Burschen heraus! (Historischer Roman) - August Sperl - E-Book

Burschen heraus! (Historischer Roman) E-Book

August Sperl

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Beschreibung

Dieser historische Roman behandelt eine Geschichte aus der Zeit der Napoleonischen Kriegen. Die Ausgabe wurde mit einem funktionalen Layout erstellt und sorgfältig formatiert. August Sperl (1862-1926) war ein deutscher Archivar, Historiker und Schriftsteller. Sein Hauptwerk besteht aus historischen Romanen und Novellen, die meist auf der Grundlage realer historischer Gegebenheiten oder Personen entstanden. Aus dem Buch: "Dorther kam's, wo Abend um Abend die Sonne niedergeht, und war bald hell und klar zu hören, bald wieder dumpf und leis. Ward auch zuweilen verschlungen von klirrenden Waffen, von krachenden Schüssen, von klagenden Glocken, rang sich aber doch immer wieder empor und fuhr über das Abendland als ein schmeichelnder, lockender, sieghafter Ton. Er summte mit den Bienen um die Wette in blühenden Bäumen, und lauschend hob der Ferge im Kahn die Ruder, daß die silbernen Tropfen herniederrannen in die grüne Flut. Er klang über wogenden Feldern im Glaste der Sonne und traf wie ein kühles Fächeln die Stirne des Schnitters. Er strich mit dem Herbstwind über die Stoppeln und koste die Feder auf dem Hute des Jägers, der am Waldrand saß, indes auf der Wiese durch webenden Nebel das Wild friedlich vorbeizog. Und er kam wieder und sang unter einem niedern Himmel über verschneiten Wäldern. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr kam er aus Westen, der lockende Ton, ging über Wald und Feld, über Bach und Strom und brach sich an ragenden Schlössern und wirbelte über volkreiche Märkte..."

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August Sperl

Burschen heraus!

(Historischer Roman)

Befreiungskriege - Geschichte aus der Zeit unserer tiefsten Erniedrigung

Books

- Innovative digitale Lösungen & Optimale Formatierung -
2017 OK Publishing
ISBN 978-80-7583-145-3

Inhaltsverzeichnis

Erstes Buch Bravo messieurs les Français
1. Dorther kam's!
2. Höher hinan!
3. Aus allen Fugen
4. Les citoyens
5. Die Söhne der Freiheit
6. Zertreten
7. Totenstille
8. Die Bauern
9. Pflicht
Zweites Buch Ein deutscher Bub
1. Dämmerlicht
2. Evangelium Matthäi 5, 23 und 24
3. Sonntag Palmarum
4. Pro patria
Drittes Buch Aus tiefer Not
1. Vortrunk
2. Alma mater
3. Weihnachten 1811
4. Der Brandfuchs
5. Bunte Lampen
6. Schlagt ihn tot –!
7. Auf Ehre
8. Schäumende Becher
9. Der schale Rest
10. Aber er lebt –!

Ich halte die menschliche Natur für hoch und finde sie doch immer höher als ich dachte; während die sie für niedrig halten, sie immer niedriger finden als sie erwarteten. Denn sie ist unendlich, unendlichen Steigens und unendlichen Fallens fähig. Aber ihr Wesen – und an dem Glauben sollst du mir festhalten – ihr Wesen ist Adel und nicht Verderben.

John Ruskin

Erstes BuchBravo messieurs les Français

Inhaltsverzeichnis

Die benachbarten Völker werden wie mit verhängtem Zügel sich über uns ergießen, in unseren Ebenen wird um die Herrschaft, ja um das Leben gestritten werden; wir werden den Streitenden ein Polster sein, eine Beute der Sieger, das Grab, an dem alle Nachbarn schaufeln.

Leibniz 1669.

1. Dorther kam's!

Inhaltsverzeichnis

Dorther kam's, wo Abend um Abend die Sonne niedergeht, und war bald hell und klar zu hören, bald wieder dumpf und leis. Ward auch zuweilen verschlungen von klirrenden Waffen, von krachenden Schüssen, von klagenden Glocken, rang sich aber doch immer wieder empor und fuhr über das Abendland als ein schmeichelnder, lockender, sieghafter Ton. Er summte mit den Bienen um die Wette in blühenden Bäumen, und lauschend hob der Ferge im Kahn die Ruder, daß die silbernen Tropfen herniederrannen in die grüne Flut. Er klang über wogenden Feldern im Glaste der Sonne und traf wie ein kühles Fächeln die Stirne des Schnitters. Er strich mit dem Herbstwind über die Stoppeln und koste die Feder auf dem Hute des Jägers, der am Waldrand saß, indes auf der Wiese durch webenden Nebel das Wild friedlich vorbeizog. Und er kam wieder und sang unter einem niedern Himmel über verschneiten Wäldern. Tag um Tag, Woche um Woche, Jahr um Jahr kam er aus Westen, der lockende Ton, ging über Wald und Feld, über Bach und Strom und brach sich an ragenden Schlössern und wirbelte über volkreiche Märkte.

Hände falteten sich und Fäuste ballten sich, Lippen bebten und Augen zogen sich schmal zusammen, als würde es blendend helle. Tore wurden verrammelt und Fenster taten sich weit auf.

Tag um Tag, Jahr um Jahr erklang der fremde Ton und war den einen süß und lind zu hören wie eines fernen Hornes froher Klang, den andern aber hart und drohend wie die Posaune des Jüngsten Gerichts.

*

Auf dem Marktplatze des fränkischen Städtchens stand der Brunnen aus alter Zeit, der Brunnen mit dem steinernen Grafen. Rund um den Brunnen waren die Mägde versammelt, und immer zwei von ihnen füllten ihre Holzbutten. Aber es währte lange, bis eine Holzbutte voll war; denn die Wasserstrahlen liefen spärlich aus der Säule – hüben der eine, drüben der andere.

Der Himmel war blau, die Morgensonne stand über den Waldbergen, das hocherhobene Schwert des Grafen glänzte goldig, und die Wasserstrahlen fuhren silbern in die Butten der Mägde.

Der »Fette Ochse« am Marktplatze war die beste Einkehr des Städtchens. Ein schöner Erker sprang aus dem Erdgeschosse der breiten Giebelwand, und es war gut sitzen und trinken in diesem Erker. Zur Rechten und Linken der Toreinfahrt waren Steinbänke angebracht, und über dem Spitzbogen ruhte auf seinem Sockel der steinerne Ochse und schaute mit glotzenden Augen herab – wie er schon auf Karl, den fünften Kaiser dieses Namens, heruntergeglotzt hatte.

Hoch und breit war die Einfahrt, weit offen standen ihre Flügel, und mit dumpfem Gepolter kam ein schwerer Viererzug aus der Tiefe des Hauses.

Die Pferde beschrieben hinaus auf den Marktplatz einen Kreis, und quer vor das Tor rollte die dickbauchige Kutsche.

Die am Brunnen hatten die Köpfe zum Fetten Ochsen gewendet, und eine von den Mägden sagte mit wichtiger Miene halblaut: »Jetzt geht's den Großen an Kragen.«

»Wird nit so arg werden,« meinte eine andere und hob ihre Butte vom Brett.

»Gewiß und wahr,« sagte die erste. »Jetzt kommen die Franzosen. Aber den Kleinen tun sie nix; die Großen, die müssen dran glauben.«

*

Am Fenster, im ersten Stock des Gasthofes, stand eine bleiche Frau und spähte mit angstvollen Augen herab auf den Marktplatz. Ein Herr trat neben sie und sprach auf sie ein. Sie aber schüttelte den Kopf. Da griff er nach ihrer Hand, beugte sich herab und zog sie an seine Lippen.

Drunten vor dem Hause versammelte sich das Volk: Handwerker in Hemdärmeln, wie sie aus der Werkstatt kamen, Kinder, barfuß, Mägde mit der Butte auf dem Rücken.

Mit unbewegten Gesichtern saßen die beiden Kutscher in den Sätteln. Hintenauf aber, hoch über dem Kutschenkasten, saß das zierliche Kammermensch im grauen Reiseanzug. Der Kammerdiener stand noch am Tore.

»Jetzt pressiert's aber!« rief ein langer, hagerer Mann zu den Kutschern hinauf. Die saßen stumm und regungslos.

»Tun als hörten sie's nicht,« lachte der Bürger. »Hören's ganz gut.«

»Wess' Brot ich ess', dess' Lied ich sing',« sagte einer aus dem Haufen.

»Wer sind denn die Herrschaften, die nobeln?«

»Aus dem Bischöflichen sind sie.«

»Weiß keiner, wie s' heißen?«

Keiner konnte Antwort geben, und die auf den Pferden und das Kammermensch hintenauf saßen stumm und rührten sich nicht.

Aus dem Torbogen kam der fremde Herr mit der bleichen Dame am Arme. Nun standen die Leute ganz still, und der eine und andere von den Männern griff an die Mütze.

»Jawohl, das fallet mir auch ein, daß ich die da grüßen tät,« murrte der Lange. »Die Zeiten sind vorüber, wo sich unsereiner vor jeder Kutschen in Dreck gelegt hat. Und die Zeiten kommen auch nie mehr. Ja, wer weiß, ob ich unsere eigene Herrschaft noch grüßen mag, wenn sie heut durch die Stadt fährt?«

»Das wirst du dir vielleicht noch überlegen,« lachte einer neben ihm.

»Wer weiß!« sagte der Lange zum zweitenmal, zuckte die schmalen Schultern und schnitt ein grimmiges Gesicht.

