Bye Bye Lolita - Lea Ruckpaul - E-Book

Bye Bye Lolita E-Book

Lea Ruckpaul

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Beschreibung

Dolores Haze – die Lolita aus Vladimir Nabokovs gleichnamigem Roman – ist vom Mädchen zur Frau geworden. Mit Ende dreißig blickt sie zurück auf ihr beschädigtes Leben und fragt sich, wie sie die geworden ist, die sie heute ist. Lea Ruckpaul erzählt in ihrem Debütroman von einer Überlebenden, die sich freischreibt und die um keinen Preis ein Opfer sein will. "Bye Bye Lolita" ist der wütende Abgesang auf ein Klischee, welches das Bild von jungen Frauen bis heute prägt – und auf die Machtverhältnisse, die das ermöglichen. Ein Roman über das größte Missverständnis der Literaturgeschichte.

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Seitenzahl: 367

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Lea Ruckpaul, 1987 in Ost-Berlin geboren, war nach ihrem Studium an der Hochschule für Musik und Theater »Felix Mendelssohn Bartholdy« an verschiedenen Theatern als Schauspielerin tätig. Seit 2023 ist sie Ensemblemitglied des Residenztheaters München. Ihre ersten Texte entstanden für das Theater. Ihr Debüt »My Private Jesus« wurde 2023 am Düsseldorfer Schauspielhaus uraufgeführt und zum Heidelberger Stückemarkt eingeladen. »Bye Bye Lolita« ist ihr erster Roman.

Lea Ruckp

Bye Bye Lol

© Verlag Voland & Quist GmbH, Berlin und Dresden 2024

Lektorat: Helge Pfannenschmidt

Korrektorat: Arne Seidel, Karina Fenner

Umschlaggestaltung und Layout: Guerillagrafik

Satz: Fred Uhde

Druck und Bindung: BALTO print, Litauen

ISBN 978-3-86391-422-6

eISBN 978-3-86391-433-2

www.voland-quist.de

Ich wage es nicht, weit hinauszuschwimmen. Ich fürchte die Tiefe.

Morgens ist das Meer glatt und klar. Noch hat das Salzwasser den Badenden nicht die Sonnenmilch von den Körpern geleckt. Ich bin allein. Die Sonne ist gerade erst aufgegangen. Ich setze die Schwimmbrille auf, so, dass sie sich über meinen Augen festsaugt, dann wate ich hinein, schwimme los. So dicht wie möglich am Strand entlang. Wenn meine Knie über den Sand schrammen, muss ich notgedrungen ein bisschen weiter hinaus, in die Tiefe. Es ist mir ein Rätsel, dass manche Menschen einfach vom Strand aus Richtung Horizont schwimmen, dorthin, wo nichts zu sehen ist als die Krümmung der Erde.

Ich schwimme die Bucht auf und ab. Ich bin ausdauernd. Ich schlucke beinahe kein Salzwasser mehr. Ich bin seit drei Wochen hier. Morgens schwimme ich, ansonsten liege ich im Schatten und starre oder lese. Dann zehn Minuten nackt in der Sonne liegen, in einer routinierten Abfolge verschiedener Posen. Das garantiert gleichmäßige Bräune am ganzen Körper. Ist mir gerade unheimlich wichtig. Ich genieße den wachsenden Kontrast, wenn ich am Abend auf dem weißen Laken liege. Ich esse viel und regelmäßig. Ich bin immer hungrig. Manchmal bin ich stolz auf den kleinen Speck am Po, den ich bekomme. Manchmal habe ich Panik. Veränderungspanik.

Heute stürmt es. Die Wellen bäumen sich auf und rasen ans Ufer. Ich stehe barfuß im Sand. Die Schwimmbrille auf meinem Kopf ziept mir an den Haaren. Ich frage mich, was mir mehr Angst macht: im aufgewühlten Meer zu ersaufen oder eine Routine zu brechen. Eine Welle nach der anderen umspült meine Knöchel, langsam arbeitet das Meer meine Füße in den Sand ein. Ich habe Gänsehaut, die wehtut, weil es so kühl ist. Ich drücke mir die Brille auf die Augen. Ein wenig zu fest. Sie saugt mir unangenehm an den Augäpfeln. Bis Knietiefe können meine Beine der Kraft des Wassers standhalten, dann muss ich schwimmen. Ich habe keine Wahl. Ich kämpfe mich tiefer ins Wasser hinein, oder ist es das Wasser, das mich zieht? Hinter den Wellenkamm muss ich. Dorthin, wo die Wellen noch nicht brechen.

Endlich die ersten Züge parallel zum Strand. Ich schwimme Brust, immer. In dem Moment, als ich auftauche, um nach Luft zu schnappen, erwischt mich die Welle und ich huste, spucke Salzwasser. Ich strample. Ich verliere Kraft. Dann atme ich tief ein, tauche unter und schwimme einige Züge unter Wasser. In der Tiefe ist es still, kein Wind, nicht das Tosen des Wassers, einfach Stille. Das Meer greift meinen Körper und hebt ihn empor. Ich lasse mich mitnehmen, tauche auf. Luft. Und wieder zurück unter die Oberfläche. Keine Zweifel, kein ängstliches Rudern mit den Armen, wie eine Idiotin, die gleich ertrinken wird, kein Gedanke. Ich fühle auch nichts. Ich bin einfach da und das Meer bestimmt, wann ich atmen darf. Ich habe keine andere Wahl als radikale Hingabe. Ich tue, was getan werden muss: mich der Kraft hingeben, der ich ausgeliefert bin.

Fick dich, du dummes, hässliches Leben. Fick dich. Fick dich.

Ich bin nicht tot. Ich bin durch alle Zeiten gereist. Ich bin alle Frauen geworden und doch keine andere. Ich will keine Zuwendung und ich will keine Wiedergutmachung. Ich will Autonomie. Ich werde mich mit ganz vielen Körpern verbinden. Wir könnten ein vielköpfiges Monster sein, ein öffentliches, ein gefürchtetes, eines, das erschreckend ist in seiner Lebendigkeit. Es schnüffelt das Leben ab wie ein gieriger Hund.

Ich habe lange zu allem geschwiegen. Es hat mir nicht geholfen. Gras wächst nicht auf unfruchtbarem Boden. Aus der Asche aber kann etwas Neues entstehen. Phönix und so. Wir sind ein ziemlich trauriger, gewalttätiger Haufen, vielleicht sollten wir mal in Erwägung ziehen, darüber zu sprechen.

