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Es geht um den systematischen Organraub in China. Dort werden Menschen ausgeschlachtet wie Tiere. China hat das perfide System der Konzentrationslager im 3. Reich perfektioniert, Menschen werden auf Halde gehalten wie Tiere, die einzig darauf warten, getötet zu werden. Die Organe werden an reiche Menschen verkauft, die keinerlei Skrupel damit haben, dass andere Menschen dafür sterben müssen, weil sie selbst leben wollen. Es wird das Schicksal einer Frau beschrieben, die in die Fänge des Büros 610 geraten ist, weil sie Falun Gong praktiziert. Falun Gong oder Falun Dafa wurde in China kriminalisiert und somit völlig entrechtet. Die Menschen, die dieser relativ neue Meditationslehre nachgehen, werden verfolgt, verschleppt und zumeist ermordet. Die Praktizierenden müssen sich in Arbeitslagern entweder totarbeiten oder sie werden ausgeschlachtet. Nach dem grausamen Ausschlachten werden die Überreste in Öfen verbrannt. Im Buch erleidet eine Frau dieses Schicksal. Der Leser wird in eine bizarre Welt der Perversion entführt. Er erlebt mit, wie ein Mensch sein Leben verliert und wie andere Menschen daran Spaß haben und sich sogar daran ergötzen. Und er wird einen Täter kennen lernen, der sich von Organen der Menschen Wohlstand geleistet hat. Die Ärzte in dem Buch sind brutale Mörder, die aber vom chinesischen Regime geschützt werden, denn der Organhandel ist in China ein Milliardengeschäft.
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Seitenzahl: 454
Veröffentlichungsjahr: 2020
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Ersatzteillager Mensch
Vorwort
Dieses Buch ist aus dem Schock heraus entstanden, weil ich festgestellt habe, dass die Gesellschaft es duldet, dass es sogar im 21. Jahrhundert einen Genozid gibt. Einen Genozid an Menschen, die Falun Gong praktizieren. Wir leben in einer Spaßgesellschaft, in der Missstände kaum mehr Platz haben. Wenn die Missstände weit weg sind, belastet das die Menschen nicht, je weiter weg, umso besser. Wenn die Missstände aber aus einem unerklärlichen Grund näherkommen, werden wir nicht müde, Ausreden zu finden, warum man die Missstände nicht wahrnehmen kann. Die Missstände auf der Welt sind unsere Missstände, denn wir sind ein Teil der Welt.
Wer dieses Buch liest, ich hoffe, dass es viele Millionen werden, wird ab dem vierten Kapitel feststellen, dass ich für diesen Realkrimi die Ich-Form gewählt habe. Dies hat seinen Grund in der Tatsache, dass ich mich mit den Opfern, die in den Lagern als lebende Ersatzteillieferanten gehalten werden, identifiziere und solidarisiere. Sehr oft wurde von mir das Personalpronomen „Ich“ verwendet, weil ich mich betroffen fühle von den Vorgängen in China und weil ich mitleide und mitfühle.
Die Bezeichnung „Realkrimi“ ist eine neue Bezeichnung für ein Buch, Realkrimi deshalb, weil während der Entstehung dieses Buches auch Menschen leiden müssen, in chinesischen Arbeits- und Umerziehungslagern. Die Lager arbeiten mit Krankenhäusern zusammen und führen ihnen Gefangene zu, die ausgeschlachtet werden. Den armen Seelen werden alle Organe entnommen, die verkauft werden können. Oftmals werden anschließend die Reste der Menschen, die eher Kadavern gleichen, entsorgt, entweder verbrannt oder verscharrt. Während ich diese Zeilen geschrieben habe und schreibe, sterben Menschen real.
Das Buch hat 21 Kapitel und ist so aufgeteilt, dass zuerst ein Teil von Paul, einem Protagonisten und dann von Xiu, einer weiteren Protagonistin, erzählt wird. Die dargestellten Szenarien sind real und geschehen in dieser Stunde. Stellen Sie selbst fest, wie real die Geschichten der Protagonisten tatsächlich sind. Die Namen der Opfer habe ich verfälscht, sowohl die Gefangenen selbst als auch die Angehörigen wären nicht mehr sicher. Die Namen der Täter wurden ebenso verfälscht wie Orte und Institutionen. Obwohl von mir alle Vor- und Nachnamen von Personen, Orten und Institutionen bis zur Unkenntlichkeit verändert wurden, wären Ähnlichkeiten bei Namen und Bezeichnungen rein zufällig. Die gesamte Handlung in meinem Realkrimi muss eine Erfindung sein, denn einen Genozid im modernen China gibt es nicht, oder doch? Dem Leser bleibt es allein überlassen, im Internet den Wahrheitsgehalt dieses Realkrimis zu recherchieren. Der Autor ist aber gerne bereit, vertiefende Gespräche zu führen.
Organtransplantationszentren sind im ganzen Land verstreut, einzelne Kliniken habe ich absichtlich nicht benannt, denn in allen Kliniken werden Menschen ausgeschlachtet. Eine Personenliste wurde am Ende des Buches aufgeführt, damit der Leser sich ein Bild vom Geschehen machen kann und den sprichwörtlichen roten Faden nicht aus den Augen verliert.
Im Epilog werde ich versuchen zu erklären, warum die Täter auch Opfer sind und wie eine solche Situation entstehen kann. Denn wieder einmal werden Menschen verführt.
Anfragen zu meiner Person können jederzeit per Mail an mich gerichtet werden unter:[email protected]
Köln 10. Juni 2019Detlef Alsbach
1
Paul
„Paul, gehst du heute wieder in die Stadtbücherei?“
„Ja, was soll ich denn mitbringen?“, fragte Paul seine Mutter, denn er wusste, dass sie nur sehr selten in die Bücherei ging.
„Es wird langsam Zeit, dass wir uns über unsere nächste Reise informieren. Wir haben noch immer nichts darüber gelesen. In zwei Wochen geht es los und ich weiß gerade einmal, wo Mexiko liegt“, lachte Pauls Mutter.
Die Eltern von Paul wollten eine Reise nach Mexiko unternehmen, aber sie hatten sich bis auf die Buchung um weiter nichts gekümmert. Wie so oft warteten sie mit dem Lesen von Reiseführern bis zur letzten Sekunde. Selbst die Reiseunterlagen erfuhren nur eine oberflächliche Betrachtung.
„Gut, dann wird es tatsächlich Zeit. Ich schaue noch, ob ich etwas für mich über Meditation finde. Wie viele Reiseführer soll ich denn mitbringen, zwei oder drei?“
Paul wusste genau, dass seine Mutter nur gezwungen und sehr ungern Reiseführer las, um sich über das jeweils zu bereisende Land und die Leute zu informieren. Er grinste über das ganze Gesicht vor Freude.
„Nur einen. Einer wird reichen! Für die Frechheit deiner Mutter gegenüber bekommst du heute Abend kein Abendessen.“
Sie zwinkerte Paul zu. Natürlich war es undenkbar, dass es als Strafe kein Essen geben sollte. Solche Strafen, so fand Pauls Mutter, gab es im Mittelalter oder höchstens in Ländern der Dritten Welt. Pauls Mutter machte sich sehr wenig Gedanken über solche Dinge, über soziale Missstände oder über Schicksale anderer, nicht weil sie das nicht interessierte, sondern weil sie bei diesen Gedanken immer depressiv und traurig wurde. Pauls Mutter schützte sich und ihr Gewissen durch Verweigerung von Informationsaufnahme.
In der Familie von Paul kümmerte man sich so gut wie nie um Politik, denn es wurde und wird der Standpunkt vertreten, dass man ja ohnehin nichts ändern kann. Zur Wahl ging man, weil es die staatsbürgerliche Pflicht war. Eine Partei wurde gewählt, deren Versprechen den eigenen Interessen am nächsten kam, aber ohne wirklich die politische Richtung der Partei zu begreifen. Es war egal. Hingegen war Paul schon wesentlich mehr am Geschehen der Zeit interessiert, wenn auch durch das Elternhaus mit einer gewissen Naivität bezüglich der Glaubwürdigkeit der Aussagen und Versprechungen der Parteien vorbelastet. Sein Vater war ein gut verdienender Ingenieur und seine Mutter hatte viele Jahre in einer Gärtnerei gearbeitet. So kann man sagen, dass sich der Vater immer nur für die Technik interessiert hat, egal woher diese kam und dass die Mutter sich um die Natur gekümmert hat. Vater und Mutter von Paul lebten in einer heilen Welt ohne Konflikte.
Mit der Straßenbahn fuhr Paul in die Innenstadt zur Stadtbibliothek. Er fuhr immer mit der Straßenbahn in die Innenstadt, denn einen Parkplatz zu bekommen, war wie im Lotto zu gewinnen. Dort angekommen, lief er an der Information vorbei und gleich in die oberste Etage des fünfstöckigen Gebäudes, denn er kannte sich gut aus und wusste, wo die Reiseführer und Länderinformationen der ganzen Welt zu finden waren. Mit seinem Mitgliedsausweis konnte er so viele Bücher pro Jahr ausleihen wie er wollte. Für ihn eine sehr gute Sache, sparte er doch durch das Leihen der Bücher viel Geld.
