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Spannend, originell und unterhaltsam - Kommando Abstellgleis ermittelt wieder!
Kommissarin Anne Capestan und ihre Brigade der verkrachten Existenzen haben es sich auf dem Abstellgleis der Polizei gemütlich gemacht. Im Kommissariat in der Rue des Innocents, in das alle Trinker, Spinner, Spieler und Faulpelze verbannt wurden, wird gegrillt und Billard gespielt, ermittelt wurde schon lange nicht mehr. Doch auf den Straßen von Paris treibt ein Serienmörder sein Unwesen. Seine Methode ist das sogenannte Needle Spiking: Im Schutz der Menschenmassen injiziert er seinen Opfern über eine Nadel heimlich Gift. Die Kriminalpolizei steht unter Druck – könnten Anne Capestan und ihre schrägen Vögel die letzte Rettung sein? Der Deal: Wenn sie den Fall erfolgreich lösen, werden sie wieder ins Hauptkommissariat eingegliedert. Doch will die Brigade ihr lieb gewonnenes zweites Wohnzimmer überhaupt aufgeben?
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Seitenzahl: 378
Veröffentlichungsjahr: 2025
Sophie Hénaff, geboren 1972, ist Journalistin, Übersetzerin und Autorin. Ihre humoristische Kolumne in der französischen Cosmopolitan hat eine riesige Fangemeinde. Bube, Dame, König, Stich ist der vierte Band der preisgekrönten SPIEGEL-Bestseller-Serie um Kommissarin Anne Capestan und ihre Brigade der verkrachten Existenzen, die fürs französische Fernsehen verfilmt wurde.
Sophie Hénaff in der Presse:
»Spaß und Krimi passen gut zusammen, wenn Sophie Hénaff am Werk ist.« Der Standard
»Viele Krimis behaupten, ›anders‹ zu sein. Hénaffs Krimis sind es tatsächlich. Hénaff zeigt enormes menschliches Einfühlungsvermögen in Denken und Fühlen ihrer Anti-Held(inn)en.« Die Presse
»Witzig, toll geschrieben, wunderbar ausgeführt. Unbedingt zu empfehlen!«
RTL über »Kommando Abstellgleis«
Außerdem von Sophie Hénaff lieferbar:
Kommando Abstellgleis (Band 1)
Das Revier der schrägen Vögel (Band 2)
Mission Blindgänger (Band 3)
www.penguin-verlag.de
Sophie Hénaff
Ein neuer Fall für Kommando Abstellgleis
ROMAN
Aus dem Französischen von Katrin Segerer
Die französische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel Drame de Pique bei Editions Albin Michel, Paris.
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Copyright der Originalausgabe © Editions Albin Michel – Paris 2023
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2025 by Penguin Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München
(Vorstehende Angaben sind zugleich Pflichtinformationen nach GPSR)
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Redaktion: Christina Riemann
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31949-6V002
www.penguin-verlag.de
Für meine eigene Brigade
»Wenn die Zeit vergeht, entflieht die Wahrheit.«
Edmond Locard, Pionier der Forensik
Ich heiße Emma und bin seit ein paar Stunden einunddreißig Jahre alt. Zur Feier des Tages durchquere ich meine neue Wohnung und atme den Geruch der frischen Farbe ein. Die Wände sind schon ganz weich, so viele Schichten habe ich aufgetragen. Ich mache Licht im Bad, gebe Zahnpasta auf die Bürste. Ich habe fast keine Angst.
Wieder einmal hat sich mein gesamtes Leben geändert. Nur die Stammzelle nicht. Die harte Murmel des Bewusstseins, die jedes Jahr um eine schützende Schicht wächst, wie die Perle einer Auster. Ich bin immer noch hier, eingeschlossen in diese Kugel, etwas verblüfft über dieses Alter, das plötzlich passiert ist, über das Spiegelbild dieser Frau, die sich die Zähne putzt.
Morgen kommt er zurück, und ich frage mich, ob das wohl alle Spuren seiner Abwesenheit tilgen wird.
Im weitläufigen Wohnzimmer öffne ich die breiten Balkontüren zum königsblauen Himmel über Neuilly. Die Wipfel des Bois de Boulogne liegen vor mir wie ein dicker Teppich, der Wind trägt den Trubel des Jardin d’Acclimatation herbei und lässt die Freude der Kinder durch den Raum schallen.
Die glückselige Zeit der Karusselle, der atemraubenden Achterbahnen und zuckeligen Züglein, des Ponyreitens und Trampolinspringens. Diese Kindheit habe ich geliebt.
Ich wohne nun in einem ehrwürdigen Haus aus hellem Stein auf dem Boulevard Maurice-Barrès, so prunkvoll und rundlich wie ein zufriedener Bürger, der über seinem Rest Schlagrahm eindöst. Mir gehört der ganze vierte Stock, die Beletage. Eine alte Familie hat sie feierlich von Vater zu Sohn weitergegeben, bis ich sie dem schwarzen Schaf abgekauft habe.
Ich habe neues Geld. Viel davon. Ich leite eine der diskretesten Schönheitskliniken im Pariser Westen. Mein Vermögen verhindert nicht, dass ich bei jedem Gespräch rot anlaufe oder schlottere, aber es kleidet meinen Panzer mit einem Polster der Macht aus, und vor allem sichert es mir meistens die Milde und Zuvorkommenheit meines Gegenübers. Für diese gläserne Blase aus Respekt habe ich Tag und Nacht gearbeitet. Etwas anderes hatte ich all die Jahre nicht zu tun.
Gesichter zu verwandeln. Dafür hatte ich ein gewisses Talent. Und sehr viel Leidenschaft. Zuerst war ich mein eigenes Versuchskaninchen, ich tilgte die kläglichen Unebenheiten der Jugend von meinen Zügen. Später ließ mein fiebriger Ehrgeiz, der Drang, immer weiter und schneller voranzukommen, Hunderte mit Gold gepflasterte Kilometer zwischen mich und meine Vergangenheit zu bringen, meine Klinik florieren und meine Umsätze explodieren. Die größten Influencerinnen schwören darauf.
Heute habe ich alle Voraussetzungen, um glücklich zu sein, aber mein neues Leben kann das alte noch immer nicht auslöschen. Ich erinnere mich an jeden Schultag, jede Pause, jeden Blick und jede Giftschlange auf dem Weg. Die Spaliere, die sich bilden und schließen. Die Scham, die dick an mir klebt, mich überallhin begleitet, ins Klassenzimmer, auf den Flur, zum Klo, wo ich mich einsperre. Ich kann keinen Schritt machen, ohne dass jemand mit dem Finger auf mich zeigt.
Dabei habe ich nichts getan, ich bin einfach nur da und begreife nicht, was geschehen ist, woher dieser Stempel kommt, den man mir mit dem Hammer tief in die Stirn gedrückt hat. Diese neue Identität, die mir von jetzt auf gleich übergestülpt wurde. Ich bin nicht länger das hübsche Mädchen mit den hellen Augen, die Beste im Multiplizieren oder die Schlechteste im Völkerball, die Quasselstrippe oder das Mäuschen, von nun an weiß man nichts mehr über mich, außer eins:
Ich bin die Tochter des Serienmörders.
