Das Revier der schrägen Vögel - Sophie Hénaff - E-Book
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Das Revier der schrägen Vögel E-Book

Sophie Hénaff

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Beschreibung

Frankreichs charmanteste Loser ermitteln wieder!

Kommissarin Anne Capetan hat ein Team, das sonst keiner haben will: Trinker, Spieler, Spinner. Viel traut man ihnen nicht zu, schon gar nicht die Aufklärung von Verbrechen. Doch wer die Truppe unterschätzt, der irrt. Das zeigt sich, als ihnen ein Mordfall übertragen wird: Das Opfer ein hohes Tier bei der Polizei – und Annes Ex-Schwiegervater. Wie soll sie das ihrem Ex beibringen, mit dem sie nie wieder ein Wort wechseln wollte? Und warum legt ihnen die Führungsriege nur Steine in den Weg? Doch Annes Kollegen haben nicht nur einen an der Klatsche, sondern auch unkonventionelle Ermittlungsmethoden …

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Seitenzahl: 366

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Zum Buch:

Kommissarin Anne Capestan und ihre Bruch-Brigade ermitteln weiter. Sie haben sich um einen neuen schrägen Vogel bereichert, einen Polizisten, der sich für D’Artagnan hält, die Hauptfigur aus Alexandre Dumas’ Roman Die drei Musketiere. Und wieder wird der Truppe der Ausrangierten ein besonders pikanter Fall übertragen: Ein Mord auf offener Straße, das Opfer war ein hohes Tier bei der Polizei – und Anne Capestans Ex-Schwiegervater. Das bringt Anne gleich mehrfach in Schwierigkeiten. Denn wie soll sie das ihrem Exmann beibringen, wenn sie eigentlich nie mehr mit ihm sprechen wollte. Und das ist nur der Auftakt einer Mordserie ….

Wieder löst die Truppe auf unkonventionelle Weise die verzwicktesten Fälle, und es offenbaren sich private und behördliche Verstrickungen, deren Aufdeckung der neuen Führungsriege von 36, Quai des Orfèvres schwer im Magen liegen.

Zur Autorin:

Sophie Hénaff, geboren 1972, ist Journalistin, Übersetzerin und Autorin. Ihre humoristische Kolumne in der französischen Cosmopolitan hat eine riesige Fangemeinde. Das Revier der schrägen Vögel ist der zweite Band der Serie um Kommissarin Anne Capestan und ihre Brigade der verkrachten Existenzen.

Außerdem bei carl’s books lieferbar:

Kommando Abstellgleis. Ein Fall für Kommissarin Capestan (ISBN 978-3-570-58561-0)

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem Titel Rester Groupés bei Éditions Albin Michel, Paris.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Copyright © 2016 by Éditions Albin Michel, Paris

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2017 by carl’s books, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Covergestaltung: www.buerosued.de nach einem Entwurf von semper smile, München

Coverabbildungen: Arcangel Images/Anne-Laure Jacquart; Shutterstock/Yoko Design, shopplaywood, DeCe, StockSmartStar, NadzeyaShanchuk, Gordan

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-21905-5V005

www.penguin.de

Wieder für meine kleine Meute

»Die Phönixe staksen in der Asche herum.«

Eva Rosière in Laura Flammes und das Kommando Abstellgleis

Prolog

Vaucluse, 24. November 2012

Jacques Maire spazierte am Kanal entlang, der quer durch L’Isle-sur-la-Sorgue verlief. Er zählte die Enten. Betrachtete das sanft dahintreibende Grün, das das Wasser färbte und immer wieder unter dem Glitzern der Sonne verschwand. Ein paar Boote schaukelten auf dem friedlichen Fluss, der die Passanten zum Verweilen einlud.

Mit dem selbstbewussten Lächeln eines Wohltäters der Gemeinde erwiderte Jacques die Begrüßung eines Bibliotheksmitarbeiters aus der Ferne, dann bog er unter den Platanen in Richtung Bäckerei ab. Die Marmorplatte des Kriegerdenkmals auf dem Platz erregte seine Aufmerksamkeit. Eine neue Gravur verlängerte die Liste. Dem letzten Buchstaben entfloh ein Tropfen noch feuchte goldene Farbe. Jemand hatte einen Namen hinzugefügt.

Jacques Maire: 17. August 1943 – 25. November 2012.

25. November.

Das war morgen.

1.

Paris, 28. November 2012

Commissaire Anne Capestan hatte eine Auseinandersetzung mit dem neuesten der defekten Drucker, die man ihrer Brigade bewilligt hatte. Das Materialmanagement hatte wirklich Humor. Das starrsinnige Gerät zeigte weiterhin »Tinte nachfüllen« an, obwohl Capestan gerade die Patrone ausgetauscht hatte. Nachdem sie alle Knöpfe gedrückt hatte, gab sie auf. Sie musste nichts Dringendes drucken. Sie arbeitete an nichts Dringendem. Eigentlich arbeitete sie an gar nichts mehr.

Nach einem kometenhaften Aufstieg, einer olympischen Medaille mit der Sportpistole und der hübschesten Sammlung von Schulterklappen, die eine junge Kommissarin je eingeheimst hatte, war Capestan in die Kinder- und Jugendbrigade versetzt worden, ohne zu ahnen, dass sie das an die Grenzen ihrer emotionalen Leistungsfähigkeit und darüber hinaus bringen würde. Bei einem besonders grausamen Fall hatte sie irgendwann ohne viel Federlesen einen Verdächtigen erschossen. »Die in Ungnade gefallene Musterschülerin mit der Sanftmut einer Kalaschnikow«, wie ihre Kollegin Eva Rosière sie nannte, war der Entlassung nur entgangen, indem sie die Leitung dieser Einheit ausrangierter Polizisten übernommen hatte – eine geniale Idee von Buron, dem Regionaldirektor der Kriminalpolizei, der die Behörde gesäubert und alle unerwünschten Subjekte in einer einzigen Brigade zusammengesteckt hatte.

Die Lösung seines ersten Falls im vergangenen Monat hatte dem Kommando Abstellgleis nicht etwa neue Achtung eingebracht, sondern es stattdessen unter einer zweiten Lawine der Verachtung begraben. Kollegenanschwärzer, das waren sie geworden. Verräter. Ein stark hautreizendes Etikett, das an Capestans Gewissen kratzte. Und an ihrem Stolz.

Commandant Lebreton ertrug die Situation mit seiner üblichen Gelassenheit. Er war die Geringschätzung der Kollegen schon gewohnt. Nachdem er zehn Jahre lang den Ruhm der RAID genossen hatte, war er nach der Offenbarung seiner Homosexualität in die Dienstaufsicht verfrachtet worden, wo das Judasgewand die Uniform ersetzte. Als er schließlich seinen Lebensgefährten verloren hatte, war es ihm in seiner Trauer nicht mehr so leichtgefallen, die Diskriminierung stillschweigend zu schlucken. Eine Beschwerde gegen seinen Vorgesetzten hatte ihn direkt in diesen Müllcontainer befördert. Gerade saß er zurückgelehnt in seinem Bürostuhl, die Beine auf dem Schreibtisch, und blätterte im Le Monde Magazin, um sich von der fruchtlosen Lektüre der alten Akten zu erholen, die sich im Flur des Kommissariats stapelten. Laute Stimmen aus dem Nebenzimmer lenkten ihn ab. Er ließ die Zeitung sinken und lauschte einen Moment, ehe er die Augenbrauen hob und weiterlas.

