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Beschreibung

"Ich reiste fast mein ganzes Leben lang nur mit Schirftzügen" – das schreibt der in Jerusalem und Tel Aviv ansässige Aphoristiker Elazar Benyoëtz über sein zweisprachiges, sich zwischen den literarischen Welten des Hebräischen und Deutschen hin und her bewegendes Dichterleben. Aus Anlass seines 85. Geburtstags versammelt das vorliegende Buch Wissenschaftliches, Biografisches wie auch Glückwünsche und Grüße, Erinnerungen und Reflexionen von Leser_innen und Wegbegleiter_innen, die seit vielen Jahren mit dem Dichter und seinem Werk vertraut sind. Darüber hinaus enthält der Sammelband ein bislang noch nicht publiziertes, aus dem Jahr 1962 stammendes autobiografisches Dokument des Dichters aus dem Literaturarchiv Wien sowie einen 60 Jahre später von ihm verfassten Text mit dem Titel "Langer Lebenslauf, kurze Lebensgeschichte. Oder: Wird man fertig mit sich, ist die Schöpfung vollendet". Die Festschrift lässt somit nicht nur Freunde und Forschende, sondern auch den Dichter selbst zu Wort kommen.

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Seitenzahl: 516

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BUCHSTABIL

Von Büchern und Menschen

Elazar Benyoëtz zum 85. Geburtstag

Herausgegeben vonClaudia Welz und Anna Rosa Schlechter

Claudia Welz und Anna Rosa Schlechter: Vorwort

WISSENSCHAFTLICHES

Verwendete Siglen

Lydia Koelle: „… ich liebte Gomer“ – Elazar Benyoëtz und Silja Walter. Solothurn 2003 – davor und danach

Friedemann Spicker: „Die Menschen, auf die es ankommt: Du und ich.“ Die dialogische Struktur im Werk von Elazar Benyoëtz

Werner Helmich: Spruchzitate: Funktionen und Gattungsstatus des Zitats in der neueren Aphorismendichtung von Elazar Benyoëtz

Knut Wenzel: Abkürzungen ins Absolute. Werk aus Aphorismen

Libera Pisano: Wohnwort: The linguistic homelands of Elazar Benyoëtz

Jan Kühne, Anna Rosa Schlechter: Bücherblühen – Anfänge aphoristischer Autorschaft bei Elazar Benyoëtz

BIOGRAPHISCHES

Anna Rosa Schlechter & Jan Kühne: Elazar Benyoëtz’ Autobiographische Mitteilungen aus dem Literaturarchiv Wien (ca. 1961)

Claudia Welz: Freundschaft um einen Satz herum: „Alle Siege werden davongetragen“. Aus dem Briefwechsel zwischen Harald Weinrich und Elazar Benyoëtz.

Karl-Josef Kuschel: Elazar Benyoëtz‘ Werk – eine Begegnung

Alfred Bodenheimer: „Ist es denn so wichtig, dass wir in den Himmel kommen?“ Laudatio für Elazar Benyoëtz (2022)

Elazar Benyoëtz: Langer Lebenslauf, kurze Lebensgeschichte. Oder: Wird man fertig mit sich, ist die Schöpfung vollendet

Elazar Benyoëtz: Schließe die Augen und sieh

FESTLICHES

Ruth Debel (Ein Kerem, Jerusalem): Mein Bruder Elazar und die Sprachen

Yakov Z. Mayer (Tel Aviv): Zu Ehren von Rabbi Elazar, möge er leben

Shlomo und Eva Goldberg (Jerusalem): Das Wunder Yoëtz

Hedva Harechavi (Jerusalem): Ewig zuhause auf dem roten Teppich

Benjamin Pollock (Jerusalem): Gruß- und Gratulationsworte zur Einweihung der Elazar-Benyoëtz-Autorenbibliothek

Yizhak Ahren (Jerusalem/Köln): Salut an Sahadutha

Judith Siano (Haifa): Zu Deinem 85. Geburtstag

Wolfgang Mieder (Vermont): Ein Wort gibt das andere – besonders unter Freunden

Giulia Cantarutti (Bologna): „Die deutsche Sprache war der Juden Loreley“

Hans-Jürg Stefan (Bern): Späte Begegnung: Kurt Marti – Elazar Benyoëtz

Claudia Buhlmann (Zollikofen, Schweiz): Tulpenglück

Beat Rink (Basel, Schweiz): Bücher, die man verlegt

Ingeborg Kaiser (Basel, Schweiz): Erinnerungshell

Daniel Glaus (Bern): „Einen Ton auf den Gipfel treiben“

Erich Garhammer (Würzburg): „Wir haben das Wort, aber nicht das Sagen“. Elazar Benyoëtz zum 85. Geburtstag

Hans-Jürgen Quadbeck-Seeger (Bad Dürkheim): Für Elazar Benyoëtz

René Dausner (Hildesheim): Der Akut des Heutigen

Burkhard und Mahnaz Talebitari (Berlin): Meta-Atem

Sarah König (Berlin): Gegenwärtige Erinnerungen und vom Wiederbeginn einer Anverwandlung

Jens Haasen (Berlin): „Ein Versuch, mit mir ein Wort zu wechseln“

Sybilla Flügge (Frankfurt a. M.): In Erinnerung an Rufus Flügge: Fremde Brüder – Elazar trifft Rufus begegnet Elazar!

Silke Alves-Christe (Frankfurt a. M.): Zum Kirchturm hinauf

Andreas Steffens (Wuppertal): Auf seine Weise

Regina Wildgruber (Osnabrück): Einladung, Erinnerung, Ermutigung. Elazar Benyoëtz zum 85. Geburtstag

Kläre Warnecke (Hamburg): Für Elazar Benyoëtz

Michael Dullstein (Reutlingen): Von Herzen verbunden

Andrea Heinz (Freiburg im Breisgau): Jonas kleines Wort

Karl Giebeler (Blaustein-Herrlingen): „Man geht vorbei und kommt dahinter“ – Begegnung mit Elazar Benyoëtz

Kolja Lessing (Würzburg/Stuttgart): Musik in Worten

Sylke Kaufmann (Kamenz): Zwiegespräch mit Lessing

Annette Baltzer (Krefeld): Finden macht das Suchen leichter

Klaus Hübner (München): Darf man ihn weise nennen?

Reinhard Nowak (Schwäbisch Gmünd): Woran erinnere ich mich heute?

Fritz Schollmeyer (Leipzig): Gratulationsgesuch in drei Schritten

Barbara Maria Hoiß (Stams in Tirol): Ein Glückskeks besagt: „Bei Gott! – Wie weit ist es doch“

Karl Müller (Salzburg): Elazar Benyoëtz – Theodor-Kramer-Preisträger für Schreiben im Widerstand und Exil 2010. Sprachreflexion, erhellendes Wortspiel, jüdisches Ratwissen

Ilse Somavilla (Innsbruck): Begegnung mit Elazar Benyoëtz

Franz Josef Czernin (Wien und Steiermark): Variationen für, zu und nach Elazar Benyoëtz

Irene Bulasikis (Mödling, Niederösterreich): „Auch das schönste Jahr bleibt im Kalender stecken“ (Elazar Benyoëtz)

Wolfgang Müller-Funk (Wien und Drosendorf an der Thaya): „Es liegt in der Beschaffenheit der Gewalt, daß sie alles erlangt, was ihr unerreichbar bleiben muß“

Hania Fedorowicz (Salzburg): „Welten verbinden – durch Sprache und Liebe …“

Bernhard Fetz (Wien): Elazar Benyoëtz zum 85. Geburtstag

Die Koppel & König Familie (Wien): Glückwünsche für Elazar

Riccarda Tourou (Wien und Pitten): Der gewagte Schritt zurück

Werner Sulzgruber (Wiener Neustadt): Verbindendes in knappen Zeilen

Carola Tengler (Pitten): Glückwünsche in Farben

Klaus Schneeberger (Wiener Neustadt): Gedanken aus der Geburtsstadt

Helmuth Eiwen (Wiener Neustadt): Elazar Benyoëtz – ein Mann mit Tiefgang

Maximilian Huber (Wiener Neustadt): Im Anfang war das Wort – Begegnungen mit Elazar Benyoëtz

Tabula gratulatoria

MINIATURENVERZEICHNIS

Alle im Buch abgedruckten Miniaturen stammen von Metavel. Dies ist der Künstlername von Renée Koppel, einer international bekannten israelischen Kalligraphin und Miniaturistin, die sich auf biblische Motive und Judaica spezialisiert hat, aber auch florale Themen und nicht-gegenständliche Ornamente mit feinsten Pinselstrichen festhält. Die aus Algerien stammende Künstlerin lebt seit 1960 in Tel Aviv und ist seit 1968 mit Elazar Benyoëtz verheiratet.

Miniatur 1: Espoir et amour (2022)

Miniatur 2: De ma fenêtre (2022)

Miniatur 3: Fleurs et plantes (2022)

Miniatur 4: La fenêtre (2022)

Miniatur 5: La feuille danse (2022)

Miniatur 6: Le cœur de la petite fleur (2022)

Miniatur 7: Le triomphe de la fleur jaune (2022)

Miniatur 8: Regard sur l’automne (2022)

VORWORT

„Ich reiste fast mein Leben lang nur mit Schriftzügen“, schreibt der 1937 in Wiener Neustadt geborene und heute in Jerusalem und Tel Aviv ansässige Aphoristiker Elazar Benyoëtz über sein zweisprachiges, sich zwischen den literarischen Welten des Hebräischen und Deutschen hin- und herbewegendes Dichterleben.