Meine letzte Begegnung mit Humbert Humbert liegt einundzwanzig Jahre zurück. Jahre, in denen ich versucht habe, Dolores zu sein. Aber ich kann Lolita nicht abschütteln. Andere Menschen haben eine chronische Krankheit, mit der sie sich ein Leben lang abmühen, ich habe Humbert Humbert. Zu den Symptomen zählen Erbrechen, Depressionen, Taubheitsgefühle, Vergesslichkeit, Veränderung der Persönlichkeit. Aber jetzt schreibe ich ihn aus mir heraus. Ich schreibe so lange, bis er sich endgültig verpisst hat. Das kann dauern. Ich schreibe in sein Tagebuch. Einen Taschenkalender, dessen kunstlederner Einband schon porös und grau ist, weil ich ihn durch mein Leben schleppe. Wie einen kostbaren Besitz habe ich den Kalender in meiner Schreibtischschublade eingeschlossen und doch besitze ich ihn nicht. Ich werde von ihm besessen. Ich bin zu feige, darin zu lesen. Humberts Aufzeichnungen: Kürzel, dann elegante Schwünge einer hart erarbeiteten Handschrift. All das ist winzig. Kaum zu entziffern mit bloßem Auge. Heute Morgen aber habe ich in einem Anfall von Übermut – es ist der erste Frühlingstag und ich hatte eine Line gezogen, die mich kurz unbesiegbar machte – eine Lupe gekauft, wie sie alte Leute benutzen, um Kreuzworträtsel zu lösen. Gelesen habe ich immer noch keine Zeile. Aber ich schreibe. Da sind eine Menge leerer Seiten übrig. Von hinten beginnend, schreibe ich mich an ihn heran. Ich verspreche mir selbst, dass ich den Mut haben werde, seine Notizen zu lesen, wenn sich unsere Aufzeichnungen treffen.

Ich mag nicht länger schweigen, weil dann immer nur die eine Wahrheit in der Welt ist. Die Wahrheit derer, die sich sicher sind, dass sie recht haben. Ich kann keine schlüssigen Erklärungen, keine stimmige Geschichte liefern. Ich bin in meiner Erinnerung unterwegs. Unfähig zu Ordnung und Report. Inkompetent. Ich schäme mich. Es mag daran liegen, dass ich ein Kind war, als wir uns begegneten, und er erwachsen. Es mag daran liegen, dass ich tief verletzt bin, dass ich verrückt geworden bin darüber und dass man Verrückten nicht glaubt. Oder daran, dass man jene für verrückt erklärt, denen man nicht glauben will.

Ich schreibe, ohne daran zu denken, dass es auf dieser Welt jemanden gibt, der lesen kann. Das befreit mich vom Verstanden-werden-Wollen. Ich formuliere ein Wort nach dem anderen und dann lasse ich sie los. Beim Schreiben kann ich die Dosis des Schmerzes regeln. Vorsichtig öffne ich Wunden, sodass Eiter abfließen kann, raus mit der Soße. Das Leben hingegen, das macht einfach immer weiter. Ich finde Worte für mich. Da habe ich Macht. Ich warte nicht mehr, bis andere mich bezeichnen.

Ich bin nicht das mit den Beinen baumelnde Mädchen, nicht eure geile heimliche Bumsphantasie! Sorgt dafür, dass eure Erregung unentdeckt bleibt, während ihr lest, was ich schreibe. Ich bin nicht die Schlampe, die jeder ficken kann, weil ihr eindringende Schwänze gleichgültig geworden sind. Ich bin nicht das missbrauchte Kind. Nicht das Kind, das eine Liebesbeziehung mit einem Erwachsenen hatte, nicht das junge Ding, dass es zu weit getrieben hat und dann eben leider die Rechnung bekommt, für das Bezirzen des Mannes, der nicht anders kann wegen seiner vielen Erektionen, ich bin nicht das arme Opfer eines sexuellen Missbrauchs, ich bin des Mitleids nicht wert – ich bin die, die euch das Messer zwischen die Rippen rammt und euch dabei in die Augen sieht.

Das Messer zwischen den Rippen. Der Schmerz, der für euch unvorstellbar ist, bis ihr ihn fühlt, so wie jeder Schmerz unvorstellbar bleibt, bis man ihn fühlt, würde euch lebendig machen. Ihr wäret so sehr eins mit eurem Körper wie noch nie, und bald darauf überhaupt nichts anderes mehr als ein Körper.

Scheiß drauf!

Ich beginne von vorn. Einen Stein nach dem anderen, einen Balken, einen Dachziegel. Natürlich wäre es leichter, die Bruchbude, die ich geworden bin, einfach in die Luft zu jagen. Aber ich will versuchen, sie abzutragen, restlos und ohne Rücksicht.

Solange wir unser Ich aus der Vergangenheit heraus konstruieren, müssen sich unsere Geschichten mit uns entwickeln. Die Wahrheit über unsere Vergangenheit ist abhängig von unserem Selbstbild. Ich widerspreche mir also so viel ich will! Es gibt keine Dolores Haze, achtunddreißig Jahre alt, alleinstehend, kinderlos. Lolita – die gibt es auch nicht. Wir sind im Werden, denn wir leben noch.

*

»Aha! Hahaha«, lachte sie.

Hatte sie tatsächlich etwas begriffen, »Aha«, und es dann für amüsant befunden in dem Sekundenbruchteil, in dem sie einatmete? Oder war das in Wahrheit ein verständnisloses Lachen, das ihre Dummheit tarnen sollte? Ein Lachen, das tatsächlich dumm war, weil es dumm ist, gefallen zu wollen. Vermutlich lachte sie für ihn. Lachte ein »Aha. Hahaha« mit dem Subtext »Du bist so wunderbar. Wunderbar und geistreich«. Ein defensives Gelächter, das sich auf den Rücken rollt und den Bauch zeigt. Eine Zurschaustellung akzeptierter Unterlegenheit.

Ein Lachen, das meine Mutter immer verwendete, in der Anwesenheit von Männern. Ein Lachen, mit dem sie sich Milde erkaufte, so sexy, wie Naivität nur sein kann. Das kostet Mühe, den Mann nur mit ein wenig ausgestoßener Luft in Höhen zu heben, in denen er das prustende Frauengeschöpf kaum noch sieht und seinen Spott, seine Wut oder beides auf etwas anderes richten muss. Vielleicht hatte Humbert Humbert aber auch einfach einen guten Witz gemacht. »Aha! Hahahaha«, schon wieder, und ich erinnere mich genau, wie sie aussah, meine Mutter, wenn sie einen Mann anlachte, wie sie die Kupferhaare nach hinten warf und ganz leicht die Schultern kreisen ließ. Hübsch war sie, meine Mutter. In meinen Augen sogar unheimlich schön. Ich wollte gern ihr Haar berühren und mich an die weiche Haut ihrer Oberarme schmiegen; unendlich weich.

Ich blättere zurück, betrachte meine eigene unregelmäßige Handschrift. Wie die Spur eines flüchtenden Tieres im Schnee rennt sie, ohne die Zeilen einhalten zu können, über das Papier.

Ich weiß noch, wie ich ihn zum ersten Mal richtig laut lachen sah. Sein Gesicht riss auf, für einen kurzen Augenblick konnte er nichts festhalten. Seine Züge waren tatsächlich schön, wenn er lachte. Selten tat er das. Humbert Humbert. Manchmal legte sich die Haut um seine Augenwinkel in winzige Falten, dann war er charmant. Ich frage mich, wer war Humbert Humbert? Und wie groß der Abgrund zwischen ihm und dem Menschen, der er sein wollte?