Paul nahm wie üblich nicht den Aufzug, er war ein guter Sportler, der lieber einmal eine Treppe herauflief als mit dem Aufzug zu fahren. Mit leichten Schritten überwand er die knapp 60 Stufen, ohne dabei auch nur im Ansatz außer Atem zu kommen. Zielsicher ging er zur Fachabteilung für Reiseführer. Da er sich nicht nur für Reiseführer und die damit verbundenen zahlreichen Informationen, sondern auch für Kultur, Mentalität und sehr für die Meditation aus Asien interessierte und in letzter Zeit sehr oft in dieser Abteilung war, musste er nicht die einzelnen Gänge mühsam durchsuchen. Mit großer Routine fand er die umfangreich vorhandene Lektüre aller Länder in Asien. Hier hatte er viele Stunden verbracht, sehr zum Leidwesen seiner Mutter, die oftmals umsonst das Essen für ihn gekocht hatte, aber dieses mit mütterlicher Liebe warmgehalten hatte, bis ihr Sohn nach Hause kam, immer mit Büchern aus Asien unter dem Arm. Sein Wissensdurst über Asien und insbesondere über China war unbeschreiblich groß. Er verspürte einen Zwang, Bücher seines Lieblingsthemas zu lesen.
Seit vielen Jahren ist Paul bei einer großen deutschen Firma beschäftigt, die hauptsächlich Damen- und Herrenoberbekleidung aus Asien importiert. Paul ist im Innendienst für den Vertrieb der importieren Waren zuständig. Zu seinen Kunden zählen nicht nur Kaufhausketten und der Einzelhandel, sondern auch die Geschäfte in den exklusiven und teuren Einkaufsstraßen der Großstädte, die ausschließlich Markenwaren verkaufen, sehr teure Markenwaren. Er ist seit einigen Wochen im Beruf mehr als eingespannt, da sich für ihn die Chance ergeben hat, innerhalb des Unternehmens die Position vom Vertrieb im Inland in den Einkauf im Ausland zu wechseln. Die Weichen wurden bereits gestellt, da Paul fließend Englisch spricht und zudem sehr kommunikativ ist. Die interne Ausschreibung nutzte Paul für eine Bewerbung. Man lud ihn zu einem Bewerbungsgespräch ein und stellte dort fest, dass er der richtige Mann für diese Herausforderung ist. Außerdem gab es nur einen Bewerber. Die Vorteile lagen offen sichtbar auf der Hand, denn mit der neuen Position würde es eine bedeutende Gehaltserhöhung geben. Paul rechnete damit, bald das Ausland, insbesondere Asien, kennenzulernen. Deshalb auch das Interesse an Asien, an dessen Mentalität und an dessen Meditation. Paul erhoffte sich neue Erkenntnisse, wie er in Zukunft mit der völlig neuen und vor allem fremden Mentalität umzugehen hat. Sein Vorgänger hatte, wie Paul erfahren konnte, nicht immer eine glückliche Hand bewiesen im Umgang mit seinen Lieferanten und Herstellern. Deshalb sank die Qualität der Waren, der Vertrieb im Inland wurde schwieriger und die Kunden drohten, den Geschäftspartner zu wechseln. Er wollte diese Fehler nicht machen. Er las sehr viel über Kultur, Ethik und Moral, über das Verhalten Asiaten gegenüber, über asiatische Höflichkeit und über Ehre. Bis zur Entscheidung, ob Paul überhaupt die neue Position bekommen wird, werden noch Wochen, vielleicht sogar Monate vergehen. Der Firmeninhaber riet Paul aber schon einmal unter dem Siegel der Verschwiegenheit, sich mit der Mentalität der Asiaten vertraut zu machen. Selbst wenn er den neuen Job jetzt nicht bekommen sollte, so sah es doch in der Zukunft für ihn dann umso besser aus.
Die Affinität zur Meditation kommt wohl daher, weil Paul sehr viele Freunde hat und einige dieser Freunde Psychologie studiert haben. Immer wieder, wenn Paul mit den Freunden um die Häuser gezogen ist, wurde auch über die Patienten und deren Probleme erzählt. So wusste Markus, ein alter Schulfreund, zu erzählen, dass er als Diplom-Psychologe es immer wieder positiv erlebt hat, wenn die Patienten etwa Yogaübungen, Tai-Chi oder andere Meditationen ausgeführt hatten und dann wesentlich ausgeglichener waren. Die Aggressionen konnten damit abgebaut werden und er hatte es erlebt, eben weil die Leute sich dann auf die inneren Werte eines Menschen besonnen haben, dass sie sogar an Leistungsfähigkeit zugelegt haben. Das hatte Paul fasziniert.
Der sehr große Raum der Stadtbibliothek war voll mit vielen Regalen, einige zum Brechen gefüllt mit Büchern, viele Regalböden hingen bedrohlich durch. „Zuerst muss ich den Reiseführer für meine Mutter besorgen“, dachte Paul, „dann gehe ich wieder in die Abteilung China und sehe nach, was die dort haben.“ Ein Reiseführer über Mexiko war schnell gefunden. Wieder einmal entschied er sich für einen Baedeker. Es gab zwar auch andere gute Reiseführer, aber er wusste, dass seine Mutter eine Affinität zu Baedeker hatte. „Also wenn schon ein Reiseführer, dann ein Baedeker“, dachte Paul. Das war schnell erledigt. Paul ging nun in Richtung China. Die Abteilung für China war zum Glück in einer sehr ruhigen Ecke, da gab es sogar Stühle und Tische, man konnte sich setzen und in den Büchern lesen. Es war dort richtig ruhig, ja fast schon gemütlich. Nur selten hatte er in letzter Zeit dort Leute gesehen, hin und wieder mal eine Asiatin.
Mit Schwung bog er um ein Regal herum direkt in den Gang ein, in dem er alles über China finden konnte. In der Mitte des Regals stand eine Asiatin, recht zierlich, die auf einmal aufschreckte und Paul kurz mit großen Augen ansah, dann das Buch, welches sie in der Hand hielt, schnell zuklappte und es ins Regal stellte, sich umdrehte und fast schon davonlief. Er blieb abrupt stehen.
„Offenbar habe ich sie erschreckt“, dachte Paul. „Schade, sie sah toll aus.“
Das Buch, welches die zierliche Frau in der Hand gehalten hatte, wurde nicht ganz ins Regal geschoben. Es ragte einen Zentimeter aus dem Regal heraus. Paul nahm das Buch und las den Titel: Zhuan Falun. Er schlug interessiert das Buch auf und nun bemerkte er, dass etwas, ein Zettel oder eine Karte, aus dem Buch gefallen war. Paul hob dieses Etwas auf. Es war der Mitgliedsausweis der jungen Asiatin. Sie hatte ihn zwischen eine der Seiten gesteckt und ihn dann vergessen. Paul nahm den Mitgliedsausweis und ging schnell zum Ausgang. Die Frau hatte offenbar den Aufzug genommen. Er rannte eine Treppe hinunter ins nächste Geschoss und stellte sich direkt vor die Aufzugstür und hielt den Ausweis in Augenhöhe hoch, damit ihn die junge Frau sofort sehen konnte. Offenbar war der Aufzug langsam unterwegs, so hatte Paul nun Gelegenheit, über die Situation nachzudenken, die für ihn mehr als unerklärlich, ja schon mysteriös erschien.
„Warum hat die Frau, als ich kam, sofort das Buch ins Regal gestellt?“, dachte Paul. „Oder war es nur ein Zufall? Auf jeden Fall hat sie ihren Mitgliedsausweis vergessen.“ Und nun fiel ihm auch ein, dass er die Frau schon öfter in der Abteilung China gesehen und auch bewundert hatte. Mehrmals hatte er die hübsche Frau über einen Buchrand hinweg beobachtet, ihr zugeschaut, wie sie Bücher durchblätterte und auch darin las. Einmal hatte sich die Frau sogar in seine Nähe gesetzt.
Die Aufzugstür ging auf. Paul hielt den Mitgliedsausweis genau in die Mitte.
„Entschuldigung“, sagte Paul, „Sie haben Ihren Ausweis vergessen, oben in der Abteilung China.“
Freundlich lächelte er der Frau ins Gesicht. Die junge Asiatin erkannte ihren Ausweis und fing ebenfalls an zu lächeln, griff nach dem Ausweis und steckte ihn dann in die Tasche.
„Danke“, sagte sie zu Paul, „vielen Dank. Das war sehr nett.“
Er betrat den fast vollen Aufzug und quetschte sich an sie, ein Traum wurde wahr, denn nun war er in ihrer Nähe. Die Gesichter der beiden berührten sich fast, so voll war der Aufzug, schnell wurde es stickig und warm. Der Aufzug musste auf jeder Etage lange anhalten, die automatischen Türen öffneten sich immer wieder. Jemand rief aus einer hinteren Ecke des Aufzuges, dass der Aufzug überfüllt sei und jemand aussteigen müsse. Für kein Geld der Welt hätte er diesen Aufzug verlassen. Selbst wenn der Aufzug abgestürzt wäre, wäre es ein Trost für ihn gewesen, in der Nähe dieser Frau den Tod zu finden. Sie sahen sich in die Augen, beide merkten nicht, dass sie von allen Menschen im Aufzug angesehen wurden. Sie hatten die Welt um sich herum vergessen.
„Habe ich Sie erschreckt? Ich frage deshalb, weil Sie, als Sie mich gesehen haben, sofort die Flucht ergriffen haben.“
Den Namen des Buches hatte er schon wieder vergessen, denn er glaubte, dass es purer Zufall war, dass die junge Asiatin das Buch in dem Augenblick wieder ins Regal zurückgestellt hatte, als er den Gang betrat.
