Bunkerrepublik Deutschland - Ian Klinke - E-Book

Bunkerrepublik Deutschland E-Book

Ian Klinke

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Beschreibung

Führende westdeutsche Militärs, Ingenieure und Zivilverteidiger waren im Kalten Krieg der 1950er- und 1960er-Jahre von einer Idee umgetrieben: Geopolitische Fragen müssen im dreidimensionalen Raum ausgefochten werden! Doch wie wurde diese Idee umgesetzt und was genau bedeutete das für die Bundesrepublik und ihre Bevölkerung? Mit Hilfe der kritischen Sozialtheorie und der Analyse eines weit gefassten Spektrums von Quellen untersucht Ian Klinke insbesondere die zwei komplementären architektonischen Strukturen unter der Erde, die das Leben im Atomkrieg sowohl schützen als auch vernichten sollten: den Atombunker und das taktische Atomwaffenlager. Die Konsequenz daraus ist eine notwendige Neubewertung der Geschichte der Geo- und auch der Biopolitik.

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Seitenzahl: 355

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Ian Klinke ist Associate Professor für Human Geography an der University of Oxford und Fellow am St John’s College, Oxford. Seine Forschung befasst sich mit den Relikten des Kalten Krieges und Fragen der Geopolitik.

IAN KLINKE

Bunkerrepublik Deutschland

Geo- und Biopolitik in der Architektur des Atomkriegs

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Ursprünglich in Englisch als »Cryptic Concrete« bei John Wiley & Sons Ltd. veröffentlicht.

© 2018 John Wiley & Sons Ltd

All Rights Reserved. Authorised translation rests solely with transcript Verlag and is not the responsibility of John Wiley & Sons Limited. No part of this book may be reproduced in any form without the written permission of the original copyright holder, John Wiley & Sons Limited.

Copyright der deutschen Ausgabe:

© 2018 transcript Verlag, Bielefeld

Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld

Umschlagabbildung: jala / photocase.de (Detail)

Korrektorat: Mirjam Galley, Sheffield

Übersetzung aus dem Englischen: Jost Klinke, Bad Breisig sowie Jakob Horstmann, London und Ian Klinke, Oxford

Print-ISBN 978-3-8376-4454-8

PDF-ISBN 978-3-8394-4454-2

EPUB-ISBN 978-3-7328-4454-8

https://doi.org/10.14361/9783839444542

Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de

Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort

Kapitel 1 – Die Erde und das politische Leben

Der Tod der deutschen Geopolitik

Westdeutschland und die Bombe

Biopolitik und Kalter Krieg

Bunker und Lager

Herangehensweise und Struktur

Endnoten

Kapitel 2 – Die Kehrseite des Lebensraums

Die Verteidigung des Raums

Geopolitik und Biopolitik

Leben und Tod

Raumgestaltung

Komplementäre Archetypen

Autoimmunität

Endnoten

Kapitel 3 – Zurück zur Erde

Der Sprung über den großen Teich

Die Wiedergeburt der deutschen Geopolitik

Umrisse einer neuen deutschen Geopolitik

Unterirdischer Lebensraum

Jenseits des Tabus

Endnoten

Kapitel 4 – Lebensraum im thermonuklearen Zeitalter

Überlebensraum

Die Rückkehr des Bunkers

Vom Lager zum Bunker

Überschneidungen und Inversionen

Durchgang

Endnoten

Kapitel 5 – Räume der Vernichtung

Orte des Vergessens

Nukleare Teilhabe

Die Architektur des Sondermunitionslagers

Raum ohne Volk

NATO-Draht und zivile Unruhen

Endnoten

Kapitel 6 – Kriegsspiel

Atomare Spiele

Fallex 66

Ein Kriegsspiel und seine Rezeption

Unterirdische Spiele

Selbstvernichtung

Der Todestrieb in der deutschen Geopolitik

Endnoten

Kapitel 7 – Jenseits der Bunkerrepublik

Atomare Gegenwart

Ruinenwert

Endnoten

Literaturverzeichnis

Vorwort

Es muss im Jahr 1990 gewesen sein, als ich hörte, dass der Berg hinter der Sandkiste meines Freundes hohl war, möglicherweise sogar so hohl, dass er eine ganze Armee verschlucken könnte. Was unter den Weinbergen lag, war ein Geheimnis, allerdings eines, das von Kind zu Kind weitergegeben wurde. Die Geschichte, die wir uns erzählten, handelte von einer unterirdischen Stadt mit Straßen und Laternen, Bussen und Autos, Bäckereien und Kiosken, an denen Bonbons verkauft wurden; dazu gab es dort auch Panzer, Raketen und Soldaten. Mein Freund und ich starrten wie gebannt die Stacheldrahtverhaue an, die Wachsoldaten und Wachtürme, hinter denen wir zu Recht den Eingang zu dieser geheimnisvollen Unterwelt vermuteten. Irgendwie fühlten wir uns unbehaglich, aber zugleich ging von dem Ort eine magische Anziehungskraft aus. Im Sandkasten gruben wir tiefe Löcher für unsere Spielzeugsoldaten, Raketen und Panzer. Wir verloren uns in phantastischen geopolitischen Welten. Wir waren Kinder-Strategen und unterirdische Generäle, siegreich am ‚Ende der Geschichte‘.

Natürlich war die Bedeutung der Vorgänge, die zum Ende des Kalten Krieges führten, an uns nicht vorbeigegangen. Die allgemeine Aufregung war spürbar, das Gefühl kultureller Überlegenheit übermächtig – selbst für einen Achtjährigen. Bald danach zeigte unser Fernsehapparat eine Stadt im Licht eines extravaganten grünen Feuerwerks. Die Stadt war Bagdad, und die grünen Lichter stammten von den irakischen Luftabwehrkanonen bei ihrem Versuch, die letzte Supermacht der Welt zurückzuwerfen. Das war eine wahrhaft faszinierende Machtdemonstration – wenn auch letztlich so wenig begreiflich wie die Explosion der Atombombe, die ich einmal in einem amerikanischen Film gesehen hatte. Persönlich bedeutete mir das aber nichts, ganz anders als dieser westdeutsche Regierungsbunker hinter dem Haus meines Freundes. Der stand da vor uns, in Beton gegossen, den konnte man offensichtlich ‚begreifen‘ (wäre nur der Stacheldraht nicht dazwischen gewesen). Der Bunker wirkte sehr real, auch wenn er so gut versteckt in einem engen Seitental lag. Er schien zu meinem Leben zu gehören, obwohl er nicht für einfache Sterbliche wie mich gebaut worden war. Für mich war diese Überlebenskapsel aus Beton ein verbotenes Paradies, ein Ort der Geborgenheit, wo zumindest meine kindliche Phantasie gut aufgehoben war. Dieser geheime und geheimnisvolle Ort war unheimlich – im Sinne Freuds zu verstehen als gleichzeitig fremd und vertraut, abweisend und anziehend.

