Burn-out oder voll Banane?! - Len Mette - E-Book

Burn-out oder voll Banane?! E-Book

Len Mette

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Beschreibung

Psychisch erkrankt? Depression? Burn-out? Voll Banane? Ich? Das ist alles so unwirklich. Es kann doch nicht möglich sein, dass ich meinem eigenen Verstand nicht mehr trauen darf, meine eigenen Stimmungen nicht mehr unter Kontrolle habe! Bin ich überhaupt heilbar? Dieses Etwas, das ich da jeden Morgen im Spiegel anstarre, unterscheidet sich jedenfalls nicht wesentlich von einer oscarreifen Horrorszene. Und allmählich bekomme ich Angst vor all diesen Untoten, hier in der Klinik, in die ich mich nach langem Ringen begeben habe. Bin ich etwa genauso untot wie die? Was reden die denn alle? ›Hilfe zur Selbsthilfe‹, ›Achtsamkeit und Meditation‹... Werden wir jetzt esoterisch oder was?! Ich will lieber verstehen, wie ich überhaupt derart unbemerkt zu einem dieser Zombies werden konnte! Ich schreibe es auf. Für Mich. Und für Dich.

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Seitenzahl: 269

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Burn-out oder voll Banane?!

Ein Tagebuch von Depression, Achtsamkeit und Selbstironie.
von
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Burn-out oder voll Banane?!
Len Mette
1. Auflage
März 2017
© 2017 DerFuchs-Verlag
D-69231 Rauenberg (Kraichgau)
DerFuchs-Verlag.de
Lektorat/Korrektorat: Sabrina Georgia,
Coverfoto: Fotomanufaktur Wessel
Alle Rechte vorbehalten.
Das Werk, einschließlich aller Teile, ist urheberrechtlich geschützt.
Alle Rechte, insbesondere die der Vervielfältigung, Verbreitung, Übersetzung und Verfilmung liegen beim Verlag. Eine Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen ohne Genehmigung des Verlags ist strafbar.
ISBN 978-3-945858-30-1 (Taschenbuch)
ISBN 978-3-945858-31-8 (ePub)

Gewidmet meinem Freund und Vorbild Dr. H. W., der am 17.05.2015 in Folge schwerer Krankheit verstorben ist.

Aus der Nummer mit dem Fischbrötchen kommst Du mir nicht heraus! Irgendwann. Irgendwo.

Der Song zum Buch:

"Freischwimmer" von Len Mette.

Erhältlich als Download oder Stream im Onlinehandel.

Alle Informationen unter

www.mette-music.de

Vorwort

Ich befinde mich in einer Ausnahmesituation. Ich bin in einer Situation, die in meiner Lebensplanung niemals auch nur ansatzweise vorkam: Ich benötige psychotherapeutische Hilfe. Das jedenfalls ist es, was mir die Ärzte sagen. Ich habe nicht einmal eine Idee, was dieser Terminus überhaupt im Detail bedeutet. Jedoch weiß ich, dass es mein letzter Ausweg aus einer Lage ist, die mich aufzufressen droht. Ich bin in die vielzitierte Burn-out-Falle getappt, so zumindest scheint es. Augenblicklich stellt sich mir die Frage, ob ich hier überhaupt auch wieder gänzlich genesen herausfinden kann. Ich bin weder in der Lage mir vorzustellen, wie man eine solche Krankheit heilt noch ob es überhaupt möglich ist sie zu heilen. Ach was, ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt eine Krankheit ist, die ich da mit mir herumschleppe. Werde ich gesund und wieder völlig normal werden oder war es das nun mit meiner vollen Leistungsfähigkeit, mit den besten Jahren meines Lebens?

Vielleicht werde ich die Fragen zu krank oder nicht krank, Genesung oder nicht Genesung erst wesentlich später, mit etwas Abstand beurteilen können. Ich habe mir daher vorgenommen, die Geschehnisse zu dokumentieren, die mich in dieser, für mich völlig unbekannten Welt der psychologischen Betreuung, erwarten und so einschüchtern. Das soll mir helfen auf dem Weg, der nun vor mir liegt. Ich möchte mir selbst ermöglichen, zurückschauen zu können. Ich will es mir selbst ermöglichen, mir Veränderungen und meine eigene Entwicklung vor Augen zu führen, wenn mir einmal die Puste auf diesem Weg ausgeht.

Und wer weiß: Sollte mein Weg einen positiven Verlauf nehmen, kann diese Dokumentation eventuell sogar anderen Patienten helfen, die sich in einer ähnlichen Situation befinden und jenen Weg noch vor sich haben. Sie wissen schließlich ebenfalls nicht, wie ihnen geschieht. Möglicherweise interessiert sich gar der eine oder andere Profi dafür, wie es mir, einem Patienten von vielen, in den unbeobachteten Augenblicken ergangen ist. Vielleicht hilft es irgendwem oder eben nur mir selbst, denn dann hätte dieser ganze Horror zumindest einen Sinn gehabt. Ich mache mich selbst zu meiner eigenen Laborratte, gebe mir selbst auf diese Weise ein perfides Gefühl von Kontrolle in dieser, für mich unwirklichen Situation.