„Nein, warum sollten Sie mich erschreckt haben? Ich habe gerade in dem Buch etwas zu Ende gelesen, als Sie kamen.“
Paul starrte seine Traumfrau unverhohlen an, er betrachtete ihr langes, glattes, fast glänzendes Haar, er sah ihre Augenbrauen, die fast nur Striche über den Augen waren, die Augen waren dunkel, die Wangenknochen leicht geschwungen und als er auf den Mund sah, wurden ihm die Knie weich. Als er merkte, dass er die Frau mit seinen Blicken mehr als nur ansah, begann er aus Verlegenheit zu erröten. Ihre Augen zeigten aber nicht Ablehnung, sondern Interesse.
„Warum werden Sie rot?“
Ihm fiel das Herz in die Hose, die anderen Leute im Aufzug grinsten blöde vor Schadenfreude, dass sie ihn beim Anstarren erwischt hatte. Diesen Augenblick musste er nutzen, um einen Kontakt herzustellen. Er suchte nach einer sinnvollen Frage, die er der jungen Frau stellen konnte. Ein Fehler von Paul war, dass er den Namen auf dem Mitgliedsausweis nicht gelesen hatte, denn dann hätte er vielleicht sagen können, dass er sie kannte. Aber so ging das nicht.
„Kennen Sie sich aus mit Meditation?“, fragte Paul mehr als verlegen. „Ich werde bald nach China fahren und muss mehr über die dortige Mentalität und über die Meditation wissen. Es ist aus beruflichen Gründen für mich wichtig. Bitte!“
Der Aufzug hielt im Erdgeschoss, die Menschen strömten hinaus. Die Frau ging langsam in Richtung Ausgang, die anderen Leute aus dem Aufzug hatten sie immer weiter vom Aufzug weggeschoben. Er ging neben ihr her, sie immer anblickend, obwohl es immer noch ein Anstarren war.
„Starr sie doch nicht so an, du Idiot!“, dachte Paul vorwurfsvoll zu sich selbst.
„Okay, ich kann Ihnen ein paar Bücher zeigen, damit Sie etwas lernen über China, deren Mentalität und deren verschiedene Meditationsarten. Mentalität und Meditation ist etwas anderes. In China ist es wichtig, die Benimmregeln zu kennen.“
Nun lächelte sie ihn freundlich an. Dieses Lächeln empfand Paul als Aufforderung, sie zu einem Kaffee einzuladen. Sie nickte nur zustimmend.
„Aber erst muss ich den Reiseführer über Mexiko wieder zurückbringen, dann gehen wir ins Cafe. Laufen Sie nicht weg.“
Paul beeilte sich, ja er rannte die Treppen hoch, um den nicht ausgeliehenen Reiseführer an seinen richtigen Platz zu legen.
„Hoffentlich wartet sie unten“, dachte Paul und beeilte sich.
Als er zurückkam, stand sie an derselben Stelle und wartete auf ihn.
Schulter an Schulter gingen sie ins Cafe der Bibliothek und erzählten sich viele Geschichten und Anekdoten aus ihrem Leben. Die Zeit verstrich in rasendem Tempo. Zuerst wurden unbedeutende Dinge erzählt, aber nach und nach erzählte jeder der Verliebten einen Teil aus seinem Leben. Bei einigen lustigen Anekdoten lachten sie zusammen. Sie strahlen sich gegenseitig an und stellten fest, dass es immer mehr gleiche Interessen gab. Beide reisten gerne in die weite Welt, beide wollten im Beruf vorankommen und Karriere machen und beide hatten einen großen Wunsch, nämlich mit einer Familie glücklich zu werden. Aus der unverbindlichen Einladung zu einem Kaffee wurde ein Bewerbungsgespräch für eine Freundschaft. Paul erzählte, dass seine Eltern nach Mexiko fahren wollten und er deshalb einen Reiseführer brauchte. Er erklärte, dass es innerhalb seines Berufslebens wohl bald eine enorme Veränderung geben würde, die zwar noch nicht ganz sicher sei, er sich aber bereits im Vorfeld informieren müsse, nein, wolle. Wolle, weil ihn Asien, deren Kultur und deren Meditation sehr interessieren. Langsam fasste Liu etwas Vertrauen zu Paul, da Paul anders war, so hatte sie jedenfalls den Eindruck. Mit Paul konnte man sich unterhalten, er interessierte sich für ihre Herkunft, für ihre Vergangenheit und für ihre Kultur, die sie doch nur selbst so wenig kennengelernt hatte.
„Dein Wunsch ist es also, eine eigene Familie zu haben?“, fragte Liu.
„Ja, ich möchte mindestens drei Kinder und eine liebe Frau, die sich wirklich um die Kinder sorgt.“
„Müssten es die eigenen Kinder sein?“
„Natürlich.“
Paul sah Liu verständnislos an, denn mit dieser sonderbaren Frage konnte er absolut nichts anfangen. Er bestellte nochmals Kaffee für sich und Tee für seine Gesprächspartnerin. Liu merkte, dass sie ihn irritiert hatte.
„Ich habe deshalb gefragt“, sagte sie mit einem unsicheren Lächeln, „um festzustellen, ob für dich auch andere Kinder zu einer Familie zählen können, denn es kann ja sein, dass du einmal eine Frau bekommst, die schon ein oder zwei Kinder hat.“
Er sah sie scharf und leicht verärgert an. Nach einer kurzen Denkpause sagte er: „Also wenn ich eine Frau kennenlernen sollte, die bereits ein Kind, zwei Kinder oder eine ganze Horde von Kindern hat und ich diese Frau liebe, dann gehören diese Kinder zu meiner Familie.“
„Das hat gesessen, was denkt sie eigentlich von mir?“, dachte Paul.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht kränken.“
Sie legte ihm eine Hand auf seine Hand, diese Berührung war wie ein Stromschlag. Er begann sofort zu lächeln.
„Ich habe einen Sohn, der Cha heißt und ich bin Witwe.“
Sie schaute Paul in die Augen und wollte seine Reaktion auf dieses Geständnis sehen. Gerne hätte Paul nun mehr über das Leben von Liu erfahren, aber er merkte, dass er an dieser Stelle nicht zu tief in die Vergangenheit gehen konnte, denn Liu war auf einmal nicht mehr richtig anwesend, sondern war wohl nun bei der Geschichte ihres Mannes. Deshalb wechselte er das Thema.
„Ich möchte gerne sehr viel mehr über Meditation erfahren, denn ich bin davon überzeugt, dass ich dann einfach mehr Ruhe finde. Meditation ist doch so wie beten, die Menschen gehen in die Kirche, die Katholiken beichten sogar und nachher geht es einem wieder gut, befreit von Schuld und negativen Gedanken und Gefühlen.“
„Da hast du Recht, es gibt Ähnlichkeiten zwischen eurer Art der Meditation und unserer Art. Nur versuchen wir nicht nur in den Kirchen oder Gotteshäusern unseren Glauben oder unsere Meditation auszuüben, sondern das machen wir auch zu Hause, allein oder mit Freunden. Wir leben danach. Bei den Christen habe ich oftmals den Eindruck, dass der Glaube immer nur bis zum Kirchenportal geht. Nicht jeder, der sagt, dass er Christ ist, verhält sich auch so. Bei manchen Glaubensrichtungen aus China oder Asien ist das anders. Dort wird der Glaube gelebt.“
„Gibt es nicht im christlichen Glauben sogar große Unterschiede?“, fragte Liu. „Bei den Katholiken geht man zur Beichte, bei den Protestanten nicht.“
„Haben es die Katholiken bei euch nicht sogar einfacher, wenn sie eine Sünde begehen?“
„Man begeht eine Sünde, vielleicht sogar mit dem Wissen, dass einem ja nichts passieren kann, denn man muss nur zur Beichte gehen, dafür Buße tun und schon sind die Sünden getilgt.“
„Ist das nicht zu einfach bei den Christen?“, fragte Liu.
„Klar hast du da Recht, ich habe auch schon darüber nachgedacht, was Christen so alles anstellen mit dem Wissen, dass man alle Schuld einfach abwerfen kann, wenn man bloß zur Beichte geht. Bei den Christen gab und gibt es Mörder, Kinderschänder und Gewalttäter aller Art und viele bezeichnen sich als gläubig, ja sie gehen sogar in die Kirche und beten. Und wenn sie dann aus der Kirche kommen, geht alles so weiter wie bisher. Die meisten Christen leben nicht nach den christlichen Geboten. Eigentlich ist der christliche Glaube verlogen. Wie du schon richtig sagtest, man begeht Sünden und nachher ist alles wieder gut. Es wurden heilige Kriege geführt und dafür der Segen Gottes eingeholt. Einfach lächerlich, im Namen Gottes Menschen zu töten.“
„Können Mörder Christen sein?“, fragte Liu.
