaas Huizing

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Beschreibung

Platzangst, Höhenangst, Flugangst, Vererbungsangst, Verarmungsangst, Höllenangst – das Individuum sieht sich einer Phalanx der Schrecken gegenüber. Entsprechend reich ist das Angebot der Entängstigungsstrategien aus der Apotheke der Philosophie, der Literatur und der Theologie.

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Klaas Huizing

FÜRCHTE DICH NICHT

DIE KUNST DER ENTÄNGSTIGUNG

Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Autor: Klaas Huizing

Umschlagillustration: Alfons Holtgreve

Umschlaggestaltung: Kristin Kamprad

Fotos: AKG-images (S. 50; S. 69) bpk (S. 59)

Satz: Ellina Schulz

1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2014

© Hansisches Druck- und Verlagshaus GmbH, Frankfurt am Main 2009.Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung außerhalb der Grenzen des Urheberrechts ist ohne schriftliche Einwilligung des Verlags unzulässig.

ISBN 9783869211640

INHALT

COVER

TITEL

IMPRESSUM

WIDMUNG / ZITAT

DER ANSAGER

EINLEITUNG: OBEN OHNE

DAS LEBEN MIT DER ANGST

DREI GENERATIONEN ANGST

MORGENDLICHE ERINNERUNG

SEIT EIN GESPRÄCH WIR SIND

BEIM FRÜHSTÜCK

HIMMEL, HÖLLE, FEGEFEUER

IM MUSEUM

KRANKHEIT ZUM TODE

IN DER BIBLIOTHEK

VIER GRUNDFORMEN DER ANGST

AUF DEM SOFA

KONTINGENZ, IRONIE UND SOLIDARITÄT

IN DER UNIVERSITÄT

KITSCH UND TRAGÖDIE

IN DER KIRCHE

ANGST UND HUMOR

BEIM WEIN

SCHLUSS

LITERAURVERZEICHNIS

Für

Hermann Timm zum 71.

„Die Idee des Lesers ist die Muse und Gehülfin des Autors.“Johann Georg Hamann

DER ANSAGER

Onkel Johann fuhr Deutz. Nicht McCormick. Nicht Hummel. Sein Vater fuhr bereits Deutz. Und er kannte jede Schraube und jede Mutter an seinem Trecker. „Den kriegt man einfach nicht kaputt. Und einen McCormick? Nee. Das sind immer Montagskisten.“ Meine Schwestern und ich nannten unseren Nachbarn Onkel Johann, er war erster Nachbar, wie meine Mutter stets sagte, aber ich vergaß zu fragen, was diese Wörter genau bedeuteten. Er wohnte unserem Haus am nächsten, wir spielten beinahe jeden Nachmittag auf der großen Diele mit seinen Töchtern, und er nahm mich häufig mit, wenn er mit seinem Traktor zum Melken fuhr. Ich saß dann über dem großen Rad auf einem vergilbten Schaumstoffkissen, musste ihm immer versprechen, mich gut festzuhalten, dann öffnete er mit einem Ruck die Windschutzscheibe, zog den Choke und startete. Oft musste er fünfmal orgeln, bis sein Deutz ansprang. Erst dann zündete er sich einen Stumpen an, hustete, zwinkerte mir zu, tippte an seinen Cordhut und wir fuhren los. Jede dieser Fahrten war besser als Autoscooter.

Onkel Johann war nie sehr gesprächig, summte aber oft die Melodie eines Psalms, wenn er auf seinem Melkschemel saß, halb unter der Kuh verschwunden. „Milchkühe sind sehr religiös. Wenn man nicht summt, wird die Milch sauer.“ Ich hockte mich hin, in „gebührendem Abstand“, wie er sagte, weil die Kühe oft ausschlugen. Später hat er mir dann auch mit einigem Stolz gezeigt, wie man eine Kuh melkt – die große Kunst, zwischen Druck und Zug zu variieren. Und ich summte natürlich auch einen Psalm. Das war meine musikalische Früherziehung.