Es handelte sich um die x-te Diskussion zwischen der aufbrausenden Rosière und dem unverwüstlichen Merlot. Die beiden stritten unablässig. Nicht zwangsläufig über das gleiche Thema zur gleichen Zeit, aber das schien sie nicht im Geringsten zu stören. Sie standen am Billardtisch, der neuesten Anschaffung von Eva Rosière. Die millionenschwere Polizistin/Schriftstellerin/Drehbuchautorin war vom Quai des Orfèvres bis zur Staatsanwaltschaft allen hohen Tieren auf den Schlips getreten, indem sie sich in ihrer Fernsehserie über sie lustig machte. Seit sie durch die Tür von Anne Capestans Kommissariat in der Rue des Innocents gewirbelt war, hatte sie die Möblierung der Räumlichkeiten übernommen und verlor dabei allmählich alle Hemmungen. Erst gestern hatte sie den Kauf eines Tischkickers erwogen, um Dax und Lewitz zu beschäftigen. Capestan hatte sie gefragt, ob sie nicht gleich noch Eintritt verlangen oder Spielchips ausgeben wolle, und Merlot hatte intensiv über das Für und Wider nachgesonnen, ohne die Ironie zu erfassen. Rosière, die unter ihrer Heißblütigkeit eine gewiefte Strategin war, hatte zurückgerudert. Capestan machte sich allerdings keine Illusionen über die vorübergehende Natur dieses Manövers.

Sie ließ den Drucker stehen und ging in Richtung des zum Spielzimmer umfunktionierten Büros, in dem nach und nach ein Billardtisch, die dazugehörige viereckige Lampe mit Fransenschirm, vier Clubsessel, ein Queueständer und eine prächtige Bar aus massiver Eiche mit passenden Hockern aufgetaucht waren. Gegen Rosières Totschlagargumente war jeder Protest zwecklos. »Die Sache ist gelaufen, Anne, jetzt schließt sich kein Schwein mehr unserer Brigade an. Da können wir den freien Platz auch nutzen, das wirkt weniger traurig.« Traurig wirkte das Kommissariat inzwischen nun wirklich nicht länger. Und es gab darüber hinaus auch kein Fitzelchen freien Platz mehr.

Die massige Statur fest im Boden verankert, einen männlich-stolzen Ausdruck auf dem Gesicht, stemmte Merlot, der ehemalige Capitaine der Sitte, Alkoholiker und Freimaurer mit viel Geschick im Umgang mit Menschen, sich dem Sturm entgegen, das Billardqueue in der einen, ein Glas Rotwein in der anderen Hand. Blaue Kreidespuren verunzierten sein Jackett.

Eva Rosière fuhr mit ihrer Schimpftirade fort: »Es ist immer das Gleiche. Denk bloß an die armen Nashörner. Irgendwann ist so ein Schlappschwanz einmal einem über den Weg gelaufen und hat sich gedacht, ›Wow, so ein Teil hätte ich auch gern, es reicht bestimmt, wenn ich das Horn zerstoße und futtere.‹ Und seitdem rotten sämtliche Versager des Planeten die Nashörner aus, um ihren Johannes wiederzubeleben.«

Rosières Hund Pilou saß zu Füßen seines Frauchens und hörte andächtig zu. Dann wandte er die Schnauze in Merlots Richtung, als wollte er mal sehen, was der darauf zu erwidern hatte.

»Sehr richtig, werte Freundin. Die Manneskraft! Ihr verdanken wir alle großen Errungenschaften und den wissenschaftlichen Fortschritt, da stimme ich Ihnen voll und ganz zu«, rief der Capitaine mit einer erhabenen Bewegung seines Queues, die Lieutenant Évrard fast ein Auge gekostet hätte.

Letztere war wegen ihrer Spielsucht von der Glücksspielbrigade hierherversetzt worden. Sie lehnte am Billardtisch und trommelte mit den Fingern auf das polierte Holz, während sie geduldig auf das Ende der Diskussion wartete. Dabei stand sie, mehr oder weniger absichtlich, mit dem Rücken zu Lieutenant Torrez, der sich auf einen Sessel am anderen Ende des Zimmers verkrochen hatte, sein Queue gegen die Armstütze gelehnt. Capestan schlenderte zu ihm hinüber.

»Wer gewinnt?«

»Den Streit oder die Partie?«

»Die Partie.«

»Dann ich.«

»Mit wem spielst du?«

Torrez verzog das Gesicht.

»Allein.«

Mal wieder. Sie trugen die Partie lieber drei gegen einen aus, als mit Torrez ein Team zu bilden. Doch das war immerhin schon ein Fortschritt. Noch vor einem Monat wären alle geflüchtet, sobald er das Zimmer betrat. Sein finsterer Ruf als Unglücksbringer besserte sich zwar allmählich, allerdings in Babyschritten. Jeder, einschließlich – und vor allem – Torrez, hielt sich auch weiterhin an die Regeln der gesunden Vorsicht. Nur Commissaire Capestan näherte sich ihm nach Belieben. Sie ließ sich nicht von irgendeinem Aberglauben in ihrer Fortbewegung einschränken.

Das Zirpen einer sonnenverwöhnten Grille drang aus ihrer Hosentasche. Ihr Handy. Auf dem Display wurde Burons Name angezeigt. Der letzte Anruf des Directeurs war bereits einen Monat her. Damals hatte er ihr verkündet, dass er sein Versprechen gehalten habe und ein neuer Dienstwagen in einem annehmbaren Zustand auf sie wartete. (Brigadier Lewitz, der unverbesserliche Raser, hatte ihn prompt zu Schrott gefahren.) Anschließend hatte er der Brigade nahegelegt, die Füße stillzuhalten, bis die Gemüter der Kollegen und der Medien sich wieder beruhigt hätten. Commissaire Capestan hatte erwidert, dass sie auch vorher keine großen Sprünge gemacht hätten, aber im Grunde hatte ihr Mentor wohl recht.

Dass er sie heute anrief, war vielleicht ein gutes Zeichen. Sie hob ab.

»Guten Morgen, Monsieur le Divisionnaire, was verschafft mir die Ehre?«

Orsinis Radio, das wie immer auf France Musique gestellt war, spielte eine Sonate von Schubert. Der Capitaine hörte jedoch ausnahmsweise gar nicht zu. Nachdenklich strich er eine Seite der Tageszeitung La Provence glatt.

Die Schlagzeile nahm drei Spalten ein: »Jacques Maire, allseits geschätzter Bürger von L’Isle-sur-la-Sorgue, auf offener Straße ermordet.«

Orsini griff nach einer Schere aus dem Stiftehalter und schnitt den Artikel sorgfältig aus. Anschließend zog er eine Schublade auf, wählte eine Mappe aus rotem Karton und schob den Artikel hinein. Er schloss die Mappe mithilfe der Gummibänder und öffnete einen schwarzen Filzstift, dann hielt er inne. Er wusste nicht, was er schreiben sollte.

Am Ende ließ er den Stift unverrichteter Dinge wieder sinken und legte die Mappe unbeschriftet zurück.

2.