Am Wagenschlage stand der Wirt und hielt den silbernen Griff: »Wünsch' Euer Exzellenz glückliche Reise.«

Der Lange war hinter den Wagen gegangen und prüfte das schwere Gepäck. »Und wo geht also die Reis' hin, Jungfer?«

Angstvoll wandte das hübsche Kammermensch den Kopf, sah wieder gerade aus und piepste: »Nach Nürnberg, Monsieur.«

»Also nach Nürnberg,« rief der Lange. »Glückliche Reis'!«

Der Vornehme zog die Fenster empor, und der Lange trat neben den Schlag. Er hatte die Hände in die Hosentaschen gesteckt, die Mütze saß ihm schief auf dem Schädel, er stand mit gespreizten Beinen und guckte mit frechen Augen in den Wagen hinein.

Plötzlich aber griff er an die Mütze, hob sie hoch empor, trat zurück und rief mit lauter Stimme: »Freiheit – Gleichheit – Brüderlichkeit!«

Die Dame war totenbleich geworden und sank in die seidenen Kissen. Von allerwärts kamen die Neugierigen heran und umringten den Wagen.

»Ja wohl, jetzt pfeift halt der Wind aus ei'm andern Loch,« schrie der Lange. »Jetzt geht euch das Wasser an Kragen, ihr Edelleut!«

Der Vornehme ließ ein Fenster herab und schrie dem Kammerdiener zu: »Worauf wartet ihr noch? Vorwärts!«

Der kletterte eilig auf seinen Sitz neben das Mensch, die Pferde griffen aus, und die Karosse rollte über die Katzenköpfe des Pflasters.

»Sag ihm noch was, Koram!« rief einer aus dem Haufen.

Da schwenkte der Lange die Mütze und schrie: »Hoch sollen sie leben – und verrecken am Galgen!«

»Hoch – hoch –!« brüllten ihrer etliche, und die Jugend rannte hinter dem Wagen drein.

Das Kammermensch auf seinem hohen Sitz wandte das angstverzerrte Gesicht. Da flog ihr ein Stein auf den Rücken, daß sie aufkreischte.

»Ihr Racker, ihr verfluchten!« schrie der Kammerdiener und zog die Hetzpeitsche unter dem Leder hervor. Aber die Jungfer umklammerte seinen Arm und sprach auf ihn ein.

*

Am Marktplatze stand ein breites, dreistöckiges Haus, ein altes Haus mit hohem Giebel. Ein Stockwerk war immer über das andere herausgebaut, die Fenster waren niedrig, aber breit, immer zwei stießen nahe aneinander. Eine doppelte Freitreppe mit schönem Geländer führte empor zur braungebeizten Haustüre, an der das Messingschloß funkelte. Über die Türe war ein altes steinernes Wappen mit reicher Helmdecke eingelassen – der Pelikan, der sich die Brust aufreißt und die Jungen mit seinem Herzblute speist.

In dem Erkerlein über dem Wappen stand ein Mädchen und blickte zwischen den Blättern eines Wachsblumenstockes durchs geschlossene Fenster hinab auf den Marktplatz.

»Was haben sie denn wieder, die Leute?« fragte die Frau, die am runden Tische mitten in der Stube saß. »Es wird immer wilder im Städtchen.«

»Der Reisewagen mit den Fremden fährt ab, und die Leute bringen ihnen ein Vivat. Aber sie lachen und sie stoßen sich.«

Das Mädchen kam vom Antritt herunter in die Stube. »Was ich nun schon alles erlebt habe in den acht Wochen bei Ihnen, Frau Doktor – so viel hab' ich in den einundzwanzig Jahren bei uns draußen nicht gesehen.«

»Ach Klara, wenn du mir nur treu bleibst.«

»Aber warum denn nicht, Frau Doktor?« Sie machte große Augen.

»Die Arbeit wird dir zu viel werden.«

»Mir?« Das Mädchen reckte sich und kreuzte die Arme unter der Brust.

Die zarte Doktorsfrau blickte mit schmerzlichem Lächeln hinüber auf die hohe Gestalt und schüttelte den Kopf. »Nein, Klara, so war's nicht gemeint. Daß du kräftig bist, das sehe ich alle Tage – hätte ich Anlage zum Neid, da könnte ich neidig werden.«

»Nun also, Frau Doktor?« Sie hatte die Arme sinken lassen und strich über ihre schwarze Schürze, ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sehen Sie, wie kräftig ich bin?« Sie hob den Zipfel ihrer Schürze und fuhr über ihre Augen. »Nun hatte ich mir's doch ganz fest vorgenommen, wenigstens am Tage nicht mehr zu weinen, aber da sehen Sie selbst –«

Die Doktorsfrau war aufgestanden und neben das Mädchen getreten – »du Arme!«

»Ist ja schon vorbei,« lächelte das Mädchen.

»Wird immer wieder kommen, Klara. Eltern kann man nur einmal verlieren, und wenn dieses Einmal erst vor einem halben Jahr gewesen ist –«

»Dann hat man trotzdem die Pflicht, sein Leid hinunterzuschlucken und nicht bei jeder Gelegenheit überzufließen wie eine volle Wasserbutte. Aber ich werd' auch das noch bezwingen. Und nun sagen Sie selbst, warum sollte ich's nicht bei Ihnen aushalten? Wo will ich denn hin?«

»Du kannst es anderswo besser haben als bei uns.«

»Besser haben? Und sind Sie denn nicht so gut, so herzensgut mit mir?« Sie faltete die Hände, und wieder tropften die Tränen aus ihren Augen.

»Arbeit von früh bis nacht und dabei viel grobe Arbeit –«

Das Mädchen lachte und hob die roten Hände. »Sehen die da vielleicht so aus, als ob sie's nicht gewohnt wären?«

»Kinder warten und Handreichung tun im Doktorszimmer –«

»Soll ich vielleicht in Ohnmacht fallen, wenn einem Bauern der Zahn gezogen wird?«

»Ach Gott, Klara, das ist's ja eben. Jetzt bist du acht Wochen bei uns, und ich könnte mir unser Haus gar nimmer ohne dich denken. Und daß ich seitdem nimmer assistieren muß« – sie bedeckte die Augen mit den Händen – »ach Gott, es ist mir eine wahre Erlösung.«

»Wäre auch nichts für Ihre zarte Gesundheit, Frau Doktor,« entschied das Mädchen und streifte mit einem mitleidigen Blick über die Herrin. »Ich aber kann's – also! Und Kinder warten? Ja, Frau Doktor, gibt's denn überhaupt etwas Schöneres auf Erden? Ist mir nur leid, daß Sie mir's gar wenig lassen.«

»Ich wollte gerne eine Magd zur groben Arbeit dingen, aber du weißt – die Zeiten sind schlecht.«

»Und der Herr Doktor tut's ohnedies der Hälfte von seinen Patienten umsonst«, fiel das Mädchen ein. »Ich hab's ja schon lange gemerkt. Also wozu noch eine Magd zu dem Knecht? Ja, bin ich denn vielleicht zum Faullenzen in Ihrem Haus? Bin ich denn nicht Magd genug? Und lassen Sie nicht alle Samstag noch die Putzfrau kommen?«

»Magd genug?« Die Frau sah von der Seite her zweifelnd auf das schöne Antlitz, das unter den schwarzen, gescheitelten Haaren so frei und stolz in die Welt hinausblickte. »Das meine ich eben, Klara, du bist nicht, was man unter einer Magd versteht.«

»Will aber doch gar nichts anderes sein, Frau Doktor. Könnt's freilich bei Ihnen völlig vergessen, daß ich die Magd bin. Darf ich nicht jeden Abend in der Wohnstube sitzen und zuhören, wenn der Herr Doktor vorliest? Gerade wie mein seliger Vater uns vorgelesen hat in der Winterzeit. Und ist denn die Arbeit was Schimpfliches?«

»O, gewiß nicht, Klara.« Die Herrin wandte sich ab. »Mag sein, ich bin halt unter Vorurteilen aufgewachsen.«

»Und dafür sind Sie,« das Mädchen stockte und wurde rot, »eine geborene Baronin. – Nun –«, sie lächelte schelmisch und zupfte an ihrer Schürze – »und ich bin eine Pächterstochter, das ist der Unterschied – oder der Schiedunter, wie mein seliger Vater gesagt hat. Und glauben Sie denn wirklich, Frau Doktor, daß die großen Geister nur für die Leute mit feinen Händen gedacht haben? Ich glaub's nicht. Werde mein Lebtag dienen müssen und dank's dem seligen Vater doch und dem guten alten Pfarrer, daß ich manches kenne, was sonst nie an unsereinen kommt. – Aber ich will jetzt an meine Arbeit gehen.«

»Klara!«

»Frau Doktor?«

»Mir ist so angst, unsagbar angst.«

»Sie arme Frau Doktor!«

»Es kommt etwas, es kommt etwas Furchtbares. Ich ahne es, wie ich schon als Kind jedes Gewitter im voraus gefühlt habe.«

»O, Sie arme Frau Doktor. Warum warten Sie aber nicht lieber, bis es da ist? Dann ist noch immer Zeit zum Sorgen.«

»Ich fühle es genau so schwer, wie wenn es schon da wäre.«

Das Mädchen schüttelte heftig den Kopf und sah ernsthaft vor sich hin. »Verzeihen Sie – ich glaube, das ist ein Unrecht.«

»Ich kann nicht leichtsinnig in die Zukunft gehen.«

»Sollen Sie auch nicht. Aber stark sollen Sie bleiben. Und wie können Sie stark bleiben, wenn Sie sich schon vorher in Gedanken schwächen?«

»Ich sehe alles, genau wie's kommen wird.«

»Und wenn es da ist, hat's doch ein ganz anderes Gesicht. Da fällt mir ein, was mein seliger Vater oft gesagt hat: Du meinst, aus einem von drei Löchern wird das Unglück kommen, und dann kriecht's unversehens aus einem vierten heraus.«

»Jedenfalls wird's ein furchtbares Gesicht haben,« murmelte die Frau.