In den ersten Jahren habe ich Onkel Johann nur in seinem verwaschenen und geflickten blauen Overall mit dem braunen Cordhut gesehen, weil er sonntags eine andere Kirche als wir besuchte und wir sonntags zu Hause spielen mussten. Und ich habe ihn nie hochdeutsch, sondern nur plattdeutsch reden hören. Glückliche Jahre, und doch hat Onkel Johann mir die größte Angst meiner Kindheit eingejagt.

Ich war etwa vier Jahre alt, als es klingelte. Ich ging mit meiner Mutter zur Tür. Draußen stand ein fremder Mann in einem schwarzen Anzug mit einem Zylinder auf dem Kopf. Ängstlich verkroch ich mich hinter meine Mutter. Dann sagte dieser Mann in einem seltsam klingenden Hochdeutsch: „Frau Huizing, Ihnen wird der Tod der Witwe Boerendiek angesagt. Sie ist am Montagmorgen im Frieden des Herrn entschlafen. Die Sarglegung ist heute Abend um 17Uhr im Trauerhaus. Der Beerdigungsgottesdienst findet am Freitag um 15Uhr in der großen Kirche am Markt statt, anschließend ist die Beisetzung auf dem reformierten Friedhof. Die Familie Boerendiek lädt Sie hiermit zur Beerdigung ein.“ Dann verbeugte er sich, meine Mutter sagte: „Vielen Dank, Herr Nachbar! Wir werden natürlich kommen!“, dann schloss sie die Tür.

Meine Mutter konnte mich kaum beruhigen. „Es war doch Onkel Johann! Hast du ihn denn gar nicht erkannt? Er ist doch unser erster Nachbar und es gehört zu seinen Aufgaben, uns den Tod anderer Nachbarn anzusagen. Vor Onkel Johann muss du dich nicht fürchten!“ Erst nach einer Woche traute ich mich wieder, zum Nachbarn spielen zu gehen. Onkel Johann trug seinen blauen Overall und sein Cordhütchen. Und meine Mutter und er duzten sich wieder, wenn sie sich begegneten.

EINLEITUNGOBEN OHNE

DAS LEBEN MIT DER ANGST

Ein gedämpfter Klingelton signalisiert mir den Eingang einer neuen Mail. Oft überhöre ich ihn, so wie man das Rattern einer Straßenbahn überhört, wenn man ein Büro an einer Bahntrasse bewohnt. Und manchmal überhöre ich den Ton absichtlich, weil ich nicht der Sklave meiner elektronischen Post werden will. Aber wenn ich bei meiner Arbeit nicht vorankomme oder müde bin, öffne ich bereitwillig meinen Account. Bevor ich die E-Mail lese, kontrolliere ich immer, was die GMX-Redaktion mir als wissenswerte News anbietet oder welches medizinische Quiz ich lösen soll – das in der Regel von der pharmazeutischen Fabrik Pfizer, die die Urangst des Mannes mit Viagra therapiert hat, geschrieben und gesponsert wird. Mein Blick fällt auf den Titel Oben ohne. Und verhakt sich. Natürlich. Unterzeile: „Wie weit würden Sie gehen? Von einer Frau, die sich freiwillig von ihren Brüsten trennte. Ihre Erfahrung hat sie in einem Buch verarbeitet. Mehr.“ Natürlich klicke ich, plötzlich hellwach, auf „Mehr“!