Der wolkenbedeckte graue Himmel hatte die Hauptstadt in ihre Winterlumpen gehüllt. Ein feiner, dichter Regen zwang die Pariser, mit gesenktem Kopf zu laufen, den unsteten Blick auf den Bürgersteig gerichtet, schon niedergedrückt vom Tag, der gerade erst angefangen hatte. Eingepackt in einen dicken schwarzen Kapuzenmantel, das Kinn im großen melierten Schal vergraben, schlängelte Anne Capestan sich durch das Meer an Regenschirmen auf der Rue Daguerre. Mit langen Schritten bog sie in die Rue Gassendi ab, die an der Ecke Rue Froidevaux für den Verkehr gesperrt war.

Die Leiche war vor nicht einmal zwei Stunden entdeckt worden, der Fall war also noch ganz frisch. Capestan, auf deren Schreibtisch sich die alten Akten kistenweise stapelten, fragte sich, womit sie sich diese Rückkehr zum Tagesgeschehen wohl verdient hatte.

Die unvermeidliche Traube Schaulustiger verrenkte sich den Hals, um über die Absperrbänder und die Schultern der störrischen Polizisten hinweg ein exklusives Detail zu erhaschen. Commissaire Capestan kämpfte sich durch die Gaffer, zeigte ihren Dienstausweis und durfte passieren. Sie suchte den Tatort nach der hochgewachsenen Gestalt ihres Mentors ab. Neben den normalen Streifenpolizisten und der Spurensicherung erkannte sie mehrere Lieutenants der Kriminalbrigade, die wahrscheinlich mit der Ermittlung betraut war. Außerdem bemerkte sie ein Stück weiter einen Kleintransporter der BRI. Nahm man jetzt noch ihre eigene Anwesenheit hinzu, bekam man ein Brigadenpotpourri, das ein wenig zu bunt gemischt war für einen stinknormalen Mord. Diese Sache machte sie wirklich neugierig.

Buron hatte die Hände in den Taschen seines kakifarbenen Dufflecoats vergraben und ließ missmutig den Blick über das Treiben schweifen. Als Capestan sich ihm näherte, deutete er ein Lächeln an, das sogleich wieder verschwand.

»Guten Morgen, Commissaire.«

Capestan streifte die Kapuze ab, um ihr Sichtfeld zu erweitern und die Begrüßung des Directeurs zu erwidern. »Guten Morgen, Monsieur le Divisionnaire. Was ist passiert? Wir sind auf jeden Fall viele.«

»Ja, sehr viele. Zu viele«, antwortete Buron und drehte sich einmal um die eigene Achse, um das Gewimmel zu überschauen.

Capestan zog das Kinn zurück in den Schutz ihres Schals. »Warum haben Sie uns in einer solchen Überzahl herbestellt?«

»Weil das Opfer ein hohes Tier der BRI war. Und ich weiß genau, in welche Richtung die BRI und die Kriminalbrigade sich stürzen. Sie werden alle alten Bandengeschichten ausgraben, alle Geniestreiche von Broussard bis heute bemühen und jede Spur ignorieren, die nicht der Legende dient.«

Der Mord an einem hohen Tier … Spuren, die nicht der Legende dienen … Capestan hatte beinahe Angst, den Schluss zu ziehen.

»Sagen Sie nicht, wir sollen schon wieder einen Bullen stürzen, Monsieur le Directeur. Die Kollegen legen uns doch jetzt schon Steine in den Weg.«

Eigentlich maß Anne Capestan ihrem Image keine besonders große Bedeutung bei, und das traf sich, das musste man zugeben, aktuell ziemlich gut. Doch auf lange Sicht zermürbte die Ablehnung selbst die unabhängigsten Geister, und man musste sehr mutig – oder sehr gleichgültig – sein, um bei so viel Verachtung nicht die Klarsicht zu verlieren.

»Nein, Sie sollen nicht zwangsläufig ›einen Bullen stürzen‹, sondern nur allen Spuren nachgehen, wie bei jeder anderen Ermittlung auch. Trotzdem kann es natürlich sein, dass man Ihnen mit einem gewissen Unverständnis begegnet.«

Buron seufzte leise, rieb die behandschuhten Finger aneinander und beschloss nun anscheinend, mit offenen Karten zu spielen.

»Ich will Ihnen nicht verschweigen, dass mein Wunsch, Sie einzubinden, nicht gerade auf Begeisterung gestoßen ist. Die Kriminalbrigade ist der Meinung, dass sie ihre Fälle alleine lösen kann. Und dass es schon reicht, sich mit der BRI herumschlagen zu müssen, ohne auch noch die schwarzen Schafe an der Backe zu haben.«

Capestan wischte sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht.

»Das kann ich mir vorstellen. Aber verstehe ich das richtig – die Staatsanwaltschaft hat uns mit der Ermittlung beauftragt?«

Buron wiegte den Kopf, runzelte die Stirn und wackelte mit den Händen in der Morgenluft, was in seiner Sprache ungefähr so viel bedeutete wie: »Nein, nicht ganz. Es gibt da noch ein paar unwichtige bürokratische Details zu regeln.« Capestan konzentrierte sich auf den einzig relevanten Teil: »Nein.« Die Staatsanwaltschaft wusste nicht einmal von ihrer Existenz, und der Leiter der Kriminalpolizei schleuste sie heimlich ein. Abermals fragte sie sich, warum sie hier war. Es war keine falsche Bescheidenheit einzugestehen, dass ihre Brigade zu einem solchen Fall nur wenig beitragen konnte. Burons Entscheidung ergab keinen Sinn.

»Entschuldigen Sie, dass ich mich wiederhole, Monsieur le Divisionnaire, aber warum haben Sie mich herbestellt?«

Buron unterbrach sie abrupt, als ein riesiger Muskelberg vorüberkam, in einer Lederjacke vom gleichen milchkaffeefarbenen Ton wie das Gesicht darüber, das zwar hübsch, aber verschlossen wirkte. Buron berührte den Mann am Ellbogen, um ihn aufzuhalten, und der drehte sich um. Jede Bewegung seiner gewaltigen Masse warf einen Schatten vom Ausmaß eines Wolkenkratzers. Als der Polizist den Directeur erkannte, stand er beinahe stramm. Buron würdigte die Reaktion mit einem Kopfnicken, bevor er sich an Capestan wandte.

»Commissaire, darf ich Ihnen Lieutenant Diament von der BRI vorstellen. Die Klettereinheit, wenn ich mich nicht irre?«

Der Beamte richtete sich noch ein bisschen mehr auf, eindeutig stolz auf die Zugehörigkeit zu dieser angesehenen Einsatzgruppe: Die Elitepolizisten seilten sich von Häusern ab und stürzten sich, nur von ihren Leinen gehalten, mit gezückter Waffe in die Verstecke der gefährlichsten Verbrecher. Bei der Statur des Lieutenants dürften es sowohl die Verbrecher als auch die Leinen mit der Angst zu tun bekommen.

»Jawohl, Monsieur le Directeur.«

»Und Sie sind außerdem für den Informationsaustausch zwischen der BRI, der Kriminalbrigade und der Brigade von Commissaire Capestan verantwortlich, nicht wahr?«

»Jawohl«, antwortete Diament schon deutlich weniger begeistert.

»Angenehm, Lieutenant«, sagte Capestan und streckte ihm mit ihrem liebenswürdigsten Lächeln die Hand hin.