»Wir wollen's abwarten.«

»O Klara, du hast doch auch schon so viel Schweres erlebt. Den Brand, bei dem ihr alles verloren habt, die böse Krankheit, die dir Vater und Mutter in wenigen Tagen genommen hat. So was hätte mich wahrhaftig ganz zerdrückt. Aber es muß doch auch dir immer noch nachgehen wie ein Schatten?«

»O freilich, Frau Doktor, wie ein Schatten, ein großer, schwarzer Schatten. Aber ich wehr' mich halt gegen den Schatten und scheuch' ihn zurück, mach' mir lichte Gedanken und vertrau' meinem Herrgott.«

»Ach ja!« Die zarte Frau bedeckte die Augen mit den Händen. »Glücklich, wer das kann. Du bist stark, ich bin schwach, das ist alles.«

»Keiner hat die Kraft von sich selber.«

»Manchem aber ist sie ganz versagt.«

»Und wer sich nichts zutraut, dem verdorrt auch der Wille zur Kraft.«

*

Vor einer Woche waren sie einmarschiert, vorgestern waren sie abgezogen – über Nacht gekommen, im Morgengrauen gegangen, die Soldaten des Kaisers.

Niemand hatte sie herbeigerufen, und niemand weinte ihnen nach. Mit feindseligen Blicken hatte man sie empfangen, mit Hohnworten hatte man sie begleitet – die Soldaten des Kaisers, als sie mit zusammengebissenen Zähnen, dröhnenden Schrittes, ohne Sang und Klang aus dem Bachtor marschierten, auf der Flucht vor den Franzosen, die Soldaten des Kaisers.

Keiner klagte ihnen nach? Nur einer, in seiner Art. Nicht mit Tränen. Aber viele hatten ihn gesehen, wie er zornrot, an den Gliedern zitternd, auf dem Marktplatze stand und auf einen Haufen Bürger hineinwetterte: »Seid ihr verrückt? Hinter euern Freunden pfeift ihr drein und euren Feinden jauchzt ihr entgegen!« Jawohl, dieser Handelsmann, der wollte immer alles besser wissen als der gemeine Mann.

Also, sie waren fort, und die Straße war frei. Kaiserliche Truppen! Was bedurfte man der Kaiserlichen noch? Das Kaiserreich war morsch und alt, fast tausend Jahre alt, und krachte in allen seinen Fugen. Mochte sich des Kaisers zerschlissene Herrlichkeit ostwärts bewegen mit den Fahnen seiner Regimenter. Nach Westen wendet die Köpfe! Von Westen kommt's. Hört ihr den Ton?

Das war ein Scheuern und Fegen gewesen, gestern den ganzen Tag. Die Stuben sind heute noch naß, weit offen stehen die Fenster, und die weißen Vorhänge wehen lustig hinaus auf die Straße. Laßt die Fenster offen stehen, laßt den kaiserlichen Geruch hinaus in den goldigen Sommermorgen und lauscht dem glockenhellen Ton aus Westen.

Die Straße ist frei, und die Franzosen können heran. Die Franzosen, hört ihr? Das werden andere Kerle sein als die plumpen Soldaten des Kaisers. Franzosen sind's; aus Paris kommen sie. Und das Wunderhorn haben sie bei sich. Hört ihr den Ton? Immer heller, immer klarer. Und ein Zittern geht über alles Volk, das erwartungsvolle Zittern der Freude.

Und dort – jawohl, da ist's ja schon zu lesen. Dort am schwarzen Brette hinter dem Drahtgitter neben der Rathaustreppe über der Steinbank. Hat's der Nachtwind hergetragen, das bedruckte Papier – oder aber der Reiter vorhin auf dem schweißtriefenden Pferde?

Und schon steht ein Menschenhaufe davor.

Aber halt, da kommt auch der Handelsmann. Alle weichen ihm aus; denn er ist ein angesehener Bürger – wenn er auch mit seinen groben Reden schon so manchem Nachbarn in sein Blumenbeet getreten ist. Nun hat er's gelesen, wendet sich und geht zurück und – ja, ohne Zweifel, er spuckt nun kräftig aufs Pflaster.

Hat er etwas gesagt?

Wie, was hat er gesagt? Er geht quer über den Platz, in seinen Laden zurück. –

Aber da – ei da soll doch, was hat denn der Schneider Koram für ein blutrotes Ding auf dem Kopf? Wahrhaftig, da muß man auch hinüber gehen. –

Ein Haufe Männer und Weiber stand vor dem Anschlag am schwarzen Brette, und ganz vorn in die erste Reihe hatte sich der lange Schneider gedrängt mit der roten Jakobinermütze auf dem spitzigen Schädel.

»Nachbar,« ließ sich einer vernehmen, »du kannst uns wohl den Gefallen tun.«

Der Schneider wandte sich und suchte von oben herunter den Sprecher im Haufen. »Ich verstehe,« sagte er mit näselnder Stimme und verzog das faltige Gesicht, »du hast deine Brille vergessen.« Da ging ein Lachen durch den Haufen. Ernsthaft aber begann der Schneider: »Es ist eine große Botschaft vom Bürgergeneral Schurdang.«

»Ist ja nicht wahr,« unterbrach ihn einer, »Jourdan, J–o–u–r–d–a–n– schreibt er sich.«

»Schafskopf,« belehrte ihn der Schneider und rückte an seiner Mütze. »Das ist eben das Merkwürdige an ihrer Sprache, daß sie anders geschrieben und anders gesprochen wird.«

Eine tiefe Stimme rief von der äußersten Reihe her: »Ganz richtig, Meister Koram.« Der Schneider fuhr herum und sah den Handelsmann, der zurückgekehrt war.

»Ihr müßt's ja wissen, Bürger Ehrhard,« rief der Jakobiner. »Ihr habt's ja wohl von Grund aus studiert in Paris.«

»Hab' ich, Meister Koram,« antwortete der Handelsmann. »Und ich sag' euch, Leute, die französische Sprache ist so merkwürdig, kaum zu glauben, wie merkwürdig sie ist. Ihr werdet's ja nun bald an euern eigenen Leibern erfahren. Da schreibt sich einer zum Exempel auf französisch ›Schaf‹ und auf deutsch ist er ein Fuchs oder ein Wolf.« Damit wandte er sich seinem Laden zu.

Die Leute sahen sich an, und etliche lachten; denn sie ahnten, daß der Handelsmann einen Witz gemacht hatte. Andre verzogen das Gesicht nicht. Der Schneider aber sagte halblaut hinter ihm her: »Das soll er in etlichen Tagen auch noch probieren, der Siebengescheite, der Überstudierte. Den Schurdang hat er gemeint. Na wart nur, wenn der Schurdang kommt, der wird ihn zwischen den Fingern zerdrücken.«

»Lies Nachbar, mach' weiter!« mahnte einer aus dem Haufen.

Da räusperte sich der Schneider und begann: »Gegeben in meinem Hauptquartier den elften Messidor im vierten Jahre der Republik.« Er hielt inne und erklärte: »Das ist also jetzt anno 1796.« Dann fuhr er fort: »Die vielfältigen Siege der französischen Republik, das Geschrei der vom Kriege ermüdeten Völker, der nichts als Ruin und Verheerung für sie mit sich führt, die rührende Stimme der Menschheit, welche ohne Aufhören wiederholt, daß es Zeit ist, den Strömen Bluts Einhalt zu tun –«

Eine Weibsperson rief aus dem Haufen: »Nachbar Koram, du mußt das langsamer lesen!«

»Na also,« brummte der Schneider. »Nichts kann das verhärtete Herz eurer Souveräne rühren, nichts ist imstande, sie zu bewegen, einen Frieden zu verlangen, welcher die Ruhe und das Glück von ganz Europa bestimmen muß.«

Bürger Koram hielt inne und wandte sich zurück. »Habt ihr das alles verstanden, Mitbürger?«

Ein Murmeln ging durch den Haufen. Die Weibsperson aber rief: »Nachbar Koram, das ist ein gar langes Gesetz, da weiß einer zuletzt nimmer, wie's angefangen hat.«

»Na, ja,« meinte der Jakobiner, während die andern lachten, »du hast ja recht, so will ich's euch verdeutschen. Die große Nation, das sind die Franzosen, die Republik, wo ihren König geköpft hat –«

»Pfui Teufel!« rief ganz laut ein alter Mann im Haufen, und alle sahen sich um nach ihm.

»Du, Nachbar, da nimm dich fein in acht mit deinem Pfui Teufel! Die Franzosen sind helle Köpfe und werden wohl wissen, warum sie ihr Haus gefegt haben. Aber laßt euch sagen, was der Schurdang meint: die große Nation will, daß die ganze Welt in Frieden und Glückseligkeit lebt, daß alles gleich und frei und brüderlich sein soll. Die Suverängs, das sind die da droben« – der Schneider Koram hob die geballte Faust dorthin, wo über den Giebeln des Städtleins das alte Grafenschloß von seinem Felsen herabschaute – »die Grafen und Fürsten und Herzöge und zuletzt der Kaiser, die wollen, daß alles ungleich bleibt und daß die Menschen unfrei und feindselig untereinander leben. Und das kann der Franzos, der wo's gut meint mit dem kleinen Mann, nimmer leiden und deswegen hat er Krieg angefangen mit unserm Kaiser. Weil's im Guten nit hat gehen können, will er's im Bösen dahinbringen, daß alle die Völker, die Deutschen und die Polaken, die Welschen und die Russen frei werden. –«

»Und was hat der Franzos davon für einen Nutzen?« ließ sich der alte Mann vernehmen, der vorhin pfui Teufel gerufen hatte.