»Commissaire Capestan, Sie sind eine Riesenverschwendung.«
Die zischenden s lenkten Anne Capestan ab. Eigentlich lenkte sie alles ab: die Seine, die ihr entgegenfloss, der sonnige und wunderbar kühle Morgen, der Eiffelturm in der Ferne, der in den strahlenden Junihimmel ragte, das Institut de France mit seiner in der Sonne schimmernden Kuppel, der Pont-Neuf unter ihren Sandalen. Ihr geliebter Pont-Neuf, die älteste Brücke von Paris, die sie jeden Tag überquerte, nachdem sie ihre Töchter zur Schule gebracht hatte. Das perfekte Panorama – hätte nicht leidigerweise der Direktor der Kriminalpolizei seinen Kopf hineingedrängt. Capestan erinnerte sich nicht einmal an seinen genauen Namen. So was wie Palombe, Colombe, vielleicht auch Descombes. Zu diesem Zeitpunkt des Gesprächs konnte sie ihn aber natürlich nicht mehr fragen. Er gehörte zu der langen Reihe an Direktoren, die sich seit Divisionnaire Burons Pensionierung die Klinke in die Hand gegeben hatten.
Der erste Großkammerherr auf dieser Liste hatte das Kommissariat in der Rue des Innocents gleich im ersten Monat mit einem Besuch beehrt. Er war genau acht Minuten geblieben – Commandant Louis-Baptiste Lebreton, Meister der Präzision, hatte die Zeit gestoppt –, danach war die Brigade für immer von seinem Radar verschwunden. Die nachfolgenden Obermacker hatten sich noch nicht einmal auf den Weg gemacht, weil sie gar nichts vom Schicksal der schrägen Vögel wussten; so konnte die Brigade friedlich vor sich hinwerkeln, während alle anderen Einsatzkräfte sich mit den Attentaten rumschlugen.
Und jetzt dieser Destombes, dessen Beachtung Commissaire Capestan nur dem Zufall und der Nähe ihres Arbeitswegs zum Quai des Orfèvres verdankte. Er schulmeisterte, als wäre ihre gesamte Karriere unter seinem schützenden Flügel verlaufen.
»… jüngste Kommissarin in ganz Frankreich, Beste Ihres Jahrgangs, Olympiasiegerin im Pistolenschießen, jedes Jahr eine Beförderung, bis Sie schließlich eine Eliteeinheit im Quai des Orfèvres leiten, dem Allerheiligsten, und dann …« Bedeutungsschwere Pause. »… machen Sie einen Fehler. Der viel zu nachsichtige Buron schiebt Sie für eine Weile aufs Abstellgleis, um Ihnen eine Lektion zu erteilen, und was tun Sie? Sie schlagen dort Wurzeln!«
»Eigentlich hatte ich keine große Wahl«, erwiderte Capestan, während sie ein Touristenschiff beobachtete.
Die Kinder an Bord winkten fröhlich, und sie musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuwinken. Der laue Wind, der über ihre Wangen rieselte, wehte den Geruch des Flusses zu ihr.
»Glauben Sie das wirklich?«, fragte der Divisionnaire.
»Selbstverständlich«, gab sie zurück.
Sie bewahrte ihr Lächeln, auch wenn sein kategorischer Tonfall sie allmählich aufstachelte.
»Ich bitte Sie, Commissaire, seien Sie wenigstens ehrlich zu sich selbst, wenn Sie es schon nicht zum Steuerzahler sind. Sie haben es sich in Ihrem Bau gemütlich gemacht wie die Made im Speck und vor lauter Bequemlichkeit Ihre gesamten polizeilichen Pflichten vergessen, Sie haben sich auf Ihren Lorbeeren ausgeruht und gefaulenzt.«
»Soll das ein Witz sein?«
Gegen so viel Ungerechtigkeit musste sie sich einfach wehren.
»Wir haben wer weiß wie viele Fälle gelöst, und trotzdem knallt der restliche Apparat uns ständig die Tür vor der Nase zu. Nach zehn Jahren haben wir immer noch …« Sie zählte an den Fingern ab. »… keinen Zugriff auf die Datenbank, keinen Fuhrpark, keine Ausrüstung, keine Waffen, kein …«
»Ach, also wenn der Peugeot ein wenig hübscher wäre, würden Sie am Schreibtisch nicht nur schlafen? Wissen Sie überhaupt, in welcher Misere die Polizei gerade steckt? Verstehen Sie das unter Berufsethos?«
»Ganz und gar nicht, ich …«
Ihr Gehirn geriet ins Schwimmen auf der Suche nach einer Antwort. Zweifel keimten auf, gruben Risse in ihre Wut. Hatte sie sich ausgestoßen gefühlt aus einer Welt, der es auch nicht besser ging als ihr? War ihr Kampfgeist erlahmt, weil sie schon so lange nicht mehr an vorderster Front arbeitete? Hatte sie sich von der Kameradschaftlichkeit treiben, vom häuslichen Glück einwiegen lassen? Eigentlich hatte sie nicht den Eindruck, das Handtuch geworfen zu haben – aber vielleicht hatte sie es in die Tasche gesteckt, für später?
Nur: Wann genau war dieses später?
Anne Capestan hatte inzwischen ein Alter erreicht, in dem man sich endgültig von einer ganzen Reihe von Lebensentwürfen verabschiedete. Sie würde niemals in der Wüste Nevadas, in einer Lagune auf Bora-Bora, im obersten Stock eines gläsernen Wolkenkratzers oder im Cockpit eines Kampfjets sitzen. Diese Träume waren zerplatzt, sie bestaunte sie nur noch auf dem Fernsehschirm, vom Sofa aus, ihrer ganz eigenen Insel, zusammen mit ihren Töchtern und ihrem Ehemann, ihrer Familie, die jedes Anderswo aufwog.
Womöglich war, seit sie all diese Existenzen aufgegeben hatte, ihre eigene seicht geworden, ihre Karriere immer weiter abgedriftet. Sie dümpelte vor sich hin, fernab vom Wildwasser.
Das jedenfalls schien der Divisionnaire mit seinen bissigen Sätzen anzudeuten.
»Jetzt gerade zum Beispiel«, setzte er nach. »Sie steuern aufs linke Seine-Ufer zu. Dabei befindet sich Ihr ›Kommissariat‹, wenn man es denn so nennen will, auf der rechten Seite, neben dem Forum des Halles, hinter Ihnen. Warum? Dringende Ermittlung oder Käffchen in Saint-Germain-des-Prés?«
In Wahrheit hatte Commissaire Capestan ein Café auf dem Quai im Visier, doch das wollte sie nicht zugeben. Stattdessen schaltete sie wieder auf stur und ließ ihren Stolz sprechen. Neue Fälle hatte sie schon oft gefordert, erst kürzlich noch.
»Wir haben seit Ewigkeiten nichts mehr zu tun, und das wissen Sie genau! Erst letzte Woche habe ich angerufen und frische Akten erbeten, bloß um so lange durchgereicht zu werden, bis ich schließlich in der Postabteilung gelandet bin.«
»Suchen Sie doch keine Ausflüchte, Capestan. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Frau Ihres Kalibers sich mit einem solchen Rattenloch zufriedengibt. Aber sei’s drum. Ihre Karriere ist ohnehin vorbei, in Ihrem Alter startet man nicht noch einmal durch.«
Auch dieser Hieb saß. Mit Mitte vierzig sollte es das schon gewesen sein?
»Soeben hat ein Neuer meinen Posten übernommen«, fuhr der Divisionnaire fort. »Ein Junger. Er will den ganzen Laden umkrempeln, einmal komplett auf links drehen, so wie alle jungen Leute seit eh und je. Und dann halten sie sich für innovativ. Tja.«
Mit nachdenklicher Miene rieb er die Hände aneinander, ehe er schloss: »Und ich frage mich, was er wohl mit Ihnen anstellen wird.«
Er schüttelte den Kopf, ließ sie ohne ein weiteres Wort stehen und verschwand gleichgültig in Richtung des Parkhauses von La Samaritaine.
Das nächste Schiff glitt durch die Brückenpfeiler, die nächsten Kinder winkten. Reflexartig hob Capestan die Hand und grüßte die Davonschippernden.