Der Mann schüttelte sie und nickte, wich ihrem Blick jedoch aus. Statt Verachtung oder Demütigung darüber, so armseligen Ansprechpartnern unterstellt zu sein, glaubte Capestan allerdings, eine Spur Traurigkeit in den Augen des Lieutenants zu bemerken. Die hatte wahrscheinlich nichts mit der Arbeit zu tun.

»Sobald die Akte angelegt ist, wird Lieutenant Diament Ihnen eine Kopie zukommen lassen. Er wird Sie über die Ermittlungsfortschritte der anderen Brigaden auf dem Laufenden halten, und Sie werden ihm Ihre eigenen Ergebnisse mitteilen, Commissaire. Bei diesem Fall müssen unsere besten Kräfte transparent zusammenarbeiten. Kann ich auf Sie zählen, Lieutenant, Commissaire?«

Lieutenant Diament beantwortete die Frage mit einem erneuten Nicken des kriegerischen Kopfes. Capestan ihrerseits bekundete ihre Zustimmung mit einem Schulterzucken und einem belustigten Schmunzeln.

Nachdem der Lieutenant sich verabschiedet hatte, lenkte sie das Gespräch wieder zu den Gründen für ihre Anwesenheit – sie ließ sich nur selten ohne eine Antwort abspeisen.

»Also, warum gerade wir?«

Buron bedeutete ihr, ihm zu folgen. Sie gingen zur Leiche hinüber, die mittlerweile mit einem Tuch abgedeckt war, und streiften sich Papierüberzieher über die Schuhe. Auf einer Trittleiter stand ein Techniker der Spurensicherung und nahm Fingerabdrücke von einem Straßenschild. Sein Kollege wartete geduldig am Fuß der Leiter, einen Akkuschrauber in der Hand. Das Schild verkündete nicht länger »Rue Gassendi«, sondern »Rue Serge-Rufus, Commissaire der Arschlochbrigade, 1949–2012«.

Und plötzlich begriff Capestan, warum Buron sie angerufen hatte.

3.

Paul hatte strahlenden Ruhm erlebt … und sein Ende. Das war noch gar nicht so lange her, aber bald würde man ihn als alternden Star, als Promi von gestern betrachten. Vielleicht war er das auch längst, in solchen Dingen wussten die Betroffenen ja immer als Letzte Bescheid. Zumindest deutete dieser unerwartete Anruf einer Produktionsfirma genau darauf hin. Eine Reality-TV-Sendung. Das bot man ihm heutzutage an. Eine Reality-TV-Sendung. Er hatte abgelehnt.

Natürlich hatte er gezögert, eine Sekunde lang. Eine unendliche, erniedrigende Sekunde lang. Die Verheißung einer Rückkehr ins Rampenlicht hatte eine gewisse Anziehungskraft, eine hypnotisierende, verführerische Macht. Aber Paul hatte seinen Beruf aufgegeben, zumindest diesen Teil. Die Vorstellung eines Comebacks reizte ihn manchmal, möglicherweise. Doch wenn es so weit wäre, würde er es richtig machen. In der Zwischenzeit hatte er ein Theater zu führen und ein Heer von Comedians zu lenken.

Er krempelte die Ärmel seines beigen Hemds hoch und setzte sich an seinen Schreibtisch, um seine E-Mails abzurufen. Es erwartete ihn eine wahre Flut von Hugo, seinem neusten Schützling, der versuchte, ein nach Bestätigung gierendes Ego als Lebensangst auszugeben. Paul lehnte sich kurz zurück, um sich eine Minute Frieden zu gönnen, bevor er sich darum kümmerte. Mechanisch fuhr er sich über Wange und Kinn, um die Makellosigkeit seiner Rasur zu überprüfen.

Dabei fiel sein Blick, wie so oft, auf das gerahmte Plakat an der gegenüberliegenden Wand. Darauf war er zwanzig Jahre jünger und stand zwischen seinen beiden Sandkastenfreunden. Zusammen waren sie die Komischen Käuze gewesen, eins der bekanntesten Comedytrios der Neunziger.

Sie waren ganz groß rausgekommen, und zwar verdientermaßen: durch Talent und harte Arbeit. Den Rest hatte eine Riesenportion Glück erledigt. Damals hatten sie den Erfolg für normal und zwangsläufig unerschöpflich gehalten, für die logische Folge einer Jugend, in der einem die richtige Jeans und pickelfreie Haut die Stellung als Bandenchef gesichert hatten. Im Grunde genommen lachten nun einfach Fremde statt der Kumpels über ihre Witze. Irgendwann hatte das Fernsehen angeklopft, und die Party war zur Routine geworden. Berühmtheit war das natürliche Ergebnis gewesen, nichts weiter. Später würde noch genug Zeit bleiben, um diesen Augenblick der Gunst wertzuschätzen. Aber er war verpufft.

Die Komischen Käuze trafen den Nerv der Zeit. Denselben Nerv, der sie später verschlang, nur um einen neuen Trend auszuspucken: die Stand-up-Comedy. Es fing ganz langsam an. Das Trio trennte sich. Paul investierte in ein Theater. Weil er dachte, dass er auf diese Weise immer einen Ort hätte, an dem er auftreten könnte. Falsch gedacht. Jetzt konnte er kaum noch seine Kosten decken. Klar, die Leute erkannten ihn noch auf der Straße, aber sie waren nicht mehr bereit, Geld zu bezahlen, um ihn auf der Bühne zu sehen. Sie erzählten ihm von seinen alten Sketchen, die sie mit denen irgendwelcher Dilettanten oder kleinen Lichter verwechselten. So ist das mit dem Publikum: Du glaubst, dass sie dich vergöttern, aber dann halten sie dich für einen anderen. Wahrscheinlich bist du ihnen scheißegal.

Nach und nach hatte Paul angefangen, aufstrebende Comedians zu fördern. Und obwohl diese Jungwölfe ihm gegenüber eine umsichtige Ergebenheit an den Tag legten, schauten sie auch ein bisschen auf ihn herab, überzeugt davon, den Humor erfunden zu haben, den neuen Humor, den dieses Jahrhunderts. Paul war in ihrem Alter genauso gewesen.

Na schön. Er schlug mit der flachen Hand auf den Schreibtisch. Er musste Hugo zurückrufen, den kleinen Idioten, der eine große Karriere vor sich hatte. Seine Auftritte brachten zumindest Gewinn ein. Paul beugte sich vor und griff nach seinem Handy, als eine Nachricht auf dem Display erschien. »Hallo. Bist du zu Hause?« Es war seine Frau. Seine Exfrau.

Sofort stiegen ihm unangebrachte Tränen in die Augen. Er hielt den Atem an und konzentrierte sich darauf, sie zurückzudrängen. Sein Kiefer spannte sich an. Er verachtete sich dafür, dass er immer noch nicht darüber hinweg war. Trotzdem konnte er nicht verhindern, dass sein Blick wieder zum Handydisplay wanderte, es fixierte, als könnte es sprechen, alles erklären, wiedergutmachen, ihm ein anderes Leben prophezeien.

Als er seine Frau vor einem Jahr verlassen hatte, hatte er seinen letzten Fixpunkt verloren, seine letzte Freundin, seinen Fels. Und seine große Liebe.

Ihre Abwesenheit quälte ihn. Ihre Anwesenheit an einem anderen Ort in derselben Stadt ließ ihm keine Ruhe. Ihre Sanftheit, ihre Unabhängigkeit, ihr Format. Und natürlich ihr Gesicht, ihr Körper, die gemeinsamen Nächte.