Der Sozialtheoretiker Paul Virilio hat erklärt, Bunker hätten als unterirdische, sichere Orte gedient, versteckt und abgeschottet – „kryptisch“ (Virilio, in Armitage 2009: 23). In Bezug auf deutsche Luftschutzbunker, die man zu Kirchen umfunktioniert hatte, schrieb er, „diese Orte des Schutzes vor äußeren Gefahren und des Gottesdienstes [seien] auch Orte der Errettung“ (ebd.). Wie bei einer Krypta unter einer christlichen Kirche hat der Tod auch im Atombunker seine gespenstische Gegenwart. Der Bunker ist ein ambivalenter Ort, „Schutz“ und „Grab“ (Bennett 2011: 156), schützender „Mutterleib“ und „Grabmal“ zugleich (Beck 2011a: 82). Einen Anteil an dieser Ambivalenz dürfte auch das Material haben, aus dem die meisten Bunker gebaut sind. Adrian Forty (2012: 169) kleidet das in folgende Formulierungen:

Beton ist ein Grundwerkstoff. Wegen seiner dichten Masse bietet er sich geradezu an als Widerstandskraft gegen Einwirkungen äußerer Gewalt, mögen sie von der Natur oder den Menschen ausgehen. Geeignet für Grundmauern und gegen den Ansturm der See, für Festungsanlagen und als Schutzmauer gegen Atomangriffe, wird er eingesetzt für alles, was monolithische Beständigkeit verlangt – und damit steht der Beton tief unten in der Hierarchie der Materialien. Von alters her hat der Beton aber auch gerade für den Kirchenbau eine hohe Attraktivität gehabt.

Forty erinnert uns daran, dass Beton trotz seiner Fähigkeit, massiven Kräften zu widerstehen, eine ambivalente Stellung zwischen Moderne und Tradition, Kultur und Natur einnimmt. Bei all seinem Erfolg im 20. Jahrhundert handelt es sich bei Beton weder um eine moderne Erfindung (er wird seit Jahrtausenden vom Menschen eingesetzt), noch um ein rein kulturelles Phänomen (er kommt in natürlicher Form vor, wenn auch nur sehr selten). Beton ist in anderen Worten nur schwer einzuordnen, er fordert geradezu zur Interpretation auf.

28 Jahre später verstehe ich besser, weshalb der Bunker und seine Umgebung eine derartige Attraktion auf mich ausgeübt hatten, denn das kindliche Kriegsspiel, das ich damals hinter dem Haus meines Freundes gespielt hatte, war von eigener Bedeutung. Schon früh hatte man mir nahegelegt, nicht mit Spielzeugsoldaten zu spielen oder mit anderen ‚Symbolen des Militarismus‘. Ich musste ohne diese Symbole jungenhafter Maskulinität auskommen. Im Haus meines Freundes, unmittelbar neben dem Regierungsbunker, gab es laxere Regeln und ich konnte Spiele aller Art genießen, angefangen mit der Aufstellung von Plastikpanzern in der Sandkiste bis hin zu komplexeren strategischen Spielen. Zu Hause, das war mir klar, sollte ich über diese Spiele besser schweigen, aber das störte mein mit nur leichten Schuldgefühlen belastetes Vergnügen letztlich eher weniger. Erst Jahrzehnte später, als ich mich der Anlage hinter der Sandkiste mit wissenschaftlichem Interesse erneut näherte, fand ich heraus, dass unter unserem Spielplatz ganz ähnliche verbotene Spiele stattgefunden hatten. Denn alle zwei Jahre schloss der westdeutsche Staat dort im Untergrund seine politische und militärische Führung ein, damit sie die Apokalypse durchspielen konnten. Diese Spiele waren von einer geradezu zwanghaften Politik der Erde und des Lebens bestimmt.

Geopolitik wurde als Politik der Erde an der Wende zum 20. Jahrhundert als Theorie staatlichen Handelns entwickelt. Sie ging von der Voraussetzung aus, dass Staaten ein Territorium gewinnen und beherrschen mussten, wenn sie in einer Umwelt, die von internationaler Konkurrenz und Krieg gekennzeichnet war, überleben wollten. In Deutschland diente dieser geographische Diskurs später dazu, den Überfall des Dritten Reichs auf die Sowjetunion und die Eroberung von Lebensraum im Osten zu legitimieren. Geopolitik war dabei immer eng mit Biopolitik verflochten (der Politik des Lebens), der Überzeugung, dass der Staat als ein Organismus verstanden werden muss, der um sein Überleben kämpft. Die Vernichtung unerwünschter Bevölkerungsteile durch das Dritte Reich wurde nur dadurch ermöglicht, dass diese als Krebszellen im Volkskörper verstanden wurden. Die Verflechtung dieser beiden Formen der Macht war vielfältig, wurde primär jedoch sichtbar in der Idee der Eroberung von Lebensraum in Osteuropa. Diese Vorstellung, so die These dieses Buches, verschwand nicht einfach mit dem Untergang des Dritten Reichs, sondern nahm eine neue Form an. Um das zur Gänze zu verstehen, müssen wir uns nicht nur mit dem strategischen Diskurs des Kalten Kriegs, sondern auch mit der Architektur des Atomkriegs befassen.

Dieses Buch versucht die Geschichte der Geo- und Biopolitik aufzuarbeiten und dabei aufzudecken, wie der Kalte Krieg die im und durch den Zweiten Weltkrieg entstandenen Über-lebensräume und Räume der Vernichtung reproduzierte und umkehrte. Um die Architektur des Atomkriegs verständlich zu machen, die zum Schutz und zur Vernichtung des Lebens entworfen worden war, werden zwei architektonische Strukturen genauer untersucht, die am gemeinsamen Fluchtpunkt von Geo- und Biopolitik stehen – der Atombunker und das taktische Atomwaffenlager. Über die Analyse einer Vielzahl von Quellen aus verschiedenen Archiven, die aus dem Blickwinkel der kritischen Sozialtheorie gesichtet werden, komme ich zu der These, dass diese beiden Strukturen komplementär angelegt sind. Eyal Weizman folgend befasse ich mich mit dieser Architektur als materieller Ausformung politischer Kräfte oder „Materie gewordener Politik“ – Materie, die wir wegen ihrer Form und ihren Details untersuchen können, genau wie die Organisation und Infrastruktur, die sie ermöglicht (Weizman 2007: 5-7). Die Architekten dieser gewaltsamen Geographie sind die Militärs, die Ingenieure, die Beamten des Zivilschutzes und die Staatselite im Kalten Krieg. Aber anders als Weizman (2002: 2), der Geopolitik als „flachen Diskurs“ sieht, welcher der Dreidimensionalität moderner Kriegsführung nicht gerecht wird, zeige ich auf, dass diese männlichen Planer – und sie waren praktisch ausschließlich Männer – bereits der Idee folgten, geopolitische Ziele könnten im Kalten Krieg nur im dreidimensionalen Raum erkämpft werden, besonders unter der Erde.

Durch die Untersuchung der atomaren Bewaffnung des Territoriums der Bundesrepublik von einem sowohl intellektuellen als auch architektonischen Blickpunkt macht dieses Buch einen Schritt in Richtung einer Biopolitik des Kalten Krieges, einem erst vor kurzem von Collier und Lakoff vorgeschlagenen Thema (2015; vgl. auch Klinke 2015). Das Buch soll auch einen Beitrag zur aktuellen Debatte zur Frage der Materialität in der Geopolitik leisten, indem es die Analyse materieller Formen mit einer Untersuchung geo- und biopolitischer Ideen verbindet. Dadurch wird deutlich, wie Militärarchitektur noch im Dialog mit diesen Ideen stand, lange nachdem sie für tot erklärt worden waren.