»Nutzen?« Der Jakobiner rückte an seiner roten Mütze. »Ja wohl, wenn der Vater Brand keinen Nutzen sieht, nachher geht's ihm nit ein in seinen dicken Schädel.«

Alle lachten und sahen auf den weißhaarigen Mann, der mit unbewegtem Angesicht auf den Sprecher blickte.

»Muß denn alles einen Nutzen bringen?« rief der Schneider.

»Also der Franzos tut's ohne Nutzen?« sagte der Alte. »Und ganz umsonst kommt er den weiten Weg marschiert, nur damit wir glücklich werden? Hm! Hernach ist halt der Franzos anders, als die Leut hierzulande sind.« Und damit wandte auch er sich und ging langsam über den Markt, stieg die Steinstufen zum Kaufladen empor und verschwand in der Türe des Bürgers Ehrhardt.

Mit schallender Stimme aber erklärte der Schneider seinen Mitbürgern die große Mission der Franzosen, und mit Nachdruck las er die Sätze aus Jourdans Aufruf: »Täuschet euch nicht, friedsame Bewohner dieser unglücklichen Gegenden! Ihr seid es nicht, die wir zerstören wollen. Euer Eigentum soll nicht verwüstet werden. Ihr werdet eure Häuser nicht in Flammen aufgehen sehen.«

Ein beifälliges Gemurmel ging durch den Haufen, der nun im Halbkreis um das Rathaus bis fast hinunter zum Grafenbrunnen stand.

Und Koram las weiter: »Den Generälen, Ober- und Unteroffizieren ist aufgetragen, die strengste Disziplin unter den Truppen zu handhaben . . . kein Soldat darf plündern, keiner die Bewohner mißhandeln.«

»Das ist ein wackerer General!« rief nun einer aus dem Haufen. Und Koram las weiter: »Die Bewohner des Landes, wodurch die Armee ziehen wird, sind aufgefordert, friedsam in ihren Wohnungen zu verbleiben. Alle die, welche mit Habschaft und Vieh als flüchtig ergriffen werden, sollen arretiert werden.«

»Na ja,« rief einer aus dem Haufen, »was braucht man da auch gleich zu laufen davon? Da is es doch besser, man bleibt und betreibt seine Geschäfte?«

»Recht haste, Salomon!« rief ein anderer. »Wer weiß, vielleicht werden sie jetzt auch gleich gemacht, die Juden, von den Franzosen! Was sollten sie also laufen davon?«

»Oho, das wär' auch was!« gröhlte einer in der vordersten Reihe. Und nun ging ein lautes, behagliches Lachen durch den ganzen Haufen. Der Jude Salomon aber strich den Bart und sagte leise, daß es niemand vernahm: »Wer weiß?«

»Weiter, Nachbar Koram!« schrieen zwei, drei aus dem Volke. Und der Schneider las: »Die Bewohner der Länder, wodurch die Armee ziehen wird, sind gehalten, auf der Stelle ihre Waffen an die Orte niederzulegen, welche dazu den Vorstehern und Bürgermeistern werden bezeichnet werden.«

»Das hört sich schon gröber an!« rief einer über die Köpfe der andern.

»Ist ja nur wegen der Ordnung,« belehrte der Schneider. »Ordnung muß einmal sein. Und wenn der Franzos Ordnung halten will, dann muß er auch da nach dem Rechten sehen.«

»Meinen Schießprügel geb' ich nit 'raus,« rief der andere. Und wieder ging das Murmeln durch den Haufen.

»Ist ja noch gar nit so weit,« beruhigte der Schneider und machte ein ärgerliches Gesicht. Und plötzlich sprang er auf die Steinbank, fuchtelte mit den langen Armen, schob die rote Mütze in den Nacken und rief, daß man's auf dem ganzen Marktplatz hörte: »Bürger, laßt euch sagen, die Hauptsach ist jetzt, daß der Schurdang unseren guten Willen sieht, und den kann er uns naturmang nit an der Nase absehen, also müssen wir's ihm handgreiflich machen.« Er hob seine rote Mütze vom Schädel und schwenkte sie. »Wir müssen dem Franzosen zeigen, Mann für Mann, daß wir wissen, was Brauch ist. Ich hab' mich vorgesehen – das Stück kostet dreißig Kreuzer –.«

»Holla!« unterbrach ihn einer aus dem Haufen. »Seit wann ist es denn erlaubt, daß die Schneider den Leuten auch Hüte verkaufen? Das wird man dir weisen von Zunft wegen.«

Der Schneider kreischte vor Vergnügen und warf die Mütze hoch empor, fing sie auf, stülpte sie über den Schädel. »Von Zunft wegen, Bürger Huterer? I, den schaut an! Meint der, daß grad vor den Huterern die Gleichmacherei aufhört!«

»Na, die Zünft' werden s' aber doch noch respektieren, die Franzosen!« rief ein anderer.

»Respektieren?« Der Schneider zappelte mit Händen und Füßen. »Gar nix wird respektiert. Hört ihr's nit? Links – rechts – links – rechts, so kommt's, und der Erdboden wackelt, und es ist nimmer zum Aufhalten, es geht über und über, und was hoch ist, muß nieder werden, und was bucklig ist, muß grad werden, und was ein guter Bürger ist und hat seinen Verstand in Ordnung und weiß was von der Zeit, der muß jetzt das Herz in die zwei Händ nehmen und mit mir schreien aus Leibeskräften: der Schurdang soll leben, vivat hoch –!«

Etliche aus dem Haufen schrieen mit, und draußen vom äußersten Ringe antwortete die Jugend, Buben und Mägdlein – »vivat hoch!«

Der Schneider schwenkte die Mütze und schrie mit gellender Stimme zum zweitenmal – »vivat hoch!« Und nun schrieen schon die meisten im Haufen – die einen, weil's gar nichts kostete, andere, weil ihnen die Gänsehaut der Begeisterung über den Buckel kroch, wieder andere, weil sie doch auch ihren Verstand beisammen hatten, viele, weil sie vom großen Umschwung der Dinge die Erlösung von all ihren besonderen Übeln erhofften. Die Schuljugend aber hörte überhaupt nicht mehr zu schreien auf, und als der Schneider zum dritten Male vivat rief, da brüllte und kreischte alles weit umher.

Koram war von der Steinbank heruntergestiegen, und sie umdrängten ihn und schrieen alle zusammen auf ihn hinein, und wenn er sich aufrecht hielt, dann sah sein gelbes, faltiges Gesicht mit dem fahlen Backenbarte unter der roten Mütze weit über alle Köpfe hinaus. Er hatte aber eine bewegliche Gemütsart, konnte nicht lang gerade stehen, ließ sich fort und fort in die Knie sinken, patschte seine dürren Schenkel, und also tauchte sein Kopf immer wieder hinab und fuhr empor, und er war anzusehen –

»Wie ein großer Affe!« sagte der Handelsmann, der weit drüben an seinem Ladenfenster stand.

»Zum Lachen,« sagte neben ihm der alte Mann, der vorhin den Schneider nach dem Nutzen gefragt hatte.

Der Handelsmann zog die Stirn in Falten. »Ja wohl, zum Lachen, wenn er als Vogelscheuche in einem Krautacker stände, der Kerl mit der roten Mütze; so aber –.« Und nun riß er die Türe auf und rief mit seinem dröhnenden Basse über den Marktplatz: »Nur die allergrößten Kälber wählen ihre Metzger selber!«

Schade, daß ihn niemand verstehen konnte; denn die Kinder schrieen gerade wieder vivat, daß es gellte zwischen den Fachwerkgiebeln der Häuser.

*

Es war ein Haus hinter der Kirche, ein altes Haus, über dessen Türe die Worte »artibus et litteris« standen. Zu ebener Erde waren die Fenster offen, und die zehn Knaben auf den bös zerschnitzten Schulbänken lauschten mit gierigen Augen auf das Vivatrufen. Einer von ihnen aber stand mit dem Buche in der Hand und las mit lauter, eintöniger Stimme: »Was kümmern mich die fremden Völker? Ich lobe sie, aber ich liebe nur mein Vaterland. Sorge du vor allem, daß du deinem Vaterlande nützest. Der brave Mann fragt immer zuerst und zuletzt, was dem Vaterlande nütze.«

»Übersetzen!« befahl der jugendliche Lehrer, der am Katheder lehnte, und der Knabe übersetzte fließend ins Lateinische, bis er an die Stelle kam – was dem Vaterlande nütze. Und er übersetzte quid prodest patriae.

Da stampfte der Lehrer und sagte: »Falsch!«

»Quid patriae prosit,« plärrte der kleine Lateiner.

Der Lehrer zog seine dicke Sackuhr. »Ihr Buben, wir haben zwar erst dreiviertel, aber heut ist halt auch ein ganz besonderer Tag.«

Die Buben saßen mit gereckten Hälsen.

»Und wißt ihr denn, was jetzt in der Welt los ist?«

»Die Franzosen kommen!« schrieen die Zehn wie aus einem Rachen.

Wieder tönten vom Marktplatze die Vivatrufe herüber.

»Und was bringen die Franzosen der Welt?«

»Freiheit!« schrieen die Zehn.

»Und –?« Der kleine, schlanke Lehrer war auf den Katheder gestiegen, seine glänzenden Augen waren in weite Ferne gerichtet.

»Gleichheit!« rief der Primus.

»Und –?« rief der Lehrer.

»Brüderlichkeit!« brüllte der Chorus.