„Drastischer Schritt: Freiwillige Brustamputation. (sst/​cfl) – Brustkrebs ist der Alptraum jeder Frau. Das Krankheitsrisiko von Evelyn Heeg lag bei fast 80Prozent, daher entschied sich die Freiburgerin schweren Herzens im Alter von 30Jahren, sich ihre beiden Brüste amputieren zu lassen. Jetzt – vier Jahre später – erscheint Heegs Buch ‚Oben ohne‘, in dem sie ihr Schicksal schildert. ‚Meine Mutter starb, als ich vierzehn Jahre alt war‘, berichtet Heeg in ‚Oben ohne‘. Ihre Mutter hatte Brustkrebs. Das gleiche Schicksal ereilte drei Tanten und später ihre Großmutter – die Frauen verloren alle wegen der Krebserkrankung ihr Leben. Ein Bluttest gab den Ausschlag für die Operation: Er bestätigte, dass bei Evelyn Heeg das Gen ‚BRCA1‘, das vor Tumoren schützt, nicht funktionierte. Neun Stunden dauerte der Eingriff, bei dem die Chirurgen das Brustgewebe bis auf einen Millimeter entfernten und die Brüste mit Fett aus ihrem Gesäß neu aufbauten. Die Ärzte tätowierten schließlich die nachgebildeten Brustwarzen, damit sie eine dunkle Farbe bekamen. Alles in allem kostete die medizinische Behandlung 30000Euro. Die Krankenkasse übernahm diesen Betrag vollständig. Auch vier Jahre danach sind die Nerven noch durchtrennt: ‚Die Tatsache, dass ich kein Gefühl mehr in den Brüsten habe, behindert mich nicht. Selbst beim Sex nicht. Die Brust als erogene Zone fällt natürlich aus.‘“ (GMX, 10.02.2009)

Offensichtlich ändern sich im Laufe der Geschichte die Erscheinungsformen der Angst. Platzangst, Höhenangst, Klaustrophobie – diese Ängste haben bereits eine längere Karriere hinter sich. Die Flugangst war für die Generation unserer Urgroßeltern nicht existent. Erst die Flugingenieure haben ein Flugobjekt erfunden, das zu besteigen vielen Menschen, die im Alltag mit einer hohen Technikgläubigkeit überzüchtete Autos fahren, große Ängste bereitet.

Jetzt gibt es in einer neuen Variante die Vererbungsangst, die durch genetische Studien sehr real untermauert wird. Das aufgegriffene Beispiel unterstreicht die neue Qualität drastisch. Die betagte Angst vor Arztbesuchen bekommt eine neue Schärfe: Jetzt gibt es auch Ärzte, die als datengestützte Propheten auftreten. Die Angst hat jetzt Zahlen und Prozente. Fraglos hat auch die genetische Forschung die Angst vor einigen Krankheiten nehmen können, sie hat aber, das zeigt das Beispiel, auch neue Ängste gezeugt. Die Summe der Ängste wird offensichtlich nicht kleiner.

Oder sind die Deutschen ängstlicher als andere Nationen? Sehen die Deutschen überall Gefahren, die Angst auslösen? Das Wort Angst schaffte es in den englischen Sprachschatz und wird gerne als German Angst kolportiert. Gibt es eine spezifisch deutsche Zögerlichkeit? Ich empfinde den Ausdruck German Angst vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte fraglos als entlastend.

Und die ganz alten Ängste? Gibt es sie auch noch? Die Höllenangst und die Angst vor dem Fegefeuer etwa? Ist die Angst vor der Hölle und dem Fegefeuer durch die Aufklärung definitiv abhandengekommen? Sind die Hölle wir selbst?

Oder ist die Hölle die Angst vor einem unwürdigen Ende des Lebens? Die kontrovers geführte Debatte um die Patientenverfügung macht die Angst fernsehtauglich. Die Vorstellung, die Selbstbestimmung am Ende des Lebens aufgeben zu müssen, gegen den erklärten Willen und abhängig vom Ungeist der Maschinen künstlich am Leben erhalten zu werden, hat die Angst vor dem Tod zur Angst vor dem Sterben umgewidmet.

Verdichtet sich die Angst der Gegenwart vielleicht zur Angst vor der Einsamkeit? Partnerschaftliche Beziehungen haben nicht mehr die gleiche Bindungskraft wie früher. Die traditionelle Familie ist längst auf dem Rückzug, Patchworkfamilien, ein Begriff, der Ängste wunderbar kaschiert, sind an der Tagesordnung. Die Witwe in Schwarz aus vergangenen Jahrzehnten ist zur bunten Scheidungswitwe geworden, die bis ins hohe Alter attraktiv bleiben muss, um den zweiten oder dritten Ehemann zu erobern. Die Schönheitschirurgie hat aus der Angst vor dem Attraktivitätsverlust ein lukratives Geschäft gemacht. Verführte die Schlange aus dem Paradies Eva noch zu einem vitaminreichen Apfelbiss, so lässt sich die Eva der Gegenwart das Gift der Schlange als Creme verabreichen, um die Faltengräben auszupuffern. Und die Männer joggen sich morgendlich beinahe zu Tode, offiziell, um der Angst vor dem Herzinfarkt muskelsauer zu begegnen.