Er hatte von Anfang an gewusst, dass sie schwerer zu verwinden sein würde als all sein vergangener Ruhm.

Doch statt den Tiefpunkt zu erreichen, spürte er plötzlich wieder Boden unter den Füßen.

Er entsperrte das Handy und tippte mit unsicheren, fast abergläubischen Bewegungen: »Ja.«

Dann wartete er.

Als die drei Töne der Türklingel erschollen, verzogen sich seine Lippen zu einem Lächeln.

4.

Anne Capestan stand vor der Wohnung, die Fäuste im Schutz ihrer Manteltaschen geballt, und fürchtete sich vor dem Moment, in dem die Tür aufgehen würde. Natürlich war es ihre Pflicht, hier zu sein. Sie hatte nicht eine Sekunde lang daran gedacht, sich aus der Affäre zu ziehen. Aber es fiel ihr nicht leicht, die instinktive Wut in Schach zu halten, die jederzeit hervorbrechen konnte. Zum Glück halfen Traurigkeit und Mitgefühl ein wenig.

So würde sie ihn also wiedersehen. Und sein neues Umfeld kennenlernen, denn damals hatte er den Großzügigen gespielt und ihr die Wohnung überlassen. Nein, verbesserte sich Capestan mit all dem Gutglauben, den sie aufbringen konnte, er hatte nicht den Großzügigen gespielt, er war großzügig gewesen. Wie immer. Diese Wohnung, das wusste sie, war das letzte Überbleibsel eines schier unglaublichen Vermögens, das sich wieder auf ein Normalmaß reduziert hatte. Paul hatte nur die Möbel seiner Großeltern mitgenommen, und die Waschmaschine und den Geschirrspüler, mit einer klaren Botschaft dahinter: Du benutzt sie ja sowieso nicht.

Trotzdem hatte er bei der ersten Schwierigkeit die Flucht ergriffen und sich hinter selbstgefälligem Moralapostelgerede versteckt. An jenem Tag hatte sie einen Dreckskerl getötet, nachdem sie zuvor schon ein paar andere zum Krüppel gemacht hatte. Ihre Karriere stand vor dem Aus, und sie zeigte nicht den Hauch eines Bedauerns. Sie wollte ihr Handeln nicht kommentieren, sich nicht rechtfertigen und schon gar nicht darüber reden. Paul hatte einige Minuten gewartet, dann war er gegangen.

Capestan hörte Schritte, die sich näherten. Sie spannte sich an. Alles um sie herum verschwand.

Die Tür öffnete sich, und vor ihr stand der schönste Mann, den sie kannte. Ihr Ehemann. Paul schien alles Licht der Stadt in sich aufzusaugen. Er war wie ein Feuerwerk inmitten von LED-Lampen. Seine Mutter, die sonst eher bescheiden war, hatte sich jedes Mal, wenn der strahlende Stern einen Raum betrat, gebrüstet: »Da haben wir wirklich nicht weit danebengelegen, sein Vater und ich. Wir haben ihm den Vornamen von Newman gegeben, und er hat das Gesicht von Redford.« Woraufhin der unausstehliche Vater geantwortet hatte: »Ja, eine hübsche Schauspielervisage.« Und mit einem Mal war das Kompliment verpufft, und der Stolz glänzte durch Abwesenheit.

Dieser Vater war heute gestorben. Ermordet worden. Und Capestan musste es seinem Sohn mitteilen.

Pauls Lächeln erlosch beim Anblick ihrer ernsten Miene. Sie kam nur als Botin, als Überbringerin einer Nachricht, die jede Lockerheit zunichtemachte. Das Wiedersehen würde eisig und bleiern ausfallen. Sie trat die Flucht nach vorn an.

»Hallo. Kann ich kurz reinkommen?«

Er zögerte, beugte sich vor, um sie auf die Wange zu küssen, wich jedoch wieder zurück, als sie sich versteifte. Schließlich trat er wortlos einen Schritt beiseite, um sie vorbeizulassen. Sie streifte seinen Arm. Er duftete immer noch nach Kiehl’s.

»Danke.« Sowohl aus Stolz als auch aus Anstand unterdrückte Capestan den Drang, sich umzuschauen. »Wir setzen uns besser, wenn es dir nichts ausmacht.«

Ihr Tonfall und die gesamten Umstände dieses ersten Treffens nach einem Jahr waren völlig unpassend, deswegen begriff Paul schnell, dass es sich um eine Ausnahmesituation handelte. Er kannte seine Ehefrau gut genug, um zu wissen, dass sie keine Spielchen mit ihm trieb. Also deutete er auf das Sofa und ließ sich selbst in den Sessel gegenüber sinken. Capestan nahm Platz, ohne ihren Mantel auszuziehen. Dann faltete sie die Hände und fuhr rasch über die Narbe an ihrem linken Zeigefinger.

Sie suchte nach einer Formulierung, der richtigen Vorgehensweise. Ihr Beruf hatte sie schon oft in diese Lage gebracht. Aber noch nie mit Paul. Er beobachtete sie geduldig, mit der fatalistischen Miene eines Soldaten, der sich darauf vorbereitet, Schläge einzustecken, in hartem Training an den Schmerz gewöhnt. Seit er ihren Gesichtsausdruck gesehen hatte, rechnete er mit nichts Gutem. Und damit lag er richtig, so leid es Capestan auch tat. Sie hörte, wie ihre Stimme ihr die Entscheidung abnahm, kühler, als sie es sich gewünscht hätte.

»Ich bin hier, weil ich dir etwas Trauriges mitteilen muss, Paul. Dein Vater …«

Sie senkte einen Moment lang den Blick, und als sie ihn wieder hob, hatte Paul bereits verstanden und wartete nur noch auf ihre Bestätigung.

»Er ist ermordet worden. Heute Morgen höchstwahrscheinlich.«

Paul rutschte bis an die Lehne seines Sessels zurück und fixierte einen Punkt auf dem Couchtisch. Seine rechte Hand strich sanft über das braune Leder der Armlehne. Hin- und hergerissen zwischen Schock, Trauer und dem Bedürfnis, Haltung zu bewahren, verbiss er sich jede Reaktion. Nur seine Beine zitterten leicht. Capestan tat, als würde sie es nicht bemerken.

Um ihren Ehemann nicht länger leiden sehen zu müssen und ihm die Gelegenheit zu geben, sich wieder zu fassen, ließ sie den Blick durch die Wohnung schweifen. Die Einrichtung war, wie sie es nicht anders vermutet hatte, gemütlich, fröhlich und sehr männlich. Ein gewaltiges Bücherregal nahm die gesamte Längsseite des Wohnzimmers ein, bis zum Bersten vollgestopft mit Taschenbüchern, Comicheften, DVDs, Rugbypokalen, Plastikfiguren von Filmcharakteren und kleinen Bildern, hauptsächlich Meeresansichten, die aufs Geratewohl verteilt waren. Ein Esstisch fehlte, dafür entdeckte sie einen einigermaßen aufgeräumten Schreibtisch und dahinter eine gut ausgestattete offene Küche.