Wie auch immer dies funktionieren, oder nicht funktionieren mag, eines will ich mir nicht verbieten: Ich werde lächeln und versuchen, das Ganze hier mit einem Augenzwinkern zu betrachten. Ich nehme mir vor über mich selbst, andere und diese unwirkliche Situation zu lächeln, völlig gleichgültig, ob das nun in einer solchen Lage ›angemessen‹ sein mag, oder nicht. Denn wenn mir mein Humor verloren geht, kann ich auch gleich aufgeben! Die Welt dreht sich nämlich weiter, ob ich nun wieder normal werde oder nicht. Grund genug, im Zweifel, mit Würde und einem verschmitzten Lächeln die Bühne zu verlassen. Zigarre in den Mundwinkel stecken, lächeln und sagen:

»Ich liebe es, wenn ein Plan funktioniert!« – auch, wenn er nicht funktioniert hat. Oder so ähnlich ... Irgendwas Episches halt!

Der Weg in die Falle

Selbstbilder und Stigmata

Nun sitze ich hier im Foyer einer psychosomatischen Klinik. Ich habe mich entschlossen zu schreiben, muss meine Gedanken ordnen und irgendwie in Reih und Glied bringen, denn sonst wird mein Kopf irgendwann platzen. Das zumindest ist mein Gefühl, während ich von Eindrücken und Gedanken übermannt werde. Ich fühle mich völlig nutzlos, wie ein ausgesondertes Wrack der Leistungsgesellschaft.

Ich schreibe. Ja, ich schreibe, denn irgendwie gibt es mir das Gefühl überhaupt noch etwas Sinnvolles in diesem armseligen Dasein tun zu können. Es ist diese eine Frage. Sie plagt mich immer und immer wieder in neuer Gestalt: Wie konnte das alles überhaupt passieren? Wie bin ich hier gelandet? Wie entwickelt man sich unbemerkt vom ganz normalen Menschen zu einer Art Zombie?

Eigentlich, so könnte man meinen, eine vorprogrammierte Sache, wenn man meinen Lebenslauf der letzten sieben Jahre einmal neutral betrachtet: Ich habe gemeinsam mit meiner Frau Nadja ein Haus gebaut, eine Hochzeit gefeiert, die in ihrer Vorbereitung einem Großprojekt gleichkam, und zwei bezaubernde Kinder in die Welt gesetzt. Ich habe ein Buch geschrieben, zwei Arbeitgeberwechsel vollzogen, diverse berufliche Projekte geleitet, Personalverantwortung übernommen und meine musikalische Karriere nach vierzehnjähriger Pause wiederbelebt. Zusätzlich unterhalten wir einen Freundes- und Familienkreis, treiben ein wenig Sport, pflegen Haus und Garten, haben Hobbys und ein Kleingewerbe. Was man halt so macht. Was eben jeder so macht ... Was eben jeder so macht!

Ich würde mich also selbst nicht als Workaholic oder besonders fleißig bezeichnen. Im Gegenteil: Eigentlich versuche ich, die notwendigen Dinge schnell wegzuarbeiten, die gesetzten Ziele frühzeitig zu erreichen, um die Arbeit ebenso eilig vom Tisch und aus dem Sinn zu haben. Dass nach der Erledigung immer neue Arbeit auf mich wartet, ist manchmal ärgerlich, liegt aber wohl in der Natur der Sache. Auch diese erledige ich dann gleichermaßen. Das mache ich ebenso qualitativ, wie effektiv. Bisher jedenfalls. Nun jedoch ist alles anders. Plötzlich falle ich durch´s Raster, soll einer derjenigen sein, die es einfach nicht mehr bringen:

Ich hatte einen Totalausfall und das auch noch im Büro. Eines Morgens saß ich da vor meinem Rechner mit Kribbeln in Armen und Beinen, mit tauben Lippen. Ich saß da über Stunden, nicht in der Lage, eine simple Email zu schreiben. BAAAMS! Unglaublich! Es ist nicht zu erklären. Ich konnte die notwendige Kraft und Motivation einfach nicht aufbringen, mit meiner Arbeit zu beginnen. Meine Hand an die Maus des Computers zu führen war nicht möglich, so sehr ich es auch versuchte. Ich konnte kommunizieren, mich bewegen und mir Kaffee besorgen. Ich konnte sogar klar denken, nur habe ich es nicht geschafft, diesen ersten und absolut simplen Schritt meiner tagtäglichen Arbeit zu tun. Und exakt diese simple Beschreibung war es, was diese ganze Sache so beängstigend machte: Bis auf dieses Kribbeln in den Gliedmaßen war ich doch völlig gesund, hatte sonst keinerlei Krankheitssymptome.

War ich etwa einfach nur faul? Aber wenn ich das war, dann hätte ich mich nach einiger Zeit doch irgendwie selbst motivieren können müssen. Eine faule Phase hat schließlich jeder irgendwann mal! Das geht vorbei ... Aber bei mir ging es nicht vorbei. Ich konnte es nicht. Ich war nicht mehr in der Lage, meinen Job zu erfüllen.