„Wie können sie das, nach den Zehn Geboten auf jeden Fall nicht, denn im fünften Gebot steht: Du sollst nicht töten.“
„Wenn diese Menschen dafür bestraft werden und dann im Gefängnis sind, dann gehen die doch auch in die Kirche, bekommen das Abendmahl und beten und bezeichnen sich selbst als Christen.“
„Liu“, sagte Paul, „du hast ja so recht mit allem, was du über das Christsein sagst, ich verstehe es auch nicht. Wie lebt man den Glauben in China?“
„Nun, in China gibt es viele Glaubensrichtungen oder meditative Übungen, um zu einem reinen und freien Geist zu gelangen. Wichtig ist nicht, was wir machen oder wie wir meditieren, sondern dass wir danach leben. Nimm doch einmal als Beispiel die sagenumwobenen Shaolin-Mönche. Sie sollen Kampfmaschinen sein, aber ihre Macht setzen sie immer nur gegen das Böse ein. Ansonsten leben sie in großer Zufriedenheit. Oder die Bettelmönche, die leben von dem, was ihnen die Bevölkerung schenkt. Und sind dabei extrem zufrieden. Das ist wahrer Glaube und Zufriedenheit.“
Xiu
Die junge Chinesin, eine Näherin, ging mit gesenktem Haupt zu Xiu Kun, blieb knapp einen Meter vor ihr stehen und sagte, flüsterte geradezu, dass sie sofort ins Büro des Vorarbeiters gehen solle. Nach diesen Worten drehte sich die junge Frau in Windeseile um und lief geschwind weg. Xiu Kun konnte noch sehen, wie sie sich ein Taschentuch an die Augen führte. Bei den wenigen Worten konnte sie das Gesicht der Näherin nur für einen Augenblick sehen, der aber völlig ausreichte, um den Schrecken und die Angst in den Augen der Überbringerin der schlechten Botschaft zu erkennen. Dass diese Nachricht nichts Gutes heißen würde, ahnte sie also. Xiu Kun arbeitete seit Jahren in einer großen Näherei und war dort für die Qualitätskontrolle verantwortlich, sie hatte sich innerhalb weniger Jahre durch Fleiß und Können nach oben gearbeitet. Ihre Leistungen waren bei der Geschäftsführung sehr angesehen, demnächst sollte sie sogar die Position des Vorarbeiters einnehmen. Dies deshalb, weil Xiu Kun als besonnener Mensch galt, der die Mitarbeiterinnen motivieren konnte. Sie schaffte es in sehr kurzer Zeit, die Näherinnen, die unter erbärmlichen Umständen arbeiten mussten und obendrein auch noch schlecht bezahlt wurden, zu einer konstant guten Arbeitsleistung zu motivieren. Allein durch ihre Persönlichkeit. Die Geschäftsleitung erkannte, dass es allein ihr zu verdanken war, dass die Näherinnen in letzter Zeit mehr leisteten, als Gegenleistung wurden die Arbeitsbedingungen verbessert. Diese Verbesserungen waren nicht elementar, sie waren mehr als ausbaufähig und nur der Anfang, aber immerhin waren es Verbesserungen. So wurde die Mittagspause verlängert, ohne dass die Produktion darunter litt. Aber die größte und wichtigste Verbesserung war die, dass sie half, dass die sexuellen Belästigungen seitens des Vorarbeiters nachließen. Viele unverheiratete Näherinnen, deren einzige Möglichkeit einer Tätigkeit die Arbeit in der Näherei war, wurden immer wieder von dem Vorarbeiter heftig bedrängt. Die jungen Frauen waren oft so jung und unerfahren, dazu auch noch meist ohne Schulausbildung, dass sie für sich keinen anderen Ausweg mehr sahen, als diese Belästigungen zuzulassen. Die Familien dieser jungen Frauen waren auf das Einkommen, das gerade einmal das Überleben sicherte, angewiesen. Ein Verlust der Arbeit käme einem langsamen Verhungern gleich. Die jungen Mädchen hatten sich Xiu Kun anvertraut, haben berichtet, was der Vorarbeiter von ihnen verlangt hatte und was geschehen würde, wenn sie sich verweigerten. Der Vorarbeiter, ein Mensch ohne Skrupel und Gewissen, hatte sogar jedem der Mädchen ein paar Yuan gegeben, als Lohn. Wenn sich ein Mädchen verweigert hatte, wurde es entlassen. Sie hatte immer ein offenes Ohr für die großen und kleinen Sorgen.
Der Vorarbeiter war schon sehr lange in der Näherei beschäftigt, auch er hatte sich hochgearbeitet. Diesen Posten würde er verteidigen wie ein Wolf, egal wer da auf der Strecke blieb. Er hatte natürlich diese Position gnadenlos zu seinem Vorteil ausgenutzt. Der Vorarbeiter war ein vorausschauender Mann, dies deshalb, weil er es in den vergangenen Jahren immer wieder schaffte, sich jeglicher Vorwürfe seitens der Arbeiterinnen zu entziehen. Es kam immer wieder vor, dass ein Familienangehöriger Ärger machte und mit einer Anzeige drohte, doch jedes Mal gelang es ihm, sich einem neuerlichen Vorwurf zu entwinden wie ein schleimiger Aal, weil er dafür sorgte, dass die von ihm belästigten jungen Frauen eine bessere Arbeit bekamen. Und mit dieser besseren Arbeit gab es auch mehr Geld. So mussten die jungen Frauen mit ihrem Körper und ihrer Seele zahlen. Wurde der Vorarbeiter mit einer Anzeige bedroht, ließ er das bestreffende Opfer aber in Ruhe. Scheinbar. Die besser bezahlten Arbeiten waren rar in der Näherei. Er musste regelmäßig Platz schaffen, um diese Stellen mit den Opfern zu besetzen, die sich gegen ihn zur Wehr setzen wollten. Der Vorarbeiter hatte einen Plan, einerseits für freie, gut bezahlte Stellen zu sorgen und andererseits die Opfer loszuwerden, die ihn anzeigen wollten. Keines der Opfer hätte eine Verbannung an einen schlechteren Arbeitsplatz hingenommen ohne nicht eine Anzeige zu erstatten. Die Opfer hatten sich sehr schnell an das höhere Einkommen gewöhnt, die Familien ebenfalls. Xiu Kun hatte seit Monaten versucht, die jungen Frauen zu einer Anzeige gegen den Vorarbeiter zu überreden, ihr ging es einzig um Gerechtigkeit und darum, dass diese Freveltaten gesühnt wurden. Doch immer dann, wenn sich eine der jungen Frauen dazu bereit erklärte, nachdem Xiu Kun sie davon überzeugt hatte, dass sie den Arbeitsplatz nicht verlieren würde, wurde genau diese junge Frau entlassen. Der Vorarbeiter durchsuchte gemeinsam mit der Geschäftsleitung den Spind der jungen Frau und fand zur großen Überraschung aller jedes Mal entweder Stoff, Nähgarn oder Nähnadeln, also Diebesgut. Da half dann auch die Beteuerung des Opfers nichts, dass es nicht wüsste, wie die Sachen in den Spind kamen. Zu den Spinden, jede Näherin hatte einen eigenen Spind, den man abzuschließen hatte, dafür hatte der Vorarbeiter gesorgt, da er befürchtete, dass sich sonst die Näherinnen untereinander bestehlen könnten, gab es immer nur einen Schlüssel. Diesen Schlüssel hatten die Näherinnen, jede musste den Erhalt des Schlüssels mit Unterschrift oder Zeichen quittieren. Für die Geschäftsleitung war immer wieder bewiesen, dass in solch einem Fall ein Diebstahl vorlag. Die Diebin wurde hinausgejagt und niemand würde einer Diebin glauben, dass der Vorarbeiter sie erpresst hatte.
Xiu konnte das Verhalten der Verwandten nicht verstehen, denn sie duldeten für Geld, dass ihre Tochter oder ihre Schwester von einem Mann belästigt wurde, ihm zu Willen sein musste und sich erniedrigen lassen musste. Der Vorarbeiter war ein Mann der Partei, von dieser wurde er geschützt, das wusste hier jeder. Einige Male hatte Xiu auch die jungen Frauen zu Hause besucht, trank mit ihnen Tee und hörte sich in vertrauter, sicherer Umgebung deren Sorgen an. Sie erkannte, dass viele junge Frauen orientierungslos erschienen. Sie gab ihnen Halt, Zuversicht und zeigte ihnen Wege in ein Leben voller Erfüllung. Xiu war eine Falun Gong-Praktizierende. Ganz behutsam schnitt sie bei den Treffen mit den jungen Frauen dieses Thema an, weil sie sehr oft gefragt wurde, warum sie stets glücklich und zufrieden wirke. Einige junge Frauen sagten sogar, dass man auf ihr Glück neidisch werden könne. Xiu erklärte dann immer, dass dieses Glück und diese Zufriedenheit jeder erlangen könne, wenn man es wolle. Eines Tages brachte sie zu solch einem Gespräch Informationsprospekte über Falun Gong mit. Sie erzählte, was für sie der Glaube bewirke und dass er sie stark mache. Einige der jungen Frauen zeigten nach ein paar Gesprächen erste Veränderungen, sie wurden selbstbewusster und sagten immer häufiger nein zu dem Vorarbeiter. Dies irritierte den Vorarbeiter, deshalb versuchte er herauszufinden, warum sich seine Opfer verändert hatten. Alle Drohungen blieben immer häufiger wirkungslos. Dem Vorarbeiter war klar, dass wenn mehrere Opfer seine Taten zur Anzeige bringen würden, dass ihn dann die Partei auch nicht mehr schützen könnte oder sogar wollte. Er musste schnell etwas unternehmen. Mit jedem Tag, der verging, wurde für ihn die Gefahr einer Anzeige und damit einer Strafe größer.