Trotz des traurigen Anlasses war Capestan Polizistin durch und durch. Reflexartig tastete sie wie ein Echolot die Umgebung ab, erfasste alle Details und wertete die Daten aus. Und in diesem großen Zimmer fand sie weder Spuren einer Frau noch die eines neugeborenen oder erwarteten Kinds. Nichts deutete darauf hin, dass Paul regelmäßig Besuch empfing. Er schien Single zu sein. Eine seltsame Freude wallte in ihr auf, durchströmte ihre Adern und drängte die Verbitterung und den alten Zorn in die hintersten Winkel ihres Körpers. Doch sie würden bald an ihren angestammten Platz zurückkehren. Capestan wollte diese Freude nicht. Sie nahm sie sich sogar übel.

Die Ecke eines umgedrehten Bilderrahmens erregte ihre Aufmerksamkeit. Er ragte hinter dem Geschirrschrank neben der Küche hervor. Sie erkannte ihn wieder, aus einer so lange vergangenen Zeit, dass sie fast unwirklich anmutete. Den Profilrahmen aus Holz hatte Capestan selbst gebaut, zu Pauls Dreißigstem. Ein mal zwei Meter. Eine Collage aus Fotos, Kinokarten, Kieselsteinen, Konzerttickets, Möwenfedern und anderen Souvenirs von ihren Erlebnissen zu zweit. Damals hatte es nichts gegeben, was der große Star nicht schon gehabt hätte, und kein Geschenk hatte ihn mehr überraschen können. Aber dieses Teil, das man unmöglich aufhängen konnte, hatte ihm die Sprache verschlagen. Glücklich und zufrieden hatte er wie angewurzelt davorgestanden. Noch nie hatte ihm jemand etwas gebastelt. Fünfzehn Jahre später fragte Capestan sich immer noch, was sie damals geritten hatte. Sowohl sie als auch er waren die Schamhaftigkeit in Person, und sie hätten ihre Beziehung niemals derart zur Schau gestellt. In den darauffolgenden Jahren hatten sie die Collage bei jedem Umzug mitgeschleift und irgendwo in der Wohnung versteckt, ohne sich dazu durchringen zu können, sie wegzuwerfen oder wenigstens in den Keller zu verbannen.

Gegen ihren Willen gerührt, richtete Capestan den Blick wieder auf Paul. Eine goldene Strähne verbarg Augen von derselben Farbe.

Er weinte nicht.

Um diesen Vater hätte sie auch nicht geweint.

Trotzdem verzerrte der Kummer seine Züge und ließ seinen Kiefer zucken.

Vielleicht hätte sie etwas sagen, ihn trösten sollen. Vielleicht wollte sie ihn trösten. Doch sie blieb reglos sitzen, tat nichts.

Er starrte sie an, schien ebenfalls nach einem Wort, einem Satz zu suchen, bevor er es sich anders überlegte. Er stemmte sich aus dem Sessel und ging in Richtung Küche, wo er den Wasserbehälter der Kaffeemaschine füllte.

»Willst du auch einen?«

»Ja, bitte.«

Das Schweigen machte sich im Zimmer breit, türmte sich zwischen ihnen auf und versperrte ihnen die Sicht. Die Überreste ihrer Liebe huschten wie Geister an den Fußleisten entlang. Sie fanden nicht die richtigen Worte, weil es die wahrscheinlich nicht gab.

Paul stellte eine Tasse vor sie auf den Couchtisch, mit einem kleinen Stück Zucker und einem Mokkalöffel auf der Untertasse. Dann setzte er sich wieder, seine eigene Tasse in der Hand.

Nachdem er ein paar Minuten darin herumgerührt hatte, fragte er schließlich: »Du bist nicht mit den Ermittlungen beauftragt, oder?«

Die unterschwellige Aggressivität in seinem Ton entging Capestan genauso wenig wie die Resignation. Sie antwortete knapp: »Doch.«

Er stieß einen leisen Seufzer aus und leerte seine Tasse.

»Du konntest ihn nie leiden.«

Die Umstände verlangten ein gewisses Taktgefühl, aber es war sinnlos, das Offensichtliche zu leugnen.

»Nein.«

»Beschmutze sein Andenken nicht.«

Reflexartig nickte sie. Und schalt sich sogleich selbst. Dieses Versprechen würde sie unmöglich halten können.

5.

Commissaire Capestan hatte nicht vor, ewig in diesem Fall zu ermitteln. Und noch weniger, ihn stattdessen eine andere Brigade lösen zu lassen, die dann schnurstracks bei Paul aufkreuzen würde, um ihm den Schuldigen und die lange Liste von Feinden seines Vaters zu präsentieren. Und sicher auch von seinen Verfehlungen.

Sie grübelte über den Tatort nach, zumindest über das, was sie davon gesehen hatte. Die Leiche zur Seite gekippt, die Knie angewinkelt, die Stirn von einer Kugel durchbohrt, die Arme hinter dem Rücken. Der Mörder hatte Serge Rufus gezwungen, sich hinzuknien, bevor er ihn von Angesicht zu Angesicht erschossen hatte. Kein Mitleid, dafür Machthunger oder Rachedurst. Oder die völlige Gleichgültigkeit eines Soziopathen. Dazu noch das Straßenschild. Eine sadistische Dekoration.

Sie suchten einen gefährlichen und zu allem bereiten Mann.

Außerdem erinnerte sie sich an das Gewimmel von Polizisten, die sich alle um den Fall prügeln würden. Dutzende Bullen mit prall gefüllten Archiven, mit modernsten Rechnern und Programmen, Zugang zu Datenbanken und den Mitteln, einen Durchsuchungsbeschluss zu ergattern. Sie scharrten schon mit den Hufen, um ihren Chef zu rächen. Capestan würde ihre Leute motivieren müssen wie nie zuvor.

Sie betrat das Kommissariat, und das Klicken der Tür, die ins Schloss fiel, wurde vom Klacken zweier aneinanderstoßender Billardkugeln beantwortet. Aber nicht alle ihre Mitarbeiter faulenzten im Spielzimmer; ein paar lungerten auch im Wohnzimmer herum, wo Lebreton und Lewitz gerade unter Rosières Anweisungen eine ungefähr zwei Meter große Tanne neben dem Kamin aufstellten. Das Ganze dauerte wohl schon etwas länger, dem erschöpften Ausdruck auf den Gesichtern der Baumträger nach zu urteilen.

Merlot lümmelte auf dem Sofa, eine Zeitschrift in der einen, ein Weinglas in der anderen Hand, und unterstützte Muskelkraft und Entscheidungsfreude der Kollegen durch konstruktive Bemerkungen. »Der Baum steht schief. Weiter nach links, meine Freunde, weiter nach links. Dafür habe ich ein Auge! Ohne mich selbst loben zu wollen …«

»Ha. Wenn Eigenlob nur leise stinken würde«, murmelte Eva Rosière vor sich hin, während sie den Kopf in den Nacken legte, um den Effekt der Zweige im Spiegel zu beurteilen. »Hier ist es perfekt. Mit der Lichterkette sieht das später großartig aus!«

»Genau wie ich gesagt habe«, pflichtete Merlot ihr bei. »Ich habe da einen höchst interessanten Artikel gelesen, in dem …«

Capestan unterbrach ihn, um keine Zeit zu verlieren.

»Entschuldigen Sie, Merlot, aber es gibt Neuigkeiten. Lewitz, trommelst du bitte die Truppe zusammen?«

Brigadier Lewitz schlenderte zum Billardzimmer und steckte den Kopf durch die Tür.