In Zeiten der Finanzkrise fällt auch die Versicherungsindustrie, die größte Anti-Angstagentur der Gegenwart, aus, weil viele Institute plötzlich auf (staatliche) Rückversicherer angewiesen sind. Und der Staat ist leider beinahe bankrott.

Wir rackern uns ab und werden die Angst doch nicht los. Und wer hilft beim klugen Umgang mit der Angst?

Traut sich noch ein Berufsstand oder eine Wissenschaft zu sagen, was die Angst ist und wie mit ihr verfahren werden soll? Wen darf man fragen: die Philosophen, die Theologen, die Psychotherapeuten oder die teuren Coaches und Trainer, die Angst durch Mutproben therapieren und basisdemokratisch allen Klienten Bungee-Jumping empfehlen?

Wohin soll man sich also wenden? Gibt es noch die großen Theorien, die sagen, was definitiv der Fall ist, auf die man sich verlassen kann, weil sie die Wahrheit auf ihrer Seite wissen?

Ach, auch diese Hoffnung ist dahin. Die großen Theorien sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Die Megatheorien, die Wahrheit versprechen, haben Patina angesetzt. Der Begriff der Wahrheit, den jede Theorie im Rucksack führt, ist längst ein ausgefranster und müde besiegter Begriff. Mit viel Witz hat Jochen Hörisch in seiner Theorie-Apotheke eine überbordende Fülle an Wahrheitsbegriffen zusammengetragen, die jeden Leser schwindelig macht. Ein Exerzitium in Demut. Von den achtzehn genannten Wahrheitsbegriffen will ich wenigstens die ersten drei nennen:

„• Der Inkarnations-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was derjenige sagt, in dem das Wort Fleisch ward.

• Der Charisma-Begriff von Wahrheit: Wahr ist, was wir beglaubigen, indem wir einem mitreißenden Charakter Folge leisten.

• Der Konsens-Begriff von Wahrheit: Als wahr soll gelten, worüber wir nach Abwägung aller denkbaren Einsprüche und Argumente Einvernehmen erzielen. “ (Jochen Hörisch: Theorie-Apotheke, 2004, 18f.)

Nicht ohne Witz beginnt Jochen Hörisch seine Aufzählung mit einem theologischen Wahrheitsbegriff– Wahrheit als Inkarnation, gemeint ist die Fleischwerdung Gottes in Jesus Christus, der von sich gesagt haben soll, er sei der Weg, die Wahrheit und das Leben (Johannes 14,6). Dieser Wahrheitsbegriff ist, wenn man ihn nicht borniert fundamentalistisch auslegt, sehr strittig. Was etwa sind die echten Jesusworte, die die Wahrheit aussprechen? Fragt man drei Neutestamentler, bekommt man, da bin ich mir sicher, drei höchst unterschiedliche Antwortlisten. Es besteht wenig Hoffnung auf Eindeutigkeit.

Auf einen Wahrheitsbegriff wird man sich so schnell nicht einigen können. Daran sieht man, welche Tücken etwa die von Jürgen Habermas favorisierte Konsens-Theorie der Wahrheit hat – sie ist leider nicht konsensfähig.

In Zeiten der Postpostmoderne scheinen die großen Systeme und Theorien ihre Deutungskraft verloren zu haben. Was bleibt also zu tun?

Wir müssen uns wieder tastend vorarbeiten, die Phänomene genau beobachten und gemachte Erfahrungen auswerten. Ich versuche, mich persönlich und subjektiv dem Thema zu nähern, professionell gesprochen habe ich das Genre personal essay (vgl. Nils Minkmar: Mit dem Kopf durch die Welt: Ganz persönliche Geschichten aus der Normalität, 2009) gewählt, weil ich genau Rechenschaft darüber ablegen will, wie ich zu Erkenntnissen und Einsichten gekommen bin. Stationen der Einsichtgewinnung also, die zu folgendem Ergebnis führen: Große Literatur ist der Übungsraum gegen die Angst, und die drei großen Sinnagenturen, die einen klugen Umgang mit der Angst versprechen, die Philosophie, die Psychotherapie und die Theologie, sind Mägde der Literatur.