Seit dreiundzwanzig Jahren warte ich, seit dreiundzwanzig Jahren brodeln die künftigen Morde in mir, eingesperrt in ihrem Verlies, ohne Ventil. Endlich können sie hinaus. Ich fühle mich wie ein Kind an Weihnachten, ich vergehe vor Ungeduld.
Ich schlüpfe in den Latexhandschuh, meine Finger gleiten selig in ihre Kokons. In einer Stunde schlage ich zu.
Endlich werde ich wieder zum Serienmörder.
Das angekokelte Fleisch klebte am Rost wie blutiger Efeu an einer Hauswand. Während Anne Capestan den Grill betrachtete, fragte sie sich, wann genau ihr Kommissariat sich in ein Ferienhäuschen verwandelt hatte. Es befand sich in einer Wohnung im fünften Stock der Rue des Innocents, deshalb hatte es noch nie sonderlich offiziell gewirkt, aber die Innenausstattung erreichte mit jedem Jahr eine neue Stufe, und wenn sie nicht aufpasste, stellte irgendwann noch der ein oder die andere hier eins ihrer Zimmerchen auf Airbnb ein.
Capestans Mentor, Commissaire Divisionnaire Philippe Buron, hatte das Kommando Abstellgleis 2012 ins Leben gerufen. Damals hatte er gerade die Leitung über den Quai des Orfèvres übernommen und wollte die Pariser Kriminalpolizei von Störenfrieden, Nichtsnutzen, Faulpelzen, Dummköpfen, Alkoholkranken und Berühmtheiten befreien. Diese Unerwünschten steckte er allesamt in eine Brigade – einen einladenden Mülleimer –, unter dem Befehl von Commissaire Capestan. Sie bekamen weder Waffen noch Fälle noch Anerkennung, und das Kommissariat war ein Spiegel der dort Arbeitenden: eine abgeranzte Klitsche, die niemand in der Präfektur mehr haben wollte. Fleckige Wände, lose Fußleisten, löchriges Parkett, kaputte Fensterscheiben, alles verfiel, alles kapitulierte. Dennoch war es den Ausgestoßenen gelungen, aus diesem Schrott ein paar Siege zu schmieden. Die Mobilisierung der Truppen und der Geldbeutel von Capitaine Eva Rosière hatten die Räumlichkeiten verschönert, in denen sie sich häuslich einrichteten. Kamin, Kronleuchter, Billardtisch, Sofas, Dartscheibe, Liegestühle, Bügelbrett, nicht zu vergessen die von Brigadier Lewitz gebaute Küche, die gute drei Zentimeter in die Tür zur Dachterrasse hineinragte: Hier passte nichts zusammen, alles kam von Herzen oder aus dem Keller.
Capestan suchte zwei Minuten lang unter dem Grill und dem Fermob-Tisch, ehe sie den Kopf in die Wohnung steckte und nach dem Brigadier rief.
»Die Kohlen glühen noch! Ich finde den Deckel nicht.«
Ein paar Sekunden später erschien seine hochgewachsene Gestalt in der Küchentür. Er schwenkte eine Tupperschüssel, und die Bewegung übertrug sich auf seine feinen Haare, was ihn aussehen ließ wie einen Geier mit Halskrause auf einem Besenstiel.
»Wir brauchen keinen Deckel, solange wir noch Würstchen haben.« Er grinste wie ein Lausbub, der, falls nötig, auch alles abfackeln würde.
Lewitz war vor zehn Jahren aufs Abstellgleis geschoben worden, weil er Autos zu sehr liebte. Man hätte meinen können, er wäre nur wegen des süßen Sirenenklangs und der freien Fahrt dank Blaulicht zur Polizei gegangen. Trunken vor Freude und Geschwindigkeit raste er gegen Bäume, Schaufenster und Straßenlaternen, bis er den halben Fuhrpark seines damaligen Polizeireviers zerstört hatte. Deshalb schlugen seine Vorgesetzten ihn prompt für die verfemte Brigade vor, wo er zahlreiche andere, ebenso unerwiderte Leidenschaften entwickelte, unter anderem Heimwerken, Aquarellmalerei und zuletzt das Grillen. Hyperaktiv reihte er eine Marotte an die nächste, raffte Wissen zusammen, als jagte er unentwegt einer niemals glänzenden Medaille nach.
»Oooh nein. Fünfzehn Uhr, die Mittagspause ist vorbei«, erklärte Commissaire Capestan, als plötzlich eine Benachrichtigung auf ihrem Handy aufploppte.
Seit ein paar Wochen schon verfolgte sie das »Needle Spiking«-Phänomen. Die Spritzenattacken häuften sich gerade in ganz Frankreich, und irgendetwas daran weckte ein seltsames Gefühl bei ihr, die Vorahnung einer Eskalation.
Soeben war ein neuer Artikel darüber in Le Monde erschienen.
»Needle Spiking«: Das ist bisher bekannt
Hunderte Anzeigen, aber keine nachweisbaren toxischen Substanzen: Bis zum 16. Juni wurden in Frankreich über 800 Anzeigen und 1098 Zeugenaussagen verzeichnet. Doch noch finden die Ermittlungsbehörden keine stichhaltigen Beweise.
Von Le Monde, AFP. 22. Juni 2022, 15:03 Uhr.
In den sozialen Netzwerken und der Presse mehren sich seit einigen Monaten die Berichte Betroffener. Die zahlreichen Vorfälle und Anzeigen in ganz Frankreich verleihen dem Phänomen »Needle Spiking« nationale Tragweite.
Der Ablauf ist immer gleich: Nach einem Konzert, Festival, Bar- oder Clubbesuch werden Einstichstellen am Körper bemerkt. Bei manchen kommt es daraufhin zu Schwindelanfällen, Übelkeit oder Unwohlsein, bei anderen herrscht nur Verunsicherung. […]
Die Generaldirektion der Police nationale spricht in einem Bericht vom 7. Juni von einem »Modus Operandi«, der nicht zwischen Männern und Frauen unterscheidet. Die Einstiche befänden sich an »Arm, Gesäß, Rücken«, die Angreifer würden nicht gesehen. […]
Toxikologische Untersuchungen negativ
Das Rauschgiftdezernat führt aktuell die »Sachverhalte und qualitativen Tatbestandsmerkmale« zusammen. Bislang haben die Untersuchungen »keinerlei Spuren von GHB«, den sogenannten K.-o.-Tropfen, ergeben, und die Opfer berichten nicht von sexuellen Übergriffen oder Diebstählen nach der Nadelattacke.
Mögliche Erklärungsansätze
Der zeitliche Abstand erschwert den Nachweis von Betäubungsmitteln. Manche Substanzen, darunter auch GHB, werden innerhalb weniger Stunden abgebaut. […]
Eine andere Hypothese: Die injizierten Substanzen sind bereits natürlich im menschlichen Körper vorhanden, wie beispielsweise Insulin oder Adrenalin. Deshalb bleiben sie bei den Untersuchungen unbemerkt.
Ein Link führte zu einem weiteren Artikel, der daran erinnerte, dass diese Attacken ihren Ursprung nicht im Hier und Jetzt hatten; die »Stecher« trieben schon in den Zweitausendern ihr Unwesen, ja, sogar im neunzehnten Jahrhundert – damals noch mit Nähnadel, Pfriem oder Stockdegen. Auch Kanada war in jüngerer Zeit von einem ähnlichen Schrecken heimgesucht worden, der nie aufgeklärt wurde.
Kurzum, man wusste gar nichts. Man konnte nur warten, auf eine Pause oder das Schlimmste.
