Calathea - Isabella Roegner - E-Book
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Calathea E-Book

Isabella Roegner

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Beschreibung

Als plötzlich und unkontrolliert Magie aus ihr hervorbricht, nimmt Callas Leben eine unerwartete Wendung. Sie wird in die Sphäre der Magier gebracht und soll fortan die Akademie der Magischen Künste besuchen, eine Eliteschule, in der die begabtesten Novizen zu mächtigen Magiern ausgebildet werden. In der Akademie begegnen ihr die anderen mit Abneigung und Misstrauen. Vor allem die arroganten und brutalen Feuermagier lassen keine Gelegenheit aus, Calla zu schikanieren. Doch das ist erst der Anfang: Seltsame Vorfälle während des Unterrichts wecken in Calla einen dunklen Verdacht: Trägt sie die verbotene und gefürchtete Schattenmagie in sich? Entschlossen, das Rätsel um ihre Magie zu lösen, wendet sich Calla an den mysteriösen Novizen Rubin, der selbst ein Schattenmagier sein soll. Gemeinsam kommen sie einem Geheimnis auf die Spur, das nicht nur die Akademie in ihren Grundfesten erschüttert, sondern das Schicksal der gesamten Magiersphäre bestimmt.

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Für Wolfgang. Weil du mich dazu gebracht hast, den Stift in die Hand zu nehmen.

Inhaltsverzeichnis

ERSTER TEIL

ERSTER GRUNDSATZ DER MAGIE

PROLOG: EIN UNERWARTETER GAST

1. MERKWÜRDIGE VORKOMMNISSE

2. WUT IM BAUCH

3. AM SEE

4. ROLLENSPIELE

5. KLEINERE STREITIGKEITEN

6. VERFOLGT

7. AUFBRUCH

8. DIE SPHÄRE DER MAGIER

9. DAS EILAND

10. DIE AUFGABE

11. DER ZYLINDER DER MAGIER

ZWEITER TEIL

ZWEITER GRUNDSATZ DER MAGIE

12. ANDERS

13. DIE KUNST DER MAGIE

14. GEDANKEN

15. IN DER KIESGRUBE

16. UNSICHTBAR

17. VON GRIMAGI UND PRIMAGI

18. DAS FEST DES TODES

19. KAMPFKUNST

20. ILLENS BÜRO

21. IN DER GRUFT

22. AM HOHEN TURM

23. DIE GESCHICHTE DER AKADEMIE

24. NICCOLEO VOM HOF DES WASSERS

25. DAS ERBE DES MAGIERS

26. SCHATTEN IN DER AKADEMIE

27. BÖSES BLUT

DRITTER TEIL

DRITTER GRUNDSATZ DER MAGIE

28. DIE SPHÄRE DER SCHATTEN

29. BARTOLOMEO

30. DAS GEHEIMNIS DES ERSTEN

31. KÖNIG DER SCHATTEN

32. DAS ENDE DES ANFANGS

EPILOG: ARILLIAS AXEA

DIE SPRACHE DER IMAGI

SCHATTENVERZEICHNIS

DER IMAGISCHE KALENDER

ERSTER TEIL

ERSTER GRUNDSATZ DER MAGIE

Magische Energie kann nicht geschaffen werden. Alles, was für eine magische Handlung verwendet wird, muss in seinen Grundzügen bereits existiert haben.

PROLOG

EIN UNERWARTETER GAST

Es war im Monat Tegonax, dem zehnten Monat des Jahres und zu Beginn der nassen Zeit, als ein alter Mann auf der Aussichtsplattform eines verwitterten Turms stand. Zu dessen Fuße erstreckte sich der See Marenael, den die hereinbrechende Dämmerung langsam in Dunkelheit hüllte. Und auch wenn der alte Mann kaum noch etwas erkennen konnte, haftete sein Blick auf dem Gewässer, als hinge sein Leben davon ab.