Die Bundesrepublik bietet für eine derartige Untersuchung wegen der Rolle des Landes als designiertem Schlachtfeld in einem Krieg der NATO mit dem Warschauer Pakt einen exzellenten Ausgangspunkt. Nach dem NATO-Beitritt 1955 partizipierte Bonn an der Politik der nuklearen Abschreckung und versuchte, die Allianz zu einer harten Linie zu treiben. Diese Politik und die umfassende Stationierung von Atomwaffen auf westdeutschem Territorium bedeutete, dass der Staat permanent mit der Idee des nationalen Selbstmordes spielte, die deutlich an die letzten Tage des Dritten Reichs erinnert. Und tatsächlich kann das westdeutsche Beispiel dazu dienen, einige der historischen Kontinuitäten zwischen dem Staat im Faschismus und im Kalten Krieg zu verdeutlichen, nicht zuletzt weil es vor und nach 1945 auch eine Kontinuität des Personals, der Ideologie und der Militärtechnologie gab. Mit dem Blick auf Deutschland soll das Buch die wissenschaftliche Diskussion über militärische Räume von ihrer einseitigen, anglo-amerikanischen Sicht befreien, um so die gemeinsamen Ursprünge der Geopolitik von Nationalsozialismus und Kaltem Krieg offenzulegen. Durch die erneute Zurückverfolgung der Entstehung des Kalten Krieges müsste deutlich werden, dass „die Detonation der ersten Bombe“ vielleicht doch nicht „das Ende einer Epoche und die Apotheose einer anderen“ markierte (Masco 2006: 1). Statt „die Erfahrungen von Zeit explodieren zu lassen [und] die Logik des Nationalstaats zu unterminieren“ (ebd.: 12), fand der Kalte Krieg in Deutschland einen neuen Weg in eine altbekannte biopolitische Moderne, wobei der Staat einige Lebensformen förderte, andere aber aufgab, manche Todesopfer würdigte, andere wiederum in Vergessenheit geraten ließ. Der technologische Schritt von Dresden nach Hiroshima, der Übergang vom Thermoterrorismus zum Strahlenterrorismus also (Sloterdijk 2009: 57), fand mit Hilfe von ähnlichen Leitmotiven statt und war auch entsprechend durchformt, so wie wir das schon aus der nationalsozialistischen Geo- und Biopolitik kennen. Dazu gehört u.a. auch die Fixierung auf Fragen des Überlebens und der Vernichtung.

Trotz seines Ziels, zur theoretischen Aufarbeitung sowohl der Geo- wie auch der Biopolitik beizutragen, ist dies natürlich auch ein Buch über Deutschland. Es soll Leser ansprechen, welche die Geschichte und Politik der alten Bundesrepublik verstehen wollen, des Staates, der auch heute noch die rechtliche Grundlage für das vereinigte Deutschland darstellt. Dieses Buch ist jedoch nicht als umfassende Studie der Geschichte Deutschlands im Kalten Krieg gedacht. Es versucht stattdessen, das Deutschland des Kalten Krieges mit seinen vom potentiellen Atomkrieg geprägten Landschaften aus der Sicht der kritischen Sozialtheorie neu zu verstehen. Dabei ist es in erster Linie ein geographisches Buch, das zu klären sucht, wie im späten 19. Jahrhundert und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von Friedrich Ratzel, Karl Haushofer und ihresgleichen entwickelte Ideen zu Raum, Macht und Überleben es schafften, den Untergang des Nationalsozialismus zu überstehen. Dabei erzählt es die Geschichte, wie protofaschistische Ideen vom Staat als Organismus ihren Ausdruck in eigenen architektonischen Formen fanden – und dies nicht nur in den 1930ern und frühen 1940ern, sondern eben auch während des Kalten Krieges.

Ausgangspunkt für das Buch und seine grundlegende Annahme ist, dass Macht sich des Materiellen genauso wie des Ideellen bedient. Statt das Studium der traditionellen Geopolitik mit ihrem vielleicht übermäßigen Schwerpunkt auf Textexegese einfach aufzugeben, wie es für die politische Geographie der 90er Jahre typisch war, sucht dieses Buch nach neuen Wegen, die geopolitische Tradition weiterzudenken. Dabei geht es von der Voraussetzung aus, dass der herkömmliche Umgang mit geopolitischen Texten die Tendenz aufweist, eher parasitär eine bestimmte Art von Schriften auszubeuten (Ó Tuathail 1996: 53), während die neuere Wissenschaft bei dem Versuch, Geopolitik entlang einer ‚more-than-human geography’ Linie zu entwickeln, häufig den Bezug zu ihrem eigentlichen wissenschaftlichen Objekt verliert. Während die ältere Schule Gefahr läuft, sich bloß noch mit „mumifizierten“ Resten einer ehemals einflussreichen Denkweise zu befassen (Ó Tuathail & Dalby 1998: 2), ist Geopolitik für die andere Richtung nicht mehr als ein Synonym für globale Politik. Hier wird gelegentlich ein Konzept von Geopolitik gebraucht, das seltsam losgelöst wirkt von jedem früheren Verständnis seiner Begrifflichkeit. Dieses Buch dagegen versucht die Analyse traditioneller geopolitischer Texte mit dem Studium von Militärarchitektur zu verbinden, um so zu verstehen, wie sich letztere auf den Menschen auswirkt. Auf diese Art ist es an den Orten interessiert, in denen geopolitische Subjekte geformt werden.

Bei diesem Vorgehen sind einige Worte zur Vorsicht unumgänglich. Auch wenn dieses Buch eine detailreiche Auseinandersetzung mit wichtigen Vertretern der Geopolitik bietet, soll hier weder einer Reduzierung der Geschichte der Geopolitik auf die Ideen bedeutender Männer das Wort geredet werden (dazu vgl. Sharp 2000a: 363), noch soll deren unmittelbarer Einfluss auf politische Ereignisse überbewertet werden. Vielmehr soll dargelegt werden, dass wir in den militärischen Landschaften des Kalten Krieges jene Fixierung auf Raum und nationales Überleben und Ausrottung wiederfinden können, die zum ersten Male im späten 19. Jahrhundert und dann mit besonderem Nachdruck von der deutschen Geopolitik im Interbellum artikuliert worden ist. Geo- und Biopolitik haben es mit anderen Worten also geschafft zu überleben, obwohl sie für tot erklärt worden waren. Sie haben damit eine Zähigkeit bewiesen, die ich an anderer Stelle mit dem Begriff „untot“ beschrieben habe (Klinke 2011: 719; vgl. auch MacDonald in Jones und Sage 2010). So ist dieses Buch als Anstoß gemeint, die Politik des Atomkrieges im Sinne der Konzepte der Geo- und Biopolitik neu zu überprüfen. Notwendig ist das schon deshalb, weil der Kalte Krieg häufig als historische Absurdität ohne größere Bedeutung für die Gegenwart angesehen wird. Gerade Phänomene wie der sogenannte Bunkertourismus verneinen oft „den in Phasen tiefgreifender, ideologisch begründeter Gewalt, Untergang und Trauma begründeten Ursprung dieser Anlagen“ (Graham 2016: 359). In ihrer Geschichte der US-amerikanischen Interkontinentalrakete „Minuteman“ schreibt Gretchen Heefner über das Ende des Kalten Krieges:

Man hat uns erzählt, nukleare Abschreckung sei nicht mehr unser Bollwerk in einem globalen Konflikt. Wir hätten uns von dem Abgrund entfernt. Unsere Kinder wachen nachts nicht mehr aus Angst vor dem Atomkrieg auf. Die Angst, die wir vor einer atomaren Bedrohung haben, ist die vor einer einzelnen schmutzigen Bombe oder dem versehentlichen Abwurf einer Atombombe wegen eines technischen Versagens – und das ist eine Gefahr völlig anderer Art und in der Wirkung weniger verheerend. Die massive Aufrüstung zur Abschreckung macht in Zeiten globalen Terrors keinen Sinn. Noch nicht einmal die Einwohner von South Dakota, die solange mit der Minuteman-Rakete gelebt haben, scheinen über diese Raketen sprechen zu wollen. Aber die Ruhe in diesen jetzt entleerten, sprich leeren Räumen täuscht ebenso wie das Stillschweigen, das im Kalten Krieg über die Raketenanlagen gewahrt wurde. (HEEFNER 2012: 4)

Heefner führt weiterhin aus, etwa die Hälfte der in den 60er Jahren stationierten Minuteman-Raketen seien auch heute noch einsatzbereit und „immer noch in der Lage, so schnell Ziele auf dem gesamten Globus zu erreichen, wie man brauche, um eine Pizza an die Haustür geliefert zu bekommen“ (ebd.: 5). Aber es reicht nicht, sich der Existenz von Atomwaffen bewusst zu sein. Man muss sie auch als in eine politische Logik eingebettet verstehen, die z.T. älter als diese Waffe selbst ist. Wenn wir das Atomwaffenlager und sein Gegenstück, den Atombunker, wirklich verstehen wollen, müssen wir uns ernsthaft mit der Geschichte der deutschen Geopolitik befassen, die nicht, wie manchmal angenommen, 1945 einfach endete. Die Vorstellung von der Eroberung von Lebensraum überlebte – und zwar unter der Erde.

Grundlage dieses Buches ist eine neunjährige Forschung zur deutschen Geopolitik und zum Kalten Krieg in Westdeutschland. Die empirische Forschung wurde während meines Postdocs an der Universität Oxford (2013-2015) geleistet und ich möchte daher der School of Geography and the Environment dafür danken, mir dieses Projekt ermöglicht zu haben. Abgeschlossen wurde dieses Buch von mir als Associate Professor am St. Johns College der Universität Oxford.

Es ist schwer, all denen gerecht zu werden, die zu diesem Buch ihren Beitrag geleistet haben. Wichtige Ansprechpartner waren u. a. meine gleichgesinnten Bunkerenthusiasten Brad Garrett (The University of Sydney), Luke Bennett (Sheffield Hallam University) und Silvia Berger-Ziauddin (Universität Zürich), Forschungskollegen aus dem Fachbereich der Geopolitik wie Mark Bassin (Södertörn Högskola) und Gonzalo Pozo (King’s College London), der Architekturhistoriker David Haney (University of Kent) und meine alten Freunde Ludek Stavinoha (University of East Anglia) und Caspar Richter. Besonders danken möchte ich meinen Kollegen Gruia Badescu, Maan Barua (jetzt an der University of Cambridge), Colin Clarke, Patricia Daley, Joe Gerlach (jetzt an der University of Bristol), Britain Hopkins, Derek McCormack, Fiona McConnell, Tim Hodgetts, Craig Jeffrey (jetzt am Australia-India Institute), Thomas Jellis, Kärg Kama, Judith Pallot, Brice Perombelon und Tim Schwanen für das Feedback und die vielen Gespräche, die wir immer wieder zum Thema dieses Buches geführt haben. Besonders verbunden bin ich meinen Kollegen Linda McDowell und Richard Powell (jetzt an der University of Cambridge) für ihre Ideen und Beiträge. Die Anfänge meines Projektes stammen noch aus meiner Zeit am University College London, an dem ich nach meiner Promotion 2011 – examiniert von Klaus Dodds (Royal Holloway) und Chris Browning (Warwick University) – unterrichtet habe. Danken möchte ich vor allem meinem damaligen Betreuer Felix Ciută (University College London) für seine Unterstützung und insbesondere unsere Diskussionen über Krieg und Planspiele. Mein Dank geht auch an Jason Dittmer (ebenfalls UCL) für die Gespräche über geopolitische Architektur (und für die Zusammenarbeit bei der Herausgabe der Buchreihe Geopolitical Bodies, Material Worlds bei Rowman and Littlefield International) und an Alan Ingram (ebenfalls UCL) für den Anstoß dazu, mich überhaupt erst mit dem Zusammenhang von Geo- und Biopolitik zu befassen.

Besonders dankbar bin ich Christian Abrahamsson (Universitetet i Oslo), Lucian Ashworth (Memorial University of Newfoundland), Andrew Barry (University College London), Audra Mitchell (Wilfrid Laurier University) und David T. Murphy (Anderson University) für die sorgfältige Durcharbeitung des dritten Kapitels während des ISRF Workshops 2016 zum Thema „New earth thinking“, organisiert von Richard Powell vom Girton College, Cambridge. Ich habe auch sehr profitiert von den Diskussionen auf der Konferenz der European International Studies Association (EISA) in Giardini-Naxos von 2015, den jährlichen internationalen Konferenzen von 2014 und 2016 der Royal Geographical Society (RGS-IBG) in London, der regionalen Konferenz der International Geographical Union (IGU) von 2014, den jährlichen Kongressen der International Studies Association (ISA) 2014 und 2015 in Toronto und New Orleans und auch von Seminaren und kleineren Tagungen in Birmingham, Fulda, London, Oxford, Potsdam, Uppsala und Sheffield. Ich habe die Unterstützung einer ganzen Reihe von sehr hilfsbereiten Archivaren des Bundesarchivs Koblenz und des Bundes-Militärarchivs in Freiburg genossen und möchte in diesem Zusammenhang vor allen Dingen auch Doris Hauschke von der Behörde des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik (BStU) erwähnen. Profitiert habe ich auch von den Gesprächen mit Jörg Diester von der Dokumentationsstätte Regierungsbunker und ich bin dem Bundesarchiv für die Abbildungen und Bernd Donsbach vom Traditionsverband Aartalkaserne für das Recht, die beiden Fotos vom Sonderwaffenlager Bellersdorf abdrucken zu dürfen, sehr dankbar. Und bevor ich es vergessen sollte, muss ich meine Studenten vom St. Johns und vom Jesus College erwähnen (und unter ihnen ganz besonders Harry Gibbs), mit denen ich verschiedene Aspekte des Stoffs diskutiert habe, die für mein Buch relevant sind und ich stehe auch in der Schuld zweier anonymer Gutachter für ihre Kommentare und Vorschläge und für die Hilfe und Geduld des Herausgebers der RGS-IBG Schriftenreihe Wiley, David Featherstone (Universität Glasgow).i Vor allem möchte ich Jost Klinke dafür danken, dass er sich mit der Übersetzung so ausgiebig und sorgfältig auseinandergesetzt hat. Mein Dank gebührt auch Jakob Horstmann von transcript für das Korrekturlesen und die Unterstützung.

Zu guter Letzt jedoch bin ich besonders für die Unterstützung von Anna (Toropova) zu Dank verpflichtet. Sie war für mich ein echter Leitstern, privat wie wissenschaftlich, die sich viel zu viele Verdienste um mich erworben hat, als dass sie hier im Einzelnen aufgelistet werden könnten. Und dann möchte ich noch meiner Familie danken, Lizzie, Gerlinde und Klaus. Gewidmet ist dieses Buch meiner Mutter Linda (1953-2011).