»Dann lauft, was ihr laufen könnt, und schreit mit denen auf dem Markte vivat!«

Jauchzend sprangen sie empor, rafften die Bücher zusammen und stürmten aus der Stube, hinaus auf die stille Gasse, um die Ecke zum Marktplatz.

Die Hufe eines Pferdes klapperten über die Steine, und ins offene Fenster guckte der Reiter.

»Es geht los!« rief er in die Schulstube hinein: »Auf dem Markte steht der Koram, hat eine Jakobinermütze auf dem Kopf und predigt allem Volk.«

»Der Koram?« Das Gesicht des Lehrers verzog sich.

»Und General Jourdan hat einen Aufruf anschlagen lassen.«

»Nun – und –?« rief der Lehrer.

»Schöne Worte, kraftvoll, trostvoll, liebevoll,« antwortete der Reiter mit nachdenklichem Ernste.

»Hab' ich's nicht gesagt?« triumphierte der Lehrer. »Doktor, was stehst du draußen, binde deinen Gaul an den Ring, komm zu mir herauf und trinke ein Glas Wein auf sein Wohl!«

»Muß noch einen Patienten besuchen, Bruder. Und jetzt schon auf sein Wohl trinken? Nein, das kann ich denn doch nicht.«

»Bruder, komm!« Der Lehrer hatte die Hände gefaltet. »Nur zehn Minuten!«

»Nun, meinetwegen.« Der Arzt stieg ab, band sein Pferd an und trat ins Haus.

Der Lehrer stürmte ihm entgegen, faßte ihn unter dem Arme und zog ihn die enge, steile Stiege empor. Und es klang wie unterdrücktes Jauchzen, was er nun hervorbrachte: »Es kommt mit Macht, paß auf, paß auf! Mir ist, als sähe ich hinaus in weite, sonnige Ferne. Und ich sehe ihn blinken, den Rhein, und sie schlagen zahllose Brücken, und der Boden dröhnt unter ihren Füßen, und sie kommen heran. Siehst du sie? Ihre Augen leuchten von dem göttlichen Funken, den jeder von ihnen haben muß, weil er sich entzündet hat an den Fackeln der Freiheit. Siehst du das Heer der Rächer?«

Sie standen oben im Vorplatze, der Kleine riß sich los, sprang in die Mitte des Platzes und rief mit schallender Stimme: »Burschen heraus! Was wir furchtsam hinter verschlossenen Türen halblaut einer dem andern ins Ohr geraunt, was uns die Wissenden ins Herz gelegt haben, was wir schon fast nimmer zu hoffen wagten – es wird offenbar, es wächst vor unseren Augen empor, es wird zur Wirklichkeit. Burschen heraus! Schon sehe ich sie hoch oben auf dem altersmorschen Bau, und sie schlagen das löcherige Dach ein, und die Sonne scheint hindurch, und sie reißen die fauligen Balken heraus, und die Fledermäuse schwirren entsetzt hervor und taumeln umher und – siehst du? – bis auf den Grund wird es niedergerissen, das brüchige Haus, Römisch Reich genannt, und auf das Zauberwort aus Westen steigt ein neuer Tempel empor, zehnmal größer, mit gewaltigen Toren, geöffnet nach allen vier Enden der Erde, und sie kommen von Morgen und Abend und Mittag und Mitternacht, tragen Friedenspalmen in den Händen und ziehen ein in die vier Tore, opfern dem Herrn aller Herren und sinken sich in die Arme – Hermann – und küssen sich, selig wie die Engel im Himmel!«

Er hatte die Bücher auf den Boden geworfen, sank dem Freunde an die Brust, lachte und weinte und küßte ihn, daß es schallte, und rief immer wieder: »Burschen heraus!«

Der Arzt aber entwand sich ihm lachend und sagte: »So denkst du dir die Geschichte? Herrgott, müßt' aber das langweilig werden.«

Ein klägliches Piepsen kam aus der Stube, und in der geöffneten Tür erschien eine Frauengestalt. »Aber liebster Johannes, warum sprichst du denn gar so laut?«

»Verzeihen Sie, Frau Studienlehrer, ich kann nichts dafür,« erklärte der Arzt und verneigte sich.

»Das kann ich mir denken, Herr Doktor. Aber nun ist unser kleiner, namenloser Heide aufgewacht –«

»Kleiner, namenloser Heide?« Der Studienlehrer fuhr sich mit fünf gespreizten Fingern ins lange Haupthaar. »Nun hab' ich's – er wird Jourdan getauft.«

»Aber Bruder, ich bitte dich!«

»Jourdan!« rief der Lehrer und begann auf einem Bein zu tanzen.

Das Piepsen in der Stube war in kräftiges Schreien übergegangen, und als Grundmelodie ertönte der Gesang einer Frauenstimme.

»Kann denn das auch als ein christlicher Name gelten?« fragte Frau Johanna ängstlich.

»Was christlicher Name! Ich sag' euch, der Name Jourdan wird einst in einem Atem genannt werden mit Hermann dem Cherusker, mit Themistokles, mit – ja mit allen großen, völkerbeglückenden Helden, und mein Erstgeborener heißt Jourdan Pieperich.«

Jourdan Pieperich begann zu brüllen, seine Mutter verschwand hinter der Türe, und der begeisterte Vater versuchte den Freund in seine Studierstube zu ziehen.

»Verzeih, lieber Bruder, nun hab' ich leider keine Zeit mehr,« sagte der Arzt und wandte sich der Stiege zu.

»Keine Zeit?« Der Studienlehrer machte ein betrübtes Gesicht. »Und, Bruder, ich habe doch das Herz so voll und – und –. Aber heute abend – weißt du was? – da setzen wir zwei Ordensbrüder uns zusammen, da legen wir unsere Kreuze zwischen uns auf den Tisch, da nehmen wir die alten Stammbücher vor und lesen uns die schönen Sprüche unserer Freunde –.« Er riß Weste und Hemd auf, zog das Ordenskreuz am roten Bande hervor, küßte es und flüsterte: »Jason vom silbernen Monde!«

Lächelnd stand der Arzt an der obersten Stufe. »Pieperich, du bist der alte Enthusiast.«

»Müßte ich nicht Fischblut in den Adern haben?« rief der andere, während drinnen in der Stube der kleine Jourdan Pieperich nur noch piepste zum leisen Singen der Mutter und der Magd. »Frey, dich packt's doch auch – oder nicht?«

»Natürlich packt mich's. Aber da blicke ich auf die Natur und sehe, daß jeglicher Pflanze eine Frist gesteckt ist zum Wachsen und zum Blühen, und daß zwischen Blüte und Frucht eine gemessene Zeit liegt.«

»Und du hoffst doch auch alles von diesem – wie heißt er gleich?«

»Jourdan.« Der Arzt stieg die Treppe hinab. »Freilich, gar viel hoffe ich von ihm, lieber Pieperich, und was er geschrieben hat, das gefällt mir ganz gut.«

»Lesen muß ich's!« rief der Kleine. »Paß auf: Jetzt kommt der große Tag, jetzt ist die angenehme Zeit; jetzt erleben wir die ersehnte Vereinigung aller Menschen unter dem Banner der Liebe, alle Völker werden ein Volk werden, verteidigt vom Schwerte der Wahrheit, geschützt vom Schilde der Gerechtigkeit. Durch alle Gassen möchte ich laufen und rufen zu allen Fenstern empor – Burschen heraus! Und mein Erstgeborener wird die Erinnerung an diese große Zeit Enkeln und Urenkeln verkünden. Nun aber muß ich lesen, was dieser – wie heißt er gleich?«

»Jourdan,« wiederholte der Arzt.

»– was dieser Jourdan meinem Volk zu sagen hat.«

Der Doktor ritt um die Ecke, der Studienlehrer aber rannte auf den Marktplatz und schoß quer hinüber ans Rathaus. Und während er mit gespreizten Beinen vor der Proklamation stand und die hochtönenden Worte in sich einsog, kam langsam über den menschenleeren Platz der Handelsmann Ehrhardt und trat hinter den Gelehrten.

Pieperich hatte den letzten Satz gelesen. Jetzt wandte er sich und erblickte den Weitgereisten: »Großartig – nicht?« Er sah den andern durchdringend an. Der aber schwieg und lachte höhnisch. Ärgerlich betrachtete ihn der Studienlehrer und sagte zum zweiten Male: »Großartig – oder nicht?« Der Handelsmann zuckte die Schultern. Endlich murrte er: »Jawohl, wie eine Lektion zum Übersetzen.« Und nun begann er mit Händen und Füßen zu agieren, als stünde er auf der Bühne, und deklamierte die ersten Sätze der deutschen Kundmachung – in französischer Sprache.

»Hören Sie einmal!« Studienlehrer Pieperich war ehrlich entrüstet. »Sie treiben da Spott mit den erhabenen Worten eines Ehrenmannes, und ich möchte Ihnen doch raten –«

»Spott? Wenn ich die Worte des Franzosen aus unserm ehrlichen Deutsch übersetze in sein fuchsiges Französisch? Und was möchten Sie mir denn raten?« Der Handelsmann sah seinen Gegner trotzig an.

»– die Absicht dieses Mannes pietätvoll zu prüfen,« sagte der Studienlehrer mit Hoheit.

»Heiliger Gott!« Der Handelsmann schlug die Hände zusammen. »So kann doch auch nur ein Deutscher reden, wenn der Feind seine Horden heranwälzt, wenn die Kriegsfurie einherbraust, wenn es sich um Freiheit, Ehre, ja vielleicht ums Leben handelt –!«

»Und wer sagt Ihnen, daß er als unser Feind kommt?« fuhr der Studienlehrer auf.