Irgendwann wurde der Vorarbeiter krank und konnte drei Tage nicht zur Arbeit kommen. Die Geschäftsleitung ernannte für diese Zeit Xiu zur Vorarbeiterin. Sie war darüber sehr stolz. Während dieser drei Tage, als die Näherinnen festgestellt hatten, dass sie zumindest für ein paar Tage den Nachstellungen des Vorarbeiters entkommen waren, legten sich alle mächtig ins Zeug. Die Tagesproduktion wurde um 25 % erhöht. Dies wurde nur durch gutes Zureden und durch Anerkennung der Menschen und ihrer Leistungen geschafft. Xiu war eine Meisterin der Motivation. Aber leider hatte sie auch Neider, der Erfolg wurde ihr ganz erheblich missgönnt. Als der Vorarbeiter am vierten Tag wieder zur Arbeit erschien, studierte er zunächst einmal die Produktionszahlen der letzten drei Tage und musste die enorme Steigerung feststellen. Er hatte es bereits geahnt, dass die elenden faulen Arbeiterinnen unter Xiu besser arbeiten würden als bei ihm. „Sie will meinen Posten, das Miststück“, dachte er, „aber sie bekommt ihn nicht. Ich werde sie vernichten, egal wie.“
Eines seiner Opfer, eine junge Näherin, betrat den Raum des Vorarbeiters, der vollständig verglast war. Sie blickte den Vorarbeiter herausfordernd an.
„Was willst du?“, schrie er fast.
Sie wusste genau, warum der Vorarbeiter so nervös war. Sie hatte eine gute Nachricht, aber diese wollte sie ihm nicht umsonst geben.
„Wenn Xiu Kun weg ist, will ich den Posten von ihr haben, für immer.“
Er starrte sie einen Augenblick an und begriff dann, dass sie etwas wusste, was ihm den Posten erhalten konnte und was dafür sorgen konnte, damit die gehasste Feindin verschwand.
„Wenn sie für immer weg ist, bekommst du den Posten“, sagte er in einem nachdenklichen Ton.
Dabei schaute er sie linkisch an, so als erwarte er eine Falle. Schließlich hätte es auch sein können, dass sie mit Xiu Kun zusammen beschlossen hatte, den Vorarbeiter loszuwerden.
„Was weißt du?“
„Versprich mir, dass du mich für immer in Ruhe lässt und dass ich den Posten bekomme und auch behalte! Schreib es auf!“
„Bist du verrückt geworden? Ich werde dafür sorgen, dass du morgen entlassen wirst, mach dass du rauskommst!“, schrie er.
Die Frau blieb ganz ruhig, sie schaute ihm in die Augen. Lange hatte sie auf diesen Augenblick des Triumphes gewartet.
„Wenn du es aufschreibst, sage ich dir, was ich weiß, dann hast du für immer Ruhe und keine der Frauen wird dich anzeigen, dann musst du nicht ins Gefängnis“, sagte sie siegessicher.
Sie stand vor ihm und verschränkte die Arme vor der Brust und schaute ihn weiterhin an. Mit hochrotem Kopf sprang er aus seinem Stuhl auf, schnellte mit einer Geschwindigkeit und Gewandtheit um den Tisch herum, die man ihm gar nicht zugetraut hätte und schlug ihr mit der flachen Hand ins Gesicht. Sie hatte das Gefühl, dass ihr der Kopf vom Rumpf getrennt wurde, so heftig war der Schlag, aber sie blieb stehen, blieb im Raum des Vorarbeiters, schaute ihn wieder an und wischte sich das Blut, welches wie Wasser aus der Nase lief, weg. Als der Schlag kam, hatte sie die Hände nicht schützend vor das Gesicht gehoben. Das Blut durchtränkte ihre Jacke und ihre Bluse, sie sagte ruhig zu ihm: „Schreib es auf!“
Nun begriff er. Sie musste etwas wissen, wofür es sich sogar lohnte, geschlagen zu werden. Sie riskierte sogar, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Wäre das geschehen, stünde die Familie ohne Einkommen da und sie müssten alle hungern. Der Vorarbeiter öffnete eine Tischschublade, holte Papier und Stift heraus und legte es auf den Tisch. Seine Augen ließen die Frau nicht aus den Augen. So selbstbewusst und siegessicher hatte er sie noch nie gesehen. Nun musste er den Preis zahlen für ein Wissen, das nicht er hatte, sondern die Frau. Die Frau sah ihren Peiniger triumphierend und stolz an. Während er schrieb, setzte sich die Frau auf einen Stuhl am Schreibtisch und grinste ihn unverschämt an. Auch er grinste auf einmal und sagte dann: „Wir wären ein gutes Gespann, wir sind beide skrupellos und ohne Ehre.“
Beide fingen an zu lachen, sahen sich in die Augen und ein weiterer teuflischer Pakt war geschlossen.
Der Vorarbeiter schob das beschriebene Blatt ganz langsam über den Tisch, ließ es aber nicht los. Die junge Frau griff das eine Ende des Blattes und der Vorarbeiter hielt das andere Ende des Blattes in der Hand. Sie schauten sich wieder in die Augen, starrten sich fast regungslos an, dann sagte die Frau: „Xiu Kun gehört zu Falun Gong.“
Die Augen des Vorarbeiters weiteten sich, man hätte das Gefühl bekommen können, dass ihm die Augen aus dem Kopf springen wollten, er ließ das Blatt ganz langsam los, nickte langsam dabei, atmete hörbar aus und fragte: „Woher weißt du das, was hast du gesehen?“
„Sie hat Informationsprospekte über Falun Gong verteilt, hier in der Näherei.“
„Wer hat diese Prospekte genommen?“, fragte er schon fast hysterisch.
Wenn diese Information stimmte, konnte er seine Feindin für immer loswerden. Und er hatte neue Opfer, die er erpressen konnte. Entweder die Frauen waren ihm zu Willen oder sie würden ihren Arbeitsplatz verlieren. Sie mussten für seine Verschwiegenheit bezahlen. Die Frau zählte einige Namen der Näherinnen auf, der Vorarbeiter schrieb diese Namen auf, der Zettel wanderte in seine Brusttasche.
„Geh jetzt und kein Wort zu den anderen, hast du mich verstanden? Wir unterhalten uns später und besprechen, wie es mit uns weitergeht.“
Die Frau stand auf und wischte sich die immer noch leicht blutende Nase mit einem Tuch ab. Wie zufällig streifte ihre Hand die Hand des Vorarbeiters. Mit dieser Berührung wurde der teuflische Pakt endgültig besiegelt. Die Näherinnen hatten von nun an nichts mehr zu lachen und mussten sowohl den Vorarbeiter wie auch die infame Kollegin fürchten.
2
Paul
Paul und Liu haben sich in der vergangenen Zeit sehr oft gesehen, haben sich gegenseitig besucht und sind immer häufiger gemeinsam ausgegangen. Durch die zurückhaltende Art von Paul konnte sich eine gegenseitige Zuneigung entwickeln. Er gab ihr die Zeit, die sie brauchte, um Vertrauen zu ihm zu finden. Während der langen Abende und kurzen Nächte kam sich das Pärchen immer näher, Küsse wurden ausgetauscht und die ersten scheuen Zärtlichkeiten lösten völlig neue Gefühle aus. Oft erzählte er nach einer kurzen Nacht seiner Mutter von den Gesprächen mit Liu und den Gefühlen und Gedanken über seine Freundin. Seine Mutter wusste längst, dass er bis über beide Ohren hoffnungslos verliebt war. Immer häufiger brachte Paul seine Freundin mit nach Hause. Die kurzen Gespräche mit ihr waren für die Eltern ein Erlebnis. Schnell kamen sie zu dem Schluss, dass Liu eine gebildete und weltoffene Frau war. Besonders angetan aber waren sie von ihrer vornehmen und zurückhaltenden Art. Ganz offen zeigten die Eltern von Paul das Interesse an ihrer Schwiegertochter in spe. Liu war ebenso von der offenen Art der Eltern angetan, sie begann, sich bei den nahezu täglichen Besuchen heimisch zu fühlen und wurde ein Teil der Familie. Bei Besuchen an Wochenenden brachte sie auch ihren Sohn mit, Pauls Vater war vernarrt in diesen Jungen, der ihm beim Toben die Kraftreserven raubte. Dabei entwickelte Cha einen schier unerschöpflichen Appetit auf Kuchen. Liu und Paul wussten, dass sie Großeltern haben würden, die alles für ihren Enkel tun würden, um Schaden von ihm abzuwenden. Cha hatte sich sehr schnell an Paul gewöhnt und wenn er ihn einmal einen Tag nicht gesehen hatte, fragte er seine Mutter, wo Paul bleiben würde. Die zwei waren inzwischen so stark verbunden wie Vater und Sohn.
Es war inzwischen fast zur Gewohnheit geworden, dass Liu und ihr Sohn an jedem Sonntag zum Essen eingeladen wurden. Wieder einmal wurde viel zu viel gekocht und gegessen, jeder war nach dem üppigen Mahl etwas träge, bis auf Cha, der immer noch aktiv war und von Müdigkeit keine Spur zeigte. Der Junge wurde geschickt in den Garten manövriert, damit die Eltern ihre Neugierde befriedigen konnten, denn sie wollten mehr über Liu erfahren. Sie wollten einen Teil ihrer Vergangenheit erfahren und wollten wissen, wie sie lebt und was sie bewegt. Bisher hatten sie nicht gewagt, derlei Fragen zu stellen, aber sie wussten, dass ihr Sohn die Liebe seines Lebens gefunden hatte.