In sein 85. Lebensjahr fallen biographische und werkgeschichtliche Meilensteine, welche diese Festschrift anlässlich seines halbrunden Geburtstages nachzuzeichnen sucht: darunter die Übergabe eines bedeutenden Teils seiner privaten Autorenbibliothek an die Universität Jerusalem, die erste deutsch-hebräische Dichterlesung mit musikalischer Begleitung in Jerusalem, sowie die Wiederauflage seines Klassikers Treffpunkt Scheideweg aus dem Jahre 1990. Dazu kommen traurige Ereignisse wie der Tod seines langjährigen Freundes Harald Weinrich. Das vorliegende Buch erfasst diesen besonderen Lebensabschnitt des Dichters, und zwar in folgenden drei Teilen:

Der erste Teil (Wissenschaftliches) ist ein Wiederabdruck der in der Neuen Digitalen Folge der Zeitschrift Judaica an der Universität Bern erschienenen interdisziplinären Sonderausgabe zum Geburtstag des Jubilars und repräsentiert einen erfreulichen neuen Schwung an akademischer Auseinandersetzung mit Benyoëtz’ Lebenswerk. Forschungsartikel aus den Disziplinen der Literaturwissenschaft und Germanistik, der Theologie und Religionsphilosophie und nicht zuletzt komparative Studien in ‚German-Hebrew Studies‘ bieten neue Einblicke in das Gesamtwerk von Benyoëtz, das stets dialogisch mit Büchern aus vergangenen Zeiten und heutigen Leser_innen in Beziehung tritt. Die sechs Forschungsartikel skizzieren u. a. das „Selbstbildnis in Büchern“, das der Dichter durch seine eigene Auswahl wichtiger Werke seiner Autorenbibliothek vorgezeichnet hat. Die Schenkung von zirka 600 sorgfältig ausgewählten Büchern an das Franz-Rosenzweig-Minerva-Forschungszentrum für deutsch-jüdische Literatur und Kulturgeschichte an der Hebräischen Universität Jerusalem ermöglicht eine davor undenkbare Autorenbibliotheks- und Lesespurenforschung. Im Folgenden seien die sechs Forschungsartikel näher vorgestellt:

Lydia Koelle behandelt in ihrem Artikel „‚… ich liebte Gomer‘ – Elazar Benyoëtz und Silja Walter: Solothurn 2003 – davor und danach“ die Begegnung zwischen Benyoëtz und der römisch-katholischen Ordensfrau Silja Walter bei einer gemeinsamen Dichterlesung im Rahmen der Solothurner Literaturtage. Der Artikel beleuchtet nicht zuletzt theologische Aspekte dieser jüdisch-christlichen Begegnung und deren briefliche Vorbereitung und Fortsetzung.

Aus einer literaturwissenschaftlichen Perspektive nimmt Friedemann Spicker die Rolle der zweiten Person Singular und der Dialogizität in den Aphorismen und zahlreichen Zitaten im Werk des Dichters ins Visier. Spickers Beitrag trägt den unmittelbar an-sprechenden Titel „‚Die Menschen, auf die es ankommt: Du und ich‘. Die dialogische Struktur im Werk von Elazar Benyoëtz“.

Auch Werner Helmich befasst sich mit dem ‚Zitatenwerk‘ bei Benyoëtz in seinem Beitrag „Spruchzitate: Funktionen und Gattungsstatus des Zitats in der neueren Aphorismendichtung von Elazar Benyoëtz“. Helmich präsentiert Benyoëtz aus einer romanistischen Perspektive – nicht nur als Aphoristiker, sondern auch als Philologe und zitierender Kommentator, indem er das Verhältnis zwischen den vom „aktuellen Autor“ stammenden Aphorismen und den von ihm neu ins Blickfeld gerückten Zitaten untersucht.

Knut Wenzel verfolgt eine ähnliche Stoßrichtung in seinen religionsphilosophisch-germanistischen Beobachtungen zum Aphorismus als fragmentarische Figur des Absoluten, welche als „Abbreviatur“ dennoch dialektisch auf das Ganze verweist. „Abkürzungen ins Absolute. Werk aus Aphorismen“ heißt sein Beitrag.

Libera Pisanos Artikel „Wohnwort: The linguistic homelands of Elazar Benyoëtz“ stellt das Werk des Dichters begrüßenswerterweise auch der anglophonen Forschungsgemeinschaft vor. Pisano behandelt ein Thema, das unterschwellig und zuweilen explizit Benyoëtz’ Schreiben bestimmt: die in seiner deutsch-hebräischen Sprachseele ausgetragene Spannung zwischen der geographischen Verortung und der philologischen Herkunft. Diese Spannung prägt, Pisano zufolge, die symbolischen Landschaften seiner Poesie und ist exemplarisch für die Sprachphilosophie der Diaspora.

Während Benyoëtz als Erwachsener seit seinen Reisen nach Deutschland, Österreich und in die Schweiz in den 1960ern die gefühlte Entwurzelung einerseits durch die Gottesbeziehung („Nirgendwo zuhause, / allerwegs in Gottes Hand“) und andererseits die polyglotte Mobilität und Weltenwanderung zwischen den Sprachen und Ländern kompensieren kann, war seine Kindheit und Jugend in Mandat-Palästina und Israel vor allem im Hebräischen. Seine ersten Schritte zum aphoristischen Schreiben im Deutschen unter dem Einfluss des Hebräischen und der jüdisch-orthodoxen Tradition fanden in den späten 1950ern und frühen 1960ern statt, und aus diesem Zeitraum stammen auch einige autobiographischen Mitteilungen von Benyoëtz, die für Margarete Susman gedacht waren.

Deren Ertrag wird im literaturhistorischen Artikel „Bücherblühen – Anfänge aphoristischer Autorschaft bei Elazar Benyoëtz“ von Jan Kühne und Anna Rosa Schlechter ausgewertet, welcher vor allem im Kontext der ‚German-Hebrew Studies‘ die Frühphase des Dichters erhellt.

Der zweite Teil des Buches (Biographisches) lässt zuerst den Dichter selbst zu Wort kommen, in dem bereits genannten, ungefähr aus dem Jahr 1961 stammenden autobiographischen Dokument aus dem Literaturarchiv Wien, das von Anna Rosa Schlechter und Jan Kühne herausgegeben und kommentiert ist und auch für Kenner noch einige Neuentdeckungen zu bieten hat. Somit treffen sich im vorliegenden Geburtstagsband das Jugend- und das Alterswerk des Jubilars.

Als im Februar 2022 der Germanist, Romanist, Linguist und Literaturwissenschaftler Harald Weinrich in hohem Alter verstarb, verlor Benyoëtz mit ihm nicht nur einen Freund, sondern auch den nach eigener Aussage wichtigsten Zeugen seines eigenen Schaffens. Die beiden lernten sich Mitte der 1970er-Jahre kennen und waren über fünf Jahrzehnte hinweg befreundet. Der Dichter hat sich gewünscht, dass sein Freund in der Festschrift ‚mit dabei‘ sei, und daher legen wir eine von Claudia Welz edierte und kommentierte Auswahl aus dem Briefwechsel der beiden vor, die als ein „Gruß, Harald Weinrich in memoriam“, gedacht ist.

In „Elazar Benyoëtz’ Werk – eine Begegnung“ beschreibt Karl-Josef Kuschel, der die im Werk des Dichters auftretenden Verbindungslinien zwischen Theologie und Literatur ebenfalls seit Jahrzehnten interessiert mitverfolgt, rückblickend seinen eigenen Zugang zum Werk von Benyoëtz und seine persönliche Begegnung mit ihm.

In seiner feierlichen Laudatio für den vielfach preisgekrönten Dichter, die im Rahmen der bereits genannten Festveranstaltung am 14. Juni 2022 in Jerusalem gehalten wurde, folgt Alfred Bodenheimer der erinnernden und zugleich vorwärtsschauenden Bewegung, die im Titel des 2000 erschienenen und 2021 neu aufgelegten Benyoëtz’schen Buches Die Zukunft sitzt uns im Nacken angedeutet ist. Betitelt ist seine Laudatio mit der leicht ironischen, sowohl nach oben gerichteten als auch geerdet bleibenden Frage des Jubilars: „Ist es denn so wichtig, dass wir in den Himmel kommen?“

Der zweite Teil der Festschrift wird abgeschlossen mit deutscher und hebräischer Literatur aus der Feder des Gefeierten. Der lyrisch-aphoristische Text „Langer Lebenslauf, kurze Lebensgeschichte. Oder: Wird man fertig mit sich, ist die Schöpfung vollendet“ stammt aus dem Jubiläumsjahr 2022. Es war der Wunsch von Elazar Benyoëtz, dass seinen allerersten, noch von seinem Freund Jakob Mittelmann ins Deutsche übersetzten autobiographischen Mitteilungen aus den frühen 1960ern ein reifes, 60 Jahre später entstandenes Werk an die Seite gestellt werde, und diese beiden Texte rahmen nun im Sinne einer Inclusio den biographischen Teil des Buches ein, ergänzt durch das zweisprachige Jugendgedicht „Schließe die Augen und sieh“, aus dem Hebräischen übersetzt von Paul Engelmann.

Abgerundet wird der Band im dritten Teil (Festliches) mit über 50 individuellen Glückwünschen und Grüßen, Erinnerungen und Reflexionen von Leser_innen und Wegbegleiter_innen aus verschiedenen Ecken und Enden der Welt, die seit vielen Jahren mit dem Dichter und seinem Werk vertraut sind. Die Texte sind nach einem sowohl geographischen Prinzip als auch thematisch nach Stichwortverbindungen geordnet:

Zuerst kommen hebräische Texte aus Israel, dem Lebensort des Dichters (übersetzt ins Deutsche von Anna Rosa Schlechter), dann folgt ein Gruß aus den USA, bevor aus vielen Orten in Europa Grüße nach Tel Aviv bzw. Jerusalem geschickt werden: aus Italien, der Schweiz, aus Deutschland und schließlich aus Österreich, dem Geburtsland des Dichters.

Die vielstimmigen Geburtstagsgrüße bestehen aus kleinen Texten, die auch Gedichte, Fotos, Zeichnungen, Bilder, Briefzitate und vieles mehr umfassen. Sie repräsentieren damit die phantasievoll-künstlerische und schreibfreudige Leserschaft von Benyoëtz. Den Abschluss der Festschrift macht die 120 Namen umfassende Tabula gratulatoria.

Im Titel des Buches haben wir eine wundervolle Wortschöpfung des Dichters aufgegriffen: BUCHSTABIL verbindet in der Liebe zum Buch als eine unverrückbare Konstante im Leben von Benyoëtz das Bibliophile und Stabile. Dabei kommt es beim ‚Buch der Bücher‘ auf jeden einzelnen Buchstaben an, dessen Bedeutung Generationen von Lesenden noch heute nach-denken. Benyoëtz’ Lieblingsbücher sind Bücher von Menschen für Menschen, um des Menschen und der Menschlichkeit willen. Benyoëtz bezeugt überdies die Erfahrung, dass wir für die Herkunft der Gedanken, die uns ‚durch den Kopf gehen‘, keine Rechenschaft ablegen und uns die ‚Geistesblitze‘ auch nicht völlig aneignen können, wodurch er die Möglichkeit ihres transzendenten Ursprungs offenhält und mitten in unserer säkularen Welt noch Raum lässt für das Unerwartete und Unwahrscheinliche, ja Gewagte am religiösen Glauben an eine göttliche (Mit-)Autorschaft.