»Versammlung im Wohnzimmer!«

Zusammen mit Dax und Évrard kehrte er zurück. Torrez folgte mit ein paar Schritten Abstand.

»Okay, was sind das für Neuigkeiten?«, fragte Rosière, und ihre rundlichen Finger betasteten mechanisch die Kettenanhänger, die ihre ausladende Brust schmückten. »Werden wir auf die Île de Batz versetzt? Hat man uns zu beweglichen Zielen auf dem Schießstand befördert?«

Mit einer Handbewegung bat Commissaire Capestan sie, ihre Ironie zu zügeln.

»Es gab einen Mordfall, heute Morgen im 14. Arrondissement. Wir sind teilweise mit der Ermittlung betraut.«

Eine völlig unangemessene Welle der Freude wallte durch den Raum. Okay, ein Mann war tot, aber sie hatten ihn ja nicht persönlich gekannt, und außerdem wäre ein neuer Fall die Gelegenheit, endlich ihren Ruf aufzupolieren. Nur Capitaine Rosière, die es mit den Worten immer übertrieben genau nahm, hakte nach: »Teilweise?«

»Die Kriminalbrigade übernimmt den Fall, und die BRI geht ihr zur Hand. Wir …«

»Wir spielen die Lakaien und lassen uns den ganzen Tag wie Verräter behandeln. Ohne mich!«, Rosière fauchte und schnappte sich eine Schachtel Christbaumkugeln.

»Eva …«, fing Anne Capestan an.

»Sie hat recht«, warf Louis-Baptiste Lebreton mit einem fatalistischen Schulterzucken ein.

»Und wenn wir ermitteln, ist am Ende nur wieder ein Bulle der Schuldige«, unkte Évrard und lächelte traurig.

Kaum aufgekommen, war der Schwung auch schon verebbt. Nicht sehr überraschend. In letzter Zeit ähnelte jeder Besuch am Quai des Orfèvres für die Mitglieder ihrer Brigade einem Spießrutenlauf. Einmal hatte ein junger Kollege Évrard sogar zehn Zentimeter vor die Chucks gespuckt. Hätten Capestans Leute nicht auf Abkapselung und das Gruppengefühl gesetzt, wären sie bestimmt längst alle in Depressionen verfallen und hätten sich wieder dem Heer der Abwesenden angeschlossen. So erschienen sie zwar noch zur Arbeit, aber die Antriebslosigkeit hatte sich festgebissen wie eine Zecke auf einem erschöpften Hund.

Merlot holte tief Luft, um seinen Elan wiederzubeleben, und schwenkte seine Zeitschrift. »Also, ich habe diesen hervorragenden Artikel in der Avantages gelesen. Hört euch das an: ›Tiere stellen ihren Geruchssinn in den Dienst der Wissenschaft und der Polizei.‹ Das ist der Titel«, erklärte er, an Dax und Lewitz gewandt. »›Einer Studie des Nationalen Agrarforschungsinstituts zufolge verfügen Schweine über eine größere Anzahl von Riechgenen als Menschen, Hunde oder Mäuse – eine Veranlagung, die in Israel oder den USA bereits dazu genutzt wird, Drogen, Waffen oder Tretminen aufzuspüren. Die französischen Zollbehörden erproben gerade den Einsatz von bretonischen Schweinen.‹ Und das ist noch nicht alles, nein! ›In den Niederlanden verstärken seit Kurzem fünf Ratten die Reihen der Polizei. Sie sind darauf abgerichtet, Schießpulver und Drogen zu erschnüffeln.‹ Ratten und Schweine, ist das zu fassen? Das könnte man sich doch für uns auch mal überlegen, oder?«

Bestürzt beobachtete Capestan, wie alle ihre Freizeitbeschäftigungen wieder aufnahmen, als wäre nichts geschehen. Sie kapitulierten, bevor sie überhaupt wussten, worum es ging. Trägheit hatte sich im Kommissariat häuslich niedergelassen, und die Brigade schien richtiggehend Gefallen an dieser gähnenden Leere zu finden.

»Und für welche Ermittlung bitte? Ihr alle seid so wild entschlossen, euch wie Larven in eurem Vergnügungskokon zu verkriechen, für wen bräuchten wir da Polizeiratten? Hier gibt es keine Polizisten!«

»Commissaire …«

»Was? Als Nächstes kreuzt ihr noch im Schlafanzug hier auf. Das ist die letzte Warnung: Entweder ihr hört euch das Briefing an, oder ich mache das Kommissariat endgültig dicht, und ihr könnt euch unten ins Café setzen, wie alle anderen auch.«

Die Ansprache war in einem ziemlich erbosten Tonfall aus ihr herausgeplatzt. Allmählich forderte ihr Tag seinen Tribut. Damit hatte sie sich schon einmal das Schweigen ihrer Leute gesichert, doch sie wollte auch ihr Interesse gewinnen. Ruhiger, aber immer noch streng, redete sie weiter: »Buron hat uns aus gutem Grund eingeschaltet. Und wir arbeiten nicht für die Kriminalbrigade, sondern mit ihr zusammen. Ich weiß noch nicht, ob der Schuldige ein Bulle ist, Évrard, aber das Opfer ist einer. Ihr kennt ihn bestimmt, zumindest vom Hörensagen: Serge Rufus.«

Jetzt richteten sich die Augen tatsächlich auf das Whiteboard, das dem Tannenbaum hatte weichen müssen. Anne Capestan griff nach einem Marker auf der Stiftablage, öffnete ihn und schrieb »Serge Rufus« in Großbuchstaben auf die Tafel, dann drehte sie sich zurück zu ihrem Team, um die Versammlung zu eröffnen. Sie musste schnell handeln, damit sie die Aufmerksamkeit nicht wieder verlor.

»Bevor er in den Ruhestand gegangen ist, war Serge Rufus eins der richtig hohen Tiere bei der Antigang. Die Jungs vom Quai des Orfèvres werden Himmel und Hölle in Bewegung setzen, um ihren Kollegen zu verteidigen oder ihren Rivalen in den Dreck zu ziehen, je nachdem. Wir sollen die Schweiz geben, die unabhängigen Spürhunde. Und uns um die Spuren kümmern, die die anderen mehr oder weniger absichtlich vernachlässigen.«

»Bekommen wir die gleichen Infos?«, fragte Évrard nach.

»Normalerweise ja. Ein Lieutenant von der BRI soll den Informationsaustausch sicherstellen.«

»Wenn wir also den Fall als Erste lösen, könnte das von ganz oben als Sieg gewertet werden?«, fuhr die unverbesserliche Spielerin fort.

»Als Schmach für die anderen!«, bekräftigte Merlot seine Partnerin.

»Als ordentliche Abreibung«, ergänzte Eva Rosière, weniger aus Spaß, denn um Abbitte zu leisten.

Alle machten es sich gemütlich, um dem Rest des Berichts zu lauschen. Merlot und sein Ego hatten schon den Großteil des Sofas eingenommen, während Évrard, Dax und Lewitz sich auf den freien Rest quetschten. Louis-Baptiste Lebreton blieb an die Wand gelehnt stehen. Eva Rosière schob ihren Polstersessel heran und schloss den Kreis. Ihr Hund saß aufrecht neben ihr, als Einlasssperre. Torrez verzog sich auf seinen Hocker im Flur und steckte nur den Oberkörper ins Wohnzimmer, um dem Gespräch zu folgen.