»Seraphim« nannte er mich lachend. »Was heißt denn das?«, wollte ich wissen. »Engel«, hat er gelacht. Dieses Lachen war ein Ungeheuer. Es irritierte mich. Mir brannte die Nase, die ich mir oft, auch heute noch, reibe, wenn ich unsicher bin. »Warum lachst du?«, fragte ich. »Wenn Gott wüsste, welch ein Unterschied besteht zwischen diesem engelhaften Körperchen und seinem roten, glühenden, wütenden, geilen Inneren, würde er auch schmunzeln«, antwortete er und griff nach meinem Fuß, den er mich immer in seinen Schoß zu legen bat, nahm meinen großen Zeh zwischen Daumen und Zeigefinger und rüttelte daran.

Er nannte es seine Besonderheit oder Nymphettentum. Im Bann der Nymphette.

Aus seinem Tagebuch fällt ein zusammengefalteter Zettel. Das dünne Pergamentpapier kracht, als ich es auseinanderfalte. Es zeigt eine Art Diagramm. Vielfarbige Pfeile, Linien aus Strichen und Punkten laufen über das Papier. In der Mitte der Pfeile ein Kreuz mit der Aufschrift »Mrs H.«, des Weiteren Silhouetten von Frauen und am rechten unteren Rand des Diagramms verschiedene Namen von Leuten, die ich aus meiner Kindheit in Ramsdale kenne. Ich betrachte das Diagramm lange, begreife nichts. Dann lege ich es zwischen die ersten beiden Seiten des Taschenkalenders.

Der letzte Kern war ein Treffer. Es hatte mehr Pflaumen gebraucht, als ich in zwei Händen halten konnte, weshalb ich sie mir nach Vorbild des Kängurus in meinem Badetuch vor den Bauch gebunden hatte. Endlich war es mir gelungen, meinen ungelenken zwölfjährigen Körper mit einer tiefen Einatmung so in Spannung zu bringen, dass ich einen Pflaumenkern aus meinem Mund mit voller Kraft abfeuern konnte. Er landete in der Obstschale. Pling. Da lag er. Ich war zufrieden. Ich nahm mein Buch und zog mich in den Garten zurück, weil es an der Tür klingelte. Wenig später muss ich Humbert Humbert zum ersten Mal gesehen haben, allerdings kann ich mich nicht daran erinnern. Mieter kamen und gingen. Sie bezogen mein Zimmer. Ich musste dann meine Kleider, Spielzeuge und Comics in einer Truhe verstauen, denn meine Mutter, in deren Zimmer ich schlief, wenn vermietet war, hatte mir unmissverständlich klargemacht: »Ich ertrage deinen Kram nicht, Lo!«

Ich war auf die Mieter folglich nicht gut zu sprechen. Aber denen war das scheißegal, ohnehin. Ich verbarg mich hinter meiner unendlich schicken Sonnenbrille mit den herzförmigen Gläsern und kam nur hervor, wenn die Welt mich dazu zwang.

Der Sommer war lang und heiß, und der einzige Ort, wo man es aushalten konnte, war der Garten. Ich hatte keine Shorts. Ich schwitzte schrecklich in meiner Jeans. Meine Truhe war vollgestopft mit Röckchen, Söckchen und Blusen, die mir seit Beginn des Sommers wie Artefakte eines lang vergangenen Zeitalters vorkamen. Ich fühlte mich ihnen, wenn nicht körperlich, dann wenigstens charakterlich entwachsen. Um meine Garderobe der sommerlichen Hitze und meiner neu gewonnenen Reife anzupassen, bat ich Louise, unsere Hausangestellte, um ihre große Schere. »Für Bastelarbeiten«, log ich ihr ins Gesicht, »bringe sie gleich zurück.« Dann schnitt ich meiner Bluejeans kurzerhand die Beine ab und rammte die Schere in den Rasen, wo ich sie stecken ließ. Anschließend zupfte ich so viele weiße Fädchen aus dem Jeansstoff, wie zur Coolness nötig waren.

Als meine Mutter mehr Geld zur Verfügung gehabt hatte, verwendete sie viel Zeit darauf, mich auszustaffieren. Ich war ihr liebstes Hobby. Allerdings keines, für das man sich leidenschaftlich interessiert, sondern eines, dem man nachgeht, um Teil von etwas zu sein. Auch dem Tennisclub war meine Mutter beigetreten; ihrer Abneigung gegen das Tennisspielen zum Trotz. Outfit und Aura einer Profispielerin, den Schläger lässig über die Schulter geworfen, ließ sie sich auf dem Weg zum Court so lange von attraktiven Members des Clubs in Gespräche verwickeln, bis sich das Training nicht mehr lohnte und man sofort zum sexy Teil des Clublebens überging: dem gemeinsamen Drink. Hier wurde sie stets eingeladen. So lohnte sich die monatliche Clubgebühr, sie machte Plus. Ich war eher ein Minusgeschäft: Ich war nicht vorzeigbar, weil meine Mutter sich das nicht leisten konnte.

Ich weiß nicht, was schlimmer war in diesem Sommer: die Hitze oder die Langeweile. Meine Mutter gab mir verschiedene Aufgaben, sie nannte das Erziehung. Auch Hausarbeit blieb mir nicht erspart. Als ich hinaus in den Garten und der Wäscheleine entgegenschlurfte, trug ich den Wäschekorb vor dem Bauch. Ich war ziemlich stolz auf meine superkurze Bluejeans. Ich wusste, die Präsentation meiner neuen Shorts würde Streit provozieren, und ließ mir viel Zeit beim Aufhängen der Laken. Allerdings war meine Mutter in letzter Zeit milde, ja beinahe liebevoll zu mir gewesen. Mir war klar, dass sie das Lässige-Mom-Theater allein unserem neuen Hausgast zuliebe aufführte. Aber beim Anblick der ruinierten Jeans würde sie wenigstens einen kurzen Wutanfall bekommen. So eine kleine Schreierei würde nicht nur die Langeweile vertreiben, so hoffte ich, sondern meine Mutter zudem als Blenderin entlarven. Strafe, Strafe, Strafe dafür, dass sie mein Zimmer den Urlaubern überließ. Klar, sie hatte diese Strafe nicht verdient, da sie aus finanzieller Not vermietete, aber was soll’s: Das Leben ist ungerecht.

Als ich mich umdrehte, sah ich, wie der neue Mieter mich fixierte. Er stand am Badezimmerfenster und starrte mich an. Sein Blick durchbohrte meine Haut und drang in meinen Körper ein. Ich wusste nicht einmal, dass Blicke das können, dass sie in uns greifen können, wie Hände, dass sie wirklich all das tun können, was man mit Fingern tun kann, tasten, streicheln und die Nägel ins Fleisch bohren. Sein Blick arbeitete sich durch meine Eingeweide. Verunsichert ließ ich meine Augen über die Beete im Garten, die Fassade des Hauses huschen. Ich tat, als wäre der starrende Mann im Bad mir ebenso gleichgültig wie der Müll auf unserer Veranda. Mein Herz raste, pumpte zu viel Blut durch den Körper, das meinen Hals und den Nacken erhitzte. Ich schämte mich. Damals erfuhr ich zum ersten Mal: Es sind die Blicke der anderen, die uns zu dem machen, was wir sind. Sie geben uns Form, sie verwandeln uns in eine Elfe oder in ein haariges Monster, und einmal verwandelt, gibt es kein Entkommen. Schlägt die Elfe um sich, dann ist sie übermütig in ihrer bezaubernden Zartheit, frisst das Monster aus der Hand und schmiegt sich an, dann ist es verschlagen und voller Hintergedanken.