Die Relevanz der besonders im jüngsten Werk von Benyoëtz zunehmenden Zitate aus kaum mehr bekannten, längst vergriffenen Büchern aus versunkenen Literaturwelten liegt im Gedenken an deren ansonsten vergessene Verfasser, deren Stimmen im Herbeizitieren wieder laut und deren Werke uns wieder zu lesen nahegelegt werden („Zitieren – ins Nachleben rufen“). Dies geschieht in Verlängerung der gigantischen Erinnerungsarbeit in der vom Jubilar initiierten Bibliographia Judaica. Grazil und buchstabil, verlässlich und überraschend.

Die Festschrift lässt somit nicht nur Freunde und Forschende, sondern auch den Dichter selbst zu Wort kommen und setzt die 2012 mit dem bei Braumüller erschienenen Buch Olivenbäume, die Eier legen begonnene Tradition fort, Primär- und Sekundärliteratur zwischen zwei Buchdeckeln zu kombinieren. Die Festschrift ist geschmückt mit zierlichen, farbkräftigen Miniaturen von Metavel.

Wider Erwarten ist somit das ursprünglich geplante Geburtstagsheft zu einem dicken Buch angewachsen. Das war so nicht geplant, hat sich aber so gefügt. Diese Fügung entspricht einem weiteren Wunsch des Jubilaren. Das Fest und die damit verbundenen Gaben haben wir von langer Hand geplant. Zusammen mit Michael Bongardt, René Dausner, Katharina Heyden und Jan Kühne haben wir, die Herausgeberinnen, schon vor Monaten überlegt, was wir dem Dichter auf seinen diesjährigen Geburtstagstisch legen wollen, und dieses Buch ist nur ein Ergebnis unserer Überlegungen. Ein weiteres Geschenk liegt in Michael Bongardts Initiative, Freunde des Dichters zu einer „Geteilten Lesung“1 einzuladen und ihre Stimmen mit Musik zwischen den von ihnen vorgelesenen Benyoëtz-Lieblingstexten zu verewigen. Wir danken auch der Österreichischen Botschaft für die Kooperation und die finanzielle Unterstützung bei der Jerusalemer Festveranstaltung im Juni 2022, dem Pianisten Paul Gulda für die musikalische Gestaltung des Abends und dem Franz-Rosenzweig-Minerva-Forschungszentrum für die Organisation.

Außerdem danken wir allen an den Geburtstagsvorbereitungen und am Erscheinen des Buches Beteiligten, sowohl den Mit-Verfasser_innen und der Künstlerin Metavel als auch denen, die hinter den Kulissen mitgearbeitet haben an dem, was wir nun in unseren Händen halten: Bernhard Borovansky für die umsichtige Betreuung des Bandes beim Verlag Braumüller; Paul Haberfellner und Monika Paff für das gründliche Lektorat; Dr. Matthias Käser und Andrea Heinz für das hochkompetente Korrekturlesen in der letzten Runde; dem Judaica-Team in Bern, allen voran Denis Maier für seinen großen Einsatz, René Bloch und Alfred Bodenheimer für die angenehme Zusammenarbeit und die Erlaubnis zum Wiederabdruck der wissenschaftlichen Artikel; dem Franz-Rosenzweig-Minerva-Forschungszentrum an der Hebräischen Universität in Jerusalem für die freundliche Kooperation rund um die Autorenbibliothek, darunter Benjamin Pollock, Naama Seri-Levi, Tammy Bashmashnikov und Ma’ayan Aharony; Familie Weinrich für die bewegende Korrespondenz und Genehmigung zum Abdruck der Briefe Harald Weinrichs; der Stadt Wiener Neustadt unter der Leitung von Bürgermeister Klaus Schneeberger und der Irène Bollag-Herzheimer-Stiftung in Basel für die großzügigen Druckkostenzuschüsse, welche das Erscheinen dieses Glückwunsches in Buchform ermöglicht haben.

Last but not least danken wir dem Gefeierten selbst: für zahlreiche Hinweise, die uns auf alte und neue Spuren gebracht haben, für die andauernde Versorgung mit Denk- und Lesestoff und das beständige Im-Dialog-Bleiben, getragen von einer langzeithaltbaren, sich bei jeder Begegnung wieder erneuernden Freundschaft, und vor allem für die offenen, herzerwärmenden und uns in ihrer bahnbrechenden Art immer auf die eine oder andere Weise weiterbringenden Worte, ob mündlich zugesagt oder schriftlich zugesandt.

Dankeschön, lieber Elazar – wir wünschen Dir Gesundheit und Kreativität und bei allem, was Du tust und lässt, Gottes reichen Segen und Schutz!

!עד מאה ועשרים

Sommer 2022

Die Herausgeberinnen:

Claudia Welz (Universität Aarhus)

Anna Rosa Schlechter (Hebräische Universität Jerusalem & Universität Wien)

1Geteilte Lesung. Elazar Benyoëtz zum 85. Geburtstag (2022). Redaktion Michael Bongardt; Tontechnik: Ole Nielsen. Privates Geschenk, Verkauf und Kopie nicht gestattet.

I. WISSENSCHAFTLICHES

Verwendete Siglen

Literatur von Elazar Benyoëtz

Ad

Allerwegsdahin. Mein Weg als Jude und Israeli ins Deutsche. Zürich/Hamburg: Arche, 2001.

AK

Annette Kolb und Israel. Heidelberg: Lothar Stiehm, 1970.

Aw

Aberwenndig: Mein Weg als Israeli und Jude ins Deutsche. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2017.

BK

Die Eselin Bileams und Kohelets Hund. München: Carl Hanser, 2007.

Br

Brüderlichkeit. Das älteste Spiel mit dem Feuer. München/Wien: Carl Hanser, 1994.

Ei

Eingeholt. Neue Einsätze. München: Carl Hanser, 1979.

EU

Der eingeschlagene Umweg. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

Einsprüche. Neue Einsätze. München: Carl Hanser, 1979.

Fa

Fazittert. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

Fe

Feindeutig. Eine Lesung. Würzburz: Königshausen & Neumann, 2018.

FF

Der Mensch besteht von Fall zu Fall. Aphorismen. Leipzig: Reclam, 2002.

Fi

Filigranit. Göttingen: Steidl, 1992.

FS

Finden macht das Suchen leichter. München–Wien: Carl Hanser, 2004.

FS2

Finden macht das Suchen leichter. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

G

Gottik. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019.

H

Hörsicht. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1994.

Im

Ichmandu. Eine Lesung. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 2000.

LL

Lebtag und Leseabend, herausgegeben von Alfred Miersch. Wuppertal: NordPark, 2018.

N

Nadelind. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2019.

O

Olivenbäume, die Eier legen. Wien: Braumüller, 2014.

P

Paradiesseits. Eine Dichtung. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1992.

Q

QuerSchluss. Herrlingen bei Ulm: Wölpert, 1995.

S

Scheinhellig. Variationen über ein verlorenes Thema. Wien: Braumüller, 2009.

Sa

Sandkronen. Eine Lesung. Wien: Braumüller, 2012.

Tr

Träuma. Herrlingen bei Ulm: Herrlinger Drucke, 1993

TS

Treffpunkt Scheideweg. München/Wien: Carl Hanser, 1990.

U

Der eingeschlagene Umweg. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

V

Variationen über ein verlorenes Thema. Wien: Carl Hanser, 1997.

VV

Vielleicht – Vielschwer. Aphorismen. München: Carl Hanser, 1981.

Vz

Vielzeitig. Briefe 1958–2007. Bochum: Brockmeyer, 2009.

WE

Was sich ereignet findet nicht statt. Solothurner Lesungen 2016 und 2003. Im Gedenken an Silja Walter, Sr. M. Hedwig OSB, herausgegeben von Paul Rutz und Hans-Jürg Stefan. Wuppertal: NordPark, 2017.

ZN

Die Zukunft sitzt uns im Nacken. München/Wien: Carl Hanser, 2000.

ZN2

Die Zukunft sitzt uns im Nacken. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2020.

Sonstige Literatur

Bw

Beziehungsweisen. Elazar Benyoëtz: Ein Porträt aus Briefen, herausgegeben von Friedemann Spicker. Tübingen: Narr Francke Attempto, 2019.

GA

Silja Walter. Gesamtausgabe. 12. Bde., herausgegeben von Ulrike Wolitz. Freiburg/Schweiz: Paulus, 1999–2022 (Bd. 12 erscheint im Okt. 2022).

GW

Das gerichtete Wort. Briefe von und an Elazar Benyoëtz (Briefauswahl online), herausgegeben von Barbara Hoiß, Julija Schausberger. Mit einem Editorial von Johann Holzner. 2007, https://www.uibk.ac.at/brenner-archiv/editionen/Benyoëtz/.

„… ICH LIEBTE GOMER“ – ELAZAR BENYOËTZ UND SILJA WALTER.

Solothurn 2003 – davor und danach

Lydia Koelle

Abstract: This paper deals with the encounter between the German-writing, Israeli author Elazar Benyoëtz and the Swiss author and Roman-Catholic nun Silja Walter in connection with their poetry reading at the Solothurner Literaturtage (St. Ursen Cathedral, 2003). The article explores their working process, their correspondence, and their dialogue about Silja Walter’s interpretation of the biblical woman Gomer in the Book of Hosea.

[…] am Kanal die Lilien / das Mohnfeld / der Tulpenbaum /und alle Welt sonst noch / auf Erden dreht sich /getragen geschoben / gerissen / auch wenn sie nicht will /mit Gomer in Gottes Kommen hinein.