Spätestens nach diesem Erlebnis war mir und auch meinen Kollegen klar, dass ich genau jetzt Hilfe brauchte. Mancher sah sogar einen sich anbahnenden Schlaganfall und entsprechenden Handlungsbedarf. Ehe ich mich versah, saß ich vor einem Arzt. Der darauffolgende medizinische Check-up ergab jedoch rein gar nichts. Blutdruck, Blut, Herz ... Alles okay. Leicht erhöhter Ruhepuls ... vernachlässigbar, noch immer im grünen Bereich. Ich war körperlich fit, wenn man mal von ein paar Kilos absah, die ich zu viel an den Hüften hatte. Und genau hier lag wohl das Problem. Nicht in den Kilos an den Hüften, aber in der Tatsache, dass ich aus physischer Sicht komplett gesund war. Damit nahm das Schiff nämlich eindeutig Kurs auf die berüchtigte Diagnose ›Burn-out‹.

Burn-out. Dieser Begriff machte mir Angst. Er war wie ein Stempel auf der Stirn. Abhängig davon, in welchem Umfeld man sich bewegte, war er einerseits wie eine Auszeichnung für herausragende Leistungen, wie die Medaille für den Soldaten, der ehrenhaft in der Schlacht fiel. In anderer Umgebung konnte jenes Burn-out jedoch ein Stigma sein und jemanden kennzeichnen, der einfach zu weich für den Berufsalltag war. Ein ›Minderleister‹, der am ganz normalen Berufsleben zerbrach. Ein ›Weichei‹, das vermutlich besser Dekorateur in der Ballettschule oder sowas geworden wäre. Ja, so mancher sah das tatsächlich so! Das hatte ich schon oft genug in anderen Unternehmen gesehen und gehört. Burn-out war dort Synonym für die Lizenz zum Kaffeekochen und Tassenpolieren. Oder eben gleich der Fahrschein in die Arbeitslosigkeit über diesen Umweg. Vor diesem Stigma hatte ich Angst. Ich wollte nicht nur noch zum Tassenpolieren eingesetzt werden, weil man mir höhere Belastungen nicht mehr zutraute. Ich war doch noch immer ich. Jahrelange Erfahrung. So ein Mist!

Aber spätestens nach meinem Totalausfall an jenem Tag war wohl die sprichwörtliche Katze aus dem Sack. Es gab nun harte Fakten, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen waren. Die Firma, mein Hausarzt und meine Frau Nadja wussten bescheid. Es gab kein Zurück mehr, der Stein war ins Rollen gekommen. Die Welt um mich herum verselbstständigte sich und man empfahl mir, Kontakt zu einer Klinik aufzunehmen. Eine der besten Adressen in Deutschland, so hieß es. Sechzig Patienten, etwa dreißig Therapeuten, individuelle Therapie, Ernährung in Restaurant-Atmosphäre, Sauna und Sport. Trotzdem ... Ich? In eine Klinik? Ein Psycho? Niemals!

Warnsignale und Selbstbetrug

Ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass mir mein Körper keine Warnzeichen gesendet hätte. In den letzten Jahren habe ich mich immer wieder mit kleineren ›Wehwehchen‹ herumgeschlagen: Akutes Schwitzen im Bett, so stark, dass mir Schweißtropfen an den Beinen herunterliefen und ich die komplette Bettwäsche mitten in der Nacht wechseln musste. Unruhezustände, sporadischer hoher Blutdruck und dadurch verursachtes Nasenbluten, ohne erkennbare körperliche Ursachen. Hautausschläge, extreme Verdauungsstörungen ohne erkennbare Ursache oder auch akute Schmerzen in den Armen, ausgelöst durch Verklebungen und Muskelverhärtungen im Rücken- und Schulterbereich. Darüber hinaus war es mir nicht möglich abzunehmen, so viel Sport ich auch trieb und so sehr ich auch auf meine Ernährung achtete. Im Gegenteil! Die letzten fünf Jahre hatten mir zusätzliche zehn Kilo beschert.

Natürlich war ich daran nicht ganz unschuldig, lebte schließlich nicht immer gesund. Fakt war jedoch, dass sich dieser Prozess nicht umkehren ließ, selbst wenn ich auf gesunde Ernährung und ausreichend Sport achtete. Am schlimmsten war jedoch dieser ständige, nicht lokalisierbare Druck, diese Spannung, die ich in meiner Brust zu spüren glaubte, über die ich jedoch mit niemandem sprach. Schließlich gab es auch hierfür keinerlei medizinisch nachweisbaren Anhaltspunkt und mir war klar, dass mir jeder nur halbwegs normaldenkende Mensch dazu raten würde, mir einfach nur Ruhe zu gönnen.

Immer, wenn ein solches ›Wehwehchen‹ auftrat, hatte ich ein Rezept, um etwas für mich selbst zu tun: Ich ging in die Sauna, um mir Ruhe zu gönnen, besuchte einen QiGong-Kurs, zur Entspannung. Ich kaufte Dinge, die mir Freude machen sollten, oder machte ein Wochenende lang einfach mal gar nichts. Und all diese Dinge hatten wiederum eines gemeinsam: Ich betrog mich selbst!