Die Imagi nannten den See Marenael nur den Spiegel. Mit einer Oberfläche so glatt, dass sie aus schwarzem Glas hätte bestehen können, lag er mit majestätischer Ruhe inmitten des Silbergebirges, umsäumt von Klippen, die wie Reißzähne hoch in den Himmel ragten. Es hieß, nur wer reinen Herzens sei, könne es ertragen, dort in die Augen seines eigenen Spiegelbildes zu blicken – allen anderen drohte die sofortige Erblindung.

Der alte Mann wusste, dass es sich dabei um nichts als bloßen Aberglauben handelte. Schon seit Stunden starrte er in den Spiegel. Geschehen war jedoch nichts.

Den frostigen Wind, der ihm in das zerfurchte Gesicht pfiff und an seiner marineblauen Robe zog, ignorierte er. Es war, als würde er ihn dazu zwingen wollen, sich von der Brüstung der Plattform zu lösen und ins Warme des Turms zu begeben. Der Mann aber war wie festgefroren. Er bewegte sich nicht einmal, als es sanft zu regnen begann. Etwas hielt ihn an Ort und Stelle, mit einer solchen Kraft, die es ihm unmöglich machte, auch nur einen Finger zu rühren. Es war die Uhr an seinem Handgelenk.

Ein altes Familienerbstück aus nachtschwarzem Alabantyr, verziert mit goldenen Symbolen in einer alten Sprache, und drei filigranen Zeigern, die in verschiedenen Geschwindigkeiten um das Ziffernblatt kreisten. Die Uhr war nicht sonderlich schwer. Dennoch zog sie ihn in die Tiefe wie Telonto-Blei einen Mann im Ozean. Er brauchte die Zeiger nicht anzusehen, um zu wissen, wie sie standen.

Der kürzeste Zeiger umrundete das Blatt so schnell, dass man ihm mit bloßem Auge kaum folgen konnte. Der mittlere hingegen stand regungslos auf drei Uhr. Und der längste, der wichtigste von ihnen, glitt langsam, fast zittrig, auf die Zwölf zu. Die Uhr zeigte die Zeit an. Doch auf eine gänzlich andere Weise als eine gewöhnliche Uhr.

Fast Mitternacht, dachte Rafael. Obwohl er seit mehreren Wochen auf diesen Tag gewartet hatte, stolperte sein Herz.

Heute ist es so weit.

Der Regen war mittlerweile stärker geworden. Große Tropfen prasselten auf die Erde – auf die steinernen Außenmauern des Turms, auf das sandige Ufer der kleinen Insel, auf der er stand, und auf die dunkle Oberfläche des Wassers. Auch Rafael selbst blieb nicht verschont, der Regen peitschte ihm ins Gesicht, durchnässte seine Robe. Doch er ließ ihn gewähren.

Der Anflug eines Lächelns trat auf sein Gesicht. Seit seiner Kindheit war er vom Wasser fasziniert. Es war das Elixier des Lebens, ein Element des ewigen Wandels und der unaufhörlichen Bewegung. Von mächtigen Strömungen, die alles mit sich rissen, bis hin zu zarten Wellen, die liebevoll das Ufer umschmeichelten – die unberechenbare Natur des Wassers barg das Schicksal von Leben und Tod.

Welch Ironie.

Rafael schüttelte den Kopf. Das Wasser war schon immer sein Zufluchtsort gewesen. Dies war auch der Grund, warum er sich ausgerechnet inmitten eines Sees niedergelassen hatte, für die Aufgabe, die vor ihm lag.

Ein schriller Schrei ließ ihn zusammenzucken. Als er einen Schatten in den Nachthimmel fliegen sah, atmete er auf. Nur ein Vogel. Sein Puls beruhigte sich wieder. Falscher Alarm.

Zurück aber blieb das ungute Gefühl in seiner Magengegend. Es verfolgte Rafael nun schon seit Wochen, war zu seinem ständigen Begleiter geworden. Manchmal trat es in den Hintergrund, ließ ihn vergessen, dass es jemals existiert hatte – bis es urplötzlich wieder auftauchte, stärker als zuvor.