»Mein Verstand und mein Gewissen, Herr Doktor,« antwortete der Handelsmann mit Würde.

»Ich denke doch,« meinte der Lehrer nicht ohne Überlegenheit, »man muß alle diese Ereignisse gleichsam vom Turme wissenschaftlicher Erkenntnis herab überschauen, und erst aus dem Vergleich der Gegenwart mit der alten und ältesten Vergangenheit kann solch hoher und allein richtiger Standort gewonnen werden. Ich meinerseits sehe den Söhnen der Freiheit mit den besten Hoffnungen, ja mit ehrlichem Enthusiasmus entgegen.«

Er wandte sich ohne Gruß und lief über den Marktplatz.

Der Handelsmann trug seinen zornroten Kopf in seinen Laden zurück.

Studienlehrer Pieperich hatte auch einen roten Kopf, er lief und sah vor sich hin und achtete auf nichts. So rannte er um die Ecke der Pfarrkirche und stieß an einen Mann, der gemächlich einherspazierte. Und er stieß so heftig an diesen Mann, daß ihrer beider Hüte aufs Pflaster flogen.

Studienlehrer Pieperich raffte die Hüte auf, stammelte höfliche Worte der Entschuldigung und hielt dem andern beide Hüte hin. Und der andere nahm auch richtig den Hut Pieperichs und setzt ihn murrend auf sein Haupt. Pieperich aber stülpte den falschen Hut über seine Locken. Verlegen rieb er die Hände: »Um Vergebung, Herr Konrektor, man hat eben in dieser Zeit so manches im Kopfe.« Und er lüftete den großmächtigen Hut des Konrektors; doch allsogleich sank ihm der Hut wieder bis auf die Ohren herab.

Der Konrektor stand mit vorgestrecktem Halse und hatte die Hände auf der Rückseite gefaltet. Schief und viel zu klein saß das Hütlein Pieperichs auf seinem runden Schädel. Ein verächtliches Lächeln ging über sein faltiges Gesicht: »Den Jourdan meinen Sie, Herr Kollege, den Franzosen? Ei, so was kann doch mich nicht aus meiner Ruhe bringen.«

Pieperich versuchte aufs neue, den fremden Hut auf der Stirne zu rücken, und schob ihn endlich mit einem kühnen Griff in den Nacken. Und eifrig wollte er dem Herrn Konrektor erklären, warum er so große Hoffnungen auf General Jourdan setze. Konrektor Knorzius aber löste bedächtig die Hände vom Rücken, streckte abwehrend die Rechte nach vorne, schüttelte den Kopf und sagte: »Was fällt Ihnen ein, Herr Kollege? Meinen Sie wirklich, mich kümmert, was diese hohen Herren miteinander ausmachen?« Er kniff die Lippen ein und schloß die Äuglein bis auf einen schmalen Spalt, und aus dem Spalt glitzerte es schwarz hervor. »Haben Sie schon einmal den schönen Spruch der Landsknechte gehört? Was, Sie haben ihn nicht gehört? Dann haben Sie gar nichts gehört.« Und mit leiser, singender Stimme sprach er:

»Was kümmert mich der Kaiser und was das deutsche Reich? Es sterb' heut oder morgen, das gilt mir alles gleich.«

Studienlehrer Pieperich fuhr auf, daß ihm der große Hut bis über die Augen herabsank. »Gewiß, Herr Konrektor, ganz meine Ansicht. Besser heut als morgen. Aber auf die Wälle der eroberten Festung pflanzen die Franzosen die Bäume der Freiheit –!«

»Die Bäume der Freiheit?« Konrektor Knorzius hatte die Hände wieder auf den Rücken gelegt, gar lustig saß das Hütel auf seinem Schädel, und das Spitzbäuchlein fuhr hin und her. »Die Bäume der Freiheit? Lassen Sie sich nicht auslachen, Kollega. Die Großen dieser Erde werden niemals auf Freiheitsbäumen, sondern immer auf Kirschbäumen sitzen und werden brav Kirschen essen und der misera contribuens plebs die Kerne auf die Köpfe spucken. Das war so und ist so und wird so bleiben. Und ich will's ihnen gönnen, wenn sie mir nur mein täglich Brot und meine Bücher, meinen Tabak und meine Ruhe lassen. Wie ich dann regiert werde, hochgräflich oder kaiserlich oder republikanisch, das ist mir alles, alles gleich, und zufrieden will ich sagen: ubi bene, ibi patria. Und meinen Sie nicht –?« Er machte nun ein nachdenkliches Gesicht. »Könnte man das Landsknechtsprüchlein vielleicht gar in klassisches Griechisch übersetzen?«

Empört sah Studienlehrer Pieperich unter dem breiten Hutrande hervor, lüpfte den Hut und sagte hastig: »Um Vergebung, Herr Konrektor – es ist mir in diesem Augenblick nicht zum Scherzen.«

Da drohte der andere mit dem Zeigefinger und lächelte spöttisch.

Dann gingen sie dahin und dorthin, und auf dem Dickkopfe saß das Hütel, auf dem Spitzkopfe lastete der Hut.

2. Höher hinan!

Inhaltsverzeichnis

In vornehmer Ruhe starrten die Türme und Giebel des alten Grafenschlosses hoch droben auf dem schroffen Felsen über der kleinen Stadt in die flimmernde Sommerluft – in Ruhe und in sicherem Frieden, als gäbe es keine Franzosen und als stünden des Kaisers Heere anstatt der weitgedehnten Wälder auf den langgestreckten Hügeln hinter den grauen Mauern, des Kaisers Heere zu ihrem Schutz und Schirm. Und scheinbar in demütiger Ruhe blinkten die Schindeldächer des Städtleins drunten am Fuße des Felsens unter den Strahlen der Julisonne, friedlich, als hinge keine Proklamation Jourdans am schwarzen Brette des Rathauses, als dächte Schneider Koram an gar nichts anders, als an zerrissene Hosen und Röcke.

Und selbstzufrieden, als hätte er heute vormittag höchsteigenhändig den letzten Strich getan am Defensionsplan des heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, wandelte der wohledelgeborene Kanzleidirektor Blitz im Schatten der Linden um die Bollwerke der Haupt- und Residenzstadt seines gnädigsten Grafen und Herrn.

Zweimal hatte er auf seinem Spaziergang in das obere Tor geguckt, aus dem die Straße steil anstieg zum Schlosse, zum zweiten Male kam er an das untere, das Bachtor, und zum zweiten Male legte der hochgräfliche Soldat gemächlich sein Strickzeug auf die Steinbank, ergriff sein Gewehr und präsentierte es vor dem höchsten Beamten der Grafschaft.

Mit vornehmer Gelassenheit, genau so wie Seine hochgräfliche Exzellenz, nickte der Kanzleidirektor höchstseinen Dank; denn seinen Dreispitz trug er unter dem linken Arme. Und nun bog er in den schattigen Baumgang ein, zwischen dem die Straße zum Städtlein emporlief, und schritt würdevoll talwärts unter den Linden dahin.

Er machte sich auf Befehl des hochgräflichen Leibarztes Motion, wie jeden Tag nach dem Mittagessen, eine Stunde lang. Und er war zufrieden mit sich und der Welt.

Da rollte im scharfen Trabe eine herrschaftliche Kutsche die Straße herauf, und der Kanzleidirektor wechselte über den Graben auf die Wiese hinüber. Dort wartete er mit dem Dreispitz unter dem Arm.

Ehe aber die Pferde auf gleiche Höhe kamen, streckte er das rechte Bein steif hinter sich und sank ins linke Knie. Diese Art der Reverenz hatte Seine hochgräfliche Exzellenz vor Jahren mit höchstem Wohlgefallen auf einem alten Holzschnitte entdeckt und sie allsogleich seiner gesamten Beamtenschaft durch ein gestrenges Mandat zur Vorschrift gemacht.

Noch stand der Direktor unbewegt, da parierte der Kutscher die Pferde, und die schneidende Stimme des Grafen rief aus dem offenen Wagen zurück: »Blitz!«

Der raffte sich auf und rannte an den Wagenschlag. Er machte sein demütig-freundlichstes Gesicht. Aber der alte, hagere Herr auf den seidenen Kissen sah ihn so streng an, daß ihm das untertänige Lächeln in einem angstvollen Grinsen erstarrte.

»Blitz, Wir dächten, du hättest heute Wichtigeres zu tun, als da im Schatten herumzulaufen!«

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, nur meine gewöhnliche nachmittägliche Motion auf ärztlichen Rat.«

»Blitz, Wir fürchten, die Franzosen kommen. Welche Maßregeln hast du getroffen?«

Nun hatte der Direktor seine Haltung wieder gewonnen. Er streckte sich wie ein Gockel und schlug mit den kurzen Ärmchen, als wären es Flügel. »Die Franzosen? Oh! Wir stehen unter dem Schutze Eurer hochgräflichen Exzellenz und des allmächtigen Gottes. Fürs erste vermute ich, daß sich die Franzosen überhaupt nicht so weit abseits verirren werden. Fürs zweite aber würden sie die unantastbare, durch die Jahrhunderte geheiligte Reichsstandschaft Eurer hochgräflichen Exzellenz ohne allen Zweifel respektieren müssen, und ein Hauch aus Höchst-Ihrem Munde würde genügen, alle Gefahr von Höchstdero Landen abzuhalten. Deshalb habe ich besondere Maßregeln bisher für unnötig erachtet.«

»Dummes Geschwätz!« rief der Graf nicht ganz unfreundlich. »Diese Leute haben doch ihrem eigenen König den Kopf abgeschlagen, da werden sie auch einen deutschen Reichsgrafen nicht sonderlich respektieren. Jedenfalls aber müssen wir die Mauern unserer Residenzstadt besetzen. Und deshalb gedenken wir jetzo eine Revue über Unsre bewaffnete Macht abzuhalten. Hupf auf den Bock, Blitz!«

»Aber hochgräfliche Exzellenz –?«

»Allez – hupf!«

Kanzleidirektor Blitz kletterte auf den Bock und saß nun barhäuptig, mit betrübtem Gesicht neben dem Kutscher. Die Pferde zogen an, und der Wagen rollte dem Tore entgegen. Der Wachsoldat rief in die Torstube, der Trommler rannte heraus und schlug einen Wirbel. Der Wachsoldat präsentierte, und der Wagen hielt.