ENDNOTEN

i | In meinem Buch greife ich stellenweise auf einige meiner früheren Veröffentlichungen zurück. Meine ersten Ideen zu diesem Thema stammen aus Environment and Planning D (Klinke 2015). Kapitel 6 ist eine Überarbeitung eines Artikels aus Transactions of the Institute of British Geographers (Klinke 2016). An anderen Stellen steht das Buch im Dialog zu einem als Co-Autor verfassten Text aus Geopolitics (Klinke & Perombelon 2015) und anderen, kurzen, on-line veröffentlichten Artikeln.

Kapitel 1 – Die Erde und das politische Leben

DER TOD DER DEUTSCHEN GEOPOLITIK

Erstmalig befassten sich deutsche Geographen wie Friedrich Ratzel (1844-1904) und Karl Haushofer (1869-1946) im späten 19. Jahrhundert mit der Frage, welchen Einfluss die geographische Lage, das Klima oder der Zugang zu Bodenschätzen auf den Aufstieg und Niedergang einer Nation haben. Aufbauend auf populären, naturwissenschaftlichen Ideen und Konzepten wurde die deutsche Geopolitik bekannt für die Entwicklung einer politischen Theorie, die sowohl die territoriale Konfiguration der Weltpolitik als auch das Phänomen zwischenstaatlicher Kriege naturalisierte. Während auch anderswo geopolitische Traditionen wie Pilze aus der Erde schossen, stach die deutsche Geopolitik durch ihr Verständnis vom Staat als organischer, politischer Lebensform heraus; der Staat erschien so als ein Organismus, der sein Überleben durch die Eroberung und Verteidigung von Lebensraum absichern müsse. In dem Sinne, dass sie eine Theorie des Zusammenspiels von Leben und Raum artikulierten, waren diese Ideen sowohl biopolitisch als auch geopolitisch. Tatsächlich verdanken wir die beiden Begriffe ‚Geopolitik‘ und ‚Biopolitik‘ Rudolf Kjellén (1864-1922), einem anderen Anhänger Ratzels (Kjellén 1920: 94).

Ähnlich wie Halford Mackinders britische Geopolitik (siehe insbesondere Kearns 2009; Mackinder 1904), starrte die deutsche Geopolitik wie gebannt auf das, was sie als ewigen Kampf zwischen Land- und Seemacht sah. Tatsächlich plädierte Haushofer angesichts der von ihm so verstandenen Vorherrschaft der angloamerikanischen Seemächte für eine Allianz der Kontinentalmächte Deutschland und Russland. Haushofer und seine Zeitgenossen trieb zudem eine malthusianische Sorge vor Übervölkerung um und sie wünschten, dass Deutschland aus einer ungünstigen Zentrallage in Europa ausbrechen und ein alle Deutschen umfassendes Großdeutschland werden solle (Haushofer 1926: 532). Ausgehend von dem Wunsch nach Autarkie erhoffte sich die deutsche Geopolitik eine vom Außenhandel unabhängige Wirtschaft. Kjellén vertrat die Meinung, ein Nationalstaat müsse, „wenn nötig“, in der Lage sein, völlig autonom zu agieren, „hinter geschlossenen Türen“ (Kjellén 1917: 162).

Die Vertreter der deutschen Geopolitik sollten sich schon bald durch ihre Werbung für ihre Sicht vom Staat als Organismus einen Namen machen, einem Organismus, der wachsen und schrumpfen konnte und der in dem ‚Boden‘ verwurzelt war, auf dem er stand. In der Auseinandersetzung mit den darwinistischen Ideen seiner Zeit beschrieb Ratzel das Verhalten eines Staates als Kampf ums Dasein, den er tatsächlich aber als Kampf um Raum verstand (Ratzel 1901). Um zu überleben, musste Deutschland seiner Meinung nach diesen Lebensraum ausweiten. Dies führte zu einer Betonung des Raumes als Gradmesser des Gesundheitszustandes eines Staates. Rudolf Kjellén erschienen Bevölkerungsverluste für einen Staat sogar weniger problematisch als Gebietsverluste (Kjellén 1917: 57). Schließlich war die Geopolitik besessen von den Fragen nach Tod, Untergang und Zerstörung, Leitmotiven also, die ihren Ursprung in der sozialdarwinistischen Beschäftigung mit Überleben und Aussterben/Ausrottung und in einem zyklischen Verständnis von Geschichte hatten. Schlüsselmedium für die Verbreitung geopolitischer Ideen in der Zwischenkriegszeit und während des Zweiten Weltkrieges war die von Karl Haushofer und Kurt Vowinckel 1924 gegründete Zeitschrift für Geopolitik.

Die deutsche Geopolitik wäre vielleicht nicht viel mehr als eine Fußnote der Weltgeschichte geblieben, wäre Karl Haushofer nicht 1924 einem noch relativ unbekannten, in Österreich geborenen Politiker vorgestellt worden, Adolf Hitler, der damals gerade sein Buch Mein Kampf schrieb. Angesichts der geopolitischen Einfärbung wesentlicher Teile dieses Buches wurde Haushofer in den Vereinigten Staaten als der Vordenker hinter der nationalsozialistischen Außenpolitik angesehen (Ó Tuathail 1996). Diese Vorstellung von Haushofer als Grauer Eminenz, dessen (fiktives) Institut für Geopolitik die nationalsozialistische Außenpolitik entwickelt habe, hat sich als Mythos erwiesen (Murphy 2014; siehe nächstes Kapitel). Tatsächlich war Haushofers Theorie „schon lange in Hitlers sich immer weiter beschleunigenden diplomatischen Krisen und Kriegen untergegangen“ (Herwig 1999: 236; siehe auch Murphy 1997: 244). Auch wenn nationalsozialistische Ideologen bis weit in die Kriegszeit hinein Texte zum Thema Lebensraum veröffentlichten (Daitz 1943), standen Haushofers und Ratzels geopolitische Ansichten durchaus im Widerspruch zur nationalsozialistischen Ideologie, weil sie zur biologisch begründeten Rassentheorie des Dritten Reichs ambivalent blieben (Bassin 1987a). Trotz dieser entscheidenden ideologischen Spannung und der Tatsache, dass Haushofer bei den Nationalsozialisten sogar in Ungnade gefallen war, wurde er schon während des und verschärft nach dem Krieg für seine Ideen angegriffen und beging 1946 Selbstmord. In seinem Abschiedsbrief forderte er, „vergessen und vergessen“ zu werden (Haushofer 1946).

Die Geschichte dieses „Teufelspaktes“ von deutscher Geopolitik und Nationalsozialismus ist in der Geschichte der Geopolitik bis heute ein bestimmendes Phänomen (Barnes & Abrahamsson 2015: 64).1 Diese Geschichte der Geopolitik wird fast immer gleich erzählt, nämlich als die einer begrenzten Epoche, die mit der Veröffentlichung von Ratzels „Politische Geographie“ 1897 begann und 1946 mit Haushofers Selbstmord endete (Agnew 2003; Dodds 2007; Dittmer & Sharp 2014; Mamadouh 2005; Ó Tuathail 1996). Natürlich bedeutet das nicht, dass auch die Geschichte der Geopolitik 1946 endete, denn diese spielte während des Kalten Krieges eine zentrale Rolle, wie von führenden politischen Geographen bezeugt wird (Dalby 1988; 1990a; 1990b; Dodds 2003; Ó Tuathail 1996). Allerdings tendiert die Literatur dazu, das Überleben der Geopolitik nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Ablehnung ihrer deutschen Variante zurückzuführen. In dieser Lesart scheint Geopolitik im Kalten Krieg, so wie sie sich in den USA und anderen Ländern artikulierte, ohne die düsteren, biopolitischen Komponenten Ratzel’scher oder Haushofer’scher Provenienz auszukommen (Werber 2014: 143). Dies allerdings stimmt keinesfalls, wie wir sehen werden.