Wie ein unerwarteter Gast.

Etwas braute sich zusammen, dessen war er sich bewusst. Er wusste nur noch nicht, was es war.

Im nächsten Moment spürte Rafael, wie sich das Gleichgewicht der Kräfte in der Atmosphäre verschob. Der Boden unter seinen Füßen erzitterte, die Luft flimmerte vor seinen Augen. Die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich auf. Er hielt die Luft an, mit einem Mal waren alle seine Sinne geschärft. Keine Sekunde später war es auch schon vorbei. Allerdings hatte sich etwas verändert.

Am Fuße des Turms stand auf einmal ein Mann, nicht viel älter als er selbst. Wie aus dem Nichts war er erschienen, mit einem dunklen Mantel um die Schultern, der ihm bis zu den Knöcheln reichte und mit dem Schwarz der Nacht eins werden ließ. Allein sein blasses Gesicht leuchtete im Schein des Mondes, als er zur Aussichtsplattform hinaufsah.

»Rafael!«, rief der Neuankömmling durch den Regen. »Bist du es?«

Rafael biss die Zähne zusammen. Er kannte diesen Mann. Doch er durfte nicht hier sein. Nicht jetzt. Er trat einen Schritt nach vorn, wobei er mit dem Knie gegen den harten Stein der Brüstung stieß. Ein heißer Schmerz schoss durch sein Bein.

»Er hat es mir verraten!«, rief der Mann am Fuße des Turms nun. »Wo du dich versteckt hältst.« Ein flehender Ausdruck trat in sein Gesicht. »Ich muss mit dir reden. Es ist wichtig.«

Rafaels Blick huschte zum See. Er hätte seinen Aufenthaltsort nur im äußersten Notfall preisgegeben. Es musste sich also um einen solchen handeln. Was sollte er tun? Er konnte den Mann dort unten schlecht abweisen. Die Uhr an seinem Handgelenk wog mit einem Mal doppelt so schwer.

»Bitte, Rafael.«

Rafael beschloss, das mulmige Gefühl in seiner Magengegend zu ignorieren. »Komm herauf, Seldomar!«, rief er. »Sonst holst du dir da draußen noch den Tod.«

In Seldomars Gesicht trat Erleichterung. Hastig setzte er sich in Bewegung und verschwand aus Rafaels Blickfeld. Kurz darauf war das scharrende Geräusch von Holz auf Stein zu hören, als Seldomar sich an der schweren Pforte des Turms zu schaffen machte. Dann hörte Rafael das Klacken seiner Absätze in der Eingangshalle, und sie erinnerten an Schüsse in der Nacht.

Klack … klack … klack …

Rafael ließ den Blick ein letztes Mal über den See Marenael schweifen, bevor er sich zurück in das Turmzimmer begab. Vielleicht hatte das Schicksal gerade eine unerwartete Wendung genommen.

Mit steifen Gliedern durchquerte er den Raum, bis er hinter dem großen Schreibtisch stand. Zahlreiche Folianten stapelten sich hier, Papierrollen lagen verstreut neben offenen Tintenfässern. Schnell versuchte Rafael, die Unordnung zu beseitigen.

Klack … klack … klack …

Er klappte die Bücher zu, die noch offen auf dem Tisch lagen, versuchte, die losen Seiten zusammenzulegen, bevor er es schließlich aufgab und alles ungeduldig in eine der vielen Schubladen stopfte. Dabei stieß er eines der Fässchen um. Eine dunkelblaue Flüssigkeit ergoss sich über die Tischplatte. Rafael unterdrückte ein Fluchen.

Klack … klack … klack …

Rafael warf einen hektischen Blick in Richtung des Torbogens, der zur Treppe führte, unter dem Seldomar jeden Moment erscheinen würde.