Nichtstun konnte ich nämlich gar nicht. Hatte ich Freizeit und wollte einfach mal nichts tun, nahm ich mir dennoch etwas vor und wenn es nur eine Reparatur am Haus war. Spielte ich mit meinen Kindern, überlegte ich, was ich danach und in den folgenden Wochen noch auf meiner To-do-Liste haben würde. Saß ich in der Sauna, dachte ich daran, was ich anderswo noch zu tun hatte. Gab es anderswo nichts zu tun, entwickelte ich neue Projekte und Ziele, sei es im privaten oder im beruflichen Umfeld. Ich war mit meinen Plänen immer der Gegenwart voraus. Stillstand gab es nie! Drohte Stillstand, war ich unzufrieden und nervös, zog ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter und wusste nicht einmal aus welchem Grund. Unzufrieden und nervös war ich allerdings auch dann, wenn ich besonders viel zu tun hatte. Da war diese Angst, dass all diese Bälle, die ich beim Jonglieren mit Aufgaben im beruflichen und privaten Umfeld in der Luft halten musste, irgendwann unkontrolliert zu Boden fallen würden, was den finanziellen Ruin bedeutet hätte. So zumindest dachte ich.

So plakativ diese Beschreibungen sind, wo ich sie nun niederschreibe, für mich waren sie ganz normaler Alltag und nicht weiter bedenklich. Nur noch dieses eine Vorhaben! Danach wäre die Existenz gesichert und ich könnte abschalten. Dass ich dieses Abschalten längst verlernt hatte und die Angst bereits zum Selbstläufer mutiert war, wurde mir nicht bewusst.

Stattdessen wuchsen nach und nach Groll und Missmut. Ich war mit mir selbst unzufrieden. Hatte ich den richtigen Beruf gewählt? War es klug gewesen damals keine Musikkarriere zu verfolgen und stattdessen ein Haus zu bauen und eine Familie zu gründen? Und das nur um nun im eigenen Lebensstandard gefangen zu sein und eben nicht mehr die Wahlmöglichkeit zu haben, alles hinzuschmeißen, ohne damit eine Familie in den Ruin zu treiben? Schlips statt Gitarrengurt? Ich liebte meine Frau und Kinder mehr als alles andere. Infrage stellte ich mein Lebensmodell dennoch. Alles aus dem Gefühl heraus, doch endlich keine Verantwortung mehr tragen, nicht ständig diese lange Aufgabenliste haben zu müssen.

»In welchen Fällen zahlt eigentlich diese Lebensversicherung da im Ordner?« Dies war die logische Frage, die aus diesem Gedankenspiel resultierte. Ich hatte niemals die Absicht, mir das Leben zu nehmen, oder meine Familie zu verlassen. Aber ich wollte alle Wege betrachten, die mir dieses ständige Gefühl von Druck und zu viel Verantwortung hätten nehmen können. Einen Schalter zu finden, der alles einmal ausschalten würde. Dass hierin die Logik fehlte, das war mir durchaus klar, denn schließlich wäre es mit dem wieder anschalten schwierig, wenn man erst einmal nicht mehr da war. Aber Logik war an dieser Stelle einfach nicht wichtig, denn mein Bauch zwang mich in eine völlig andere Richtung. Und was tat ich nun, um diesem unlogischen Gefühl zu entgehen? Richtig: Ich setzte mir neue Ziele, suchte weitere Aufgaben und der Prozess begann von vorn.

Zu meinen ›Wehwehchen‹ mischten sich nun auch diverse Stimmungstiefs. Es gab zunächst einzelne Tage, zumeist am Wochenende, an denen ich mich leer und antriebslos fühlte. Zwar ging ich den Pflichten des Alltags nach, hatte aber ein versteinertes Gesicht, starrte bei den Familienmahlzeiten ins Leere. Natürlich bemerkte ich das selbst. Natürlich bemerkte das auch Nadja. Selbstverständlich redeten wir darüber. Ich erklärte es jedoch mit Müdigkeit und schlechter Laune. Um eben diese zu besiegen, trieb ich Sport, oder kaufte mir etwas Schönes, gönnte mir einen Tag in der Sauna.

Fällt jemandem etwas auf? Ja, der Prozesskreisel drehte sich weiter. Ich wusste es einfach nicht besser, war nicht in der Lage diesen Zusammenhang zu sehen. Die Stimmungstiefs nahmen allmählich zu, wurden länger. Ich wurde vergesslicher, konnte mir Namen oder Zahlen zunehmend schwerer merken. Die Priorisierung von Aufgaben, das Erfassen komplexer Sachverhalte, ganz wesentliche Teile meines Berufsalltags, wurden schwieriger und immer anstrengender. Ich verlor zusehends meine Souveränität und Frische, die purer Verbissenheit gewichen waren.

Selbst der Weihnachtsurlaub reichte nun nicht mehr aus, um nachhaltig bessere Laune zu bekommen. Nadja begann sich ernstere Sorgen zu machen. Ich trieb Sport, kaufte mir etwas Schönes, gönnte mir einen Tag in der Sauna. Ich ging nach dem Urlaub zurück zur Arbeit. Erstmals bemerkte ich an mir, dass ich im Büro weniger humorvoll, dafür aber umso ungeduldiger und bissiger wurde. Kollegen, wie auch Freunde sprachen mich zu den unterschiedlichsten Gelegenheiten unabhängig voneinander an:

»Mette, Du siehst schlecht aus. Was ist mir Dir?«

Diese Ansprache von verschiedenen Seiten machte mir durchaus Sorgen. Das konnte man aus ganz nüchterner, analytischer Sicht nicht ignorieren. Etwas musste ja dran sein, wenn so viele Menschen die gleichen Feststellungen machten. Aber ein Rezept zur Abhilfe hatte ich längst nicht mehr. Ich trieb also Sport, kaufte mir etwas Schönes, gönnte mir einen Tag in der Sauna, ging wieder arbeiten. Bis zu jenem Tag des Totalausfalls im Büro.