Selbst in Werken derer, die gezielt nach Überresten der deutschen Geopolitik nach 1945 gesucht haben, wird die Geopolitik überwiegend als mundtot angesehen – sowohl in der Bundesrepublik als auch in der Deutschen Demokratischen Republik (DDR). In diesem Sinne sprechen deutsche Nachkriegsgeographen wie Troll (1949: 135) und Boesler (1983: 44) wie selbstverständlich vom Kollaps der deutschen Geopolitik (vgl. auch Michel 2016: 137). Andere betrachteten die Sub-Disziplin der Politischen Geographie als marginalisiert (Kost 1988: 2), wobei der gesamte Diskurs der Geopolitik stigmatisiert worden sei (Kost 1989: 369). In jüngerer Zeit klagte der Historiker Karl Schlögel (2011: 12) über eine „verschwundene Tradition“ räumlichen Denkens in Deutschland und der Geograph Paul Reuber (2009: 90) sprach von „Jahrzehnten fast völligen Stillschweigens“ der Geopolitik in der deutschsprachigen Wissenschaft. Wieder andere gingen so weit zu erklären, die Bundesrepublik habe nach 1945 ihre Geopolitik „zivilisiert“ und die Kampfstiefel gegen Birkenstock-Sandalen eingetauscht (Bachmann 2009).2 Ein Echo dieser Denkungsart findet sich in der Idee, im frühen 21. Jahrhundert sei die sogenannte „Deutsche Frage“ lediglich in geo-ökonomischer und nicht in geopolitischer Form wieder aufgeworfen worden (Kundnani 2014) oder in der kruden Behauptung, die Bundesrepublik sei heute eine „quasi-pazifistische“ Macht (Kaplan 2012: 11).

Die Formulierung einer Idee des ‚Schweigens‘ zu geopolitischen Konzepten und Ideen wirkt so, als ob die Deutschen sich dem Wunsch Haushofers fügten, ihn intellektuell zu vergessen. So wurde etwa sein politisches Testament als „Begräbnis“ bezeichnet, das den „Abgang der deutschen Geopolitik nach der Niederlage der Nazis im Zweiten Weltkrieg“ beschrieben habe (Giles 1990: 13). Aber wir sollten Haushofer – oder seinen Gegnern – nicht den Gefallen tun, die Ideen der deutschen Geopolitik generell als mit ihm zusammen verschwunden zu betrachten. Auch wenn politische Geographie in Deutschland nur noch eine Randerscheinung der Geographie als wissenschaftlicher Disziplin war und die Terminologie der Geopolitik in der deutschen Politik tatsächlich mit einem Tabu belegt wurde, so sollte man das doch nicht als Beleg dafür verstehen, dass alles, was zum Thema Geopolitik in Deutschland geschrieben wurde, tatsächlich tabuisiert war. So haben z.B. Bach und Peters (2002: 1) angemerkt, dass Geopolitik „in der bundesdeutschen Politik immer ein Faktor geblieben war“. Sprengel stellte jedoch bereits 1996 fest, solche Thesen müssten noch im Detail überprüft werden (Sprengel 1996: 36).

So hat dieses Buch die Aufgabe zu ergründen, was aus dieser Politik der Erde und des Lebens nach 1945 geworden ist. Es verfolgt die These, dass im Deutschland des 20. Jahrhunderts ein zweiter Versuch unternommen wurde, Geo- und Biopolitik in die Praxis umzusetzen. Ausgelöst durch das ebenfalls geopolitische Projekt des Kalten Krieges beschäftigte sich in den 50er und 60er Jahren die Bundesrepublik Deutschland erneut und geradezu zwanghaft enthusiastisch mit Fragen des nationalen Überlebens und des Raumes. Wie das Dritte Reich drückte auch der Kalte Krieg seine Logik von Überleben und Vernichtung in materieller Form aus. Dieses – paradoxerweise subterrane – Wiederauftauchen der Geo- und Biopolitik in architektonischer Form ist besonders rätselhaft, wenn man die Stigmatisierung von Geo- und Biopolitik im Deutschland der Nachkriegszeit bedenkt. Nationalsozialistischer Imperialismus und die medikalisierende Logik der Vernichtung wurde zuerst von den Alliierten und dann auch von der Mehrheit der Deutschen als die Wurzel einer nicht nur nationalen, sondern globalen Katastrophe gesehen.

Wenn wir das Paradoxon erklären wollen, wie das spezifische Amalgam von Geo- und Biopolitik sein eigenes Begräbnis überleben konnte, müssen wir nicht nur den intellektuellen Diskurs berücksichtigen, in dem Ratzels und Haushofers Konzepte in den 50er Jahren zögerlich wieder in Erscheinung traten, sondern auch die militärischen Hinterlassenschaften des Kalten Krieges über und unter der Erde. Denn genau hier können wir ein Gespür dafür gewinnen, wie diese Fixierung auf Räume des nationalen Überlebens selbst überleben konnte. Wie ich weiter unten ausführen werde, verwandelte der Kalte Krieg die nationalsozialistische Vorstellung der Eroberung von neuem Lebensraum in die etwas bescheidenere, allerdings ebenfalls bio- und geopolitische Idee, Überlebensräume finden zu müssen.

WESTDEUTSCHLAND UND DIE BOMBE

Nach dem Untergang des Dritten Reichs verschwand Deutschland als Großmacht von der europäischen Landkarte. Angesichts des Ausmaßes der Niederlage und der deutschen Kriegsverbrechen mussten die beiden Nachfolgestaaten international vorsichtig auftreten. Nach ihrer Gründung 1949, nur drei Jahre nach Haushofers Tod, lehnten die Bundesrepublik und die DDR nicht nur die Vernichtungspolitik des Dritten Reichs ab, sondern auch die geopolitischen Traditionen, die jetzt als die treibende Kraft hinter der nationalsozialistischen Expansion gesehen wurden. Der Terminus Geopolitik wurde in den Jahrzehnten nach dem Krieg im westdeutschen politischen Diskurs kaum jemals benutzt, es sei denn, man wollte einen politischen Gegner diskreditieren.