»Wenn es sich tatsächlich um einen Racheakt aus dem organisierten Verbrechen handelt, dann hat die BRI natürlich Heimvorteil. Dafür haben wir ein paar andere Asse im Ärmel, und zwar ziemlich überraschende, das haben wir ja schon einmal bewiesen, oder?«, betonte Capestan, um ihrer Brigade wieder ein bisschen Stolz einzuhauchen.

»Aber hallo!«, grölte Dax und stieß seinem Kumpel Lewitz in die Rippen.

Die Klingel unterbrach diesen plötzlichen Ausbruch von Ehrgeiz. Lebreton, der bereits stand, ging zur Tür, um den Besucher zu empfangen. Als er sie öffnete, entdeckte er einen Mann, der noch größer war als er, und das kam nicht oft vor – eigentlich musste er nie zu jemandem aufschauen. Besagter Mann hielt sich steif wie ein Brett und hätte bestimmt den gesamten Türrahmen ausgefüllt, hätte er beschlossen einzutreten. Stattdessen begnügte er sich damit, sich vorzustellen und Lebreton einen dünnen Umschlag zu überreichen.

»Lieutenant Diament, Klettereinheit. Hier eine Kopie der bisherigen Akte zum Fall Rufus. Wir warten noch auf die Ergebnisse der Autopsie und der ballistischen Untersuchung, aber in diesem Umschlag befinden sich die Bilder von der Wohnung des Opfers, die Protokolle der Befragung der Nachbarn und die Datenbankeinträge zu einigen Verdächtigen. Ich halte Sie auf dem Laufenden.«

Ohne weiteres Federlesen vollführte Lieutenant Diament eine beinahe militärische Kehrtwendung, marschierte zurück zum Aufzug und drückte auf den Knopf, wobei er Louis-Baptiste Lebreton völlig ignorierte. Der hob nur die Augenbrauen und bedankte sich, bevor er ruhig die Tür schloss.

Alle Köpfe im Wohnzimmer hatten sich ihm zugewandt. Dax und Lewitz wirkten belustigt.

»Habt ihr den gehört? ›Klettereinheit‹. Da macht aber einer auf dicke Hose. Gestatten?« Lewitz streckte die Hand aus. »Brigadier Lewitz, Pingpongeinheit.«

Dax schüttelte sie und erwiderte: »Lieutenant Dax, Nintendoeinheit.«

»Évrard, Paddleballeinheit«, warf Évrard ein und wedelte mit den Händen.

»Merlot, Antifuseleinheit«, schloss der Capitaine in einer Anwandlung von routinierter Selbstironie, die seine Komplizen mit schallendem Gelächter quittierten.

Die vier Spaßvögel schlugen sich mit knallroten Gesichtern auf die Schenkel, während Louis-Baptiste Lebreton Commissaire Capestan den Umschlag brachte. Die öffnete ihn und begann, die Dokumente durchzusehen. Nach und nach reichte sie sie an ihr Team weiter. Ein gelbes Post-it auf einem der letzten Blätter erregte ihre Aufmerksamkeit.

Darauf stand, hastig hingekritzelt: »Geh schön den Sohn trösten und überlass den Rest den echten Polizisten.« In einem plötzlichen Wutanfall verschwamm die Welt vor ihren Augen. Heißes Blut schoss ihr in die Wangen, ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie zwang sich, durch die Nase zu atmen, um den Ausbruch einzudämmen. Sie zerknüllte das Post-it und fuhr mit ihrer Lektüre fort. Allerdings konzentrierte sich nur die eine Hälfte ihres Gehirns auf die Dokumente. Die andere brütete über der Beleidigung und wetzte schon die Messer für eine Revanche.

»Die Telefonabrechnungen reichen nur von Juni bis August. Mehr haben wir nicht?«, fragte Commandant Lebreton erstaunt.

Tatsächlich fehlten die letzten drei Monate, genau wie bei den Kontoauszügen. Alle Dokumente waren verstümmelt, ihres entscheidenden Inhalts beraubt.

»Nein. Anscheinend glänzt die Zusammenarbeit nicht gerade durch Fair Play«, erwiderte Commissaire Capestan und schluckte ihren Zorn hinunter. »Aber das macht nichts, zum Nachdenken brauchen wir die nicht, und den Rest finden wir auch allein heraus. Na los, gehen wir’s an. Immerhin haben wir hier trotzdem schon einiges an Tatbestandselementen«, fügte sie hinzu und klatschte in die Hände. »Also, Serge Rufus wurde durch einen Schuss zwischen die Augen getötet, auf offener Straße, die Hände mit Handschellen hinter dem Rücken gefesselt. Selbst wenn der Autopsiebericht noch nicht fertig ist, deuten die zahlreichen Prellungen im Gesicht darauf hin, dass er geschlagen wurde, vielleicht gefoltert. Aus Vergnügen? Rache? Um ihn zum Reden zu bringen?«

Das galt es zu klären, aber von einer Sache war Anne Capestan überzeugt: Welche Mittel der Mörder auch eingesetzt hatte, es war unwahrscheinlich, dass er diesem Mann nur ein Wort entlockt hatte.

»Auf der Rue Gassendi gibt es zwar kaum Geschäfte, aber sie ist trotzdem zu belebt, selbst nachts, als dass die Prügelaktion draußen stattgefunden haben kann. Höchstens auf dem Cimetière Montparnasse gegenüber. Danach hat man Rufus direkt vor sein Haus geschleift, um ihn zu töten. Die Blutspuren auf dem Bürgersteig sind eindeutig, man hat ihn genau unter dem Straßenschild erschossen. Die Verbrennungen rund um die Eintrittswunde lassen die Verwendung eines Schalldämpfers vermuten. Auch ohne die Ergebnisse der ballistischen Untersuchung würde ich auf eine Neun-Millimeter tippen. Das Modell der Handschellen ist ein anderes als das, das die französische Polizei benutzt, bisher halten die Kollegen es für ukrainisch«, entzifferte Commissaire Capestan von einem dicht bedruckten Blatt. »Wegen der Vorgehensweise und der Handschellen verdächtigt die Kriminalbrigade eine aus Kiew stammende Bande. Vor drei Jahren hat Serge Rufus zwei Mitglieder hinter Gitter gebracht und eins auf die Intensivstation. Die hat es nie wieder verlassen. Diese Männer stehen im Ruf, keine Rechnung unbeglichen zu lassen. Allerdings schließt die BRI auch andere Fährten, andere Banden nicht aus. Rufus und seine Männer haben ziemlich viele Leute verärgert, und zwar nur Starrköpfe. Aber wir sollten die Informationen mit Vorsicht genießen, immerhin kommen sie von schlechten Verlierern.«

Sowohl die Kriminalbrigade als auch die BRI würden in nächster Zeit nicht gerade Däumchen drehen. Selbst wenn sie den Verdächtigenkreis auf zwei, drei Banden einschränkten, würde es Monate dauern, sich durch die Akten zu kämpfen, die Spuren zurückzuverfolgen, die Abläufe zu rekonstruieren und die Zwischenmänner zu identifizieren. Auf diesem Gebiet hatte ihre Brigade keine Chance. Sie mussten in eine andere Richtung denken.