Die peinliche Erleichterung des Krankseins

Fortan war ich also krank. So weit, so gut. Gut? Jawohl! Gut! Denn in Folge dieses Tages der ›Offenlegung‹ meines Leidens erfuhr ich neben des Schreckens auch unglaubliche Erleichterung. Es gab nun etwas Greifbares, denn ich war offiziell krank. In welcher Form auch immer. Es gab etwas, womit man sich befassen konnte, so wenig greifbar es auch war, denn ich hatte ja schließlich kein gebrochenes Bein oder eine Infektion. Es war, als hätte man mir eine Last von den Schultern genommen. Eigentlich wusste ich ja längst, dass etwas nicht stimmte, aber genau dieses Etwas hatte nun einen Namen. Natürlich hatte ich darüber auch schon mit Freunden gesprochen, mich aber immer wieder im Kreis gedreht, wie blind und nicht in der Lage Ursache und Wirkung zu begreifen. Ich ging in die Sauna, trieb Sport, kaufte mir etwas Schönes.

Entschuldigen musste ich mich zudem bei Nadja: In der Absicht sie nicht mit Existenzängsten belasten zu wollen, hatte ich hier bis zum Tag der Krankschreibung keinen Klartext geredet. Meine eigene Angst nicht durchzuhalten, musste von meiner Familie ferngehalten werden, wie ich dachte. Das war ganz allein mein Problem, für das ich selbst eine Lösung finden musste. Ich redete also mit Vertrauten, jedoch nicht mit der wichtigsten Person in meinem Leben: meiner Ehefrau. Diese wusste am wenigsten über mein Problem Bescheid, sah nur diesen Zustand, der wohl wenig vertrauenserweckend war. Wie dumm von mir, denn mit dem Tag meiner Krankschreibung konnte ich erkennen, dass ich den liebevollsten und loyalsten Menschen des Universums an meiner Seite habe! Kein Wort der Enttäuschung. Kein Vorwurf. Nicht der Hauch von jener Krise, die ich mir ausgemalt hatte. Keine Bombe, die zu platzen drohte. Im Gegenteil! Auch sie wirkte erleichtert, dass nun endlich die Voraussetzung für den Weg aus der Krise gegeben war. Sie stärkte mich in meinem Tun, machte die mir mehr als peinliche Situation des Versagens zu einer völlig normalen Krankheit.

Während ich mit mir selbst kämpfte, mich nun fragte, ob ich tatsächlich eine psychische Krankheit hatte und mich ärgerte, meine eigene Stimmung nicht mehr heben zu können, sagte sie:

»Es ist mir ganz egal, ob du eine Grippeauskurieren musst, dir ein Bein gebrochen hast, oder eben therapeutische Hilfe benötigst. Du bist jetzt krank und wir werden dir Hilfe holen, die dich wieder völlig gesund macht. Da mache ich mir überhaupt keine Sorgen.«

Diese Feststellung hätte für mich wertvoller nicht sein können, auch wenn ich genau wusste, wie unsicher und besorgt sie selbst in dieser Situation war. Eine psychische Erkrankung war zu diesem Zeitpunkt noch weitaus peinlicher für mich, als jegliche physische Krankheit. Sie hatte mit meinem Bewusstsein zu tun. Und die Kontrolle über Teile des eigenen Bewusstseins zu verlieren, hieß für mich ›verrückt‹ zu sein. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Es war so unwirklich ...

Ironischerweise hatte ich einige Monate zuvor in meinem ersten Buch, ›Das Cappenberg-Experiment‹, über die Gefahren der Überlastung von Projektmitarbeitern und dem drohenden Totalausfall jener referiert. Ich hatte hier das Bild von Indianern in Paddelbooten auf einem kanadischen See karikiert, die immer wieder durch das Vorgaukeln von akuten Krisen, in Form von Seeungeheuern, seitens ihrer Häuptlinge zum schnelleren Paddeln gebracht werden sollten:

›Hinsichtlich der Krisen frage ich mich zwar mittlerweile, ob diese nicht einzig und allein erfunden sind und den Sinn haben, die Wirtschaft weiter anzukurbeln, aber das führt hier wohl zu weit. Man stelle sich nur mal vor, man erzählte den Indianern von immer weiteren Seeungeheuern und empfehle ihnen im gleichen Atemzug, lieber ein wenig schneller zu paddeln, bevor das nächste Ungeheuer in Erscheinung trete ... Ich bin überzeugt, auf diese Weise gäbe es ratzfatz die erste Goldmedaille für einen kanadischen Indianer im Kanadier! Danach würde der kanadische Indianer vermutlich tot umfallen und nix mehr gewinnen, was man dann ›Burnout‹ nennen würde, aber der kurzweilige Erfolg wäre garantiert! Gut, lassen wir das ... Zurück zum Thema ...‹

Nun ja, zumindest hatte ich nun selbst den Beweis erbracht, dass dieses Bild nicht ganz falsch sein kann. Das Cappenberg-Experiment – tolles Buch mit Lebensweisheiten, Mette. Echt mal ...