Der dumpfe Klang der zufallenden Kühlschranktür riss Anne Capestan von ihrem Display los. Lewitz hatte den Grill zugedeckt und seine Tupperschüssel zurückgeräumt. Mit einem Kopfnicken dankte sie dem Brigadier und steckte ihr Handy weg, ehe sie sich auf einen Hocker setzte, den Rücken an die sonnenwarme Wand lehnte und die nackten Füße auf einen Sack Holzkohle bettete. Seit einer Weile zogen sie im Kommissariat die Schuhe aus. Auf Capestans Wunsch hin, deren Sauberkeitsbedürfnis sich nach der Geburt ihrer Töchter und den darauffolgenden Krankheiten in Besessenheit verwandelt hatte, stellten sich alle ein Paar Pantoffeln vor die Tür, damit keine Mikrobe des schmutzigen Pariser Kopfsteinpflasters mehr das gewachste Parkett der Brigade befleckte. Zum Glück empfingen sie nur wenig Besuch und führten selten Vernehmungen vor Ort durch, denn der letzte Zeuge hatte sich direkt schikaniert gefühlt, als Lewitz ihn bat, seine Sneaker auszuziehen.
Die Terrasse schien mitten im Himmel zu liegen. Capestan hob das Gesicht und ließ sich ein paar Sekunden lang von der endlosen Weite tragen, ihr Blick trieb frei dahin, ohne dass er gegen das nächste Gebäude prallte. Der Lärm des Platzes fünf Stockwerke tiefer drang nur in Wellen herauf, und gerade hätte man sich in einer Flaute wähnen können. Langsam setzte der gelesene Zeitungsartikel die Rädchen in ihrem Kopf in Bewegung.
Hunderte Delikte, aber null Verdächtige, kaum Spuren, kein Motiv. Und die Panik, die sich wie ein Ölfilm ausbreitete. Was würden die schrägen Vögel aus einer solchen Akte machen? Capestan war gerade im Begriff, eine Theorie aufzustellen, als sich im Wohnzimmer die Stimme von Capitaine Rosière erhob.
»Warum hält dieses Scheißgebamsel denn nicht? Wie soll das Ding schick aussehen, wenn die Spitze einen auf Schlappschwanz macht?«
Sie stampfte über die Küchenfliesen und baute sich in der Terrassentür auf. Ihre Fledermausärmel aus pinker Seide bauschten sich wie Blütenkelche unter den aufgebrachten Bewegungen ihrer üppigen Arme. Wie um Capestan zur Zeugin des erlittenen Übels zu nehmen, schwenkte Rosière den Gegenstand ihres Zorns, einen Lampenschirm mit zarten Blumen, dessen Saum sich bereits zwei Zentimeter weit aufgelöst hatte.
»Dafür habe ich eine Stange Geld bezahlt. Von wegen gemütlich!«
Sie verdrehte die grünen, dick mit Mascara umrahmten Augen, und ihre prächtigen roten Haare spiegelten sich schillernd in der Scheibe. Ihr Hund Pilou, eine Promenadenmischung in Trethupengröße mit scharfen Ohren, rieb sich knapp über den Hausschuhen seines Frauchens das Zottelfell. Mit stolzgeschwellter Brust und erhobener Schnauze schnupperte er die letzten Merguezfahnen.
Eva Rosière war erfolgreiche Romanautorin, umjubelte Drehbuchschreiberin und gescheiterte Regisseurin. Ihr erster Film kam fünf Tage nach den Terroranschlägen ins Kino, der zweite kurz nach dem Lockdown. Das unglücklichste Timing überhaupt. Seitdem traktierte sie Lieutenant José Torrez mit scheelen Blicken, den Unglücksraben der Kriminalpolizei, den man aufs Abstellgleis geschoben hatte, weil gerade kein Scheiterhaufen zur Verfügung stand. Dank ihres Vermögens hätte Rosière ihre Stelle natürlich längst an den Nagel hängen können, doch die fehlende Inspiration und die Einsamkeit im Lockdown hatten sie in den warmen Schoß der Brigade zurückgetrieben.
»Na schön, ich mach dann mal weiter«, rief Lewitz, hängte seine Schürze an die Wand und eilte davon.
Commissaire Capestan hob die Augenbrauen und schaute ihre Kollegin fragend an.
Die erklärte: »Weil wir uns gerade zu Tode langweilen, hat er …«
»Wir langweilen uns nicht mehr als sonst.«
»Doch, Anne, das tun wir. Den letzten richtigen Fall hatten wir voriges Jahr, während der Rest der Polizei landauf, landab unter der völlig irrsinnigen Arbeitslast auf dem Zahnfleisch geht, haben wir dreimal den Flur neu tapeziert. Wir haben sämtliche Aktenkartons nach halbwegs fesselnden Cold Cases durchkämmt, aber nada, wir drehen Däumchen. Also haben Lewitz und Merlot einen Billardmarathon gestartet. Das war’s dann mit unserem Tisch. Mal wieder.«
Es wurde Zeit, der Wahrheit ins Auge zu blicken. Sie drehten wirklich Däumchen, und zwar nicht erst seit gestern. Unter Burons Fittichen hatten sie noch – mehr oder weniger offiziell – ernsthafte Ermittlungen abbekommen, doch nach seiner Pensionierung hatten seine Amtsnachfolger andere Prioritäten gehabt als ihre armselige Einheit in der Rue des Innocents. Die Bestraften, Verachteten, Abgedrängten waren inzwischen schlicht verdrängt. Und größtenteils auch ganz zufrieden damit.
Zumal das Hin und Her der Coronajahre ihre schöne Überlebensgemeinschaft zersetzt hatte. Erst waren sie alle krank geworden. Dax’ Zustand war sogar so kritisch gewesen, dass er zwei Wochen lang auf der Intensivstation gelegen hatte. Seine Frau, Lieutenante Évrard, hatte Tag und Nacht die Würfel nach seiner Zukunft befragt und war darüber blasser denn je geworden. Minutiös verfolgte sie das Virus zurück und landete – natürlich – bei Capitaine Torrez, dem Pechvogel, dem schwarzen Kater, dem unbeliebtesten Unheilsbringer der gesamten französischen Polizei. Kein Mensch wusste, ob er tatsächlich der Patient null ihres Clusters gewesen war, und Capestan war es auch herzlich egal. Millionen Menschen auf der ganzen Welt hatten sich infiziert, da könnte man ihn doch mal vom Joch der ewigen Schuld an allen biblischen Plagen befreien. Aber keine Chance, der Verfluchte war, nach einigen Jahren der fragilen Rehabilitation, zurück in die Hölle gestürzt. Er nutzte die Gemeinschaftsräume nicht mehr und huschte wie ein Geist durchs Kommissariat zu seinem Büro ganz hinten, wo er einsam vor sich hin brötelte. Eigentlich konnte man nie sicher sagen, ob er da war oder nicht.
Die zahlreichen Lockdowns hatten den Zerfall natürlich besiegelt. Dax und Évrard waren ins Homeoffice verschwunden und meldeten sich einmal pro Woche per Zoom aus ihrem Haus in der Bretagne. Capitaine Orsini hatte, mit zerzaustem Haar und Krawattenschal auf Halbmast, seine Pensionierung begossen und sich in den hintersten Winkel des Départements Yvelines verabschiedet. »Den sehen wir nie wieder«, unkte Rosière und verdrückte eine verdrossene Träne. Capestan wettete dagegen – bisher erfolglos. Lieutenant Diament feierte, strahlend vor Glück, den Wechsel zurück in seine teure Klettereinheit der BRI. Selbst Commandant Lebreton verließ das sinkende Schiff, aller Moralstrenge und Verpflichtung zum Trotz. In Ermangelung von Arbeit widmete er nun einen Großteil seiner Zeit seinem neuen Lebensgefährten. Er war schon einmal verwitwet und wollte keine weitere Minute des wahren Glücks vergeuden. Capitaine Henri Saint-Lô wiederum ging in den verlassenen Straßen der Hauptstadt mehr denn je in seiner Rolle als Musketier des Königs aus dem geliebten siebzehnten Jahrhundert auf. Als er mit einem Pferd, das er aus der Kaserne der Garde républicaine auf dem Boulevard Henri IV entwendet hatte, über die Place des Vosges galoppierte, wurde er schließlich aufgegriffen. Das Ende der Pandemie brachte ihm seine fünfte Zwangseinweisung in die psychiatrische Abteilung des Hôpital Sainte-Anne ein.