Man sollte sich jedoch von diesem Tabu, mit dem die Geopolitik als Denkmodell in Westdeutschland belegt war, nicht täuschen lassen, denn Geopolitik als Diskurs über globale Machtkämpfe war weiterhin sehr lebendig. In seiner Abhängigkeit von seinen westlichen Alliierten nahm der junge westdeutsche Staat sehr schnell eine recht radikale neue Variante der Geopolitik des Kalten Krieges an. Von den frühen 50er Jahren an schoben sich wieder antisowjetische Stimmungen in den Vordergrund, die von früheren Wehrmachtsgenerälen und auch von Teilen der politischen Elite des jungen Staates getragen wurden. Einige dieser neuen Geopolitiker wurden kurz danach zu Beratern der neuen westdeutschen Armee, der Bundeswehr, und ihre Ideen waren durchaus auch kongruent mit den politischen Vorstellungen Konrad Adenauers (Bundeskanzler von 1949-1963). Als überzeugter Antikommunist war Adenauer schon bald für seine ‚Politik der Stärke‘ gegenüber der Sowjetunion und für die klare ‚Westbindung‘ der bundesdeutschen Außenpolitik bekannt. Bis in die 70er Jahre und vielleicht sogar noch länger waren beides wichtige Vektoren des außenpolitischen Narrativs der Bundesrepublik.

Adenauer vermied sorgfältig jeden Anklang an die nun diskreditierte Terminologie des Lebensraums, seine Lebensanschauung war jedoch geopolitisch geprägt. 1954, im selben Jahr, in dem ihn das Time Magazin zum „Mann des Jahres“ erklärte, erschien bei Life eine Sonderausgabe über den neuen westdeutschen Alliierten, in der Adenauer seine Sicht der Dinge darlegte. In geopolitischer Manier erklärte er seinen amerikanischen Lesern, ein Atlas der Weltgeschichte zeige „viel unmittelbarer“, als jedes Geschichtsbuch es könne, dass „das noch freiheitliche Gebiet der europäisch-asiatischen Landmasse in Europa erschreckend klein geworden“ sei, „seitdem Russland die Elbe erreicht“ habe (Adenauer 1954: 26). Für Adenauer war die Elbe, damals Teil des Eisernen Vorhangs, nichts weniger als die Grenze zwischen westlicher Zivilisation und östlicher Barbarei. Schon 1946 warnte er, „Asien steht an der Elbe“, eine Formulierung, die mit bekannten, xenophoben Assoziationen der Sowjetunion gegenüber spielte (Adenauer 1946). Adenauer erklärte, „die Bundesrepublik ist von dem aggressiven Imperialismus Sowjetrusslands bedroht“ und vertrat die Meinung, die Sowjetunion werde einfach den Rest Europas überrennen, sollte sie zum Rhein vorstoßen (Adenauer 1949) und damit die Vereinigten Staaten aus Westeuropa hinaustreiben (Adenauer 1951). Angesichts der westdeutschen ideologischen Kompatibilität im Kampf der Westalliierten gegen die UdSSR und der strategischen Position, die die Bundesrepublik in Mitteleuropa einnahm, durfte Adenauers Bundesrepublik 1955 dem Nordatlantikpakt (NATO) beitreten.

Abb. 1.1 Wahlplakat der CDU (1949). Abb. 1.2 Konrad Adenauer bei einem Besuch in den Vereinigten Staaten (1961).

Abb. 1.3 Parade taktischer Atomwaffen auf dem Nürburgring (1969).

Während Westdeutschland sich in eine Militärallianz integrierte, die sich auf einen Krieg mit der Sowjetunion vorbereitete, hatte es ein Interesse daran, den Ausbruch eines solchen Krieges zu verhindern. Ein dritter Weltkrieg hätte sich mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem Atomkrieg entwickelt und hätte das zweite Mal innerhalb weniger Jahre die völlige Zerstörung des Landes bedeutet. Als halbsouveräner Staat an vorderster Front waren die strategischen Möglichkeiten Westdeutschlands naturgemäß begrenzt. Anstatt sich auf das Experiment einer Neutralitätspolitik einzulassen, waren die frühen, CDU-geführten Bundesregierungen überzeugt, man könne die Unabhängigkeit von der Sowjetunion nur durch die Anbindung an den Nordatlantikpakt und dessen Politik atomarer Abschreckung garantieren.

Tatsächlich lehnte Adenauer mehrfach die Idee einer deutschen Neutralität mit dem Argument ab, „[i]n einem großen Atomkrieg würden die radioaktiven Wolken, vom Winde, den wir doch wahrhaftig nicht aufhalten können, getrieben, auch über ein neutralisiertes oder sich für neutral erklärendes Deutschland hinweggehen“ (Adenauer 1957). Die Regierung in Bonn, der neuen westdeutschen Hauptstadt, stand daher hinter der atomaren Aufrüstung der NATO-Staaten, denn die Irrationalität eines Atomkrieges schien die einzige Chance, einen konventionellen Krieg auf ‚deutschem Boden‘ zu verhindern. Deshalb setzte sich Bonn nach dem Beitritt zur NATO 1955 für eine kompromisslose Politik nuklearer Abschreckung ein. Der junge halbsouveräne Staat war sogar bereit, sein eigenes Atomwaffenprogramm zu entwickeln, wurde aber frühzeitig gezwungen, auf alle Ambitionen zu verzichten, atomare, biologische oder chemische Waffen zu erwerben. Zu brisant war die Vorstellung, Bonn könne erreichen, woran das Dritte Reich gescheitert war. Allerdings entwickelte der Nordatlantikpakt schon bald einen Kompromiss in Form des Konzeptes der nuklearen Teilhabe, der es Nicht-Nuklearmächten wie Deutschland ermöglichte, sich im Sinne der nuklearen Planung an der Stationierung und dem Einsatz von Atomwaffen zu beteiligen. In der Konsequenz konnten die Westdeutschen einen nuklearen Status so zumindest simulieren.

In gewisser Hinsicht erlaubte diese Politik Bonn die Teilhabe lediglich an dem, was im Grunde bereits begonnen hatte, nämlich der Aufrüstung des westdeutschen Staatsgebietes mit US-amerikanischen taktischen Atomwaffen. Solche Kurzstreckenraketen und -bomben waren vor allen Dingen für den Einsatz in der Schlacht entwickelt worden und erbrachten deshalb eine geringe Zerstörungsleistung als sogenannte strategische Atomwaffen, welche von Flugzeugen aus eingesetzt oder später von Atomwaffensilos oder Atom-U-Booten aus abgeschossen wurden und als Ziel die Vernichtung großer militärischer Anlagen oder ganzer Städte hatten. Zwar sollten taktische Nuklearwaffen die militärische Schwäche der westeuropäischen Länder bei den konventionellen Waffen gegenüber der Sowjetarmee ausgleichen, ihr „tatsächlicher militärischer Wert konnte jedoch nie überzeugend dargelegt“ werden (Freedman 2013: 171). Bedenkt man, dass taktische Atomwaffen häufig mobil eingesetzt werden konnten, so waren sie einem feindlichen Angriff viel weniger ausgesetzt als unbewegliche Atomraketensilos. Damit waren sie in ihrer tatsächlichen Wirkung nur schwer einzuschätzen, konnten aber einen konventionellen Krieg eskalieren lassen und ihn in ein nukleares Armageddon verwandeln.