Hinsichtlich der Reaktionen der verschiedensten Menschen in meiner Nähe, vor denen ich mich so gefürchtet hatte, gab es durchweg Kommentare, die mir zu diesem Zeitpunkt halfen, den Weg fortzusetzen. Arbeitgeber und Kollegen, Familie, Freunde und Nachbarn: Niemand sah mein ›Sich-der-Krankheit-ergeben‹ als Schwäche. Ganz im Gegenteil: Man sprach mir Respekt dafür aus, dass ich die Krankheit anerkannt hatte und mir helfen lassen wollte. Man bot mir Hilfe an, half mir in der Tat mit Gesellschaft, Taxi-Fahrten und damit, dass man meine Familie bei den nun folgenden organisatorischen Aufwänden unterstützte. Für all diese Unterstützung danke ich Euch! Offenbar war ich der Einzige, der mich in dieser Situation als schwach und gescheitert ansah.

Bürokratie für Kranke

Gut, ich war also krank. Nun galt es, schnell zu handeln! Jetzt würde ich die Weichen für meine Genesung und damit für die Zukunft meiner Familie stellen müssen, auch wenn ich erbärmlich wenig Energie zum Handeln hatte. Genau hier lag ja schließlich auch mein Problem.

Ich nahm telefonischen Kontakt zur, vom Hausarzt empfohlenen, Klinik auf. Sogleich erfuhr ich, dass bereits ein freies Bett auf mich in dieser Klinik wartete, lediglich die Kostenzusage der Krankenversicherung galt es zu erringen. Zumindest sofern ich den schwindelerregenden Tagessatz nicht aus eigener Tasche zahlen wollte, was auch utopisch war. Schließlich handelte es sich um eine nicht ganz kostengünstige Adresse. Eine weitere, riesige Hürde für mich, denn letztlich befand ich mich in einem Zustand der Überforderung. Ich brachte es schlichtweg nicht fertig, einfachste Dinge zu organisieren. Das Schreiben eines simplen Einkaufszettels war eine immense Herausforderung. Aufstehen, einen Zettel suchen, einen Stift in der anderen Ecke finden, ehe ich überhaupt hätte schreiben können. All das war mit so unendlich vielen Befehlen an meinen Körper verbunden, für die allerdings jegliche Energie fehlte. Wenn schon das kaum klappte, wie sollte ich da in Kommunikation mit einer bürokratischen Versicherung treten, deren Hauptaufgabe es vermutlich war, sich mit allen möglichen Zermürbungstaktiken dagegen zu sträuben, jene hohen Kosten zu übernehmen?

In diesem Zustand der völligen Leere, in dem ich seit der Diagnose nun den ganzen Tag auf der Couch sitzend, mit regungsloser Miene verbrachte, hatte ich schlicht keinerlei Antrieb mir selbst zu helfen. Es war unglaublich! Ich befand mich in dieser Hülle, in meinem eigenen Körper und konnte ihn einfach nicht in gewohnter Weise steuern. Selbst wenn mich dieser Umstand noch so ärgerte, es half nichts. Ich wusste, dass ich etwas tun wollte und musste, aber es ging einfach nicht!

Irgendwie schaffte ich es, mit einem Sachbearbeiter der Versicherung zu telefonieren, nachdem ich mich mehrere Tage mit dieser Aufgabe auseinandergesetzt hatte. Nach einigen weiteren Tagen erfuhr ich jedoch, dass das Urteil und eine konkrete Diagnose eines Facharztes oder eines Psychotherapeuten erforderlich waren, um die Kostenübernahmezusage zu erhalten. Schließlich gab es keine therapeutische Vorgeschichte, die auf einen nun erforderlichen stationären Aufenthalt in einer Klinik hindeutete.

So weit war das auch aus Sicht der Versicherung nachvollziehbar. Trotzdem zeigte sich hier das nächste Problem: Welchen Facharzt oder Therapeuten man auf diesem Gebiet auch anrief, einen Termin bekam man frühestens sechs Monate in der Zukunft. Und das nur zum Vorgespräch! Einen Therapieplatz zu bekommen, hätte weitere Monate gedauert ...

Wie bitte?! Wie lange sollte ich denn nicht arbeiten? Und wer sollte mich ohne Diagnose derart lange krankschreiben? Meine Hoffnung auf Hilfe fiel wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Was sollte ich denn nun machen? Mich von unserer vierzig Zentimeter hohen Terrasse stürzen, um mir irgendwas zu brechen, damit man auch sah, dass ich Hilfe brauchte?

Was bitte passiert denn mit Menschen, die am Rande ihres Daseins stehen? Also ... mit Leuten, die so richtig krank sind? So ... im Kopf und so ... Depressionen ... Burn-out ... all sowas! Mir ging es ja schließlich noch gut! Hier musste doch ein Fehler im System liegen! Aber alles Klagen half nichts.

Mit dem Ergebnis meiner Gespräche mit der Versicherung und mit letzter Kraft wandte ich mich wiederum telefonisch an die Klinik. Glücklicherweise erklärte sich der Oberarzt bereit, mich zeitnah zu untersuchen und darüber hinaus die Kommunikation zur Kostenübernahme mit der Versicherung zu übernehmen. Ein neuer Hoffnungsschimmer!