Es gibt nur zwei Möglichkeiten, den Blicken der anderen nicht ausgeliefert zu sein. Erstens: verschwinden, sich entziehen. Und zweitens: erfüllen. Die Vorurteile der anderen in vollem Umfang erfüllen. Es ist nötig, seine Rolle gut zu spielen, so wie ein Kind spielt: mit Ernsthaftigkeit und Lust, aber ohne jemals zu vergessen, dass es spielt.

Zurück im Haus, schloss sich die eiserne Hand meiner Mutter um meinen Oberarm. Ich war so verstrickt in den Blick dieses Fremden, dass ich sie nicht hatte kommen hören. »Lo!«, schnurrte sie. Ihr Ton war außergewöhnlich liebenswürdig. »Geh raus zu dem neuen Mieter. Er sitzt auf der Veranda.« Ach so: eine Bitte. Ich drehte den Arm aus ihrem Griff. Sie ließ sofort locker. »Versuch herauszufinden, ob er verheiratet ist. In Ordnung?« Ich schüttelte den Kopf. Der Gedanke, in der Nähe dieser Augen zu sein, verursachte mir Unbehagen. »Das kannst du mal für deine Mutter tun«, lächelte sie hartnäckig. »Mum!«, jammerte ich. Sie griff mir an den Hosenbund und betrachtete mit funkelnden Augen die ruinierte Jeans: das eindeutige Angebot für einen Deal.

Was unsere Deals anging, war meine Mutter einigermaßen verlässlich. Man konnte mit ihr auskommen. Meistens genügte es, sie nicht zu stören. Störte ich aber, dann musste ich meine Schuld abarbeiten. »Okay«, seufzte ich, schlich die Treppe hinunter und spähte durch das Wohnzimmerfenster nach draußen. Mit krummem Rücken und eingezogenem Nacken saß Humbert Humbert auf der Veranda. Ich sprang an ihm vorbei die Stufen herunter. Ich riss die noch feuchten Laken von der Wäscheleine und machte mich, das brennende Gesicht halb hinter Laken verborgen, auf den Rückweg zum Haus.

Humbert Humbert blickte in den Garten, als wäre er ein Ornithologe ohne Fernglas. Je näher ich ihm kam, desto mehr schien sich die Luft um ihn in Honig zu verwandeln. Es kostete Kraft, meine Glieder durch die zähe Masse zu schieben, die ihn umgab. Dann setzte ich mich rechts neben ihn. Er sah mich nicht an. Mir war aber, als wanderten seine Augen aus ihren Höhlen ins Innere seines Kopfes, um sich an seiner rechten Schläfe zu positionieren, von wo aus sie mich unverhohlen anstarrten. Auch die Flunder, das hatte ich in der Schule gelernt, gleicht zunächst einem normalen Fisch. Ihre Veränderung hin zum Plattfisch beginnt mit der Wanderung des Auges, meist auf die rechte Körperseite, und endet mit einem gut getarnten Leben im Schlamm. Ich musste dumm grinsen und schob das Gesicht tiefer in den Berg aus Laken, den ich umarmt hielt. Die Laken kühlten meine Augen und schluckten mein Lachen. Ich hatte keine Ahnung, wie man sich nach dem Familienstand einer Flunder erkundigte, ohne sich zu blamieren.

Je länger die Stille anhielt, desto unsicherer wurde ich. Mit meinen bloßen Zehen hob ich einen Kiesel auf und schleuderte ihn gegen eine Konservendose. Treffer! »Ein zweites Mal schaffst du das nicht«, sagte er trocken. Nicht sein Ton war trocken, der war etwas atemlos und lieb, irgendwie lieb. Sein Mund war trocken. Seine Lippen raschelten wie Blätter im Herbst und er schmatzte beim Reden. Wäre höflich, ihm ein Glas Wasser anzubieten, dachte ich.

Aber er hatte mich herausgefordert. Mit großer Vorsicht und ohne mich zu schneiden, nahm ich eine Glasscherbe zwischen die Zehen und schleuderte sie in Richtung der Dose, die sie mit einem triumphalen »Klong« traf. Er fragte mich etwas, ich antwortete. Er hatte so eine seltsame Stimme, irgendwie flach, und immer noch das Rascheln. »Was ist das?«, wollte er wissen und berührte mit dem Zeigefinger die Narbe unter meinem rechten Auge. »Nix«, entgegnete ich schnippisch und zog den Kopf zurück, bis seine Hand unschlüssig vor meinem Gesicht in der Luft schwebte. Ich wollte die Geschichte dieser Narbe, in der ich eine ziemliche Verliererin war, nicht erzählen, und eine gute Lüge fiel mir in diesem Moment nicht ein.

»Selber schuld«, hatte meine Mutter gesagt, als ich unter dem Auge blutend und stinkwütend nach Hause gekommen war und gebrüllt hatte: »Die Jungs aus der Klasse haben mich verprügelt. Arschlöcher, Arschlöcher, Arschlöcher, dumme!« »Warum?«, fragte meine Mutter. »Was weiß ich«, keifte ich. »Ich hätte wegrennen sollen, da stecke ich sie alle in die Tasche, diese lahmen Säcke.« »Ah«, meine Mutter machte einen spitzen Laut, »da hast du deine Antwort, Lo. Selber schuld. Wenn du schneller läufst als die Jungen, dann fühlen sie sich gedemütigt. Überhaupt ist es besser, nicht immer zu zeigen, was man kann.« »Wieso?« Ich war bis zu diesem Tag davon ausgegangen, dass es gut ist, in etwas die Beste zu sein. »Weil es unsympathisch ist«, erklärte meine Mutter, »und weil das dabei rauskommt.« Sie tupfte mir unerklärlich traurig mit einem feuchten Tuch am verletzten Auge herum.

»Nix, das Sie was angeht«, verdeutlichte ich meine Abwehr gegenüber Humbert. Der ließ seine Hand fallen. Dann entdeckte ich meine Mutter im Rosenbeet. Dort tarnte sie sich als Naturfotografin, während sie es, die Kamera im Anschlag wie eine Klatschreporterin, in Wahrheit auf Humbert-Humbert-Superstar abgesehen hatte. Froh, die beiden einander überlassen zu können, ging ich ins Haus. Die feuchten Laken stopfte ich gleich wieder in den Korb für Schmutzwäsche.