Seit ihrem Beginn in den 50er Jahren war die Stationierung von Atomwaffen bei der politischen Führung in Bonn auf wenig Widerstand gestoßen. Um jedoch einen Konsens innerhalb der Bevölkerung zu erreichen, musste die Regierung die Gefährlichkeit dieser neuen Waffensysteme verharmlosen. So erklärte Bundeskanzler Adenauer 1957, „die taktischen Atomwaffen sind im Grunde nichts anderes als eine Weiterentwicklung der Artillerie“ (Der Spiegel 1957a). Von Historikern wurde in den späten 80er Jahren darauf hingewiesen, dass man den an der Grenze zum Warschauer Pakt stationierten deutschen Bundeswehrsoldaten „die Aufgabe, einen sowjetischen Angriff so lange aufzuhalten, bis die NATO ihre Atomsprengköpfe über ihnen zur Explosion bringen konnte“, gegeben und sie so „in einem zukünftigen Krieg zum Kanonenfutter degradiert“ habe (Cioc 1988: 9). Früh in den 80er Jahren argumentierte die wachsende Anti-Atomwaffen-Bewegung, dass die Erstschlagsdoktrin der NATO zerstören würde, was sie schützen solle und so „in Europa zur Zerstörung dessen, was verteidigt werden soll“, führe (Afheldt 1983: 13).

Diese selbstmörderische Politik beschränkte sich nicht nur auf die Bundesrepublik, wie Paul Virilio zu dem Verhältnis von modernem Krieg und modernem Staat darlegte:

Als die Zerstörung eine Form der Produktion geworden ist, dehnt sich der Krieg jetzt nicht mehr nur auf die Dimension des Raumes, sondern auf die Gesamtheit der Realität aus. Die militärische Auseinandersetzung hat keine Grenzen und folglich kein Ziel. Sie wird nicht mehr enden, und im Jahre 1945 wird die nukleare Situation ihn perpetuieren: Der Staat ist selbstmörderisch geworden. (VIRILIO (1975[2011]): 101)

Wenn wir diese paradox suizidale Politik verstehen wollen, die sich im Westdeutschland der 50er Jahre herauskristallisiert hatte – allerdings auch zu einem gewissen Grade den Kalten Krieg generell charakterisierte –, dann müssen wir Virilios Statement vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Debatte zur Biopolitik sehen. So legt Michel Foucault dar: „Wenn der Völkermord der Traum der modernen Mächte ist, so nicht auf Grund der Wiederkehr des alten Rechts zum Töten, sondern eben weil sich die Macht auf der Ebene des Lebens, der Gattung, der Rasse und der Massenphänomene der Bevölkerung abspielt“ (Foucault (1978[1983]: 164).

BIOPOLITIK UND KALTER KRIEG

Getragen von seiner Rolle als Erklärungsversuch zum globalen Krieg gegen den Terror im frühen 21. Jahrhunderts, konnte sich die Biopolitik als Fokus für Debatten im Bereich der Humangeographie etablieren und hat so Untersuchungen zu so diversen Themen wie Migration, HIV, Flughäfen, Klimawandel und Nahrungsmittelversorgung inspiriert (einen Überblick bieten Rutherford und Rutherford 2013). Das Konzept der Biopolitik zielt darauf ab, die Vereinbarkeit der Förderung des Lebens mit der Proliferation des Todes und des Tötens zu erfassen. Biopolitik ist der Moment, in dem Politik an der Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Sozialen interveniert, also am Leben selbst (Lemke 2011). Besonders die Politische Geographie hat mit ihren Untersuchungen zur Renaissance des Internierungslagers im Krieg gegen den Terror (siehe insbesondere das Gefangenenlager Guantanamo) und dem von den USA angeführten Krieg im Irak (2003-) wiederholt auf biopolitische Erklärungsansätze zurückgegriffen (Diken und Laustsen 2006; Gregory 2007; Minca 2005; 2006; 2015); dies geschah auch bezogen auf den arabisch-israelischen Konflikt (Ramadan 2009) und neue Grenzkontrollregimes nach den Anschlägen auf die USA im September 2001 (Amoore 2006; Sparke 2006; Vaughan-Williams 2015). Dadurch hat die Politische Geographie eine kraftvolle Verbindung zwischen der Biopolitik des frühen 20. Jahrhunderts und dem gegenwärtigen Sicherheitsstaat hergestellt.

Geographen haben sich üblicherweise der Biopolitik über die Werke zweier Sozialtheoretiker angenähert, über Michel Foucault und Giorgio Agamben. Foucault begann in den späten 80er Jahren zu verstehen, wie das Leben selbst zum Objekt moderner Regierungsarbeit geworden war. Er erklärte, das alte Recht des Souveräns über Leben und Tod habe zunehmend einer neuen Macht Platz gemacht, der Macht das Leben zu hegen und zu verlängern bis hin zu dem Punkt, es auch aufgeben zu dürfen. In seinen Worten: „Das alte Recht, sterben zu machen und leben zu lassen“ wurde ersetzt durch „das Recht, Leben zu machen oder in den Tod zu stoßen“ (Foucault 1978[1983]: 165). Statt Biopolitik als Antwort auf und Heilmittel gegen Gewalt und Krieg verstand er Biopolitik und militärische Gewalt als kompatibel. Der Untergang niederer Lebensformen mache das Leben der Bevölkerung gesünder, so die Logik der Biopolitik. Foucault verkündete, das Prinzip „Töten um zu leben“ sei „zum Prinzip der Strategie zwischen Staaten“ geworden (ebd.: 164). In einer häufig zitierten Passage schreibt Foucault:

Kriege werden nicht mehr im Namen eines Souveräns geführt, der zu verteidigen ist, sondern im Namen der Existenz aller. Man stellt ganze Völker auf, damit sie sich im Namen der Notwendigkeit ihres Lebens und Überlebens gegenseitig umbringen. Die Massaker sind vital geworden. Gerade als Verwalter des Lebens und des Überlebens, der Körper und der Rasse, haben so viele Regierungen in so vielen Kriegen so viele Menschen töten lassen. (1983: 163)

Wird diese Passage aus dem Kontext gerissen, wird jedoch oft übersehen, dass Foucault tatsächlich über den Atomkrieg sprach. Denn er fährt fort:

Und in einer Rückwendung schließt sich der Kreis: je mehr Kriegstechnologie die Kriege auf den Weg zur restlosen Vernichtung geführt hat, desto stärker ist die Entscheidung zur Erklärung wie zur Beendigung eines Krieges zur nackten Überlebensfrage geworden. Die atomare Situation ist heute der Endpunkt dieses Prozesses: die Macht, eine Bevölkerung dem allgemeinen Tod auszusetzen, ist die Kehrseite der Macht, einer anderen Bevölkerung ihr Überleben zu sichern. (EBD.)

Selbst der Atomkrieg, so Foucault, werde nicht im Namen eines Souveräns geführt, sondern für das Überleben der Bevölkerung – wobei paradoxerweise dabei auch deren möglicher Untergang in Kauf genommen werde (Foucault 1976[1999]).

Auf dieser geistigen Pionierleistung hat etwas später Giorgio Agamben aufgebaut, dabei aber in Abweichung von Foucault die Biopolitik neu auf die Fragen der Souveränität und des Rechts fokussiert. Wenn man sich mit der gleichzeitig legalen und extra-legalen Logik des Ausnahmezustands befasse, einem von Carl Schmitt (1922[2005]) übernommenen Konzept, dann, so stellt Agamben dar, konstituiere sich souveräne Macht und ihr Gegenteil, „das nackte Leben“, paradoxerweise in und durch rechtsfreie Räume. Einem bekannten Argumentationsgang folgend führt Agamben (1998) diese Schaffung nackten Lebens auf eine aus dem alten Griechenland bekannte Unterscheidung zwischen politischem (bios) und natürlichem oder nacktem Leben (zoé) zurück. Biopolitik findet sich nach Agamben in der Preisgabe der zoé,