Silja Walter, Der Tanz der Welt1

Am frühen Abend des 1. Juni 2003 kam es in Solothurn zu einem einzigartigen Zusammenwirken von Elazar Benyoëtz und Silja Walter, der Schweizer Dichterin und Benediktinerin im Kloster Fahr mit dem Ordensnamen Sr. Maria Hedwig OSB. Gemeinsam gestalteten sie mit ihren Texten eine „moderne Vesper“ in der katholischen St. Ursen-Kathedrale als „krönenden Abschluss“2 der 25. Solothurner Literaturtage.3

„Finden macht das Suchen leichter“ ist ihre Lesung überschrieben und gefunden hat Benyoëtz Silja Walter schon lange vor dem Ereignis in Solothurn: Bereits vierzig Jahre zuvor hatte er zwei Gedichte von Silja Walter in der Anthologie Widerspiel. Deutsche Lyrik seit 1945 (Darmstadt 1961) gelesen, die der Herausgeber Hans Bender ihm während Benyoëtz’ Deutschlandaufenthalt 1963 geschenkt hatte.4 Die „entscheidende Begegnung mit Silja Walters Lyrik“ war jedoch, so Benyoëtz, als er von Hilde Schultz-Baltensperger, Kirchenrätin aus dem Thurgau, eine Ausgabe von Silja Walters Gesammelte Gedichte (Zürich, neue, ergänzte Auflage 1972) erhielt. Benyoëtz weiß noch den Ort und das Datum der Gabe der „Gedichte, die ich liebte“5: „Weinfelden, 25.3.82“6. Ein Gedicht aus der Sammlung hatte sich ihm nachhaltig eingeprägt, vielmehr die letzte Strophe von Silja Walters Gedicht „Im Regen“: „Wie reiten tief die Vögel! / Sie lassen vom Winde sich drehn. / Der Regen zerschlägt die Segel, / Mich lässt er stehn.“7 Er zeigt sich fasziniert vom überraschenden Bild der reitenden Vögel und von der ambivalenten Schlusszeile, von den Naturgewalten verschont bzw. nicht beachtet zu werden: „‚Die Vögel reiten tief‘ – sie, Silja Walter, wird die Vögel reiten“8, schreibt Benyoëtz in der Festgabe zu Silja Walters 90. Geburtstag und umschreibt damit, in ähnlich kühner Sprache wie die Autorin, anerkennend deren Sprachmacht und dichterische Souveränität, Metaphern und sprachliche Mehrdeutigkeit zu kreieren.

1 | Die Vorgeschichte

Wie kam es zur Lesung der beiden in der Solothurner St. Ursen-Kathedrale? Die Vorbereitung dazu reicht in das Jahr 1999: Paul Rutz, gerade zum Stadtpfarrer an der Kathedrale berufen, lud Elazar Benyoëtz zu einem Leseabend ein, musikalisch begleitet von den Dom-Singknaben. Rutz hatte während seines dreimonatigen Gast-Aufenthalts in der Dormitio-Abtei auf dem Zionsberg in Jerusalem Benyoëtz kurz zuvor kennengelernt – bei einem ihn sehr beeindruckenden Lese-Event mit Texten aus Benyoëtz’ Buch Variationen über ein verlorenes Thema (1997). Studierende des „Theologischen Studienjahres“ 1998/1999 trugen in der Abtei-Kirche der Hagia Maria Sion Textabschnitte daraus vor. Elazar Benyoëtz berichtet:

Die Studierenden sprachen je nach Wahl und Temperament ihr Credo aus dem Buch, begleitet von allen Instrumenten, die über die ganze Kirche, unten und oben verteilt waren, endend mit einer Gesangsstimme. Die Lesung wurde zu einem musikalisch-religiösen Ereignis.9

Es muss eine geradezu mystische Stimmung gewesen sein. Benyoëtz las seinen Text über Abraham.10 Paul Rutz hatte am selben Tag an einer Exkursion nach Tel Dan teilgenommen, wo Archäologen ein Stadttor aus der Zeit Abrahams gefunden hatten. Die Konstellation mit Benyoëtz’ „Abraham“-Text berührte ihn: „Diese Lesung prägte sich mir als Schlüsseltext ein“11, schrieb Rutz noch Jahre später. Er wünschte sich, Ähnliches auch in der St. Ursen-Kathedrale mit Benyoëtz zu verwirklichen. So überraschte er den Autor eines Abends mit einem Anruf und Lesungsangebot. „Wir haben uns schnell geeinigt, doch hatte auch ich einen Wunsch“12, erinnert sich Benyoëtz an dieses Telefonat:

Ich mochte nicht allein in der Kirche auftreten, die Stimme Jakobs nimmt sich nicht gut aus in der Kirche, geschweige denn in einem Dom; sie käme auch leicht um ihre Wirkung, weil alle Erwartungen, zumal die falschen, schon im Raum stünden, der nicht gewohnt ist, einem Juden ohne christliche Erwartungen zuzuhören. Um ihm folgen zu können, muss man den Kirchenraum verlassen, sich auf einen neutralen, nicht elektrisierten Boden begeben. Damit ich wortgetreu gehört werde, brauche ich keine Lautverstärker, sondern eine zweite, mir nicht fremde, sich deutlich artikulierende Dichterstimme. Ich dachte an Silja Walter, und mein Wunsch ging dahin, mit ihr den Abend in Solothurn zu bestreiten.13

Wusste Elazar Benyoëtz zu diesem Zeitpunkt, dass Silja Walter, die in der Schweiz sehr bekannte christliche Dichterin, inzwischen achtzigjährig als Sr. M. Hedwig im Kloster Fahr am Rande von Zürich lebte, als er seinen Wunsch nach einer Duo-Lesung mit ihr aussprach? Pfarrer Rutz jedenfalls machte sich von Solothurn aus auf den Weg zum Benediktinerinnenkloster Fahr, denn auch er war, so Benyoëtz, von der Duo-Idee „angetan“14. Ob er Benyoëtz’ Vorbehalte nachvollziehen konnte oder nicht – die Begegnung eines Juden aus Israel und einer katholischen Nonne im (biblischen) Wort und im Raum einer Kathedrale muss auch für Paul Rutz ein faszinierender Gedanke gewesen sein. Nur Silja Walter, um die es ging, spielte nicht mit: Paul Rutz konnte sie nicht davon überzeugen, sich auf dieses Projekt der Zusammenarbeit und gemeinsamen Lesung mit einem für sie unbekannten Juden und Autor aus Israel einzulassen.

Wie die Situation auf Seiten von Sr. Hedwig im Kloster Fahr aussah, erfahren wir in ihrer Glaubensbiographie Das dreifarbene Meer (Freiburg/Schweiz 2009), die sie in ihrem 90. Lebensjahr schrieb. Daraus wird ersichtlich: Die Anfrage von Rutz ist nur eine unter vielen, er ist einer von vielen Menschen, die auf die Dichterin Silja Walter zukommen, im Sprechzimmer des Klosters auf sie warten, einen Film mit ihr drehen (wollen), ihre Aufmerksamkeit fordern, ihre Zeit. „Öffentlichkeit“, schreibt die Benediktinerin, sei nicht das, was sie suche. Dafür sei sie nicht in ein geschlossenes Kloster gegangen:

Ich weiß, Bücher schreiben, die gelesen werden, heißt auch, in der Öffentlichkeit erscheinen. Aber dann erscheint eben das Buch und nicht ich. Die Bücher können sie haben, mich nicht. Das hab ich so in mir, wie ein sich von selbst gefällter Entschluss.15

Im Jahr 2000 reist Elazar Benyoëtz also erst einmal ohne Silja Walter nach Solothurn, um auf Einladung von Paul Rutz eine Lesung in der St. Ursen-Kathedrale zu halten. Benyoëtz’ Frau Renée Koppel reist ebenfalls mit und präsentiert unter ihrem Künstlerinnennamen Metavel in der Solothurner Kathedrale ihre kalligraphischen Miniaturmalereien zu biblischen Texten und Themen.16 Außerdem liest Benyoëtz gemeinsam mit jungen Menschen eines Gymnasiums seine Aphorismen, so, wie mit den Studierenden in der Dormitio-Abteikirche auf dem Jerusalemer Zionsberg.

Elazar Benyoëtz musste also auf die Erfüllung seines Herzenswunsches noch warten und Pfarrer Rutz gab seinerseits nicht auf, bei Silja Walter um eine gemeinsame Lesung in Solothurn zu werben. Die Gunst der Stunde kam in Gestalt einer Einladung der Solothurner Literaturtage an die christlichen Kirchen, sich an dem 25. Jubiläum im Jahr 2003 zu beteiligen. Die Lesung in der Kathedrale sollte der Schlussstein des Festereignisses sein. Diesmal willigte Silja Walter ein, im Rahmen der Solothurner Literaturtage, der wichtigsten Literaturveranstaltung der Schweiz, die noch dazu 1978 von ihrem verstorbenen Bruder Otto F. Walter (1928–1994) mitgegründet worden war, gemeinsam mit Elazar Benyoëtz zu lesen – wie hätte sie sich auch dieser Anfrage entziehen können? Und doch, Paul Rutz berichtet rückblickend:

Es brauchte viel Überzeugungsarbeit, sie zum Mitwirken zu bewegen. Mit Hilfe von Frau Dr. Ulrike Wolitz, der Herausgeberin des Gesamtwerkes von Silja Walter, gelang es zu guter Letzt. Silja Walter wünschte jedoch, dass eine geübte Sprecherin zum Vortragen ihrer Texte eingeladen werde, da sie nicht alles selber sprechen wolle. Der Name der bekannten Schauspielerin Maria Becker fiel. Sie wurde eingeladen und sagte zu.17

Eine dritte Stimme in der Lesung – Elazar Benyoëtz hatte zunächst Bedenken, „stimmte aber freudig zu, es könnte und es sollte ein Gewinn sein“18, wird er später schreiben.

Die Schauspielerin und Rezitatorin Maria Becker, geboren 1920 in Berlin als Spross einer Schauspieler-, Übersetzer- und Schriftstellerfamilie, die mit ihrer jüdischen Mutter 1936 vor der Hitler-Diktatur erst nach Österreich und dann 1938 in die Schweiz fliehen musste – ist sie nicht wie ein Bindeglied zwischen den unterschiedlichen Herkünften von Silja Walter und Elazar Benyoëtz, wie eine Stimm-Brücke zwischen beiden?