Der Mann wirkte auf meine Mutter wie ein Scheinwerfer, sobald sie sich näherte, leuchtete ihr Gesicht auf, leuchtete jugendlich und fröhlich. Nicht, dass Gram und Frust daraus verschwunden wären, aber sie waren weggeblendet in dieser Scheinwerferlichtbeleuchtung. Es war gut, meine Mutter froh zu sehen, und zugleich machte es mir Angst. Seit mein kleiner Bruder gestorben war, hatte ich sie kaum mehr lachen gehört. Das hysterische Lachen außer Acht gelassen, in das sie sich flüchtete, um nicht herumzubrüllen.

Wenn ich ganz ehrlich sein soll: Ich habe meinen kleinen Bruder weder richtig gekannt noch gemocht. Natürlich darf man über einen Toten nicht ehrlich sprechen und es ist auch verboten, Familienmitglieder nicht zu mögen. Aber er nervte mich. Er war klein und er schrie ständig herum und er schiss in die Windeln, den ganzen Tag, er zog mir an den Haaren und seit er auf der Welt war, lief es zwischen meinen Eltern noch schlechter als sonst.

Auch meinen Vater habe ich nie richtig kennengelernt, da er immerzu »außer Haus« war. Er verbrachte selten Zeit mit uns und wenn, dann mussten wir still sein und in Alarmbereitschaft. Meine Mutter schimpfte über ihn, wenn er sie allein ließ, aber wenn er zu Hause war, wurde es noch schlimmer. Hörte man seinen Wagen die Einfahrt zu unserem Haus in Pisky heraufkommen, winkte meine Mutter hektisch nach Louise, die missgelaunt betonte, dass sie Haus- und nicht Kindermädchen sei, uns aber doch in den oberen Teil des Hauses brachte. Dort zog sie uns Kleidchen und Matrosenanzug an. Dann wurden wir ihm vorgeführt. Meist tätschelte er uns gedankenverloren. Zurück in unserem Zimmer wurden wir eingeschlossen, weil Louise sich um das Essen kümmern musste. »Keine Zeit«, flüsterte sie, während sie meinen Bruder in sein Bettchen legte und mir ein Spielzeug in die Hand drückte, »keine Zeit«. Und »pssst«, machte sie, dann drehte sie den Schlüssel im Schloss und lief die Treppe hinunter in die Küche.

Es gab immer gutes Essen, wenn mein Vater zu Hause war, aber vorher musste ich stundenlang mit meinem kleinen Bruder ausharren und ihn trösten, wenn er greinte, und er greinte ständig. Einmal hielt ich ihm kurz, nur damit er aufhörte und wirklich ohne böse Absicht, Mund und Nase zu. Danach brüllte er so laut, dass meine Mutter ins Zimmer kam und uns noch lauter brüllend aufforderte, die Fresse zu halten.

Ein Telegramm teilte uns schließlich mit, dass Vater auf Dienstreise verstorben war. Seine seltene Anwesenheit verringerte sich auf null. Ich nahm es gleichgültig auf.

Auf der Beerdigung waren lauter Leute, die ich nicht kannte. Ich weinte nicht, obwohl meine in Tränen aufgelöste Mutter mir sehr dazu riet. Ich war noch nie gut im Weinen gewesen. Ich hing an ihrer Hand, hinter uns wurde mein Bruder von Louise getragen, und so folgten wir dem Sarg. Meine Mutter erzählte allen von der großen Liebe, die sie verloren habe, und davon, wie ungerecht das Leben sei: Der Tod nimmt uns die besten Menschen zuerst.

Ich fand das Leben ganz gerecht, schließlich war mein Vater viele, viele Jahre älter als meine Mutter gewesen und … unhöflich. Als wir am selben Abend gemeinsam auf dem gestreiften Sofa saßen und ein letzter Keil aus Abendsonnenlicht das Kupferhaar meiner Mutter zum Glühen brachte, breitete sich Friede aus. »Ist doch gut, dass er weg ist«, stellte ich fest und kassierte eine Ohrfeige. Das kam überraschend. Ich war mir sicher gewesen, dass meine Mutter und ich in diesem Moment dasselbe gedacht hatten.

Am Abend saß ich in meinem Bett, starrte auf das Muster der Bettdecke und versuchte, an meinen Vater zu denken. Die vielen Beileidsbekundungen und das Brimborium bei der Beerdigung hatten mir klargemacht, dass es gesellschaftlich unzulässig ist, keine Beziehung zu seinem Vater zu haben. Ich dachte an die Pancakes, die Louise mir zum Frühstück versprochen hatte, und beobachtete, wie eine Fliege die Wand hochlief.

Ich klatschte mir mit der flachen Hand auf die Stirn: Ich brauche wenigstens eine Geschichte, dachte ich, eine, die sich gut erzählen lässt, eine, die nur mir gehört. Ich versuchte mich von all den Geschichten inspirieren zu lassen, die meine Mutter mit wässrig liebevollem Blick bei der Beerdigung über meinen Papi erzählt hatte. Die Geschichten waren mir gänzlich unbekannt gewesen, meiner Mutter aber hatten sie trotz ihrer Trauer ein Lächeln entlockt. Wir haben einen Drachen gebaut, dichtete ich. Wir haben ihn so gebaut, wie Papi es von seinem eigenen Vater … Ach, egal!

Am Morgen nach der Beerdigung trat ich verschlafen ins Wohnzimmer, wo meine Mutter auf dem großen Esstisch stand – wie zur Hölle hatte sie die Kraft aufbringen können, diesen allein vor die Fenster zu schieben – und die schweren Vorhänge von der Gardinenstange löste. »Louise macht Blaubeerpfannkuchen«, rief sie mir zu. »Aber komm, hilf mir kurz.« Zusammen schleppten wir die Stoffbahnen in den Garten, wo sie Staubwolken freisetzten, als wir sie fallen ließen. »Besser!«, stellte sie fest, als wir wieder im Wohnzimmer standen. »Heller!«, bestätigte ich. Am selben Abend verbrannte meine Mutter die Vorhänge zusammen mit einigen anderen Gegenständen im Garten. Es qualmte so sehr, dass sich die Nachbarn beklagten, aber das störte sie nicht. »Bei einem so greifbaren Leiden lassen die Leute dir einiges durchgehen … «, erklärte sie mir, »das hält dir ziemlich den Rücken frei.« Sechs Monate lang hielt die Fröhlichkeit. Dann bekam mein kleiner Bruder hohes Fieber, das nicht aufhören wollte, und einige Tage später war er tot. Auch sein Tod ließ mich seltsam unberührt. Ich fürchtete mich vor mir selbst, hatte Angst, ein kaltherziger Mensch zu sein. Ich war sehr wütend. Mehrmals am Tag musste ich den Impuls unterdrücken, meine Mutter anzubrüllen. Erhaben und mit geheimnisvollen Schatten unter den Augen wandelte sie durchs Haus, umgeben von einer Aura diffuser Düsternis. Sie verlor ihre ohnehin nicht besonders ausgeprägte Fähigkeit, sich zu freuen. Einzig in ihren Klagen über das Schicksal lag ein heimlich wollüstiger Genuss. Als die Leute in Pisky nicht mehr bereit waren, meiner Mutter für ihre Leidensfähigkeit zu applaudieren, zogen wir nach Ramsdale um. Ich war zehn Jahre alt.