»Willst du einen Kaffee?«
»Gern, danke.«
Mit verächtlicher Miene warf Rosière den Lampenschirm in die Ecke und schaute nach, ob noch genug Wasser im Tank war. Dann holte sie eine Blechdose vom Regal. Auf dem Deckel war eine Frau im Rüschenbadedress abgebildet, die sich über die Ankunft des Zugs an der Gare d’Arcachon freute. Rosière wählte zwei Kapseln aus und stellte die Dose wieder zurück, ehe sie nacheinander zwei nicht zusammenpassende Tassen unter den Auslauf schob. Das Brummen der Maschine erfüllte den Raum und ließ die Gedanken fließen. Rosières Blick wanderte unablässig über die Fotos am Kühlschrank: Saint-Lô, der den Degen mit dem Hals von Merlots Flasche kreuzte, Orsini, der nach einem ihrer Raclette-Abende Geige spielte, Dax und Évrard, die neben dem schwafelnden Merlot auf dem Sofa schliefen, Lebreton, der unter einem gewaltigen Spiegel ächzte, während Rosière überlegte, wo er hinsollte, und schließlich der Schnappschuss aus Hawaii im Großformat, die gesamte Brigade umringte Torrez, der die soeben bei den Bügelweltmeisterschaften gewonnene goldene Trophäe in die Höhe reckte; alle hatten Sonnenbrand und grinsten bis über beide Ohren.
Ein Foto von der Spitze der Welt, wie Capestan es nannte. Eine Sekunde auf dem Gipfel der Freude. Ein Nostalgieflash durchzuckte sie. Sie fürchtete oft, das berüchtigte Bild kurz vor dem Unfall, vor der Krebsdiagnose oder vor dem Ausbruch eines Kriegs geschossen zu haben, wo man »es noch nicht wusste«. Nur allzu deutlich war sie sich ihres Glücks und dessen Zerbrechlichkeit bewusst. Sie hatte Angst, eines Tages den Apparat niederzulegen und den letzten Moment eines längst vergangenen Lebens festgehalten zu haben.
Mit den beiden Kaffees in der Hand trat ihre Freundin durch die Glastür und gesellte sich zu ihr auf die Terrasse. Sie reichte ihr eine Tasse, zog sich ebenfalls einen Hocker heran und setzte sich neben sie. Die Wolken, die sich vor die Sonne geschoben hatten, wanderten weiter, und die jäh befreiten Strahlen schossen herab auf den hellen Stein und die Vitamin-D-gierige Haut. Gleichzeitig schlossen die beiden Frauen die Augen und lehnten den Kopf an die Wand.
Der Juni war immer ein Fest, und das Ende der Maskenpflicht verlieh ihm gleich noch mehr Charme. Lewitz hatte sofort den neuen Grill aufgestellt, und Rosière ließ eine leuchtend gelbe Rose an einem Weidenspalier emporklettern. Diese Wohnung war alles, was von ihrem famosen Team noch blieb. Die großen Ermittlungstafeln waren kleinen Bilderrahmen gewichen, die geräumigen Zimmer waren hübsch und gemütlich, aber mit den fünf Verbliebenen etwas leer. Und etwas zwecklos. Sie mussten dringend in die Puschen kommen. Die Brigade brauchte Action, ein Projekt, das nicht an einem positiven PCR-Test scheiterte.
Ohne ihre Position zu ändern oder auch nur die Augen zu öffnen, sagte Anne Capestan: »Bei dieser Needle-Spiking-Geschichte haben sie bestimmt jede Hilfe nötig, die sie kriegen können.«
»Hm.«
»Wie heißt noch gleich der Direktor der Kriminalpolizei, du weißt schon, dieser hagere Kerl mit dem Bürstenschnitt? Destombes, Colombes, Lemonde …«
»Pallier?«
»Genau! Den habe ich Dienstag getroffen.«
»Und?«
»Anscheinend ist er schon wieder von einem neuen abgelöst worden.«
»Und?«
Capestan trank einen Schluck Kaffee und starrte einen Moment lang in ihre Tasse.
»Nichts.«
Eva Rosière rieb ihre Schultern an der Wand.
»Von dem hören wir garantiert keinen Pieps. Genauso wenig wie von den anderen. Die Großkaliber scheren sich einen Scheiß um uns. Die halten uns für Clowns.«
Capestan fuhr hoch und konnte gerade noch verhindern, dass ihr Kaffee überschwappte.
»Aber das ist doch wirklich absurd! Wir haben mehrere komplizierte Fälle gelöst. Sobald wir eine Aufgabe kriegen, geben wir alles, ich begreife einfach nicht, warum wir immer noch als Idioten hingestellt werden.«
Da tauchte auf einmal Lewitz auf.
»Boss, da steht ein Typ vor der Tür, der sagt, er ist der neue Direktor und will zu dir.«
Capestan zog die Augenbrauen hoch, warf Rosière einen Blick zu und sprang auf.
»Na, dann lass ihn rein, Lewitz!«
Der Brigadier hob Schultern und Hände.
»Ja, aber … er will die Schuhe nicht ausziehen.«
Die Schuhe waren schick, bestimmt ein englisches Modell. Und einen Meter siebzig darüber erhellte ein breites Lächeln ein freundliches Gesicht. Der neue Direktor war noch keine vierzig, aber seine blonden Haare lichteten sich schon, und an seinen Schläfen taten sich Geheimratsecken auf. Die verbliebenen Strähnen waren sorgsam zu einer modernen, lässigen Frisur verwuschelt, die die Haarflucht verschleiern sollte. Der Mann war schlaksig und trug einen eleganten Anzug, der nach Rive Gauche aussah. Noch im Türrahmen breitete er die Arme weit aus, sobald er Anne Capestan entdeckte, und trat beschwingt ins Wohnzimmer, was Abdrücke auf Parkett und Teppichen hinterließ.
»Commissaire! Endlich lernen wir uns kennen. Hocherfreut! Commissaire Divisionnaire Tom Bourbon Marcus. Sie können mich gerne Marcus nennen.«
Capestan schüttelte ihm die Hand.
»Guten Tag, Monsieur le Divisionnaire, ich freue mich ebenfalls.«
»Bekomme ich einen Kaffee?«
»Aber natürlich.« So viel Herzlichkeit weckte bei Capestan wachsame Neugier.
Mit einer kleinen Kinnbewegung schickte Rosière Lewitz los, und bald drang das Brummen der Kaffeemaschine zu ihnen und zog das Begrüßungsgeplänkel in die Länge. Der Direktor nahm sich die Zeit, den Blick durch die Räumlichkeiten schweifen zu lassen, und nickte mehrfach anerkennend. Amüsiert deutete er nacheinander auf Lewitz in der Küche und das gerahmte Foto, auf dem der Brigadier für die Nachwelt kerzengerade neben einem Porsche posierte – ein leichtsinniges Geschenk von Rosière an die Brigade. Anschließend steuerte Marcus auf die großen Fenster zu und betrachtete kurz die Saint-Eustache-Kirche in der Ferne, ehe er seine Begehung fortsetzte. Anscheinend stand er nicht gerne still. Trotz all der Fragen, die der ehrwürdige Besuch des neuen Direktors hervorrief, konnte Capestan ihre Aufmerksamkeit nicht von den Spuren abwenden, die die schmutzigen Sohlen auf dem Boden des Kommissariats hinterließen.