2 | Der Prozess der Vorbereitung im/als Briefwechsel

Elazar Benyoëtz schreibt über die Zeit der Vorbereitung in seinem Festbeitrag aus Anlass von Silja Walters 90. Geburtstag ganz offen:

Nun begann die Arbeit – eine Kette von Verunsicherungen. Es wollte nicht bald eine Zusammenarbeit werden, es war eher die Arbeit von zweien, die lieber das Aneinander-vorbei [sic] übten. Ich sah mich harten Prüfungen ausgesetzt, hatte mir aber vorgenommen, nicht aufzugeben, weil mir Silja Walter teuer war, und ich bildete mir nur zu gern ein, sie zu neuen Gedichten „älteren Schlags“ anregen zu können.19

Paul Rutz und Elazar Benyoëtz sind beide in die Vorbereitung der „modernen Vesper“ involviert – in verschiedenen Rollen: Paul Rutz ist Gastgeber (und Hausherr) in der Kathedrale, Benyoëtz und Silja Walter sind die Eingeladenen, auf die es ankommen wird. In einem Brief vom 29. November 2002 schreibt Benyoëtz an Rutz, dieser solle „den Ton angeben (Sie haben das milde und mildernde Wort)“20 – Rutz hatte ihm seine Gedanken zur Vesper gesandt –, die „Regie“ möchte er, Benyoëtz, selbst übernehmen. Er schreibt an Rutz:

Ich will die Worte kosten und auch auf ihre Tragfähigkeit prüfen können. Es muss mit Herz (Sympathie und Übereinstimmung) und Kopf (Kontrast) komponiert werden – im Angesicht Gottes, also nicht zu fromm und nicht zu weich. Eine moderne Vesper eben. Wir müssen von etwas reden, worüber andere (und wir selbst als andere) lieber schweigen. Es darf uns nicht leicht über die Lippen gehen. Schwester Hedwig kennt Silja Walter besser als ich, für mich sind beide in dem einen Wort vereinigt: „Tanzen heißt / auferstehen.“ Ich habe alle Sympathie für sie, ich könnte sogar von Liebe sprechen.21

Jetzt, wo sein Wunsch nach einer gemeinsamen Lesung mit Silja Walter in der St. Ursen-Kathedrale in Erfüllung gehen kann, scheint Benyoëtz mit ambivalenten Gefühlen bzw. Befürchtungen zu kämpfen: Dass der Ort der Lesung und seine katholische Lesungs-Partnerin, natürlich in ihrem Ordenskleid mit Schleier, die Veranstaltung auf eine Weise prägen könnten, dass es von seiner Seite einer Gegensteuerung, eines „Kontrastes“ bedürfe, der nur durch die Auswahl der Texte erreicht werden kann: „nicht zu fromm und nicht zu weich“. In Silja Walters Gedichtzeilen „Tanzen heißt / auferstehen“22 wird von ‚Letzten Dingen‘ mit Leichtigkeit und anschaulich-lebendig gesprochen – authentisch, in einer anderen als der sonst gewohnten Glaubenssprache. Dem zollt Benyoëtz seine Anerkennung.

In einem weiteren Brief an Paul Rutz vom 4. Dezember 2002 geht Benyoëtz noch ausführlicher auf die Herausforderungen von „katholisches Gotteshaus“ und „gemeinsame Dichterlesung eines Juden und einer Nonne“ ein. Zunächst reagiert er auf eine Frage bzw. Befürchtung seiner Lesungs-Partnerin, die nicht näher benannt wird: „Dass für Silja Walter das Wort Person ist, weiß ich, es bliebe auch keinem verborgen, wer diese Person ist. Sie ist katholisch und lebt im Kloster. Ihr Wort ist in jedem Fall Person, es drückt sie aus, färbt auf sie ab; sie steht im Wort.“23 Es ist „das Wort, das Fleisch geworden ist“, von dem der Johannes-Prolog spricht, auf das Benyoëtz hier anspielt – das Wort, das Jude geworden ist.

Elazar Benyoëtz ringt mit seiner Rolle. Und findet seinen Standpunkt. Er schreibt an Paul Rutz:

Mir stellt sich die Frage so: Ist die Kirche der Rahmen – oder sinds [sic] die Solothurner Literaturtage.

Sinds [sic] die Literaturtage, dann müssen meine Texte nicht Theologie sein; es genügt, wenn sie – und gerade im Kirchenraum – beunruhigen oder bewegen. Vielleicht kommt auch Gott dann kurz vorbei, weil er sich denkt, die Kirche ist groß, das Wort aber ohne Aufheben. Wie schwer ist es doch, mit Worten, die nicht Psalmen sind, Gott zu gefallen. Und wie oft kommt es schon vor, dass Gott zur Predigt erscheint. Der Zusammenklang – er muss erst erzeugt werden. Ich hielt es für möglich, wollte mich vor allem aber auch gern überraschen lassen. Ich verlasse mich darauf, darum verlasse ich das mir Vertraute. Ich bin in der Kirche Gast, aber das werden auch andere sein, die nur darum kämen, weil sie dem Dichterwort noch einmal in einem sakralen Raum die Chance geben wollten.24

Der „Zusammenklang“ muss erst erzeugt werden – diese Aufgabe nimmt Benyoëtz sehr ernst und er ist sich des Risikos bewusst, vertraute Pfade bei der Vorbereitung zu verlassen. Er hat das Plus, dass er den Ort der Veranstaltung bereits kennengelernt hat und in Paul Rutz einen verlässlichen Mitstreiter für das Gelingen der Lesung zur Seite hat, der auch immer wieder die Brücke der Kommunikation zu Silja Walter baut.

Am 9. Dezember 2002 wendet sich Elazar Benyoëtz mit herzlichen Worten der Anerkennung an Silja Walter:

Wichtig ist: Ihr Dasein, Dabeisein, Sprechen: für den Glauben, für sich, mit mir. Damit haben wir jetzt begonnen und müssen uns weiter keine Gedanken machen. Wir haben Zeit: wir sprechen miteinander. Zu Ihrer Erfahrung, auch der als Nonne. Die tiefste steht in Ihren Gedichten.

Sie sind kostbar, weil sie schmerzlich beschwingt vom Glück sprechen. Das ist alles und kann alles „mehr“ entbehren, umso leichter: wenn Sie das, was unvermindert in die Welt hinaus will, Wort für Wort entbinden und in den Raum entlassen. Alles andere – oder weitere – ob Sie es wollen oder nicht – ist Wirkung. Das Wort, an das sie glauben, soll’s bewirken. Es wäre mehr als Lebensgeschichte. Diese Wirkung wünsche ich Ihnen, auch mir, auch uns.

Und nun wünsche ich Ihnen heitere Tage, bei froh bleibender Botschaft, und neue Strophen für Ihr hohes Lied.25

Der Brief klingt zuversichtlich und ermutigend, doch Ende Dezember 2002 schreibt Benyoëtz in einem Brief an René Dausner, der beim Bonner Theologie-Professor Josef Wohlmuth eine Dissertation über Benyoëtz’ Werk vorbereitet:

Kennen Sie, kennt Josef Wohlmuth die katholische Dichterin Silja Walter (Schwester Hedwig im Kloster Fahr bei Zürich)? Ich soll mit ihr zusammen den Gipfel der bevorstehenden Solothurner Literaturwochen bilden – in der dortigen Kathedrale – ich war bereit und freute mich (in Erinnerung an ihr Frühwerk), nun bekomme ich Texte zugeschickt, die mir die Sache (jenseits von Gut und Böse) erschweren.26

Welche Texte er konkret meint, schreibt Elazar Benyoëtz nicht. Es wird aber klar, dass sein Versuch, an sein prägendes Erlebnis mit Silja Walters früher Dichtung anzuknüpfen, unrealistisch ist. Benyoëtz seinerseits schickt eigene Texte: Mit ihnen will er sich Silja Walter „vorstellen, sie ermutigen oder warnen – in ihr Vertrauen erwecken, sie zu einem Gespräch ermuntern und – das mir wichtigste – sie womöglich zu neuen Texten anregen“27, so Benyoëtz in einem Brief an Paul Rutz vom 7. Januar 2003. Dass Silja Walter eine dichtende Nonne in einem klausurierten Kloster ist, beschäftigt ihn. Er denkt dabei auch an die Jüdin Edith Stein – „die absolute Ausnahme“28 –, die zum Katholizismus konvertierte und mit dem Ordensnamen Teresia Benedicta a Cruce in den Karmel eintrat, 1942 aus einem niederländischen Kloster deportiert und in Auschwitz-Birkenau ermordet wurde. Auch sie schrieb, neben philosophischen Abhandlungen und Vorträgen, Gedichte, Gebete, kleine Stücke und ihre unvollendete Familienbiographie Aus dem Leben einer jüdischen Familie.

Benyoëtz betont in seinem Brief an Rutz Silja Walters dichterische Berufung, noch vor deren eigener Entscheidung, ihre religiöse Berufung als Ordensfrau zu leben: „Sie hat ihre Rolle im Kloster, ihren Platz in der Poesie. / Ins Kloster wollte sie gehen, zur Poesie hat sie Gott selbst gerufen.“29 Nach Benyoëtz ist die von Gott gegebene dichterische Berufung ein Dienst am Wort, sie darf weder eifernd noch ehrgeizig ausgeübt werden: Benyoëtz’ Postulat, „keine Lanze für IHN brechen“30 aus seinem Brief an Rutz, deute ich im Sinne dieser Selbstrücknahme des Schreibenden, der seine Sprach-Begabung als (göttliche) Berufung annimmt, jedoch nicht als Auftrag zu reiner Bekenntnisliteratur ausübt. Überzeugen soll nicht das Bekenntnis, sondern muss die Literatur selbst:

Wir bedürfen keiner Erklärung und keines Schutzes, keiner Krücke und keines Zauberstabs: wir haben das Wort oder wir haben es nicht; und haben wir’s auch, so haben wir das Sagen doch nicht.

Und das ist von Bedeutung. Wir sind Verräter am Wort, sobald wir meinen, das Sagen zu haben. Was nicht zündet, leuchtet nicht ein.31

Benyoëtz bietet in seinem Brief Rutz abermals an, für das Programm der Lesung die Regie zu übernehmen, für seinen Part möchte er aus seinem „Abraham“-Text lesen und bittet um die Konzentration auf eine Duo-Lesung, begleitet von Orgelspiel und mit keinen weiteren Akteuren. Er wünscht sich einen „dichterischen Austausch“: „Wenn Silja Walter Neues schreibt, steckt es mich vielleicht an. In jedem Fall sollte sie die schönsten Gedichte aus ihrem ‚ewigen Vorrat‘ in Solothurn lesen, darauf käme es an.“32 Benyoëtz will für sich und Silja Walter aus der Ferne einen Begegnungsraum schaffen, in dem sich zwei sehr unterschiedliche Menschen als Schreibende begegnen und mit Hilfe ihrer Literatur annähern. Dabei geht Benyoëtz mit eigenen Texten in Vorleistung.