Ich bat meine Mutter, mir von meinem Vater zu erzählen, von dem ich nichts wusste, außer dass er gelegentlich vorbeigekommen war und Angst verbreitet hatte. Schließlich gab es nur zwei Möglichkeiten. Entweder ich bastelte mir einen Vater aus den Phantasien meiner Mutter zusammen oder ich verabschiedete mich davon, einen Vater zu brauchen. Ich entschied mich für Letzteres. Ich wollte keinen Vater, der nichts wäre als der uninteressante Blick meiner Mutter in die Welt. Was ich hörte, war zudem verwirrend: Nachbarn gegenüber beteuerte sie, wie sehr sie es vermisse, so von einem Mann vergöttert zu werden, wie Mr Haze sie vergöttert habe. Gleichzeitig erkannte sie an mir viele seiner schlechtesten Eigenschaften wieder. »Tochter deines Vaters«, schalt sie mich und vertraute mir an, dass mein Vater sie misshandelt und zu ekelhaften Dingen gezwungen habe. Es klang wie ein Vorwurf. Mich traf die Schuld. Das leuchtet ein: Seines Todes wegen war es ihr unmöglich, sich zu rächen oder ihn auch nur anzuklagen, und nach dem Tod meines Bruders war ich das Einzige, was von ihm übrig war.

Seltsam breite, irgendwie weibliche Hüften hatte Humbert Humbert, und einen platten Arsch. Er fand sich gut, das spürte man. Sehr breite Schultern. Die Armspanne einer Zwölfjährigen genügte gerade, um sich an seinen Schulterblättern festzuhalten, wenn man die Arme um seinen Oberkörper schlang. Seine Brust war ein Dschungel von schwarzen Haaren, ein richtiges Polster. Es erschreckte mich fürchterlich, als ich es zum ersten Mal sah. Nicht weil ich es widerlich fand (was der Fall war), sondern weil ich noch nie so viele krause Haare auf einem Körper gesehen hatte. Es kam mir falsch vor, so viele Haare am Körper zu haben und kein Tier zu sein. Seltsame Hände mit riesigen Handtellern und irgendwie langen dünnen Fingern mit viel zu kräftigen Nägeln an ihrem Ende. Ist nicht schön, wenn so jemand in dich hinein fasst. Es schmerzt, weil innen alles weich und verletzlich ist.

Schon wenige Tage nach seiner Ankunft wirkte Humbert Humbert angestrengt. Er schlich durchs Haus und war den ganzen Tag in Gedanken vertieft. Er verhielt sich wie der Hund unseres Nachbarn. Legte ich eine Scheibe Corned Beef auf den Boden und rief »Neeeein«, sobald der sie fressen wollte, versuchte der Hund, mich reinzulegen: Er tat, als interessierte er sich brennend für etwas anderes, einen Grashalm beispielsweise, in Wahrheit aber lauerte er auf einen Moment meiner Unachtsamkeit, um sich das Corned Beef zu schnappen. Natürlich war der Hund im Grunde nicht schlau. Ich durchschaute sein Manöver. Aber es brachte mich so sehr zum Lachen, dass ich immer wieder Essbares im Gras versteckte. In der Rückschau kann ich nicht genau sagen, wer von uns wen ausgetrickst hat. Genauso war es auch mit Humbert Humbert. Angestrengt heftete er den Blick auf meine Mutter, um mich im Auge zu behalten.

Meine Mutter hingegen begaffte den Mann, ohne es zu verbergen. Vom Küchenfenster aus hatte sie die beste Aussicht auf den Garten, dort verbrachte sie nun ihre Tage. Das war verwunderlich: Meine Mutter kochte nicht, sie aß auch nicht. Sie war ein Gespenst oder ein Engel oder beides. Ihre Augen saugten sich an Humbert Humbert fest, während sie ohne Sinn und Verstand mit Töpfen klapperte. Das wirkte sehr fürsorglich. Er saß im Garten im Piazza-Schaukelstuhl, stundenlang, und machte Notizen in seinem schwarzen Buch, jenen Taschenkalender, den er immer bei sich trug, so wie mein erwachsenes Ich ihn heute immer bei sich trägt. Wenn die beiden miteinander sprachen oder sich im Haus begegneten, wurden Mutters Bewegungen ganz »Grand Dame mit Jugendlichkeit«. Mit gesenktem Kinn warf sie ihren Blick in seine Augen. Sie verfolgte ihn mit ihrem gurrenden Lachen und ihrer deplatzierten »Schelmerei«.

Gingen wir in die Mall, musste ich in Hörweite der Umkleidekabine ausharren und die Tirade ihrer Selbstkritik mit anhören, die ihr das eigene Spiegelbild entlockte. Ich fand meine Mutter schön und begriff nicht, warum sie ihre Pobacken in die Hand nahm und an ihnen schüttelte, um mit grimmiger Miene das wenige Fett, das der Langzeitdiät getrotzt hatte, schlackern zu sehen. »Das Fett wird zuletzt auch dich ereilen«, drohte sie mir. Dass es auf der Welt fettausgleichende Gerechtigkeit gab, weil alle irgendwann alt werden, hob ihre Laune. Sie kaufte zwei, von der Größe abgesehen, identische schwarze Badeanzüge.

Zurück zu Hause, bat ich darum, im Bett bleiben und lesen zu dürfen, aber sie zwang mich in den Badeanzug und redete verschwörerisch auf mich ein, bis ich einwilligte, mit ihr in den Garten zu kommen, wo Humbert Humbert Zeitung las. Es schien ihr unmöglich, mit ihm allein zu reden. Ich spekulierte auf die Comic-Beilage seiner Zeitung, die ich auch umgehend einkassierte, und warf mich neben meiner Mutter auf den Bauch. Dann wurde es plötzlich eiskalt mitten in der Hitzewelle. Heute kann ich nicht mehr sagen, was mich dazu brachte, von den Comics aufzusehen, aber ich wandte den Kopf in seine Richtung. Es wirkte, als wütete ein Gewitter hinter seiner Visage. Auf seinen Lippen lag ein entrücktes Lächeln. Hässlich. Mein Blick raste zurück auf meine Comics, aber nicht, ohne zuvor dem Gesicht meiner Mutter zu begegnen. Es war steinern, mit einer steilen Falte zwischen den Augen und einem Mund, der ausspucken will, aber stattdessen zu einem Lächeln gezwungen wird. Sie hasst mich, schoss es mir durch den Kopf. Meine Nackenhaare stellten sich auf und bildeten ein kleines Fell zu meinem Schutz. Ich tat, als würde ich angestrengt lesen, zog die Fersen an mein Gesäß und kreuzte die Füße, steckte den kirschroten Lutscher in meinen Mund, den ich von Louise bekommen hatte, und konzentrierte mich auf seine Süße.