»Allez, auf den Marktplatz, Generalmarsch schlagen!« befahl der Graf. Und während sich der Trommler in Trab setzte, zogen die Pferde den Wagen schrittweise die enge Straße empor. –

Am Grafenbrunnen stand der Trommler und bearbeitete wie wütend das Kalbfell. Zu Fuß kam der alte regierende Herr. Ihm folgte der Direktor. Vor dem Fetten Ochsen drüben hielt der Wagen.

Kanzleidirektor Blitz stotterte seitwärts von hinten her: »Ich fürchte – hochgräfliche Exzellenz – die Soldateska ist nicht in der Verfassung, daß –«

»Halt 's Maul, Blitz! Die Soldateska hat immer in Verfassung zu sein.«

Ringsumher hatten sich die Fenster geöffnet, ringsumher streckten die Leute die Köpfe heraus, die Jugend rannte von allen Seiten herbei, der Trommler trommelte noch immer, und auf dem Grafenbrunnen stand der steinerne Ahnherr und sah vergnüglich über den alten Guckenkel zu seinen Füßen hinüber zur hohen Kirche.

Der Graf hatte die goldene Sackuhr gezogen und starrte auf das Zifferblatt. »Fünf Minuten,« sagte er nach einer Weile.

Der Mann am Brunnen schlug unaufhörlich das Kalbfell.

»Zehn Minuten,« sagte nach einer Weile der Graf.

»Halten zu Gnaden –« begann Blitz.

»Maul halten!« entschied der Graf. Und als die Zeit um war, sagte er mit hohler Stimme: »Fünfzehn Minuten –!«

»Jetzt kommt der Hauptmann!« rief Blitz erleichtert.

Der große, dicke Hauptmann rannte quer über den Markt und hängte sich soeben noch den Säbel um die Schulter. Da winkte der Graf dem Trommler ab. Keuchend stand der Hauptmann vor seinem Landesherrn. Und nun stolperten auch von der andern Seite her, hintereinander, drei Soldaten über das Pflaster und stellten sich vor dem Brunnen in einer Reihe auf. Zwei von ihnen waren mit Gewehren bewaffnet.

»Sind das alle Unsere Soldaten?« fragte der Landesherr verwundert.

»Im ganzen sind's elf hochgräfliche Jägergardisten zu Fuß und ein Leutnant,« meldete der Hauptmann.

»Ja, wo sind denn aber Unsere anderen Soldaten?« fragte der Graf. Und fragend wandte sich der Hauptmann zu der bewaffneten Macht.

»Unser zwei haben die Torwacht,« meldete der Gefreite Günzel.

Der Graf zählte an den Fingern: »Sind fünf, mit dem Trommler sechs. Und wo sind Unsere fünf anderen Soldaten?«

»Der Scholl ist zum Schweineschneiden über Land gegangen,« meldete der Gefreite.

»Dazu hab' ich ihm Urlaub gegeben,« bekannte der Hauptmann.

»Und der Wagner hat das Zipperle, der liegt im Bett,« sagte der Gefreite.

»Sind acht,« bemerkte Seine hochgräfliche Exzellenz.

»Und der Endersch und der Löblein –.« Der Gefreite räusperte sich und präsentierte krampfhaft sein Gewehr.

»Wo ist der Endersch und der Löblein?« forschte der Graf.

»Der Endersch tut schlafen, und ich kann ihn nit wach kriegen,« sagte der Gefreite.

»Und warum schläft Unser Soldat Endersch –?« Die Stimme des Grafen zitterte merklich.

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, weil er gestern nacht dem Herrn Kanzleidirektor seinen Abtritt geräumt hat.«

»Sind neune,« sagte der Graf mit Haltung. »Und wo ist Unser zehnter Soldat?«

»Der Löblein muß doch dem Herrn Kanzleirat Müller alle Tage die Gäns hüten,« sagte der Gefreite.

»Sind zehn,« rechnete der Graf. »Und wo ist Unser elfter Soldat?«

Der Gefreite schwieg und sah auf den Direktor.

Der wurde rot und blaß, preßte seinen Hut noch fester unter die Achsel, nahm einen Anlauf und stotterte: »Es könnte sein – ich vermute – es ist mir, als ob der Jägergardist Grenkel unsern Mägden beistehe – ja wohl, ich glaube, meine liebe Frau läßt heute Bettfedern schleißen, und da hilft er.«

»Und wo ist Unser Leutnant?« forschte grollend der Graf.

»Der Leutnant von Tibaldi ist über Land, ins Preußische gefahren,« meldete der Hauptmann.

»Und warum ist Unser Leutnant von Tibaldi über Land ins Königlich preußische Territorium gefahren?« Der Graf bebte nun vor Zorn.

»Halten zu Gnaden, hochgräfliche Exzellenz, des Leutnants Frau Tochter ist von einem Knaben entbunden worden, und da feiert der Leutnant die Taufe seines Enkelsohnes,« bekannte der Hauptmann.

Allgemach waren aus den Haustüren ringsumher die Leute gekommen und erlustierten sich, wie der alte Herr die Schau hielt über seine Truppen. Da wandte sich dieser und sah in einiger Entfernung hinter sich einen großen Haufen Menschen stehen. Vor diesem Haufen aber stand der Schneider Koram mit der roten Mütze auf dem Schädel.

»Gute Leute, was wollt ihr denn eigentlich? Haltet doch nicht Maulaffen feil am hellen Alltag, sondern geht an eure Hantierung!« rief der Graf.

Die guten Leute standen unbewegt; der eine und der andere stieß seinen Nachbarn in die Seite, der Schneider Koram aber warf seine rote Mütze empor und fing sie geschickt wieder auf.

Ängstlich trippelte der Kanzleidirektor an den Regierenden heran und wagte es, höchstdenselben am Ärmel zu zupfen.

Zornig drehte sich der Graf um: »Was unterstehst du dich, Blitz?«

»Wollen Eure hochgräfliche Exzellenz gnädigst bedenken, daß der gemeine Pöbel heutigen Tages leicht in Versuchung kommt, den Respekt zu verletzen.«

Der alte Herr wurde braunrot, riß seinen Hut vom Kopfe und schleuderte ihn aufs Pflaster: »Wer will sich unterstehen, den Respekt gegen Uns zu verletzen?«

Der Kanzleidirektor, der Hauptmann, die drei Soldaten samt dem Trommler stürzten sich auf den Hut und balgten sich im Knäuel um die Ehre, ihn aufzuheben. Der Trommler aber blieb Sieger und präsentierte den hochgräflichen Hut auf der Trommel. Der Kanzleidirektor trat keuchend zurück, faltete die Hände und flüsterte bebend: »Kein Mensch gedenkt den Respekt zu verletzen, hochgräfliche Exzellenz. Doch es könnte sein, daß das aufgeregte Volk –«

Der alte Herr stampfte: »Unser Volk hat nicht aufgeregt zu sein! Und wenn es dennoch aufgeregt ist, dann haben meine Beamten ihre Pflicht verletzt, und das Weitere wird sich finden.«

Noch immer stand der Kanzleidirektor mit gefalteten Händen, noch immer warf drüben vor dem großen Menschenhaufen der lange Koram seine Mütze in die Luft und fing sie auf, und die Leute murmelten und lachten. Da klang vom Bachtor herauf der Hufschlag trabender Pferde, und zwei Reiter bogen um die Ecke.

»Gott sei gelobt, der Herr Erbgraf!« rief der Direktor.

Mit einem Blick übersah der jugendliche Herr den Menschenhaufen, die Soldateska und seinen greisen Vater, sprang vom Pferde, warf dem Reitknechte die Zügel hin und ging mit langen Schritten zum Brunnen hinüber.

Als er an den Haufen der Bürger kam, rief er mit heller freundlicher Stimme sein Gutentag hinein. Da griffen sie alle an die Kappen und machten ihm Platz. Nur Koram wandte ihm geflissentlich den Rücken und stülpte die rote Mütze über die Ohren.

Die Soldateska präsentierte das Gewehr, und der Kanzleidirektor machte seine Kniebeuge. Aber heftig winkte der junge Herr ab, trat mit gezogenem Hut vor seinen Vater und sagte ganz leise: »Schlechte Nachrichten, Herr Papa. Morgen werden die Franzosen hier sein. Zunächst Infanterie. Aber ich bitte dringend, die Nachricht vorderhand noch geheim zu halten.«

»Später, mein Sohn!« rief der alte Herr. »Zuerst muß ich abrechnen mit diesen Revolutionären –!«

»Aber ich bitte Sie, Herr Papa, wer revoltiert denn?« begütigte der Sohn mit leiser Stimme. »Und wollen wir nicht lieber etliche Schritte abseits gehen? So, nun hört uns niemand, ehrerbietigsten Dank.«

»Ich habe diesem Pack da befohlen, sie sollen heim gehen,« sagte der Graf; »aber sie gehen nicht heim. Und das ist eine Revolution.«

»Aber ich bitte Sie untertänigst, Herr Papa, die Leute haben Höchstihren Befehl gewiß nur nicht verstanden.«

»Ich will ein Exempel statuieren!« Der alte Herr stampfte. »Vor achtzig Jahren hat mein Großvater den Bürgermeister dieser Stadt auf diesem Marktplatze höchsteigenhändig mit seinem Stocke durchgeprügelt, weil er den Hut nicht tief genug vor ihm gezogen hatte, – und ich sollte – –«

»Vor achtzig Jahren!« sagte der Erbgraf mit eindringlicher Betonung.