Ich ließ mich also mit Unterstützung aus dem Freundeskreis in die 150km entfernte Klinik fahren. Ich ließ mich untersuchen. Ich schaute mir die Klinik an. Es gab eine erste fachliche Diagnose: ›Depression‹ hieß es da in einer langen Beschreibung meines Zustands, eingerahmt in diverse Fachbegriffe weiterer Verdachtsmomente. Depression. Ich war also tatsächlich Banane! Verrückt ... Außer Kontrolle! Ein Psycho ... Verdammt! Das hier war echt.

Der Herr Oberarzt musste sich doch geirrt haben. Ich hatte keine Depression, war nicht Banane. Ich war nur etwas überlastet. Hatte er das denn nicht gesehen? Moment mal ... Hatte ich hier etwa den Bock zum Gärtner gemacht? Wollte dieser Herr Oberarzt mich etwa einfach nur in seine Klinik locken, um eifrig Geld an mir zu verdienen? Wollte er die Versicherung mit einer möglichst erschreckenden Diagnose von der Notwendigkeit meines Aufenthalts überzeugen? Depression! Was sollte das denn heißen? Wenn ich jetzt plötzlich solch eine Krankheit hatte ... Wer würde denn nun noch Versicherungen mit mir abschließen? Niemand! Das konnte nicht sein! Irgendwie war es aber auch egal, denn der Stein war ins Rollen gebracht worden. Irgendwas musste man ja nun mit mir machen. Sollten sie es also Depression nennen! Die würden schon irgendwann von allein merken, dass es so schlimm nicht war. Für Wortgefechte mit einem Fachidioten hatte ich jetzt jedenfalls keine Energie.

Noch während ich im Wartebereich der Klinik saß und mir das Treiben der Insassen so anschaute, wurde mir ganz anders. Die Gedankenspirale drehte sich wieder in eine neue Runde:

Eine psychische Krankheit? Depression? Burn-out? Ich? Dieser Kinofilm, in den ich hier geriet ... Das war alles mehr als unglaublich! Es konnte doch nicht sein, dass ich meinen eigenen Kopf und Stimmung nicht mehr unter Kontrolle hatte!

›Was denken denn nun die Anderen? Ist das das Ende meiner beruflichen Laufbahn? Bin ich überhaupt heilbar? Hey, wenn nicht, dann mach ich eben Karriere als Zombie in der Geisterbahn, jawohl! Jedenfalls unterscheidet sich das Antlitz, das ich da jeden Morgen im Spiegel sehe, nicht wesentlich von einer oscar-reifen Horrorszene. Immerhin bin ich ja nicht allein, wenngleich ich langsam Angst vor all diesen Untoten hier in dieser Klinik bekomme. Und ich frage mich allmählich: Bin ich vielleicht genauso untot wie die?‹

Als wäre es nicht genug gewesen in diesen immer gleichen Gedanken und der untoten Hülle meines Körpers gefangen zu sein, wurde meine Verunsicherung zusätzlich sanft von einem Erlebnis auf der Kliniktoilette genährt. - Schließlich müssen auch Depressive mal pinkeln.

Während ich also vor der Keramik stand, um zu tun, was man vor der Keramik als Depressiver so tut, tippte mir von hinten ein Mann an die Schulter. Er war scheinbar Patient dieser Klinik.

»Ja, bitte?«, sagte ich freundlich in einer zugegeben auch für Depressive außergewöhnlichen Situation, mich selbst fragend, warum man einem Unbekannten IN EINEM KLINIKKLO, BEIM PROZESS DER MENSCHLICHEN BLASENENTLEERUNG, ALS FOLGE EINER VORBILDLICHEN NIERENFUNKTION an die Schulter tippte. Ich meine ... immerhin funktionierten meine Nieren noch einwandfrei, das würde ich mir nicht auch noch nehmen lassen! Ich versuchte, ruhig zu bleiben, und lauschte erwartungsvoll der tiefen Stimme in meinem Rücken:

»Du bist neu hier, oder?«, wollte diese Stimme in langgezogenen Worten wissen, deren Klang im gekachelten Toilettenraum hinter mir widerhallte, wie in einem Spukschloss.

»Nö, nur zum Vorgespräch da«, antwortete ich freundlich.

»Du trägst einen Panzer um dich. Den musst du ablegen«, brummte die tiefe Stimme, die durchaus auch Ansager in der Geisterbahn hätte sein können.

»Ich bin Pazifist und hab mit Panzern nix am Hut. Was gab´s denn heute zu essen?«, antwortete ich in ebenfalls langgezogenen Geisterbahn-Worten und packte unterdessen schnell in meinen Panzer, was es noch einzupacken galt, um nach einem kurzen Zwischenstopp am Handwaschbecken die Flucht zu ergreifen.

Plötzlich fielen mir weitere Menschen im Gebäude auf, die sich echt komisch verhielten, ins Leere blickten oder hektisch umherliefen. Burn-out-Patienten? Nee, die hatten hier alle nicht mehr alle Latten am Zaun! Das hier war eine waschechte Klapse! Hier sollte ich wirklich hin? Hier stimmte doch was nicht! Zeit heimzufahren!