„Liu, wie bist du eigentlich nach Deutschland gekommen?“
„Frau Müller, Ihre Frage ist falsch, denn ich verstehe sie nicht. Ich bin seit meiner Geburt in Deutschland, aber meine Vorfahren waren, wie man ohne Probleme sehen kann, Chinesen. Nun, meine Eltern leben nicht mehr und Geschwister habe ich auch keine. In China gibt es zwar Verwandte, aber leider habe ich keinen Kontakt. Schade, aber es hat sich nicht so gut entwickelt. Hier und dort ist eine andere Welt, manchmal nur sehr schwer zu verstehen.“
„Du warst verheiratet?“
„Ja, aber ich bin Witwe, da mein Mann in China als verschollen gilt. Er wurde offiziell für tot erklärt.“
„Was soll das heißen, verschollen? Offiziell für tot erklärt?“
Pauls Eltern schauten sich sehr erstaunt an, fassungslos. Im Wohnzimmer hörte man das Ticken der Standuhr. Die Mutter fuhr sich mit einer Hand nervös durch die Haare, dann legte sie die Hände auf den Schoss, dann wieder auf den Tisch. „Wir leben im 21. Jahrhundert“, sagte Pauls Vater erregt, „da kann man doch nicht einfach so verschwinden. Kannst du das erklären? Was ist passiert?“ Seine Stimme war krächzend und drohend zugleich. Liu schaute betroffen auf den Tisch, dann zu den Eltern. Sie hob resignierend die Schultern, holte Luft, wollte mit dem Bericht beginnen, verstummte für einige Augenblicke, dann begann ihre Erzählung: „Paul kennt die ganze Geschichte schon, aber ich erzähle sie noch mal, von Anfang an. Ich habe meinen Mann hier in Deutschland kennengelernt. Wir waren gemeinsam auf einem Fest, welches von Chinesen organisiert wurde. Der Zweck war wohl, dass sich Chinesen in einem scheinbar fremden Land besser kennenlernen und Gemeinsamkeiten finden. Es gab dort natürlich allerlei Dinge aus China: Essen, Musik, Künstler, Tänzer und gemeinsames Tai-Chi. Mein Mann Tao kam als Austauschstudent nach Deutschland und studierte hier Maschinenbau. Er war in seinem Studiengang der beste Student und erhielt sogar Auszeichnungen. Noch während des Studiums wurde er von vielen Firmen kontaktiert, die ihn einstellen wollten. Tao hat natürlich das beste Angebot angenommen. Die Firma, für die er bis zuletzt gearbeitet hat, eine Maschinenbaufirma für große Motoren, die Firma InterBau, hat sehr viele Aufträge aus China erhalten. Vielleicht war das auch der Grund, warum man unbedingt Tao als Ingenieur haben wollte. Tao musste bereits nach der Einarbeitungszeit immer für einige Wochen nach China fliegen. Er war von dem Land einerseits begeistert, da es das Land seiner Herkunft war und er war andererseits auch immer wieder erschüttert, denn er hatte immer wieder von sehr seltsamen Dingen erzählt, die man hier gar nicht kennt oder die hier einfach ignoriert werden. Tao sagte immer, dass in China die Diktatur lebt. Die Partei ist alles. Er sagte, dass die Chinesen dem Regime völlig ausgeliefert sind, wer dagegen opponiert, ist vielleicht eines Tages verschwunden oder er kommt ins Gefängnis. Er hat von Fällen erzählt, dass die Menschen bei Nacht und Nebel zur Strafe umgesiedelt worden sind, weil sie nicht partei- und linientreu waren. So etwas wird dort nicht geduldet.“
Liu musste wieder eine Pause machen, ihre Stimme wurde hörbar belegt.
„Wenn Tao aus China zurückkam, ging es ihm immer öfter sehr schlecht und manchmal war er den Tränen nahe. Nachts konnte er nicht schlafen. Er brauchte Tage, um wieder der unbeschwerte Mann zu werden, den ich kannte. Nach der Heimkehr aus China spürte ich eine große Erleichterung bei ihm. Wenn aber der Tag einer Abreise näherkam, wurde er nervös, ja schon ängstlich. Jede Reise nach China war für ihn eine Überwindung. Oft habe ich ihn gefragt, warum er weiterhin nach China fliegt, wenn es ihn so sehr belastet. Er hat darauf geantwortet, dass er nach China fahren muss. Ich hatte Angst, nach dem Grund zu fragen.“
Die Stimmung war sehr bedrückend, einzig der kleine Cha war ein Lichtblick, immer wieder klopfte er an die Scheibe der Terrassentür und winkte. Alle winkten zurück.
„So hat Tao einmal erzählt, als er gerade mal wieder in einer großen Fabrik gearbeitet hatte, dass dort bereits morgens eine sehr angespannte Stimmung herrschte. Er fragte, was los sei, aber er bekam nur zur Antwort, dass ihn das nichts angehen würde und dass er sich um seine Arbeit kümmern solle. Viele Mitarbeiter zeigten auf einmal große Angst. An diesem Tag waren viele Mitglieder der Kommunistischen Partei in der Fabrik, die sehr viele Leute befragten, dann wurde eine junge Frau in einen Raum abgeführt. Diese Frau wurde verhört. Man schrie sie an, dass sie doch endlich die Wahrheit sagen solle oder man werde sie dazu zwingen. Als Tao, da er immer noch nicht verstand was geschehen war, in den kleinen Raum gehen wollte, sah er, wie die Frau von einem Mann mit einem Stock auf die Beine geschlagen wurde. Vor dem Raum wurde er von drei Männern in Uniform aufgehalten, die ihm sagten, dass die Frau die Partei beleidigt hätte und gegen China gehetzt hätte, was die Partei nicht dulden könne. Tao wurde zurückgedrängt. Er kannte die Frau und hatte sie einige Male gesehen und wusste, dass sie besonders zurückhaltend war, er konnte die Angaben nicht glauben, was man ihm von der Frau gesagt hatte. Die Frau wurde abgeführt, er hat sie nie wiedergesehen. Tao musste zum Betriebsleiter und wurde wegen seiner Einmischung zur Rede gestellt.“
„Liu, ich verstehe aber nicht, wie dein Mann verschwunden ist und warum er nicht gefunden wurde.“
„Das verstehe ich auch nicht und niemand konnte oder hat mir geholfen. Selbst das Auswärtige Amt und die Polizei kamen nicht weiter. Die Firma meines Mannes hat zwar Untersuchungen anstellen lassen, aber die waren ergebnislos.“
„Glaubst du denn, dass das Verschwinden deines Mannes mit seinem Beruf zusammenhing?“
„Das kann ich nicht sagen. Aber ehrlich gesagt, hatte ich damals, als ich die Nachricht vom Verschwinden meines Mannes erfahren habe, geglaubt, dass er entführt worden sei und dass man mich oder die Firma, für die er tätig war, erpressen wollte. Es fällt mir immer noch sehr schwer, über die ganze Situation nachzudenken. Es ist immerhin schon sechs Jahre her und ich bin gerade dabei, die Situation zu bewältigen, mit Hilfe von Paul.“
Sie ergriff eine Hand von Paul, küsste sie und drückte sie an ihre Wange. Ein paar Tränen rannen ihr über die Wangen. Pauls Mutter stand auf und küsste Liu liebevoll auf den Kopf, dann wischte auch sie sich Tränen aus dem Gesicht.
„War es denn eine Erpressung?“, fragte Pauls Vater.
„Nein, es gab nie eine Forderung. Und es gab nie wieder einen Hinweis auf Tao. Er war einfach weg.“
Pauls Vater merkte, dass dieses Thema nicht das richtige Thema war, um die zukünftige Schwiegertochter besser kennenzulernen. Deshalb wechselte er das Thema.
„Liu, du hast also einen Sohn, der schon zur Schule geht?“
„Ja, Cha ist gut in der Schule und er hat so viel Spaß daran. Cha und Paul verstehen sich sehr gut. Vielleicht sogar schon zu gut, denn bald sind zwei Männer gegen eine Frau.“
Liu lächelte bei den letzten Worten und sah erwartungsvoll zu Pauls Eltern. Pauls Mutter nahm die Hand von Liu und sagte: „Wir können uns keine bessere Schwiegertochter und keinen besseren Enkel vorstellen. Unser Glück ist vollkommen.“
Alle zusammen nahmen sich bei den Händen und bildeten einen kraftvollen Kreis. Liu musste immer wieder erzählen, wie sie sich in der Bibliothek und im Aufzug kennengelernt hatten und sich näher gekommen sind. Der Tag verlief wie viele harmonische Tage, an denen man zusammengesessen und erzählt hatte, doch dieser Tag war anders, weil Liu von sich und ihrer Vergangenheit erzählt hatte und sie somit Menschen einen Einblick in ihre Seele gestattete und weil es nun bald zur Hochzeit kommen würde. Liu hatte nun eine neue Familie.
Als die Eltern am Abend allein waren, haben sie sich nochmals über die sehr sonderbare Geschichte unterhalten, dass Tao, der Mann von Liu, einfach verschwunden war. Sie setzten sich gemeinsam auf die Couch, immer noch ineinander verliebt und nahmen sich bei den Händen: „Du hast sicherlich auch bemerkt, als Liu von ihrem verschwundenen Mann erzählte, dass sie auf einmal sehr traurig und nachdenklich wurde. Glaubst du, dass sie es jemals verwinden kann?“, fragte Herr Müller seine Frau.