Silja Walter antwortet am 8. Januar 2003 auf Benyoëtz’ Schreiben an Rutz, das dieser ihr offensichtlich per Fax weitergeleitet hatte, in einem gemeinsam adressierten Brief an beide. Es ist interessant, wie sie auf die Äußerungen von Benyoëtz über ihre religiöse und dichterische Berufung eingeht und sie mit einer Selbstaussage korrigiert:

Ich denke[,] ich habe keine Rolle und keinen Platz. Mich hat die Gottes-Frage von Kind auf so eingeholt, dass es für mich jetzt in meinem Alter nichts mehr anderes gibt, worauf ich zulebe. Wenn noch schreiben, dann aus dieser Gefangen-Befangenheit. Ob ankommt, wo ankommt, wann ankommt, dafür bin ich zu sehr darin. Leben und Schreiben ist eins.33

Silja Walter greift das Anliegen von Benyoëtz, vor der Lesung in Solothurn mit ihr im Kontakt zu sein, positiv auf: „Ja, es wäre schön und notwendig, dass Herr E und ich miteinander sprechen könnten. Am besten im Fax-Austausch.“34 Am Ende ihres Briefes richtet sie explizit einige Zeilen an Benyoëtz. Sein Name ist noch zu fremd, als dass sie ihn sich hätte merken können. Sie nennt ihn „Eleazae Benyoiez“35: „Ich danke und wünsche Ihnen Freude am Projekt, in das wir hineingeholt werden.“36 Sie unterschreibt als „Silja Walter“ und nicht mit ihrem Ordensnamen – auf Augenhöhe mit dem Dichter in Jerusalem, der ihr Frühwerk schätzt.

Der Anfang ist gemacht, der direkte Kontakt zu Silja Walter geknüpft: Elazar Benyoëtz ist erleichtert und froh und das äußert er auch ‚postwendend‘ in seiner Antwort an Silja Walter vom 9. Januar 2003: „Freude und ‚Abraham‘, damit Sie sich besser angenommen und gut aufgehoben fühlen.“37 Er würde „auch herzlich gerne auf jede Wort-Philosophie“38 verzichten. Dem Brief fügt er einen Text über Abraham bei, in dem Abraham seine Berufung durch Gott mit (dem hebräischen Wort) „Hinneni“ – „Hierbinich“ beantwortet.39

Am 13. Februar 2003 folgt ein weiteres Schreiben an Silja Walter. Diesmal geht Benyoëtz konkret auf die Planung der „modernen Vesper“ ein. Ihre Idee, ihren Lesungsteil unter den Titel „Exodus“ zu stellen, gefalle ihm.40 Im Brief ist von Silja Walters Prosatext „Mein Weg unter der Wolke“41 als weiteren Bestandteil zu lesen. Benyoëtz macht Vorschläge für eine Gedichtauswahl aus dem im Jahr 1999 erschienenen Silja-Walter-Lesebuch Die Fähre legt sich hin am Strand. Was er auswählt, sind eindrucksvolle, leidenschaftliche Gedichte aus dem Band Die Feuertaube, den Silja Walter 1985 ihrem einzigen Bruder Otto F. Walter widmete, und die in gewisser Weise bereits eine Art ‚Dialog-Dichtung‘ (mit dem Bruder) sind42: „DEIN Feuer spann“ (S. 184); „DIE Treppe hinab“ (S. 185); „VOM frühen Morgen an / lief ich / durch alle Türen / auf einen armen / Juden / zu / und fiel / als die Nacht kam / in die Sonne“ (S. 190) – Benyoëtz nennt dieses Gedicht „sowieso großartig“ – und als Abschluss das Gedicht „ITE MISSA EST“ (S. 97–98) aus dem Zyklus „Keine Messgebete“ (S. 77–98). Es endet mit „Amen“ und würde damit dem Auch-Gebets-Charakter ihrer modernen Vesper entsprechen. Benyoëtz hält für seinen Lesungsteil nach wie vor an seinem „Abraham“-Text fest. „Aus den Minuten, die uns noch blieben, wollen wir eine Perlenschnur machen“43, schreibt Benyoëtz. Er macht zwei Vorschläge zur Struktur der Lesungsauswahl, zum einen im Leitwortstil: Silja Walters Gedicht „DEIN Name ist das / Sabbatschiff“ (S. 200) könnte er beispielsweise seinen Text über den Schabbat oder über die Tage der Schöpfung zur Seite stellen. Oder sie wählen jeweils eigene Texte aus einem Themenkreis „(Gott, Liebe, Poesie, Sprache, ‚Zeit und Ewigkeit‘ …)“44 aus:

Auf diese Weise könnten wir miteinander, zueinander, ineinander sprechen, und die Zeit wäre ein ausgedehnter Augenblick. Mir wär’s lieb, wenn nur die Poesie spräche. In jedem Fall ist es schön und gut, wenn wir zusammen den Abend einleiten und ausklingen lassen, jeder mit einem – seinem – Gebet, oder mit einem Wort ins Kommende. […]

Mir liegt daran, daß Sie Ihren Text ohne Störung, ohne Ablenkung und Nebenerwartung schreiben können, bis zur letzten Zufriedenheit.

Wenn dann unser Abend gekommen ist, haben wir ein Kleingroßes vollbracht.45

Benyoëtz’ Vorschläge zur Auswahl der Lesungstexte Silja Walters wirken wohldurchdacht und stimmig – die ganze Arbeit der Vorbereitung scheint gemacht – aber wie wird Silja Walter darauf reagieren? In seinem Brief geht er sehr auf seine Lesungs-Partnerin ein, schildert ihr den Zeitrahmen (40 Minuten Lesezeit plus Einführungstext und Orgelmusik), will sie den Ton angeben und Silja Walters Präsenz als Ordensfrau zur Wirkung kommen lassen („ihre Worte folgen aus ihrer Erscheinung“), während Benyoëtz seinen Lebensweg (als Jude, Israeli, Hebräisch und Deutsch schreibender Dichter) nicht zur Sprache bringen will; „ausschalten“ nennt er diese Zurücknahme sogar. Doch auch Elazar Benyoëtz wird durch sein äußeres Erscheinungsbild Präsenz und Wirkung haben – gerade in einer Kathedrale – ist ihm das selbst nicht bewusst?

Elazar Benyoëtz wirbt durch sein einfühlsames, aber auch direktives Vorgehen für die Lesung als „gemeinsame Sache“ und nicht als „Doppellesung“.46 Aber wird geschehen, was die Voraussetzung für eine „gemeinsame Sache“ wäre: „daß wir aufeinander zu- und eingingen“? Benyoëtz wirbt aktiv um Silja Walter und ihr Mit-Tun, er hofft sogar auf neue dichterische Produktionen von ihr für die gemeinsame Lesung. Erwartet er zu viel von den Kapazitäten einer bereits 84-jährigen Ordensfrau in klösterlicher Observanz?47 Kann Sr. Hedwig sich darauf einlassen? Dass Elazar Benyoëtz es dennoch versucht und dabei ‚am Ball bleibt‘, ist jenes „Ringen“, mit dem er später den Prozess der Vorbereitung immer wieder umschreibt.

Seinem Brief fügt Benyoëtz einen langen Text über Schabbat und Schöpfung und ein Gedicht an, das eigens für „Schwester Hedwig, Kloster Fahr / Jerusalem, den 13.2.03“ (so die Überschrift) geschrieben zu sein scheint:

Sechsmal hintereinanderkam die Schöpfung an den Tag;Sechs Tage traten ihr Lichtan den siebenten ab,in dem der Schöpfer,bewegt, nichts mehr bewegend, einzogund alles ins Dasein Gerufene segneteund sein ließSchabbat,die lichtumflosseneGelassenheit Gottes48

Benyoëtz’ ausführlicher Brief zeigt Wirkung: Bereits einen Tag später antwortet ihm Silja Walter:

Verehrter, lieber Herr Eleazar Benjoetz [sic!],

Ihr großer Fax-Brief beruhigt und freut mich. Ich werde ihn noch mehrmals lesen.

Schön, tief, durch die Rinde des Welthaften herauf.

Schreiben Sie mir vorerst, welche meiner Gedichte Sie sich im ganzen Projekt vorstellen.

Zusammenfügen, wie bunte Steine an die Kette, die ja wohl Sie drehen sollen, oder wir beide, sobald wir den ganzen Schmuck geordnet vor uns liegen haben.

Ich erwarte Ihre Antwort auf diese erst kurzen Überlegungen auf Grund Ihrer sympathischen Fax-Studie.

Mit herzlichem Dank und Gruß

Ihre Sr. Hedwig/Silja Walter49

Konnte dieser Brief Elazar Benyoëtz zufriedenstellen? Die Gedichte, die er sich von ihr wünschte, hatte er ja bereits aufgezählt. Dass sie ankündigt, seinen ausführlichen Fax-Brief mehrmals lesen zu wollen, zeigt, dass es bei ihrem Brief um eine erste Reaktion geht, die Wertschätzung zum Ausdruck bringen soll – inhaltlich äußert sie sich nicht zu seinen konkreten Vorschlägen, spielt vielmehr den Ball an ihren Duo-Partner zurück.

Benyoëtz reagiert am 17. Februar 2003. Er bezieht sich dabei auf ein Telefonat mit Silja Walter: „Wollten Sie nicht auf das Judentum in eigener Besinnung, aus spiritueller Erfahrung zurückkommen? So habe ich Sie am Telefon verstanden.“50 Außerdem spornt er sie dazu an, zu ihrem „Exodus“ „etwas Neues hinzuzudichten“51 und vor allem, ihr Manuskript ‚jetzt‘ fertigzustellen, um am Ende zu fühlen, „dass Sie das Ihnen Wichtigste gesagt haben.“52

Benyoëtz fügt einen Text mit seinen Gedanken zur biblischen Sintflut an und verflicht danach eigene Textzeilen mit Zeilen aus Silja Walters – sprachlich sehr ausdrucksstarkem – Gedicht „GEWEIHTE Asche“ (S. 186) aus dem Band Die Feuertaube. Er kommentiert dieses Verfahren so: „Das sind alles Andeutungen und Beispiele, unsere Möglichkeiten sind unerschöpflich, wenn die Freude uns packt. Und Sie haben mehr Texte als ich von Ihnen kenne. / Wir beide betrachten die Steine dann und drehen die Kette.“53

So einfach sollte es sich jedoch nicht gestalten. Wie kann ein „Mit-“, gar „In-Einander“ zweier Dichter, die sich persönlich unbekannt sind, aus der Ferne funktionieren? Benyoëtz hoffte auf die Möglichkeit gegenseitiger schöpferischer Anregung in einem intensiven Austausch. Der Brief, den Benyoëtz am 7. März 2003 an Silja Walter schreibt, zeigt, dass er seinen Wunsch nach einem „Miteinander“ zugunsten einer Duo-Lesung aufgeben musste. Denn inzwischen liegt ihm, vermittelt durch Paul Rutz, ein Text Silja Walters vor (diese Textfassung wird nicht überliefert). Benyoëtz zitiert daraus ihren Satz: „Ich möchte dabei bleiben.“54 Nach dem Lob ihrer Auswahl – „sie wird gefallen“55 – macht er sich Gedanken darüber, wie sie mit ihrem Text „die stärkste Wirkung“56 erzielen könnte:

Mein erster Eindruck ist, dass eine Verteilung des allerdings zusammengesetzten Textes über den ganzen Abend hin, bzw. eine Vermischung Ihrer und meiner Worte, eine Abschwächung wäre. Alle Teile ergeben doch eine Einheit und ein ganzes, schönes Bild, das durch Ihre Erscheinung abgerundet und „beglaubigt“ wäre.57

Inzwischen befürwortet Benyoëtz sehr eine dritte Sprecherin beim Lesungsabend und er beruhigt Silja Walter dahingehend, dass ihr eingereichter Text keineswegs eines „theologischen Fadens“58 bedarf. Seinen „Abraham“-Text sieht Benyoëtz in diesem Zusammenhang als eine Ergänzung, zusammen mit weiteren Aphorismen und einem „Schlussgebet“. Erst am Ende des Briefes rückt Benyoëtz mit seiner Frage heraus:

Ob Sie bereit wären, Ihren neuen Text noch einmal auf seinen poetischen Kern zu betrachten und evtl. zu überarbeiten? Ich habe den Eindruck, dass die Insel leicht zerfließt. Der Ihnen persönlich wichtige Text scheint von Ihnen noch etwas zu erwarten. Er will zur Welt kommen, nicht gebracht werden. Dichter überzeugen nicht, sie müssen überzeugend sein. Das können wir noch, müssen aber nicht mehr besprechen. Für mich gilt, was Sie Herrn Pfarrer Rutz schreiben: „Ich möchte dabei bleiben.“59

Am gleichen Tag schreibt Benyoëtz an Paul Rutz und bittet ihn nachdrücklich um seine Unterstützung, Silja Walter von der Überarbeitung ihres Lesungstextes zu überzeugen. Er hatte sich ja neue Texte von ihr gewünscht, aber bedauerlicherweise sei es „der schwächste Text“60: „Ich wäre glücklich – für sie vor allem, aber auch für den Abend – wenn sie ihn überarbeitete. Er müsste auf seinen Kern hin gestrafft werden, immer mehr.“61

Im Prozess der Vorbereitung ist ein kritischer Punkt erreicht: Elazar Benyoëtz ist Silja Walter gegenüber in die Rolle eines Lektors geraten – und hatte sich doch lange als ihren Text-Dialog-Partner gesehen. Jetzt beschäftigen ihn eigene Sorgen: der aktuelle Nahostkonflikt im eigenen Land (mit Terroranschlägen der Hamas) und dringende Arbeiten an einem Buchprojekt.

Wie wird Silja Walter auf Benyoëtz’ Überarbeitungswunsch reagieren? Ihre Antwort vom 12. März 2003 lautet: „Die Seiten aus dem Insel-Tagebuch lasse ich weg“ – vermutlich der Text, den Benyoëtz kritisiert hatte. Stattdessen legt sie eine neue Gedichtauswahl vor (aus dem Lesebuch Die Fähre legt sich hin am Strand): „ICH geh in einen tiefen / Wald“ (S. 181); „Oration“ (S. 83); „UND ich singe sing / im Gehen“ (S. 202); „ITE MISSA EST“ (S. 97–98) – und als erster Text ein neues Gedicht:

Die Nonne– läuftauf ihrer Stundentreppewie auf Eisjeden Tag in die Nachtsiehtwie sie über dieHerrlichkeitläuftIm Abgrund,tief unten– weißsie wird bald einbrechen62

Ein auf den ersten Blick unheimliches Gedicht – aber sie schreibt, ganz bei sich, zum Abschluss: „Über Herrn Pfr. Rutz sende ich Ihnen dieses neue Fax – ist doch Neutrum? – und erwarte gerne Ihr Einverständnis. Herzlich / dankbar, Ihre Sr. Hedwig.“63 Silja Walter hat diesmal nicht mitunterschrieben.

Elazar Benyoëtz bereitet unterdessen nicht nur die Solothurner Lesung, sondern auch die zeitgleiche Ausstellung seiner Frau Renée in Solothurn mit vor. In zwei Briefen an Paul Rutz vom 14. und 21. März 200364 gibt er dazu Anweisungen; er liefert Ideen für den Titel der Lesung und lässt Rutz seine Textauswahl zukommen: „Hier mein erster Text-Vorschlag; er könnte auch der letzte sein […].“65 Dazu schreibt er:

Beten ist ein zentrales „Nebenthema“, heißt die Veranstaltung im Untertitel doch „Vesper“. Es ist wichtig, dass Beten als Problem, das es ist, in den Raum gestellt wird: nicht gesprochen aber auch nicht breitgedichtet. Daher mein Vorschlag, zum Programm: Silja Walter soll den Abend – tonangebend – mit ihrem Gedicht Oration (Die Fähre, S. 83) eröffnen, dann Orgel, die große Einstimmung in den Abend; dann Ihre Begrüßung mit dem Anschlagen der Themen Exodus und Hinwendung, oder Verlassen und Verlass, worauf Maria Becker das erste Walter-Gedicht lesen soll. […] Das wäre meine Sicht, Sie sind Initiator und Gastgeber, Sie haben das letzte Wort. Vor allem erwarte ich Ihre Stellungnahme zu meiner Textauswahl.66

Elazar Benyoëtz bittet Rutz seine herzlichen Grüße an Silja Walter auszurichten, er selbst mag sie „in ihrer schöpferischen Phase nicht unterbrechen“.67

Silja Walter reagiert auf die Lesungstexte von Benyoëtz, die ihr vermutlich Paul Rutz zukommen ließ, am 24. März 2003 in einem Brief an Elazar Benyoëtz. Sie bringt darin zum Ausdruck, dass sie sich Gedanken darüber macht, wie sie neben ihrem Lesungs-Partner in Solothurn bestehen kann – und schreibt dabei erstmals seinen Künstlernamen richtig:

Sehr verehrter, lieber Herr Elazar Benyoëtz,

Nachdem ich Ihr Konzept angeschaut, hineingeschaut, angelesen und durchgelesen habe, stand ich erst einmal still vor mir selber. Ich maß Sie mit mir, und maß uns beide in der Kathedrale.

Wie geht es zusammen?

Herr Elazar, wir müssen ein kleines Haus bauen; ein gut durchdachtes Gesprächshaus aus Ihren Texten und meinen Texten, und vielleicht bedarf es einer Treppe, die das Erdgeschoss SW mit den oberen Stockwerken EB verbindet.68

Silja Walter schickt nun ihrerseits ein Lesungs-Konzept, den, wie sie es nennt, „Grundriss“ dieses „Gesprächshauses“.69

Warum ist dieser Brief ein Wendepunkt im Prozess der Vorbereitung? Silja Walter scheint sich erstmals ernsthaft und intensiv mit Elazar Benyoëtz’ Texten und der nahenden Lesung in der St. Ursen-Kathedrale auseinandergesetzt zu haben. Sie versetzt sich gedanklich an den Ort des Ereignisses, liefert nun ein eigenes Konzept, verteilt auf drei Stimmen. Elazar Benyoëtz hat sie überzeugt. Silja Walter nimmt die Unterschiede zwischen ihnen wahr und die Herausforderung zur Ebenbürtigkeit an, statt sich im Vergleich zum israelischen Dichter „inferior“ zu fühlen. Denn die von ihr im Brief verwendeten räumlichen Kategorien von ‚unten‘ und ‚oben‘ sind keine des Ranges oder der Qualität, sondern sie beschreiben je unterschiedliche Weisen des Schreibens: näher am Leben und der eigenen religiösen Erfahrung (SW) bzw. vom biblischen Text mehr abstrahierend ins allgemein Menschliche und hin zur Gottesfrage (EB). Deshalb kann Silja Walter am Ende des Briefes an ihren Duo-Partner ganz entspannt die Worte richten:

Schreiben Sie mir doch in einem Brief, was Sie davon halten, der Grundriss ist hier auf dem Blatt skizziert.

Ihre Texte, meine Texte, gibt das nicht ein schönes Haus voll Musik?

Herzlich und voll Vertrauen grüsst Sie Ihre

Schwester Hedwig Silja Walter70

Elazar Benyoëtz’ Antwortbrief vom 1. April 2003 klingt dementsprechend gelassener als die Briefe zuvor und nimmt zustimmend das Bild vom gemeinsamen Haus der Lesung auf: „Dank für Fax, Vertrauen und Vorschlag. / Vor allem freut es mich, dass nun alles Wort und Stimme wird; alle Stimmen werden wortbetaut, das Haus, das Sie für uns bauen, kommt selbst zum Klingen.“71

Dennoch scheint das Konzept der Lesung für ihn doch noch nicht endgültig zu sein, wenn er am Ende schreibt: „Noch ist alles offen, bis Ende des Monats muss das Haus stehen und die eine Stunde sich dem Glockenschlag unterstellen.“72 Die neue Leichtigkeit äußert sich in zwei Texten, die er am 1. und 3. April für Silja Walter aufschreibt. Er nennt sie beide Male „Morgengruß für Schwester Hedwig“. Der erste „Morgengruß“ beginnt mit den Worten: „Das aufsteigende Frühlicht / betet mir vor // Ich wachse mit dem Beten / ins Gebet“; der zweite mit den Zeilen: „Die Schlüssel sind dir gegeben, / Die Tore muss du selber finden“73.

Schwester Hedwig ist von den an sie gerichteten literarischen Texten sehr angetan: „Was für ein Morgengruss!“74, schreibt sie am 3. April 2003 und nennt Benyoëtz’ Gruß „Gebet der Erfahrung“75, ihn selbst, „von Gott begnadet“76. „Werden Sie diese Gebetserfahrungen in unserm Haus in der Kathedrale sprechen?“,77 möchte sie wissen. Diesmal ist sie diejenige, die Benyoëtz’ genauen „Bauplan“ der Lesung erfahren möchte und ihrerseits bereit ist, ihre eigenen Texte dort einzupassen: „Ich bin sehr glücklich über unsere Zusammenarbeit. Sobald ich Ihren Plan habe, werde ich Ihnen schreiben, wie ich das Haus sehe. Natürlich müssen Sie mitbauen, Ich allein doch nicht.“78

Das Bild ihrer Duo-Lesung als ein gemeinsam erbautes und bewohntes Haus in der Kathedrale scheint einen Knoten in der Verständigung von Silja Walter und Elazar Benyoëtz gelöst zu haben. Ihre gemeinsame und ihre je eigene Präsenz wird den Raum schaffen, in dem Dichtung, Stimmen und Orgelmusik polyphon zusammenklingen werden. Das ist jedenfalls die neue Vision, der sich gerade auch Silja Walter freudig anschließen kann.