Meine Mutter bestrafte mich mit Missachtung und Ausquartierung. Louise legte mir eine Matratze in die Abstellkammer. Diese sollte während des Aufenthaltes von Humbert Humbert mein Zimmer ersetzen. »Okay, Mum«, sagte ich, »das ist okay für mich.« Ich wusste nicht, wofür ich bestraft wurde. Ich wusste nur, dass ich schuldig war, dass diese Schuld mit Humbert Humbert zu tun hatte. »Du solltest dich schämen«, hatte sie mir zugeflüstert. Sie hätte mich dazu nicht erst auffordern müssen.

Am Nachmittag hatten wir einen Ausflug an den See geplant. Ich saß am Fenster und sah den Himmel schwarz werden. Schon schallte die Stimme meiner Mutter durch das Haus: »Ausflug fällt ins Wasser!« Seit Humbert Humbert bei uns war, hatte meine Mutter sich eine liebevolle Flöte in den Hals gezimmert, sodass ihre Rufe unerträglich süß und verlogen klangen. Was folgte, ist kaum rekonstruierbar: Ich weiß, dass ich in den Flur trat und zu schreien anfing wie ein kleines Kind. Ich machte zwei Fäuste, ballte auch das Gesicht zur Faust und brüllte. Ich kannte damals bereits Schimpfwörter, die so ordinär waren, dass sie einem Erleichterung verschafften, und ich benutzte sie alle. Ich wusste, dass ich meine Mutter bis auf die Knochen blamierte, aber ich konnte nicht aufhören. Um mich explodierten Farben. Ich bekam Ohrensausen von meinem eigenen Geschrei, das meinen Körper auf alle viere warf. »Es regnet, Dolores. Wir können nicht an den See. Steh auf. Dolores.« Sie wisperte in mein Ohr. Sie rang um Fassung. Es dauerte einige Minuten, bis sie erst sich und dann mich wieder in der Gewalt hatte. Sie schleifte mich ins Badezimmer und verriegelte die Tür von außen. Mein Gebrüll hallte von den Fliesen wider. Das brachte mich zur Ruhe.

Ich verschwinde in meinen eigenen Erinnerungen.

Starre das Kind an, das ich war. Ich erkenne mich nicht wieder in diesem Mädchen. Ihre Worte haben keine Wurzeln, obwohl sie Muttersprache sind, ihre Gedanken und ihr Körper sind Teil einer anderen Welt. Es ist harte Arbeit, Empathie für sie zu empfinden.

Meine Mutter lag in einem der Liegestühle und winkte mich zu sich. Sie trällerte meinen Namen durch den Garten wie einen Song. Ich folgte. In den letzten Tagen wirkte sie verändert. Es war nicht ihr männeranwesenheitsbedingter Frohsinn, nicht eine charakterliche Wandlung – es war ihr Äußeres. Doch etwas, das tiefer lag und nicht von ihren verstärkten Schönheitsprozeduren beeinflusst wurde. Vielleicht etwas in der zweiten Haut.

Heute ist meine Mutter eine durch bleiche Erinnerungen konservierte Mumie. Wenn sie in meinen Erzählungen wiederkehrt, ist ihr Erscheinungsbild abhängig von meiner eigenen Verfassung. In diesem Moment im Liegestuhl geschah es zum ersten Mal, dass meine Mutter sich durch meinen Blick auf sie verwandelte. War es mein Erwachsenwerden, das für einen Moment den Schleier bedingungsloser kindlicher Bewunderung lüftete und darunter eine beschädigte Frau zum Vorschein brachte, die nur zufällig meine Mutter war? Eine zerfledderte Person in einer schönen Hülle auf einem Liegestuhl, die plötzlich Hoffnung fühlte. Hoffnung auf ein Glück, das sie sich im Grunde gar nicht zutraute. Hoffnung auf Erlösung. Erlösung von sich selbst.

Oh, sie ist verliebt, dachte die kleine Lo, und die untergehende Sonne tauchte meine Mutter in orange-rotes Licht. Ich setzte mich auf die Lehne des Liegestuhls. Sie strich mir die Haare hinters Ohr, ohne mich darauf aufmerksam zu machen, dass sie ungekämmt von meinem Kopf abstanden, und sie wanderte mit zwei Fingern über meinen Schenkel. Sie kicherte. »Schau«, sagte sie in einem Ton, als wollte sie mir ein Geheimnis offenbaren. Mich mit meiner Mutter zu verschwören, ihr nah zu sein, ist eines der besten Gefühle, die ich in meinem Leben empfunden habe. Ich war sofort bereit, zu schwören, dass ich unser Geheimnis selbst unter Androhung von Folter für mich behalten würde.

Sie legte mir eine Illustrierte in den Schoß und blätterte würdevoll darin, als hielte sie die Seite einer Papyrusrolle in der Hand. Eine Doppelseite mit Werbung zeigte einen Mann mit dunklem Haar. Er saß im Bett, hielt ein Tablett in der Hand und sah verwegen in die Kamera. Das Bild war mit »Der Bezwinger« untertitelt. »Uuuund?«, sagte sie und strahlte mich an. Ich lächelte, weil ich nicht begriff und nichts zu sagen wusste. Gott sei Dank war sie in ihrem Enthusiasmus ganz abgekoppelt von der Außenwelt und meine Begriffsstutzigkeit perlte an ihrer guten Laune ab wie an Teflon. Sie legte einen Finger auf das Gesicht des Mannes und strich darüber. »Sieht aus wie Hammi, stimmt’s?« »Hammi?«, fragte ich. »Humbert, Lo, Humbert, wer denn sonst«, entgegnete sie kopfschüttelnd. Wer denn sonst, dachte ich. »Natürlich«, sagte ich mit einer Stimme, in die ich alle Begeisterung legte, die ich zusammenkratzen konnte. Sie lachte. »Gehen wir aus? Eis essen?«, fragte sie und bedeutete mir, mich umzudrehen. Vorsichtig kämmten ihre Finger durch mein zerzaustes Haar, nahmen sich Zeit, Knoten zu lösen. Ich liebte und liebe es, wenn mir jemand an den Haarspitzen zupft. Sie flocht mir einen Zopf und wir gingen los.

Am Abend riss ich vorsichtig das Werbefoto aus der Zeitung und befestigte es über meinem Bett. Ich hoffte, meine Mutter würde es sehen und als Stiefvaterakzeptanz deuten. Ich malte einen Pfeil in Richtung des Gesichts des Werbungsmannes und beschriftete ihn mit »H. H.« Wenn ich ehrlich war, konnte ich keinerlei Ähnlichkeit zwischen den beiden feststellen. Das mit seinen Initialen beschriftete Foto, würde Humbert Humbert später spotten, sei ein untrüglicher Beweis meiner Schwärmerei für ihn.

Das Patriarchat sitzt im Körper meiner Mami und bräunt sich in ihrer Aufmerksamkeit. Manchmal hievt es den Wohlstandsbauch auf die andere Seite und kratzt sich am Sack. Es fühlt sich ziemlich wohl. Hier ist seine natürliche Umgebung. Hier kann es scheitern und wichsen, ohne kritisiert zu werden. Manchmal meckert es am Irish Stew herum, das meine Mami gekocht hat: zu wenig Salz.