„Nun ist ja Paul da, die Zeit heilt alle Wunden. Fragt sich nur, wie tief die Wunden sind.“
„Paul ist ein guter Mensch, er wird auch ein guter Vater für den Jungen sein und ein guter Ehemann für Liu und wir werden gute Großeltern.“
„Ja, wir müssen den beiden, oh, den dreien helfen, wo wir können. Aber es ist schon sehr merkwürdig, was passiert ist“, sagte Frau Müller.
„Ich werde versuchen, Dinge in Erfahrung zu bringen, wie so etwas auf dieser Welt im Einundzwanzigsten Jahrhundert passieren konnte. Am liebsten hätte ich Liu immer weiter ausgefragt, aber sie leidet.“
„Was wirst du machen?“
„Ich werde in den kommenden Tagen und Wochen viele Briefe schreiben, an Politiker, an Fernsehsender und an Zeitungen und diesen Fall bekannt machen. Jemand muss sich doch dafür interessieren, oder?“
Seine Frau zuckte nur mit den Schultern, da sie nicht wusste, ob die Aktionen ihres Mannes Erfolg haben würden.
Xiu
Der Vorarbeiter ging zu den Umkleideräumen, wo auch die Spinde standen, in denen die Frauen ihre persönlichen Dinge während der Arbeit verstauen konnten. Er sah sich um, vergewisserte sich, dass er allein war und sich nicht zufällig jemand in der Nähe der Spinde aufhielt, griff in seine Hosentasche, nahm den Universalschlüssel, der jedes Schloss der Spinde öffnen konnte, heraus und schloss den Spind von Xiu Kun auf. Er hatte sich den Schlüssel vor langer Zeit nachmachen lassen. Niemand wusste davon, weil die Firma, die die Spinde und den Universalschlüssel geliefert hatte, nicht mehr existierte. Der Vorarbeiter hatte damals den Lieferschein verschwinden lassen, in dem festgehalten wurde, dass auch er einen Universalschlüssel bekommen hatte. Unter ein paar Kleidungsstücken lagen die Informationsprospekte über Falun Gong. Er nahm einen Prospekt heraus, steckte ihn in seine Tasche, schloss den Spind wieder ab und ging eilig in sein Büro. Dort rief er den Direktor an und anschließend das Büro 610. Binnen weniger Minuten waren zwei Männer vom Büro 610 bei dem Vorarbeiter. Auch der Betriebsleiter eilte nun zum Vorarbeiter. Er erklärte dem Betriebsleiter, dass er einen Hinweis bekommen hatte, dass Xiu Kun eine Anhängerin von Falun Gong sei und sie im Betrieb Informationsprospekte verteilt hätte. Der Betriebsleiter war überrascht, als er die Anschuldigungen gegen Xiu Kun hörte, dass sie eine Anhängerin von Falun Gong sein solle. Seine Enttäuschung und auch sein Schock saßen sehr tief. Noch an diesem Tag wollte er den Vorarbeiter entlassen und sie zur Vorarbeiterin ernennen. Nicht auszudenken, wenn die Partei oder das Büro 610 davon Kenntnis bekommen hätten, dass man eine Angehörige von Falun Gong zur Vorarbeiterin gemacht hätte. Der Betriebsleiter wäre binnen Minuten verhaftet worden. Die gesamte Belegschaft hätte Probleme bekommen können, jeder hätte Geld verlieren können. Der Betriebsleiter wusste, dass die Machthaber seit vielen Jahren zur Durchsetzung ihrer Politik, nämlich die Vernichtung von Falun Gong, auch die Kollektiv- und die Sippenhaft einsetzten. Wenn es in einer Firma einen Falun Gong-Praktizierenden gab, dann wurden dem Geschäftführer und den Mitarbeitern die Prämien gestrichen. Die Partei würde keine Beförderungen dulden. Die Kollektiv- und Sippenhaft kann in besonders schweren Fällen sogar dazu führen, dass den Familienangehörigen der Arbeitsplatz genommen wird, den Kindern droht die Entlassung aus der Schule und es geht sogar so weit, dass das gesamte Vermögen ohne Rechtsgrundlage konfisziert wird. Mit diesen Maßnahmen soll erreicht werden, dass die Leute alle diejenigen denunzieren, die die Ziele der Partei behindern könnten. Als Belohung bekommen die Verräter oftmals Auszeichnungen und Geld. Selbst Rentner, denen die Rente gesperrt wird, sind vor Verrat nicht sicher. Tragisch ist, wenn die Anschuldigungen falsch sind. Es wird nur selten geprüft, ob die Anschuldigungen der Wahrheit entsprechen. Oftmals haben die Polizeibehörden gar kein Interesse daran, die Wahrheit aufzudecken. Jedes Opfer ist ein abschreckendes Beispiel. Auf diese Weise wird in der Gesellschaft der Hass gegen Falun Gong-Praktizierende geschürt. Ziel ist die totale Vernichtung. Einzig deshalb, weil die Machthaber keinen Einfluss auf diese Menschen haben.
„Die Hinweisgeberin bekommt eine Belohnung für besonders gute und aufmerksame Arbeit. Und sie bekommt eine bessere Aufgabe und dauerhaft mehr Lohn. Veranlassen Sie das“, befahl der Betriebsleiter dem Vorarbeiter.
Xiu Kun ging zum Büro des Vorarbeiters, schon von Weitem konnte sie sehen, wie sie vom Betriebsleiter, vom Vorarbeiter und von zwei ihr unbekannten Männern angestarrt und erwartet wurde. Der Vorarbeiter hatte ein kaum wahrnehmbares Grinsen im Gesicht, siegessicher, wie ein Raubtier, welches gerade dabei war, sein Opfer zu zerreißen. Der Betriebsleiter sah verärgert aus, die zwei Unbekannten sahen grausam aus. Die Augen der zwei unbekannten Männer waren kalt und erbarmungslos, ihr Gesicht zeigte keine Regung. Von ihnen ging Gefahr aus, sie spürte auf einmal eine Todesangst, wie sie sie vorher noch niemals in ihrem Leben hatte. Sofort geriet sie in Panik, aber sie konnte den Drang, wegzulaufen, einfach nur zu fliehen, unterdrücken. Unwillkürlich schlang sie die Arme zum Schutz um den eigenen Körper. Sie öffnete die Tür zum Büro, ging einen Schritt in Richtung Raummitte und sah auf dem Tisch einen Informationsprospekt von Falun Gong. Ihr Gesicht wurde blass, ihr Mund trocken. Das Atmen fiel ihr schwer, so als wenn nicht genügend Sauerstoff vorhanden wäre. Der kleine dreckige Raum war taghell beleuchtet, sie spürte auch die Augen der anderen Arbeiterinnen auf sich. Wie angewurzelt blieb sie im Raum stehen, unfähig, etwas zu denken oder zu tun. Was hätte sie auch tun können angesichts der Übermacht? Ihre Augen starrten sehr erschrocken den Prospekt an, sie konnte den Blick nicht davon abwenden. Sie hatte das Gefühl, dass sie den Prospekt für viele Minuten angesehen hatte, aber es waren tatsächlich nur einige Sekunden. Einer der grausam aussehenden Männer sagte zu ihr: „Wir haben in deinem Spind Informationsmaterial über Falun Gong gefunden.“
Er zeigte anklagend auf den Tisch, auf dem die wenigen Blätter Papier als Beweis ihrer Schuld lagen, die ihr Schicksal und ihr Verderben bedeuteten. Der Vorarbeiter griff bei diesen Worten unbewusst an seine Hosentasche, um zu kontrollieren, ob der unschätzbar wertvolle Schlüssel noch vorhanden war. Dieser Schlüssel und die Informationen waren seine Rettung gewesen. Und sicherlich würde das Büro 610 auch eine Belohnung zahlen. Er begann bereits zu überlegen, wie er es anstellen konnte, diese Belohnung nicht mit der Informantin teilen zu müssen. „Dieser verdammte Hund“, dachte Xiu. Sie sah die Bewegung des Vorarbeiters und wusste nun, dass er einen Schlüssel zu allen Spinden hatte. Schon immer hatte sie den Verdacht, dass jemand ihren Spind durchsuchte, konnte sich aber nie erklären, da niemals etwas gestohlen wurde, wie sie diesen Gedanken haben konnte. Es war immer nur ein Gefühl, eine Ahnung. Selbst wenn sie nun gesagt hätte, dass er einen Schlüssel haben muss, Tatsache blieb doch, dass sie in ihrem Spind Informationsprospekte hatte. Aber wer konnte es ihm gesagt haben? Es musste eines seiner Opfer gewesen sein. Sie wurde aus ihren Gedanken gerissen.
„Wem hast du Informationsprospekte gegeben? Antworte!“, brüllte einer der beiden Männer sie an.
„Sie hört uns gar nicht zu, sie ignoriert uns einfach. Das wird sie büßen“, brüllte der andere.