Endlich war der Kaffee fertig. Marcus griff nach seiner Tasse, schob einen Stapel Unterlagen beiseite und setzte sich mit einer Pobacke auf die Ecke von Rosières Empire-Schreibtisch, um zum mutmaßlichen Grund seines Besuchs zu kommen.
»Ich muss gestehen, Commissaire, ich war schon sehr erstaunt, als ich von der Existenz Ihrer Brigade erfahren habe. Nicht nur erstaunt, geradezu schockiert. Solche Schikanen sind doch völlig unzeitgemäß.«
Er kippte seinen Espresso in einem Schluck hinunter.
»Aber jetzt ist Schluss mit dem Kastendenken, den Superstars der Kriminalbrigade, den Muskelpaketen der Spezialeinsatzkommandos, wir fangen noch einmal ganz von vorne an. Ihre Verbannung hat ein Ende.«
Lewitz zwei Meter neben ihm wirkte zwar einsatzbereit wie ein Fuß über dem Gaspedal, kurz bevor es Grün wird, doch in Rosières Augen erkannte der Direktor offenbar einen Hauch Misstrauen. Sein Lächeln wurde breiter, während er Blick und Stimme senkte.
»Na schön, um ehrlich zu sein, mangelt es uns im Moment ein bisschen an Arbeitskräften. Diese Needle-Spiking-Geschichte greift immer weiter um sich, und ich kann es mir schlicht nicht leisten, rund vierzig meiner Leute sich selbst zu überlassen, ohne ihnen wenigstens ein Mindestmaß an Aufgaben zu übertragen.«
»Also, vierzig ist ziemlich …«, fing Capestan an.
»Ja, ja, ich weiß. Ich habe mit Divisionnaire Buron telefoniert. Er hat mir den wahren Ursprung dieser Einheit erläutert und welche Talente sich hier verbergen.« Marcus hob vielsagend die Augenbrauen. »Dabei hat er natürlich auch erwähnt, dass von den vierzig nur rund zehn überhaupt aktiv und wiedereingliederungsfähig sind. Und die möchte ich nun auch wiedereingliedern.«
Marcus hatte mit Buron gesprochen. Das erklärte alles. Optimismus rieselte durch Capestans Körper, weckte sie aus ihrer Trägheit und ließ sie den Rücken durchstrecken. Auch wenn bestimmt erst einmal eher langweilige Fälle auf sie warteten, ihr Comeback stand bevor.
»Sie können auf uns zählen«, versicherte sie, während Rosière unentschlossen die Lippen schürzte.
Im Nebenraum klackten zwei Billardkugeln aneinander. Der Direktor zuckte überrascht zusammen, erwiderte dann aber nur: »Sehr gut. Ist Ihnen das Needle Spiking ein Begriff?«
»Ja«, antwortete Capestan gespannt.
Energie, Motivation, Begeisterung – alle Fenster flogen weit auf und ließen frischen Wind herein, der das Feuer wieder anfachte. Ungeduldig lauerte sie darauf, dass Marcus weitersprach. Der setzte eine angemessen ernste Miene auf.
»Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch unklar, ob da eine Verbindung besteht, aber zwischen dem Palais Garnier und den Galeries Lafayette sind drei Frauen zusammengebrochen.«
»Zusammengebrochen? Sind sie tot?«
»Eine ja, die beiden anderen wurden in die Notaufnahme der Lariboisière-Klinik gebracht.«
»Wann ist das passiert?«
»Vor gut zwei Stunden. Die Spurensicherung ist vor Ort. Die Kriminalbrigade hat den Fall übernommen, sie ermitteln schon seit zwei Tagen zu den Nadelangriffen, weil auf dem Boulevard du Montparnasse auch eine Frau auf ähnlich unerklärliche Weise umgekommen ist.«
In diesem Moment tapste Capitaine Merlot auf seinen löchrigen Socken durch den Flur und postierte sich mit dem Billardqueue im Türrahmen wie Moses mit seinem Stab. Der Direktor nickte ihm rasch zu, ehe er sich wieder an Capestan wandte.
»Ihr Kommissariat ist ganz in der Nähe, und da wir uns noch nicht kennengelernt hatten, wollte ich Sie gerne persönlich bitten, die Ermittlung zu unterstützen. Commissaire Mélanie Beretti von der Kriminalbrigade behält natürlich die Leitung, aber ein paar kluge Köpfe mehr schaden nie.«
Aus der Erwähnung der Rangordnung hörte Anne Capestan zwar noch letzte Vorbehalte heraus, und doch hatte sie schon jetzt das Gefühl, die Rückkehr würde in blendend hellem Licht vor ihr erstrahlen.
»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Sie richtig verstehe, Monsieur le Directeur … Das ist ein Fall von sehr großem öffentlichen Interesse. Warum wir?«, brachte sie schließlich hervor.
Marcus lächelte und untermalte mit einer wegwischenden Geste, wie offensichtlich die Antwort war.
»Na, um Ihnen zu zeigen, dass es mir ernst damit ist, einen Schlussstrich unter die Vergangenheit zu ziehen. Ich hole Sie wieder nach Hause. Sie bekommen Ihre Waffen zurück, Zugang zur Datenbank, zum Fuhrpark, zum Materiallager … Ach, hier sind übrigens ganz frisch die ersten Ermittlungsergebnisse sowie alles, was wir zu Montparnasse haben.«
Er holte seinen beschichteten Leinenrucksack aus der Garderobe, öffnete den Karabinerhaken und zog aus dem großen Hauptfach eine dicke Akte, die er Capestan feierlich überreichte. Sie empfing sie wie eine überdimensionale Hostie.
Ein Adrenalinschub erfasste die vier Mitglieder der Brigade, ließ sie die Augen aufreißen, die Rücken ungeduldig durchdrücken. Endlich waren sie rehabilitiert.
»Man erwartet Sie am Tatort.« Mit einem Blick auf seine Smartwatch fügte er hinzu: »Und ich sollte mich auch wieder auf den Weg dorthin machen.«
Sofort schaute Capestan zu ihrer Jacke.
Commissaire Divisionnaire Bourbon Marcus schloss: »Jetzt liegt der Ball in Ihrem Feld. Und wenn Sie wirklich so effizient sind, wie Buron behauptet, wenn alles so gut läuft, wie ich denke, ist Ihnen ein Platz im neuen Sitz der Kriminalpolizei sicher. Willkommen in der Bastion!«
»Kommt gar nicht in die Tüte«, erklärte Rosière.
Der Direktor war kaum aus der Tür, da hatte sich die Brigade bereits in zwei Lager gespalten: auf der einen Seite die, die das Kommissariat in der Rue des Innocents auf keinen Fall verlassen wollten, auf der anderen Anne Capestan, die schon ihre Jacke anhatte.
Die Begeisterung hatte gerade einmal ein paar Sekunden angehalten, ehe sie in Angespanntheit umgeschlagen war. Capestan warf einen raschen Blick in ihre Handtasche, ob sie alles dabeihatte, und beschloss, auf Zeit zu spielen.