Ist damit jetzt der Prozess der Vorbereitung in die Schlusskurve gelangt? Von Elazar Benyoëtz kommt am 4. April 2003 ein Brief an Silja Walter, aus dem ersichtlich wird, dass der Endstand der Planung noch nicht erreicht ist. Doch scheint das Benyoëtz nun nicht mehr zu beunruhigen. Er schreibt in neuer Einigkeit mit seiner Lesungs-Partnerin: „Aber wie auch immer – das wissen wir schon: es wird unser Haus sein, vielstimmig und stimmig; es genügt ja, wenn unsere Texte gut sind und wir neben- und zueinander stehen […].“79 Und Jahre später, am 12. Oktober 2017, als er ihren Briefwechsel für den Band Was sich ereignet, findet nicht statt wieder liest, schreibt er an Hans-Jürg Stefan, neben Rutz der Herausgeber des Bandes: „… bin eben fertig mit der Brieflektüre, es ist eine wirkliche Geschichte um eine Lesung herum, und sie klingt ganz unmerklich zart als Liebesgeschichte aus.“80 Ein „weiter Weg“81 sei es gewesen, aber „kein vergeblicher“82.

3 | Die Begegnung im Kloster Fahr vor der Lesung

Elazar Benyoëtz berichtet von dieser positiven Entwicklung der Vorbereitung rückblickend in seiner Festgabe zu Silja Walters 90. Geburtstag:

So trat nach und nach Vertrauen zwischen uns ein, und mehr und mehr gingen die Faxe aus dem Kloster Fahr direkt an meine Klause in der Gat-Str. 8, Jerusalem.

Ich könnte sagen, eine Entkrampfung fand statt, die Sprache löste sich, wurde freundlich, bald offen, fast zugeneigt, mein Name bekam auch endlich Gesicht und Klang […]. Endlich stand das Programm fest, wir waren auf die Aufführung vorbereitet, noch nicht aufeinander.83

Die „Vorbereitung aufeinander“ – sie fand statt bei der ersten Begegnung von Elazar Benyoëtz und Silja Walter im Kloster Fahr, einige Tage vor dem Lesungstermin in Solothurn.84 Es ist eine kleine Delegation, die gemeinsam zum Kloster anreist: Paul Rutz als Gastgeber der Lesung, Elazar Benyoëtz in Begleitung seiner Frau Renée Koppel/Metavel. Sie treffen Silja Walter am Zielort ihrer Berufung und ihres Ordensalltags. Dies ist nicht nur ein räumliches Entgegenkommen, sondern auch ein Zeichen von Offenheit und Wertschätzung, der Ordensfrau Sr. Hedwig am Ort ihres Lebens, Glaubens und Schreibens zu begegnen, ihre Welt kennenzulernen und zu würdigen. Ihr Aufeinandertreffen im Kloster Fahr wird in der Schilderung von Benyoëtz aus dem Jahr 2009 wieder lebendig: „Schwester Hedwig kam uns schwebend entgegen, die ersten Hemmungen waren rasch überwunden, es folgten zwei denkwürdige Stunden des Gesprächs und der Kunstbetrachtung.“85 Von einer derartigen Erfahrung bei einem ersten Treffen mit Silja Walter im Sprechzimmer des Klosters (in den 1980er-Jahren) berichtet auch ihre Verlegerin Elisabeth Raabe sehr anschaulich:

Die Tür öffnet sich, und beinahe schwebend betritt sie das Zimmer: Schwester Maria Hedwig OSB. Eine helle, fast singende Stimme, prüfende und zugleich fröhliche Augen in einem schmalen, jugendlich wirkenden Gesicht. Wie weggewischt sind Fremdheit, Unsicherheit. Schon sind wir mitten in einem für Autorin und Verlegerin typischen Gespräch, Fragen zur Ausstattung, Auflagenhöhe. Ich merke sofort, da sitzt mir eine Frau gegenüber, die, obwohl sie in Klausur lebt, die Welt draußen, vor den Klostermauern, ihre Mechanismen, ihre Schwierigkeiten kennt, die zuhört und einordnet, konzentriert und hellhörig, die aufnimmt und zurückgibt: einen Augenblick der Ruhe, der einsichtigen Fernsicht in das andere, das eigene innere Erleben und Wahrnehmen, in eine andere Fröhlichkeit. Und als setze eine Stimme den notwendigen Schlußpunkt des Gesprächs, erhebt sich Silja Walter, genau nach einer Stunde, verabschiedet sich lächelnd und verschwindet leichtfüßig wie ein junges Mädchen […].86

Mit seiner Frau, der Künstlerin Metavel findet Silja Walter sofort zu einem „herzlichen Einvernehmen“,87 so Benyoëtz: Silja Walter, die selbst auch malte, zeigte sich begeistert von Metavels Miniaturenmalereien zum biblischen Hohelied88, Metavel wiederum konnte sich in die französische Ausgabe des Gesprächs zwischen Silja Walter und ihrem Bruder Otto vertiefen, die ihr wohl Silja Walter gezeigt hatte. Silja Walter war empfänglich für Renée Koppels Liebenswürdigkeit und Zugewandtheit und beantwortete sie freudig mit gleicher Offenheit. In einem Tagebuch-Notat von Benyoëtz aus dieser Zeit heißt es über seine Frau, dass sie „so verständnisvoll und schön, wie eine große Schwester“89zu Silja Walter gesprochen hätte, und er notiert am gleichen Tag, den 27. Mai 2003, was ihm von dem Gespräch mit Silja Walter in Erinnerung geblieben war: dass sie seinen Namen endlich richtig aussprechen konnte – „er geht über meine Lippen wie die Tauben über die Dächer Jerusalems“90, soll sie gesagt haben. Und als sie seinen Namen nannte, klang es „so schön, wie Jetzt und Du“91 – mit diesen Worten „Jetzt / Und / DU“ endet auch Elazar Benyoëtz’ Gedicht „Augenglücklich“ aus seinem Band Finden macht das Suchen leichter (2004)92, den er seinem verstorbenen Vater Yoetz Gottlieb Koppel (Wiesen 1897 – Tel Aviv 1943) widmete.93 Silja Walter bekannte ihm gegenüber auch ihre „Angst“ (wovor, wird nicht erläutert), „nun sei sie aber glücklich, und sie hoffe, mit mir auch nach der Aufführung die Beziehung fortzusetzen – wenn meine Frau nichts dagegen hätte.“94 Auch von Benyoëtz’ Buch Finden macht das Suchen leichter zeigte sich Silja Walter begeistert: „genau meine Lage: Ich habe Gott gefunden und nun suche ich ihn.“95

Es sind intensive Momente, die Benyoëtz in seinen Tagebuch-Aufzeichnungen vom 27. Mai 2003 in der Festgabe für Silja Walter 2009 wiedergibt: dass Silja Walter, die seit vierzig Jahren keine Bücher mehr richtig lesen würde, nur die Bibel, sich begeistert von seinem Buch Der Mensch besteht von Fall zu Fall (2002) zeigte. Nach langem Zögern hätte sie es doch gelesen: „der letzte Abschnitt über den Glauben hat’s ihr angetan“96, notierte Benyoëtz nach der Begegnung im Kloster Fahr. Es berührt ihn sehr, dass sie in seinem Buch zunächst ein Gedicht von seiner Mutter Else Gottlieb (1909–2001) angestrichen hatte und es sogar laut vorlas, „außer sich und mit Feuer“. Es lautet: „Ich spreche im Nebel, / nicht aus dem Schlaf: / Gott reißt mir den Tod / aus dem Leib“. Else Gottlieb hatte diese Zeilen am 6. Juni 2001 geschrieben;97 Benyoëtz hatte den Aphorismen-Band seiner verstorbenen Mutter gewidmet.98 Mit dem eindringlichen, intensiven Ton von Silja Walters Gedichten im Ohr ist deren Begeisterung für Else Gottliebs Text sehr nachvollziehbar.

Sich daran zu erinnern, wie Silja Walter das Gedicht der toten Mutter leidenschaftlich vorlas, löste bei Benyoëtz schmerzhafte Gefühle aus. Von dieser Trauer schrieb er in seinem Tagebuch am 27. Mai 2003:

Und wieder der Gedanke, dass meine Mutter nicht mehr da ist, und dass ich mich ans Unwiederbringliche gewöhne, denkend, ich habe die Stunde ihres Todes noch nicht erreicht, obwohl mir alle Bilder klar vor Augen stehen.

Alles in eine Abschiedsstunde gehüllt.

Meine Blicke fallen wie Tränen aus meinen Augen.99

In dieser Herzens-Begegnung im Kloster Fahr entstand zwischen allen Beteiligten eine unverhoffte innere Verbundenheit.100 Mit Paul Rutz als „Schirmherr“ ihrer Zusammenkunft war es die Begegnung dreier Künstler: Jede und jeder von ihnen führte für die kreative Existenz einen anderen Namen neben dem bürgerlichen bzw. Ordensnamen. Das Künstlerische war die „Schnittmenge“ jenseits von Religion und Herkunft, die das Band zwischen ihnen knüpfte. Und dass diese Kunst von der Schrift der Bibel seine Inspiration her empfängt, tat ein Übriges, sich einander nahe zu fühlen. Renée Koppel/Metavel war dabei mehr als nur die Begleiterin ihres Mannes: Sie war das Bindeglied zwischen Elazar Benyoëtz und Silja Walter, das „Zaubermittel“. Elazar Benyoëtz wird um diese Wirkung gewusst und auf sie vertraut haben.

4 | Das Ereignis: die Lesung in der St. Ursen-Kathedrale, 1. Juni 2003

Die Benediktinerin aus dem Kloster Fahr und die Medien – unter diesem Leitgedanken erinnert sich Silja Walter in ihrer Glaubensbiographie von 2009 an die Lesung in Solothurn:

Und kurz zuvor [vor einem Interview und einer Lesung von „Keine Messgebete“ in der Einsiedler Klosterkirche – „auch unter blitzender Kamera“ –] hatte ich im Rahmen der Solothurner Literaturtage in der wunderschön mit weiß-gelben Flaggen geschmückten St. Ursen-Kathedrale zusammen mit Maria Becker und dem jüdischen Aphoristiker Elazar B., mit Gedichten live aufzutreten, auch da Kamera und Presse.101