Ich beginne meinen Parcours im Bett, morgens, wenn die Traumgesichte noch im Zimmer sitzen und es leichter fällt, sich der eigenen Geschichten zu erinnern. Wie war es mit der Angst in meiner eigenen Geschichte?

Es beginnt alles mit dem großen Kummer meiner Großmutter.

DREI GENERATIONEN ANGST

MORGENDLICHE ERINNERUNG 

An jedem ersten Donnerstag eines Monats lud meine Großmutter, klein an Wuchs, aber mit einer kräftigen Stimme gesegnet, die sie größer erscheinen ließ, ihre Freundinnen zum Tee: Frauen mit heute wunderbar altmodisch klingenden Namen wie Gertien, Swantien oder Hermina, stets, wie auch meine Großmutter, in dunklen Kleidern gewandet, weil die älteren Frauen jener Generation die Trauerkleider beinahe nie ablegen durften. Immer gab es in den großen Familien einen Toten zu betrauern, ein halbes Jahr lang den Schwager, ein Jahr den Bruder, die Schwester, das Kind, den Ehemann, eine, Hermina, betrauerte auch den zweiten Ehemann. Die Augenlider immer auf Halbmast.

Bevor die Freundinnen kamen, richtete meine Großmutter ihren künstlichen Haarknoten, in dem noch einige Strähnen ihres ehemals rotblonden Haars wehmütig aufbewahrt waren, steckte eine an einen Orden erinnernde Brosche an, ersetzte die Alltagsschuhe durch Schuhe mit höherem Absatz, dann stellte sie die vier Sammeltassen mit den schmalen Goldrändern auf einen kleinen, mit einer Spitzendecke geschmückten Tisch, bereitete den Tee zu, einen stets in meiner Erinnerung ein wenig muffig riechenden Tee, der alle anderen Gerüche erstickte. Die Freundinnen, mit denen sie mit einer Ausnahme bereits zur Schule gegangen war, kamen pünktlich um drei und gingen um fünf. Ebenso pünktlich. Ein Ritual, an das sich in unserer Familie jeder gewöhnt hatte. Das war dann der Donnerstag, an dem meine Großmutter nicht in dem holzgetäfelten Büro meines Vaters Rechnungen schreibend anzutreffen war und an dem ich sie nach ihrem Mittagsschlaf auch nicht anbetteln durfte, mir eine Geschichte vorzulesen – ein Wunsch, den sie mir an den anderen Tagen nie abschlug.

Sie las mir oft mit einer samtenen Stimme, die kaum an die das Befehlen gewohnte Stimme des Alltags erinnerte, meine Lieblingsbücher vor, Rin Tin Tin, ein Vorläufer der Lassie-Serie, oder die Bücher von Johanna Spyri, für die sie eine Schwäche besaß, Schloß Wildenstein war ihr Favorit und Verirrt und gefunden. Dazu gab es jeweils drei Kluntjes (Kandis), öfter auch ein Nappo, jene rautenförmige Kaumasse mit Schokoladenüberzug, die den Mund und die Zähne so herrlich verklebte und Zwischenfragen unmöglich machte. Zu trinken gab es immer einen mit Wasser gestreckten eingekochten Fruchtsirup, eine sparsame Variante des nur an Geburtstagen aufgetischten Tri Top. Rundum glückliche Stunden aus der Untersicht.