»Ach, noch sind wir ja nicht umgezogen. Vielleicht war das mit der Bastion nur metaphorisch gemeint, weil wir eben wiedereingegliedert werden, und er hat gar nicht von der Rue du Bastion gesprochen. Außerdem kann er seine Meinung auch immer noch ändern. Das sind alles Details, im Zeitalter von Remotearbeit lassen wir uns doch nicht von der Frage nach dem Büro …«
»›Büro‹?!«, rief Rosière aus. »Meine lieben Wände, haltet euch die Fußleisten zu, Maman weiß nicht, was sie da redet.«
»Jetzt reicht’s mit dem Drama, Eva, wir haben einen Fall zu lösen. Drei Frauen wurden angegriffen.«
Rosière hob eine sorgsam gezupfte Augenbraue und schnaubte verächtlich, ehe sie sich dazu herabließ, Vernunft anzunehmen. Streiten konnten sie sich schließlich später noch. Zeitgleich mit ihrer neuen Anführerin beruhigten sich auch Lewitz und Merlot aus Achtung vor den Toten. Oder vor der Toten, im aktuellen Fall.
Capestan setzte ihren Fahrradhelm mit den Reflektorstreifen auf. »Ich fahre hin. Rosière, Merlot, ihr knöpft euch die Akte vor. Lewitz, du durchkämmst das Internet nach Videos von Schaulustigen. Ich verständige die anderen.«
Ehe sie in ihre Sneaker schlüpfte, eilte sie noch durch den Flur ans andere Ende der Wohnung und klopfte an die Tür.
»Herein!«, rief Torrez, der durch das Ausschlussverfahren genau wusste, dass er mit der Chefin sprach – von den anderen wagte sich niemand in seine Nähe.
Corona hatte viele in eine völlig neue Situation gestürzt, Torrez hingegen war wieder da, wo er angefangen hatte. Für jede Plage, die über die Welt hereinbrach, brauchte man einen Sündenbock, den Fußabtreter des Karrees oder des Kontinents, den beruhigenden, greifbaren Grund für alles Übel. Hier war er das. Der Unglücksbringer. Das Hufeisen im Hintern. Er selbst war fester überzeugt davon als jeder andere.
Nur Capestan wollte nichts auf Aberglaube und vor allem Gängelei geben und bestand weiterhin darauf, mit ihm zusammenzuarbeiten. Jetzt steckte sie den behelmten Kopf durch seine Tür.
»Eine tote Frau auf dem Boulevard Haussmann, wir sollen hin.«
Ihre Handbewegung schien zu sagen: Ich weiß, unfassbar, später mehr. Und tatsächlich ließen die Details nicht auf sich warten.
»Wir treffen uns vor den Galeries Lafayette, sobald du es schaffst. Das Ganze steht vielleicht mit den Nadelattacken in Verbindung, also halt die Ohren in der Menge offen«, wies sie ihn an, ehe ihr Kopf so schnell wieder aus dem Türrahmen verschwand, wie er aufgetaucht war.
»Nein«, antwortete Torrez’ Stimme hinter ihr.
»Doch«, beharrte sie aus dem Flur.
»Nein!«, rief er, allein in seinem Büro.
Anne Capestan öffnete das Schloss und befreite ihr Fahrrad vom Treppengeländer. Während sie es mit der einen Hand festhielt, holte sie mit der anderen ihr Handy heraus und textete Torrez ein »Doch«, ehe sie es wieder wegsteckte. Draußen bog sie sofort nach links, unter den hohen, steinernen Arkaden hindurch auf die Rue de la Ferronnerie, wo Heinrich IV. vor vierhundertzwölf Jahren ermordet worden war, dann weiter Richtung Rue du Pont-Neuf, auf der eine in die Wand eingelassene Büste Molières Geburtshaus markierte. Capestan liebte Paris für die unzähligen Denkmäler, die überall an seine Geschichte erinnerten, Superstars des kollektiven Gedächtnisses, an denen man in der Regel, abgestumpft vom Alltag, vorbeieilte, die einen hin und wieder aber doch überraschten und der Gewohnheit einen flüchtigen Gedanken entrissen. Der Fahrradweg auf der Rue Saint-Honoré verlief zwar entgegen der Fahrtrichtung, aber dafür war die Straße recht ruhig. Hinter der Rue du Louvre nahm Capestan die Rue de Rivoli, die neue Schnellstraße für E-Roller, bevor sie auf die Avenue de l’Opéra fuhr. Die breite, majestätische Allee führte geradewegs auf das prachtvolle Gebäude des Palais Garnier zu, dessen Kuppeldach wie die Sonne strahlte. Allerdings ging es merklich bergauf, und Capestan trat energisch in die Pedale, um so schnell wie möglich zu ihrem vielversprechendsten Fall seit fünf Jahren zu gelangen. Sie hatte sich nicht einmal die Zeit genommen, die Akte zu lesen.
Insgesamt waren vier Frauen ohne ersichtlichen Grund zusammengebrochen. Und sie würde herausfinden, weshalb.
Uniformierte Einsatzkräfte blockierten die verschiedenen Zugänge zum Viertel, und das gellende Heulen der Krankenwagensirenen schallte weit über die Boulevards. Mehrere Bereiche waren abgesperrt: einer hinter der Oper und zwei gegenüber unter den Arkaden der Galeries Lafayette. Drei Tatorte für drei Opfer. Völlig exponiert. Hier hatte also niemand unauffällig in einer dunklen Ecke agieren wollen, sondern wahllos zuschlagen und schocken.
Ein Kastenwagen der Kriminaltechnik und mehrere Streifenwagen parkten wild durcheinander, halb auf dem Gehsteig. Bei manchen drehte sich noch stumm das Blaulicht und ließ die Schaufenster und Häuserfassaden blinken. Die aus dem Palais Garnier evakuierten Touristen standen in Grüppchen zusammen, manche sprachen mit den Ermittelnden, aber die meisten diskutierten in allen erdenklichen Sprachen ihr verrücktes Abenteuer. Eine Tote direkt vor dem Palais! Sie waren gerade dem Phantom der Oper entronnen, und die Mutigeren bedauerten, nicht noch schnell in den Souvenirladen springen und einen Magneten als Andenken kaufen zu können.
Capestan lehnte ihr Fahrrad an einen der Laternenpfähle rings um das Gebäude. Während sie die Szenerie auf sich wirken ließ, holte sie ihr Handy heraus und verfasste eine Gruppennachricht an Lebreton, Dax, Évrard und Saint-Lô. Alle Teammitglieder mussten so schnell wie möglich in den Schoß des Kommissariats zurückkehren. Als sie auf Senden drückte, konnte sie nur hoffen, dass die Botschaft ankam. Das Handy in der einen Hand, zeigte sie mit der anderen einem Schutzpolizisten ihren Dienstausweis und schlüpfte unter dem gelben Absperrband hindurch in den Bereich rund um die Kaufhäuser.
Um einen Kreideumriss auf dem Boden waren Tafeln mit Nummern an Spuren und Indizien verteilt. Die Mitglieder der Kriminaltechnik in ihren weißen Anzügen und den Schuhüberziehern aus Papier schossen gerade die letzten Bilder, während Uniformierte die Menschen zurückhielten, die sich um die Absperrbänder drängten. Capestan machte die Polizistin mit dem höchsten Dienstgrad aus, eine kleine Frau mit kurzem blonden Bob und dunklen Augen. Die Stirn vor Stress und Befragungen in Falten gelegt, malträtierte sie einen vierfarbigen Kugelschreiber, während sie Befehle erteilte. Capestan wartete auf einen günstigen Moment, ehe sie sie ansprach.
»Commissaire Beretti? Guten Tag, Commissaire Anne Capestan, Divisionnaire Marcus schickt mich.«
Die rote Mine klackerte dreimal hintereinander, bevor Beretti sich schließlich zu einem knappen »Hallo« bequemte. Grummelnd verrenkte sie sich den Hals nach dem Direktor.