Meine Mutter bemühte sich so sehr um Humbert, dass ich mich darauf gefasst machte, diesen Kerl jetzt öfter sehen zu müssen. Das gefiel mir wenig. Aber meiner zwölfjährigen Erfahrung nach gab es Möglichkeiten, dafür zu sorgen, dass man im Leben bekommt, was man sich wünscht. Erstens: Erpressung. Oder zweitens: Verbündete suchen. Und so schnappte ich mir Humbert Humbert, der durch unsere Wohnung schlich, als wäre er auf Großwildjagd, zog seinen Kopf zu mir herunter, sah, wie sich seine Nasenflügel blähten, weil er an mir schnupperte, und wisperte ihm unter Zuhilfenahme von sehr viel Luft und ein bisschen Spucke ins Ohr: »Es wäre doch gut, wenn Mama morgen mit uns zum See fährt, oder? Helfen Sie mal ein bisschen mit!«

An den Wochenenden im Sommer war der See der Treffpunkt der gesamten Nachbarschaft. Gerüchte und möglichst gleichmäßig gebräunte Körper liefen das Ufer auf und ab. Bademode aus der Shoppingmall wurde gut kaschiert, Bademode aus der teuren Boutique vorgezeigt. Es galt, Einladungen zum BBQ zu ergattern – natürlich nur von den richtigen Leuten. Im letzten Sommer hatte meine Mutter mein Verhalten streng überwacht und ich hatte wenig Spaß gehabt. Jetzt aber war ich frei, denn nun verwendete sie all ihre Aufmerksamkeit darauf, Humbert Humbert wie ein Dressurpony durch die Manege zu führen. »Ich muss dich einer ganz lieben Freundin vorstellen«, flötete sie, wenn die beiden in Hörweite trabten, und sobald sie der lieben Freundin den Rücken zuwandten: »Die fettärschige Kuh hat mich letzte Woche angeschwärzt …« Ich hielt einige andere Kinder so lange unter Wasser, bis sie Angst bekamen, spielte Wasserball oder saß in einem der großen Bäume, um im Laub verborgen zu beobachten, wie meine Mutter Humbert Humbert die Sporen gab.

Jetzt neigte sich dieser schöne Tag dem Ende zu und meine Mutter bestand darauf, ihn in unserem Garten ausklingen zu lassen. So nannte sie es.

»Kommen Sie! Packen Sie mal mit an.« Humbert Humbert griff die zwei Zipfel unserer Picknickdecke. »Charlotte, Charlotte«, mahnte er mehrmals, ließ sich aber trotzdem von ihr necken, während sie die Decke gemeinsam ausbreiteten. Endlich lag die Picknickdecke zu ihrer Zufriedenheit auf dem Rasen. »Fast romantisch«, lachte sie, als hätte sie einen Witz gemacht, und legte ihre Hand für einen Moment auf Humberts Brust. Humbert Humbert wirkte erschöpft. Mit blitzenden Augen setzte meine Mutter sich so nah neben ihn, dass es gerade noch als anständig gelten konnte. Ich warf mich zwischen die beiden, in diesen mit Seltsamkeit gefüllten Raum, um an meine Existenz zu erinnern. Das war nötig. Während sie irgendeinen gestelzten Scheißdreck redeten, spielte ich mit meiner Ballerinapuppe.

Ich setzte mir die Puppe aufs Knie und ließ sie an der Unterhaltung der mich umrahmenden Erwachsenen teilnehmen. Die Puppe drehte ihren Kopf dem jeweils Sprechenden zu. Das wurde schnell langweilig: Humbert Humbert monologisierte. Die Puppe rieb sich den überstrapazierten rechten Nackenmuskel. Humbert Humberts Hand schoss nach vorn, schwebte einen Moment über meinem Knie wie ein Raubvogel über dem Kaninchen. Dann stürzte die Hand sich auf meine Puppe, und weil ich nicht gleich locker ließ, entriss er sie mir mit einem Ruck, ohne jedoch seinen Erzählfluss zu unterbrechen. Er hob die Puppe in die Höhe, ließ sie kreisen, gab sie mir zurück. Er tat das mehrmals, in der Art, wie man mit einem Hund spielt. Währenddessen redete er über wer weiß was. Außerdem griff er mir ins Haar und an den Rücken und strich mir übers Schienbein, als wollte er meiner Mutter beweisen, wie sehr er mich mochte und wie putzig er mich fand. Das war ätzend. Von der Seite betrachtete ich meine Mutter, die unglaublich gelangweilt schien von Humbert Humberts Ausführungen, aber sie hielt ihr Lächeln. Je dunkler es wurde, desto öfter betastete er mich. Ich war Wasser und Beton. Beton, der mich unbeweglich machte, und Wasser, das einen Fluchtweg suchte, seinen Händen zu entkommen. Ich wusste, dass es nötig war, meine Mutter von all dem nichts merken zu lassen. Es war beinahe stockdunkel. Ich spielte, wie ich noch nie gespielt hatte, gab meiner Puppe eine schrille Stimme. »Es ist so eng hier«, piepste sie. Sie hatten mich in die Zange genommen. Humbert Humbert mit seinen widerlichen Fingern, meine Mutter mit ihrer spöttischen Missachtung. »Und jetzt wünschen sich alle, dass Lo ins Bett geht«, sagte sie, griff meine Puppe und schleuderte sie in die Dunkelheit.

Obwohl ihr abfälliger Ton mich verletzte, war ich froh, dem Garten zu entkommen. Ich lief die Treppe hinauf. Sie saßen noch eine Weile dort unten auf der Picknickdecke. Durch die geöffneten Fenster konnte ich sie reden hören, während ich in meiner Kammer lag und versuchte, Comics zu lesen.

Seit dem Vorfall im Badeanzug war meine Mutter distanziert und redete verächtlich über mich: Einige Tage zuvor beim Essen, Humbert hatte darüber sinniert, sich irgendeinen bescheuerten Schnurrbart wachsen zu lassen, hatte sie gesagt: »Tun Sie es lieber nicht, sonst schnappt ein gewisser jemand noch ganz und gar über.« Sie zupfte an meinem Ohr und ließ ihren manikürten Zeigefinger kurz auf meiner Nase ruhen. Ich musste sofort den Tisch verlassen. Ich schrie die Wut in mein Kopfkissen.

Ich hörte Humbert Humbert ins Bett gehen, hörte seine plumpen Schritte auf der Treppe, hörte meine Mutter in der Küche herumräumen, wunderte mich, weil sie ja sonst nie in der Küche räumte. Dann stand sie in der Tür, nahm mich am Arm, zog mich aus dem Bett. Ich wehrte mich, aber nur vorsichtig. Dieser Gesichtsausdruck war mir neu, obwohl ich sie immer genau beobachtete. In ihrer Nähe musste ich jederzeit wachsam sein. Es war nahezu unmöglich herauszufinden, wie ich es ihr Recht machen konnte. Aber man musste es versuchen. Immerhin hatte ich von allen Menschen auf der Welt wohl die meiste Übung darin.