„Meine Herren“, griff der Betriebsleiter ein, der Xiu wegen ihrer persönlichen Art sehr mochte, denn ihm war es egal, wer nach welchem Glauben lebte, „ich glaube, dass Xiu Kun einfach nur geschockt ist und deshalb nicht geantwortet hat, sie wird Sie nicht missachten, bitte seien Sie doch etwas nachsichtiger mit ihr.“
„Wollen Sie die Frau in Schutz nehmen?“
Der Ton des unbekannten Mannes war sehr bedrohlich, seine Augen wurden zu kleinen Schlitzen. Der Betriebsleiter senkte den Kopf und schwieg, dann schüttelte er ganz langsam den Kopf und sah nur noch auf seine Füße. Er hatte sich in Gefahr gebracht, als er Xiu verteidigte, nun musste er sich unterwürfig zeigen. Xiu spürte die Scham des Betriebsleiters. Die Stimmung in dem kleinen Raum wurde unerträglich, die Luft war stickig, ihr traten die Schweißperlen auf die Stirn und sie hatte das unbeschreibliche Gefühl von Durst. Gerne hätte sie getrunken. Ihr Mund wurde immer trockener und die Gedanken drehten sich im Kopf. Bei ihr kam das Gefühl auf, dass das Gesagte und die Geräusche wie durch einen Schalldämpfer zu ihr drangen. Eigentlich war der Geräuschpegel wegen der vielen Maschinen immer sehr groß. Die Klimaanlage lärmte vor sich hin und das Gemurmel der Näherinnen war auch immer zu hören. Einer der Unbekannten ging zu Xiu und gab ihr eine schallende Ohrfeige, die Haare wirbelten um ihren Kopf. Auf einmal waren alle Geräusche wieder ganz klar und deutlich zu hören. Sie wurde sehr grob an den Schultern auf einen Stuhl gedrückt.
„Ich habe noch niemandem diese Informationsprospekte gezeigt“, log Xiu, denn sie wusste, dass jeder erheblichen Ärger bekommen würde, dem sie die Prospekte gezeigt hätte. Jeder ist verpflichtet, die Anhänger von Falun Gong anzuzeigen. Sie konnte jetzt nur hoffen, dass niemand zugab, von den Prospekten Kenntnis gehabt zu haben.
„Ich will alle Arbeiterinnen sprechen, heute noch, jetzt gleich“, befahl der Mann. Der Betriebsleiter nickte leicht mit dem immer noch gesenkten Kopf, gab dem Vorarbeiter ein Zeichen und ging aus dem Büro. In seinem eigenen Büro angekommen, setzte er sich in seinen Stuhl und starrte aus dem Fenster, immer noch fassungslos, was in seiner Firma geschah. Er wusste, was jetzt mit seiner Arbeiterin passieren würde. Schon einmal hatte er erleben müssen, wie eine Arbeiterin aus einem Betrieb abgeführt worden war. Damals wurde die ganze Belegschaft kollektiv bestraft, er als Betriebsleiter wurde zwangsversetzt, der Belegschaft wurde ein Teil des Einkommens beschlagnahmt.
3
Paul
Liu war allein zu Hause, diese Abende genoss sie ebenso wie die gemeinsamen Abende. Wenn sie allein war, konnte sie über sich und ihre neue Liebe und ihr neues Leben als Familie nachdenken. An solchen Abenden der Ruhe konnte sie auch über ihren toten Ehemann nachdenken. Da Paul an diesem Abend nach dem gemeinsamen Essen mit den Eltern noch einen unausweichlichen Termin mit Freunden hatte, der schon lange geplant war und der sich nicht verschieben ließ, war Liu mit Cha allein. Das Gespräch mit den Schwiegereltern und die eigenen Erzählungen und die damit verbundenen Erinnerungen hatten sie sehr aufgewühlt. Sie hatte Cha ins Bett gebracht und ihm die obligatorische Geschichte vorgelesen, diesmal etwas von Max und Moritz, was ein Fehler war, denn Cha wollte danach nicht einschlafen, sondern auch Brathähnchen mit der Angel durch einen Kamin angeln. Er wollte erst Ruhe geben, nachdem Liu ihm versprochen hatte, dass es am nächsten Tag Brathähnchen geben würde. Liebevoll hatte sie ihn auf die Stirn geküsst, hatte das Licht gelöscht und dann das Kinderzimmer auf Zehenspitzen verlassen. Sie setzte sich im Wohnzimmer auf die Couch, entzündete einige Kerzen und ließ die aufkommende Ruhe auf sich wirken. Mit Leichtigkeit zog sie die Beine bis zur Brust an und umklammerte sie, legte den Kopf auf die Knie und fing an zu weinen. Plötzlich war alles wieder ganz nah, die Nachricht, als man ihr mitteilte, dass ihr Mann verschwunden sei und ein paar Wochen später die Übergabe des Kartons mit den persönlichen Dingen. Sie hatte nie in diesen Karton gesehen. Warum, das war schwer zu sagen. War es Angst oder die pure Verzweiflung? Oder war es einfach nur, weil sie nie akzeptiert hatte, dass Tao verschwunden war? Liu hatte nicht erzählt, wie man ihr damals die Nachricht vom Verschwinden Ihres Mannes überbrachte und dass sie einen Karton erhalten hatte mit den persönlichen Dingen aus dem Hotelzimmer ihres Mannes.
Die Tränen versiegten langsam, der Kopf lag noch immer auf den Knien. Sie musste an Cha denken, der immer wieder nach seinem Vater gefragt hatte. Sie musste daran denken, dass sie keine Antworten auf die Fragen des Sohnes hatte. Und sie musste daran denken, dass auch ihre eigenen Fragen unbeantwortet blieben. Cha wollte einen Vater, ja er brauchte einen Vater, aber er hatte keinen. Als Cha zum ersten Mal gefragt hatte, ob Paul nicht sein Vater werden könnte, war Liu sehr überrascht. Sie hatte zwar bemerkt, dass die zwei sich gut verstanden haben, als Mutter freute einen das natürlich, aber dass Cha Paul als Vater akzeptiert, ja ihn sich sogar wünscht, war doch überraschend. Liu wusste, warum Cha das gesagt hatte. Sie wurde von Chas Klassenlehrerin in die Schule gebeten. Der Grund für das Gespräch mit der Lehrerin war, weil er einen Mitschüler verhauen wollte, der Cha damit aufgezogen hatte, dass er keinen Vater hatte. In der Schule wusste niemand etwas von den Umständen, warum Cha keinen Vater mehr hatte. Cha war Halbwaise. Manchmal kam er aus der Schule und war traurig, weil ihm mal wieder ein Klassenkamerad erzählt hatte, was er und sein Vater zusammen unternommen hatten. Liu gab zwar ihr Bestes, den Vater zu ersetzen, aber das konnte sie nicht. Sie hatte der Klassenlehrerin erzählt, warum Cha keinen Vater mehr hatte und was mit Tao passiert war. Von da ab wurde Cha von der Klassenlehrerin anders wahrgenommen. Das Schicksal von ihm und seiner Mutter hatte tiefe Bestürzung ausgelöst, nicht nur bei der Lehrerin, sondern in der ganzen Schule. Als Liu Cha sagte, dass es sehr gut sein könnte, dass Paul bald sein Vater werden könnte, war er überglücklich. In der Schule erzählte er sofort, dass er einen Vater bekommen würde.
Liu nahm den Kopf von den Knien, wischte sich die Reste der Tränen aus dem Gesicht, holte tief Luft und ging dann in den Keller, in dem der Karton stand.
„Es wird Zeit, dass ich nachsehe, was in dem Karton drin ist, sonst habe ich nie Ruhe. Viel zu lange habe ich damit gewartet“, dachte sie.
Der Karton war schwerer als erwartet, aber sie schaffte es. Atemlos wuchtete sie den Karton auf den Fußboden, setzte sich davor und sah ihn an. Minutenlang. Sie sammelte Kraft, um in ihrer Vergangenheit zu stöbern, um Gefühle und Gedanken neu zu entdecken. Es wurde Zeit, die Vergangenheit zu bewältigen. Angst stieg in ihr auf, sie begann vor Aufregung zu schwitzen, die Hände wurden feucht. Ihr Herz klopfte laut. Liu holte einige Male ganz tief Luft, griff die Kartondeckel und klappte den Karton auf. Gleich obenauf lag eine alte Zeitung und ein Zeitungsausschnitt mit dem Titel: „Deutscher in China verschleppt und spurlos verschwunden.“ Liu las den Artikel nochmals: „Der Deutsche Tao Wang ist auf der Reise von Deutschland nach China unter mysteriösen Umständen spurlos verschwunden. Polizei und Untersuchungsbehörden tappen im Dunkeln. Es gibt keinerlei Hinweise. Es wird vermutet, dass Herr Wang entführt worden ist. Allerdings wurden noch keine Forderungen gestellt. Angeblich soll Herr Wang Mitglied einer kriminellen Organisation sein.“ Sie hielt den Zeitungsausschnitt, der in einer Klarsichtfolie steckte, in den Händen. Liu hatte diesen Artikel damals immer wieder und wieder durchgelesen und jedes Mal ungläubig den Kopf geschüttelt. Wenn Tao wirklich Mitglied einer kriminellen Organisation gewesen wäre, hätte sie das als seine Frau bemerkt. Aber Tao war gar nicht der geeignete Mensch für eine angebliche kriminelle Organisation. Er war immer aufrichtig und ehrlich. Selbst Notlügen fielen ihm schwer. Wenn er im Supermarkt von der Kassiererin auch nur einen Cent zu viel an Wechselgeld bekam, beeilte er sich, den Cent zurückzugeben. Er hätte niemals sein Glück auf dem Unglück anderer aufgebaut. Liu schlug die Zeitung auf. Auf der zweiten Seite war ein Bild von Tao. Langsam stiegen die Tränen wieder auf.