»Und siehst du, wie der lange Kerl da drüben seine rote Mütze immer wieder in die Höhe wirft? Was hindert mich, daß ich ihn –?«

Der Erbgraf war ganz nahe an den Zornigen herangetreten: »Wie ist mir doch, Herr Papa? Ich weiß einen guten Spruch: Aquila non curat muscas. Aber ist es nötig, daß der Sohn den Vater an seinen eigenen vielerprobten Wahlspruch erinnere?«

Betroffen sah der regierende Herr zu Boden. »Recht hast du, Geschmeiß ist's,« murmelte er. »Und um Geschmeiß darf sich der Adler nicht kümmern.«

»Geschmeiß habe ich keineswegs gesagt,« flüsterte der Erbgraf. »Aber das sage ich, der Herr Papa hat jetzt Besseres zu tun, als sich mit einem Schneider auseinanderzusetzen, der höchstdemselben ja noch nicht im geringsten zu nahe getreten ist.«

»Du hast recht, zu nahe ist mir der Schneider allerdings noch nicht getreten. Aber wenn er mir zu nahe träte?«

»Und ich habe dem Herrn Papa so wichtige Nachrichten zu bringen, daß ich bitten muß, mich mit in den Wagen zu nehmen. Wir müssen fliehen, Herr Papa – aber nicht vor diesen da!« Er deutete mit den Augen rückwärts auf das neugierige Volk.

»Fliehen?« Der alte Herr stand mit offenem Munde. »Wer kann mich zum Fliehen zwingen?«

»Menschen nicht, aber die Ereignisse,« flüsterte der Erbgraf.

Und also fuhren Vater und Sohn durch das Städtchen zum Schlosse empor.

Der alte Graf war bleich und saß gebeugt auf dem seidenen Kissen. Der Erbgraf hatte alles berichtet, was er wußte, saß mit gekreuzten Armen und starrte finster vor sich hin.

Nach einer Weile sagte des regierenden Herrn Exzellenz: »Du hast heute den Rappen geritten?«

»Jawohl.«

»Der Rappe ist vorderhand noch mein Leibpferd, Herr Sohn.«

»Um Vergebung, der Rappe ist das schnellste Pferd in Ihrem Stall; es war Gefahr im Verzug, und ich dachte, mit meinen fünfunddreißig Jahren doch –«

»Fünfunddreißig Jahren? Vorderhand bestimme ich noch die Wahl deiner Reitpferde. Vorderhand. Wenn ich einmal modere in meiner Gruft, dann kannst du die Bestimmung treffen nach deinem Belieben.«

»Wie Sie befehlen, Herr Papa.«

*

Das Licht der Nachmittagssonne fiel gedämpft durch drei hohe Fenster in das geräumige Wohngemach des Kanzleidirektors und warf den Schatten der Fensterkreuze samt dem Muster der blühweißen Gardinen schräg auf den blanken Bretterboden. An den Wänden hingen etliche große, roh gemalte Familienbilder, wohlgenährte Männer und Frauen aus älterer Zeit; auf dem zierlichen Tische vor dem achtbeinigen Sofa blinkte das Porzellan des Kaffeezeuges; in der Ecke leuchtete mattglänzend aus einem Glaskasten der nicht unbedeutende Silberschatz des Hauses. Hinter den Gardinen des einen Fensters aber hing das Vogelbauer mit dem gelben Harzer, und das Vögelein probierte nur je zuweilen in leisen Tönen seine Kehle, als wüßte es, daß es vorderhand pflichtgemäß zu schweigen hatte.

Vorderhand. Denn jetzt regte es sich hinten in der Ecke am eisernen Ofen in dem altväterischen Ohrenstuhl, zwei rosige Fäustlein wischten sachte über zwei Äuglein, gähnend öffnete sich ein Mund, zwei Beinchen in schwarzseidenen Strümpfchen strampelten ein wenig auf dem Fußpolsterchen, und die Stimme des Kanzleidirektors ließ sich zwischen Gähnen behaglich vernehmen: »Hab – ich – aber – nun – gut geschlafen, Lottchen! Kaum glaublich nach der schrecklichen Aufregung der Revue.«

Stärker begann der Harzer zu zwitschern, und schwebenden Schrittes kam das Lottchen aus ihrer Fensternische vom Nähtischlein her. Und sie trat neben den alten Herrn, beugte sich herab und hauchte einen Kuß auf seine Stirne: »Gott segne deinen Schlaf und dein Erwachen, Bubele! Und sag, hab' ich also nicht recht gehabt? Zuerst dein gewohntes Schläfchen, dann das Kaffeele und ein gemütliches Schwätzlein und dann meinetwegen wieder die schweren Amtssorgen.«

»Freilich hast du immer recht, Lottchen. Aber mich wundert's doch, daß ich heute den Schlaf hab' finden können.«

»Das kommt von deinem guten Gewissen, Bubele.«

Der Kanzleirat erhob sich: »Und davon kommt's, daß ich gar nicht an Franzosen und an Durchmarsch glauben kann, und wenn auch der allergnädigste Herr seine Soldaten mustert und der gnädigste junge Herr noch so geheim tut.«

Starker Kaffeeduft erfüllte den sonnigen Raum, und das rundliche, rosige Antlitz des Kanzleidirektors Blitz, der nun auf dem Stuhl am Tische saß, erstrahlte von Wohlbehagen. Hinter ihm aber stand das würdige Lottchen, hob sorgsam das Zöpflein des Herrn und Gemahls, das nette Zöpflein mit der großen, schwarzen Bandschleife, und schlang die Serviette mit leichtem Knoten in seinem Nacken.

Kanzleidirektor Blitz hatte die Hände über dem Bäuchlein gefaltet, ließ Daumen um Daumen kreisen und sog schmunzelnd den Kaffeeduft in die Nase. Dann aber verzog sich sein zufriedenes Gesicht wie das eines Menschen, den unvermutetes Zahnweh befällt, zwischen seinen grauen Augenbrauen ward eine Sorgenfalte sichtbar, und ärgerlich murmelte er: »Wie behaglich könnten wir nun leben, meine Liebe. Ich bin ein angesehener Mann –«

»Ein hochangesehener Mann, Bubele,« fiel sie eifrig ein.

»Wir haben auch nicht umsonst gearbeitet und gespart.«

»Ganz gewiß nicht umsonst,« bestätigte sie mit gefalteten Händen.

»Unser Sohn –«

»Der Kurfürstliche Regierungsadvokat und Doktor beider Rechte,« unterbrach ihn das Lottchen mit leuchtenden Augen.

»– ist im Begriff, eine glänzende Verbindung einzugehen.«

»Und unsre Tochter, die Baronin,« nahm nun Lottchen das Wort und wischte das linke Auge, das zu tropfen begann; denn sie litt sehr an einer chronischen Verstopfung der Tränendrüsen.

»Wir wissen's ja!« rief er. »Und meine hohen Gönner in Wien – jeden Tag kann die Post den kaiserlichen Brief bringen –.«

»Gott segne das Werk unsrer Gönner, Blitz, und segne unsre Kinder und Kindeskinder nach uns!« rief sie mit Andacht.

»Johann Friedrich und Charlotte Blitz von –!« sagte er feierlich.

»Um Gotteswillen Bubele!« Sie verschloß ihm den Mund. »Ich bitte dich, beschrei's doch nicht zur unrechten Zeit!«

»Ach was –!« Er zog ihre Hand von seinem Munde, neigte sich aber sogleich und drückte einen artigen Kuß auf ihre Finger. »Wir müssen uns nun der Kourtoisie befleißigen, Lottchen.«

»Das haben wir von jeher getan, und unser Haus ist bekannt als Heimstätte vornehmen Tones,« hauchte sie und goß den dampfenden Trank in seine Tasse, hob mit der silbernen Zange zwei Zuckerstückchen aus der silbernen Dose und warf sie hinein.

»Also, wie schön wäre es, wie friedlich könnte es sein, wie zufrieden könnten wir dahin leben, unserer ewigen Bestimmung entgegen –«

Sie hatte das Rahmkännchen gefaßt, aber sie stellte es wieder auf die Decke und schloß ihrem Herrn zum zweiten Male den Mund: »Bubele, ich bitte dich, heute bist du so philosophisch gestimmt.«

Kanzleidirektor Blitz schob ihre Hand zum zweiten Male zurück, aber nun hauchte er keinen Kuß auf ihre Finger. Zornig stieß er hervor: »Wenn diese Jakobiner nicht auf der Welt wären!«

»Diese Sünder, diese abgebrühten,« bestätigte Frau Lottchen und goß sorgsam den Rahm durch das Geflechte des silbernen Seihers.

»Diese Jakobiner!« wiederholte er mit einem tiefen Seufzer. Und er wußte das Wort so verächtlich auszusprechen, als wäre er der regierende Graf. Es ging Frau Lottchen durch Mark und Bein. Er aber begann in dem dampfenden Trank zu rühren.

»Wo die einmal schmoren müssen!« sagte die Frau Direktorin und wischte ihr linkes Auge, legte ihrem Gemahle einen Ausschnitt vom flaumigen Kuchen auf den Teller und goß nun endlich auch Kaffee in die eigene Tasse.