Verschwörungstheorien und blanke Panik

Um diese Erfahrung und eine Diagnose reicher wurde mir in den folgenden Tagen allmählich klar, dass ich vielleicht doch in die Klinik gehen musste, um schnell wieder gesund zu werden. Ich kam nicht umhin die Worte des Oberarztes ernst zu nehmen, ganz gleich welche anderen Krankheitsbilder in diesem Haus noch behandelt wurden. Ich musste mich einer Therapie öffnen und aktiv mitarbeiten. Objektiv betrachtet, war ich zumindest optisch nah dran an diesen Untoten. Jedenfalls ... Naja ... So ganz ›knusper‹ sah mein Spiegelbild nun nicht aus.

Vielleicht hatte ich einfach nur einen gewissen Vorteil, da ich diesen Teil der Selbstbetrachtung noch nicht verloren hatte. Würde ich aber nichts tun, konnte mir dieser ›Joker‹ vielleicht auch abhandenkommen. Dennoch war ich voller Angst. Ich sagte zu Nadja, dass ich der Familie wegen in diese Klinik gehen würde. Aber sie konnte sich auch darauf verlassen, dass ich mich ruckzuck in meinem Auto und damit in Richtung Heimat befinden würde, sollte ich feststellen, dass ich dort unter Verrückten, wie jenem Geisterbahnansager aus dem Klinikklo hausen musste!

Unschönerweise trat am nächsten Tag jedoch ein, was nicht hätte passieren dürfen: Aufgrund ›diverser Engpässe‹ im Fuhrpark der Firma wurde ich gebeten, den Dienstwagen zur Verfügung zu stellen – schließlich wäre ich ja ohnehin nun für mehrere Wochen in Behandlung. Das hatte man mir nach einstündigem ›sorgenvollen‹ Gespräch vermitteln wollen. Allerdings hatte es wohl eher den Sinn, die Auto-Botschaft edel zu verpacken. Sei es drum ...

Meine Handflächen wurden feucht. Hatte ich nicht gestern noch gesagt, ich wolle in den Wagen steigen, sofern die Klinik schrecklich wäre? Und dann diese Nachricht heute? Ich witterte eine Verschwörung. Hier stimmte doch was nicht! Wollte mir meine eigene Ehefrau vielleicht gar die Mobilität nehmen, um mich möglichst lang in dieser Klinik, mitten im nirgendwo, festzuhalten? Hatte sie sich dafür heimlich mit meinem Arbeitgeber abgesprochen? Der Engpass im Fuhrpark nur ein Vorwand? Was ging hier vor? Hielt man mich eventuell für verrückt? Nahm man mich überhaupt noch ernst? Versuchte man, Entscheidungen für mich zu treffen, mich zu entmündigen?

Ich hatte mich noch nie im Leben derart einsam gefühlt, wusste nicht, wem ich noch trauen konnte oder wer mich gar für unzurechnungsfähig hielt. Ich trug die blanke Panik in mir, traute mich aber nicht, darüber zu sprechen. Vielleicht würde man noch drastischere Maßnahmen einleiten, wenn man bemerkte, dass ich erkannte, was da vor sich ging. Ich hatte Angst, sogar selbst nicht mehr beurteilen zu können, ob ich mich noch normal verhielt. Was wäre, wenn ich völligen Unsinn redete, ohne es selbst zu bemerken? War meine eigene Reaktion in diesem Moment normal oder war ich dünnhäutig und paranoid? War das Teil der Krankheit?

Bertolt Brecht hatte in anderem Kontext einmal gesagt:

»Unsichtbar wird der Wahnsinn, wenn er genügend große Ausmaße angenommen hat.«

Traf das nun auch auf mich zu? War ich vielleicht doch verrückt? So sehr, dass ich es nicht mehr beurteilen konnte? Hatte ich eventuell eine völlig verzerrte Selbstwahrnehmung? Hatte Brecht das überhaupt gesagt? Ich hielt inne. Ich fühlte mich unendlich einsam in meiner Lage, in der ich nicht wusste ob ich mir selbst, Bertolt Brecht oder irgendwem anders auf dieser Welt noch trauen konnte. Ich sprach nur wenig, um nicht Gefahr zu laufen, noch verrückter zu erscheinen, als es ohnehin schon der Fall war.

Zwei Tage lang hielten dieses Gefühl und mein Schweigen an. Bis ich eines Morgens am Arbeitszimmer unseres Hauses vorbeilief, in dem Nadja telefonierte. Was tat sie da? Eine neue Verschwörung einleiten? Bestellte sie vielleicht gar eine aufblasbare Gummizelle und eine Zwangsjacke gratis dazu? Nein, das tat sie nicht. Nein, sie tat genau das Gegenteil! Sie telefonierte sämtliche Leihwagenfirmen durch, um mir für möglichst wenig Geld ein Auto vor die Klinik stellen zu können, selbst wenn ich es gar nicht benutzen würde. Damit ich diese Sicherheit hatte, im Notfall flüchten zu können. Sie tat es nur für mich. Sie wusste, dass ich nur dann in der Klinik bleiben würde, wenn ich die Freiheit bekam, jederzeit und unkompliziert gehen zu können. Sie wusste, dass meine Freiheit und Eigenverantwortung jene Dinge waren, die man mir auch in der Krankheit nicht nehmen durfte. Das rührte mich. Und ich schämte mich. Ich schämte mich dafür, ihr misstraut zu haben, wo sie doch Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um mich in gute Hände zu bringen. Dies war der Moment, in dem ich ihr sagte, dass ich auch ohne Auto in die Klinik gehen würde. Ich hatte mein Vertrauen in sie zurückgewonnen.