»Was soll das denn jetzt wieder? Als hätte ich nicht genug zu tun.«
Diese Reaktion war wie eine kleine kalte Dusche. Capestan beschloss, trotzdem guten Willen zu zeigen.
»Deswegen wollen wir ja unterstützen …«
»Na klar«, stieß Beretti hervor. »Marcus!«
Sie hatte den Direktor ganz in der Nähe entdeckt. Prompt ließ sie Capestan stehen, marschierte zu ihm hinüber und tippte ihm so lange mit ihrem Kuli auf die Schulter, bis er sich umdrehte.
»Mélanie!« Er breitete die Arme aus. »Wie lässt es sich an? Haben unsere Needle Spiker eine neue Grenze überschritten, ja?«
»Was treibt Capestan hier?«
»Ah, ihr habt also schon Bekanntschaft geschlossen …«
»Ich kannte sie längst«, unterbrach Beretti ihn. »Und ich habe nichts gegen sie persönlich, aber die Antwort lautet nein. Sie wissen doch, wie das bei solchen Chaoten abläuft. Man vertraut ihnen ein, zwei Fitzelchen sensible Informationen an, und sie freuen sich so einen Ast, dass sie das komplette Kollegium anrufen, die Presse, die Verdächtigen … Ich habe keine Lust, dass meine Ermittlungsergebnisse durch die Gegend posaunt werden. Ich muss mich schon mit genug Problemen herumschlagen.«
»Aber, aber, Mélanie, im Zweifel für den Angeklagten, oder? Glaubst du nicht, dass jeder eine zweite Chance verdient hat?«
»Wäre ich dann wohl Polizistin geworden? Ich glaube daran, Leute wegzusperren. Und genau das hat Buron mit ihnen gemacht.«
»Lebenslänglich?« Marcus lächelte, die Hände in den Taschen.
Beretti schwieg kurz. Von ihrer Position aus konnte Capestan sehen – und sogar hören –, wie die Ermittlungsleiterin tief durch die Nase ein- und langsam wieder ausatmete.
Dann erwiderte sie ruhig: »Spielen Sie hier nicht den Möchtegernhippie, Monsieur le Directeur, das können Sie sich für Ihre Schlumpfcupcakes aufsparen. Seit ich die Spritzengeschichte übernommen habe, führe ich mit dem Rauschgiftdezernat alle Fälle in ganz Frankreich zusammen. Krankenhäuser, Zeitungen, der Verband der Bars und Diskotheken, die Festivalveranstalter … all diese Leutchen möchten mir ihr Leid klagen, und zwar ganz ausführlich, denn ›man weiß ja nie‹. Und jetzt wollen Sie mir auch noch den VHS-Kurs Klöppeln für die Kripo ans Bein binden? Als wäre ich nicht eh schon kurz vorm Explodieren.«
»Deswegen sollen sie dir ja unter die Arme greifen, Mélanie.«
»Hören Sie auf mit dem Gelaber! Sie haben mir schon massenweise Praktis, Leih-, Hilfs- und Was-weiß-ich-nicht-alles-Kräfte aufgehalst. Die können nichts, wir zahlen ihnen einen Hungerlohn, und wenn ich sie drei Monate lang einarbeite, entlasten sie mich vielleicht drei Sekunden, bevor wir sie wieder feuern. Ich habe Ihre neue Welt jetzt schon gefressen, Marcus, und die alte stand mir auch bis hier. Passen Sie auf, dass ich nicht mittendrin alles hinschmeiße.«
»Nicht doch, ich bitte dich. Ich weiß ja, wie schwer es im Moment ist. Wir stehen unter Druck, uns fehlen die Mittel. Aber du kannst uns nicht im Stich lassen. Ich habe deine Vorbehalte vernommen, und ich werde sie in meine Überlegungen einbeziehen. Aber in der Zwischenzeit gibst du dem Kommando Abstellgleis hier was zu tun, das ist ein Befehl. Bitte. Ich will ihnen die Möglichkeit geben, sich zu rehabilitieren.«
Capestan entfernte sich ein Stück, ehe Beretti dem Direktor mit ihrem Kuli noch ein Auge ausstach. Sie konnte es der Ermittlungsleiterin nicht übel nehmen. In ihrer Zeit bei der Antigang war Capestan selbst so überlastet gewesen, erdrückt von der Verantwortung, gebremst von immer mehr Politik und immer weniger Leuten. Sie verstand Beretti und wollte sie nicht behindern. Kuschen wollte sie allerdings auch nicht. Also würde sie separat ermitteln, niemanden stören, aber auch nicht aufgeben. Sie überließ die beiden hohen Tiere ihrem Disput und steuerte auf einen Kriminaltechniker zu, der gerade den Reißverschluss seines Anzugs öffnete; darunter trug er Zivil.
Sie wies sich aus und stellte ihm ein paar Fragen. Doch viel hatte der Mann nicht zu berichten. Nach drei Minuten zündete er sich mit einem alten Zippo eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
»Auf so belebten Straßen findet man nichts Verwertbares«, gab er zu. »Für was Handfestes müssen wir die toxikologischen Befunde abwarten. An der Leiche konnten wir keine äußeren Verletzungen erkennen. Auch keine Einstichstelle, nichts. Ich würde auf respiratorische Insuffizienz tippen, aber das müssen Sie mit der Gerichtsmedizin besprechen. Ohne die anderen beiden Opfer sähe es für mich fast aus wie ein Asthmaanfall.«
»Die anderen drei Opfer, mit Montparnasse. Da könnte man beinahe von Serienmord reden … Obwohl es keinerlei Anzeichen für Sadismus gibt.«
»Oder für Inszenierung«, bekräftigte der Mann und blies den Rauch aus. »Hier ist alles schlicht. Belebt, aber schlicht.«
Nachdenklich kaute Capestan auf der Innenseite ihrer Wange herum, während sie den Blick über die breiten Bürgersteige des Boulevard Haussmann schweifen ließ. Die Menschenmenge zerstreute sich allmählich, strömte zu den endlich wieder dichter bevölkerten Schaufenstern, kehrte zurück auf den ursprünglichen Kurs, in den klar umrissenen Alltag. Nur drei Planungen hatten hier ein jähes, grausames Ende gefunden.
»Wie weit lagen die Vorfälle auseinander? Räumlich und zeitlich?«
»Die Frauen sind ungefähr zwanzig Meter voneinander entfernt zu Boden gegangen, ein paar Sekunden nacheinander. Für genauere Zeitangaben brauchen wir die Aufnahmen der Überwachungskameras.«
»Zwanzig Meter … Also waren sie nicht zusammen unterwegs?«
»Nein, anscheinend nicht.«
»Gleiches Alter?«
»Überhaupt nicht. Die beiden Überlebenden sind um die sechzig, würde ich schätzen. Die Verstorbene war noch keine dreißig, außerdem schwanger.«
Capestans Herz setzte kurz aus. Selbst nach etlichen Jahren Berufserfahrung war ihre Haut noch immer nicht dick genug. Mit dem Tod konnte sie nur schwer umgehen, vor allem, wenn er dem Leben so nahe war. Ganz im Gegensatz zu ihrem Gegenüber offensichtlich, einem alten Haudegen, der dieses Detail fallen gelassen hatte, ohne auch nur einmal zusätzlich an seiner Zigarette zu ziehen.
»Die Frauen hatten bestimmt Handtaschen dabei, Ausweise, oder?«, hakte sie nach.
»Ja, wir haben Fotos gemacht und alles eingetütet, steht in der Akte. Jemand von der Kriminalbrigade hat auch schon die Familien informiert, glaube ich.«