Klack … klack … klack …

Mit einer schnellen Handbewegung ließ Rafael einen magischen Schleier über das Chaos auf dem Schreibtisch fallen, und binnen eines Wimpernschlags war alles verschwunden. Die dunkle Tischplatte vor ihm war leer. Sogar die Tintenlache war weg. Zurück blieb einzig ein violetter Schimmer von Magie, der jedoch so blass war, dass niemand außer Rafael selbst ihn je sehen würde.

»Rafael.«

Rafael zuckte zusammen. Er hatte nicht bemerkt, dass sein Gast schon durch den Torbogen getreten und in der Mitte des Turmzimmers stehen geblieben war.

»Guten Abend, Seldomar«, erwiderte Rafael und gab sich alle Mühe, ruhig und entspannt zu klingen. Den blitzblanken Schreibtisch würdigte er keines Blickes, stattdessen musterte er sein Gegenüber.

Seldomar und Rafael kannten sich bereits seit vielen Jahren. Rafael hatte ihn als aufstrebenden und energetischen Magier in Erinnerung – ein Mann mit Visionen und der nötigen Willenskraft, diese auch umzusetzen. Umso mehr erschrak er, als Rafael an diesem Abend in das Gesicht seines alten Freundes blickte.

Er sah aus, als hätte er seit Wochen nicht geschlafen. Die blassen Wangen waren eingefallen, und die dünne, fleckige Haut spannte sich über seinen Schädel, ließ die Konturen hervortreten wie bei einem Skelett. Am tragischsten aber waren seine Augen. Sie waren glasig, und Bitterkeit spiegelte sich in ihnen.

»Was führt dich zu so später Stunde zu mir, mein Freund?« Rafael bemühte sich um einen sanften Tonfall. »Noch dazu an diesen von Erc’i verlassenen Ort?«

Seldomar war vor einigen Jahren Teil des Hohen Gremiums gewesen. Mit Rafaels Ernennung zum Primagus hatte er seinen Posten jedoch räumen müssen, da sie beide dem Wasser dienten. Das Gesetz der Imagi sah es nun einmal vor, dass es nur einen einzigen Vertreter eines jeden magischen Elements im Hohen Gremium geben durfte. Die plötzliche Degradierung hatte Seldomar schwer zugesetzt, das war allgemein bekannt.

Mitgefühl breitete sich in Rafael aus. Daran war damals ihre Freundschaft zerbrochen.

»Ich … muss mit dir sprechen«, begann Seldomar. »Ich … ich brauche deine Hilfe, Rafael.«

Seine Stimme, einst voll und tief, klang leise und zittrig. Seldomar hielt inne und ließ den Blick schweifen, bis er an der Pritsche hängenblieb, die im Eck stand.

Das Turmzimmer war kaum besser eingerichtet als bei den Neotox: neben der hölzernen Pritsche, die Rafael in den letzten Wochen als Schlafplatz gedient hatte, lag ein ausgeblichener alter Teppich, und vor dem flackernden Kamin stand ein mottenzerfressener Sessel, den Rafael noch kein einziges Mal benutzt hatte.

»Was kann ich für dich tun, Seldomar?«, drängte Rafael vorsichtig, doch bestimmt. Nur schwer konnte er sich davon abhalten, einen Blick auf seine Uhr zu werfen.

Ein Zucken durchfuhr Seldomar. Dann hob er den Kopf.

Rafael sah das violette Flimmern zu spät. Als er es tat, lag er bereits mit dem Rücken auf den kalten Steinplatten, von einer unsichtbaren Hand gepackt, die seinen Körper zu Boden presste.

»Was soll das bedeuten?«, stieß Rafael hervor.

Seldomar verzog das Gesicht zu einem Grinsen. Für einen kurzen Augenblick erhellte das Licht der Flammen seine Augen. Sie waren rot wie Blut. Er hatte den magischen Schleier von ihnen fallen lassen.

»Wer bist du?«, keuchte Rafael und kämpfte gegen die unsichtbare Kraft an, die ihn am Boden hielt. Es nützte nichts. Der Mann, der Seldomars Gesicht trug, verzog die Lippen zu einem spöttischen Grinsen. Als er antwortete, hatte seine Stimme den flehenden Unterton verloren. Sie war kalt wie Eis.