Ich erinnere mich, dass ich einmal meine Großmutter, kurz nachdem ihre Freundinnen gegangen waren, in ihrem plüschigen und immer überheizten Wohnzimmer antraf – meine kleine Großmutter als einziger großer Kummer. Ohne mich anzuschauen, sagte sie: „Jetzt kenne ich alle meine Freundinnen bereits ein ganzes Leben lang, sie sind mir ans Herz gewachsen, wie traurig, dass ich keine im Himmel wiedersehen werde.“ Meine Großmutter, die das verblassende Gedächtnis meines Großvaters viele Jahre ersetzen musste, war sich ihrer Sache bis zu ihrem Tode ganz sicher: Ihre Freundinnen gehörten der reformierten Kirche an, sie selbst einer Abspaltung, einer konservativ altreformierten Variante (holländisch: hervormd und gereformeerd), und sie war felsenfest davon überzeugt, dass ihre Freundinnen, die offenbar einem falschen Bekenntnis anhingen, an den Pforten des Paradieses leider mit Bedauern abgewiesen werden würden. Mit welchen Konsequenzen auch immer.

Es ging nicht etwa um den damals breiten Graben zwischen katholisch und evangelisch oder den kaum schmaleren zwischen lutherisch und reformiert: Es ging um eine minimale Abspaltung und Differenz innerhalb der reformierten Kirche. Katholiken und Lutheraner kamen für meine Großmutter von einem anderen Stern. Sicherlich brave Menschen, durchaus, durchaus, aber leider römisch oder halbrömisch verblendet. Ohne sichtbare Angst, auf dem Totenbett singend, ist meine Großmutter gestorben: Wie wird’s sein, wie wird’s sein, Wenn ich zieh in Salem ein, In die Stadt der gold’nen Gassen! Herr, mein Gott, ich kann’s nicht fassen, Was das wird für Wonne sein! Ich habe dieses Bild nie vergessen, krame es in Zeiten persönlicher Nöte immer wieder hervor, oft verwundert, manchmal erschrocken, manchmal traurig über den eigenen Verlust an Sicherheit, manchmal, eher selten, auch getröstet.

Ob meine Großmutter jemals mit ihren Freundinnen über religiöse Fragen gesprochen oder sogar gestritten hat, ob sie, die in geschäftlichen Fragen mit eiserner Notwendigkeit regierte und sogar zornig werden konnte, wenn sie sich übervorteilt fühlte, ihre Freundinnen bekehren wollte, weiß ich nicht. Leider habe ich sie nie danach gefragt. Wahrscheinlich haben alle das Thema an den Donnerstagen in dem überhitzten Wohnzimmer meiner Großmutter, halb versunken in den durchgesessenen Sesseln, ausgeklammert und sich ihrer Toten erinnert. Meine Großmutter begleitete ihre Freundinnen auf viele Beerdigungen, ich kann mir aber nicht ausmalen, was sie dachte, wenn sie in der definitiv falschen Kirchenbank saß, dem falschen Pastor während der Predigt in einer viel zu grellen und bunten Kirche lauschte und anschließend konzentriert für den Verstorbenen betete. Betete sie um Gnade? Oder betete sie für die späte Einsicht bei ihren Freundinnen?

Bis auf diesen einen Moment trug meine Großmutter übrigens auch nicht schwer daran, ohne ihre Freundinnen das ewige Leben bestehen zu müssen. Meine Großmutter fürchtete sich vor dem Gewitter, das ja, sobald ein Gewitter heranzog, mussten sich alle Familienmitglieder in der Küche versammeln, und bei jedem Donnern stöhnte sie laut auf, sogar wenn das Gewitter verloschen war, blieb sie sitzen, weil sie fürchtete, es könne einen Umweg nehmen und über die Wilsumer Berge, eine lächerliche Endmoräne des Teutoburger Waldes, verärgert und mit größerer Gewalt zurückkehren. Aber Angst? Nein. Angst vor Tod und Teufel besaß meine Großmutter nicht. Sie starb in der festen Zuversicht, erwählt worden zu sein. Nur an diesem einen Nachmittag war meine Großmutter der große Kummer der Grafschaft Bentheim.

An diese Szene musste ich denken, als ich jüngst den niederländischen Roman Im Garten des Vaters von Jan Siebelink las, der davon erzählt, wie in einer noch sehr viel konservativeren calvinistischen Absplitterung der Kampf um die Erwählung zu Ausgrenzungen und Verletzungen auch innerhalb der eigenen Familie führen konnte.