»Deine Zeit ist um, alter Mann.«

»Ah«, machte Rafael. »Dies ist mir bekannt.« Er verdrehte die Augen und blickte in Richtung der Uhr an seinem Handgelenk. Der längste Zeiger war nur noch um Haaresbreite von der Zwölf entfernt.

»Sag mir, wo es ist.«

»Es«, begann Rafael, »befindet sich nicht in meinem Besitz.«

Mit einer blitzschnellen Bewegung hob der Mann die flache Hand und streckte sie ihm entgegen. Lange, weiße Finger kamen unter dem dunklen Mantel zum Vorschein, wie das Skelett einer riesigen Spinne. An einem der Finger prangte ein Ring. Ein Rubin, eingelassen in eine silberne Fassung.

Der Mann krümmte die Finger seiner Hand, langsam, als würde er eine überreife Frucht in seiner Faust zusammendrücken. Gleichzeitig flammte ein unermesslicher Schmerz in Rafaels Brust auf, wie ein wildes Feuer, das sich unaufhaltsam ausbreitete und ihn von innen verbrannte. Jeder Atemzug wurde zur Qual, glühende Lanzen durchbohrten sein Inneres. Er versuchte zu schreien, doch kein Laut kam über seine Lippen.

Lass es aufhören, schrie die Stimme in seinem Kopf, während seine steifen Muskeln rissen und seine alten Knochen brachen.

»Du lügst«, sagte der Fremde tonlos. Dann schnitt er mit der Hand durch die Luft, als würde er ein ganzes Orchester verstummen lassen. Sofort erstarb der Schmerz.

»Nein«, keuchte Rafael und griff sich an die bebende Brust. »Ich habe es nicht mehr.«

»Du lügst!«, schrie der Mann nun und machte einen Satz nach vorn, bis er über ihm stand. Hoch und bedrohlich ragte er vor ihm auf, die roten Augen auf Rafael gerichtet. Dieser zwang sich, dem Blick standzuhalten. Dann schüttelte er den Kopf.

Langsam ging der Mann neben ihm in die Knie. Er beugte sich zu Rafael herunter, immer näher, bis sein blasses Gesicht nur noch einen Fingerbreit von seinem entfernt war. Von Nahem sah seine Haut aus wie Reispapier, so dünn, dass die blauen Adern zum Vorschein kamen. Er betrachtete Rafael mit einem fast zärtlichen Blick. Ein schaler Gestank stieg ihm in die Nase, als der Fremde die schmalen Lippen zu einem Lächeln verzog. Dann streckte er erneut seine Spinnenhand aus und legte sie auf Rafaels Stirn.

Sofort spürte Rafael den Eindringling in seinem Geist. Seine Schutzmauer, die er sich in all den Jahren mühevoll aufgebaut hatte und von der er dachte, sie würde für immer bestehen, brach in sich zusammen wie ein Kartenhaus.

Der Mann begann, sich durch seine Gedanken zu wühlen, riss eine Schublade nach der anderen auf, ließ den Inhalt achtlos auf den Boden seines Geistes fallen, all die Erinnerungen seines Lebens, die schönen, die schrecklichen und alle dazwischen.

Rafael konnte es nicht verhindern. Seine Augäpfel drehten sich nach innen und er begann zu zittern, während sein Peiniger sich immer weiter durch seine Gedanken fraß, bis er jedes noch so winzige Eck durchsucht hatte. Bis er alles gesehen hatte, was Rafael je gesehen hatte. Doch das, was er suchte, war nicht in Rafaels Erinnerungen zu finden.

Als dies auch der Mann begriff, entfuhr ihm ein wütender Schrei. Er riss die Hand zurück, als hätte er sich an Rafaels Stirn verbrannt. Rafaels Kopf knallte zurück auf den Boden.

»Wo ist es?«, brüllte der Mann nun und seine Stimme überschlug sich vor Wut.

Erneut setzten die ungeheuren Schmerzen in Rafaels Brust ein. Die Welt um ihn herum verschwamm, während der Schmerz ihn wie eine eiserne Faust umklammerte und seine Kräfte schwinden ließ. Als der Schmerz versiegte, blieb Rafael reglos liegen.

»Es ist in Sicherheit«, flüsterte er, als er wieder zu Atem gekommen war. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. »Du wirst es niemals finden.«

Der Mann, der noch immer das Gesicht seines alten Freundes trug, fletschte die Zähne. »Dann gibt es keinen Grund, dich am Leben zu lassen.«

Er hob beide Arme, die Handflächen auf Rafael gerichtet. Unsichtbare Mächte griffen abermals nach Rafael, fest und gnadenlos. Und keine Sekunde später barst der magische Schutz seines Herzens.

»Stirb, alter Mann.«

Magie floss aus Rafael heraus wie Blut aus einer klaffenden Wunde. Es war unaufhaltsam. Rafael spürte, wie er schwächer wurde, versuchte, den Strom einzudämmen, seine Magie in sich zu behalten, sich zu wehren, doch er schaffte es nicht.

Nein, dachte Rafael bestürzt. Nicht so.

Der letzte Tropfen Magie floss aus ihm heraus. Dann kam der Schmerz. Und einen Wimpernschlag später umschlang ihn die Finsternis.

Das Feuer im Kamin erlosch und ließ das Turmzimmer in tiefster Dunkelheit zurück. Ein paar Sekunden lang starrte der Fremde den toten Rafael an, ohne einen Funken Reue in den roten Augen. Dann drehte er sich um und verschwand spurlos wie ein Schatten in der Nacht.

Rafaels Körper blieb seltsam verzerrt auf dem Steinboden liegen, die leeren Augen gen Himmel gerichtet. Alles Leben war aus ihm gewichen.

Der lange Zeiger der Uhr an seinem Handgelenk stand auf Punkt Zwölf, als das Oberhaupt der Magier die Lebenden verließ und in den Kreislauf des Universums zurückkehrte. Seine letzte Gedankennachricht jedoch schwirrte noch durch die Sphäre und erreichte seinen Empfänger am anderen Ende des Landes.

Uriah, bring es in Sicherheit.

1

MERKWÜRDIGE VORKOMMNISSE

Calla!«

Sie zuckte zusammen und konnte gerade noch verhindern, dass die aufgeschäumte Milch, die sie in die Tasse goss, über den Rand schwappte. Schnell stellte sie den Cappuccino ab.

»Che cavolo, wo zum Teufel bist du heute bloß mit deinen Gedanken?«

Franco warf ihr einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Italiener mit den dunklen Locken wartete die Antwort nicht ab, sondern trug das Tablett beladen mit Kaffeespezialitäten und einem Teller goldbrauner Mandelkekse an einen der vielen Tische des Cafés. Innerlich fluchte Calla.

Franco hat recht, dachte sie verärgert. Du lässt dich heute zu leicht ablenken. Konzentrier dich!

Franco war der Besitzer des kleinen Cafés – Franco’s –, in dem Calla in ihrer Freizeit arbeitete. Er war ein entspannter Typ, seine südländische Ader zeigte sich nicht nur in seinem Aussehen, sondern auch in seiner lockeren und freundlichen Art, die die meisten Gäste zu schätzen wussten. Aber Franco war auch ein strenger Lehrer, vor allem, wenn es um sein Café ging.

Genervt warf Calla das Geschirrtuch über den Wasserhahn und kümmerte sich um die nächste Bestellung.

Das Franco’s war gut besucht an diesem Samstagnachmittag im November. Fast alle Plätze waren besetzt, sowohl die runden Holztische in der Mitte des Raumes als auch die einladenden Ledersessel in der hinteren Ecke. Selbst auf den breiten Fensterbänken der großen Fenster, die die eine Seite des Cafés säumten und den Blick auf den verregneten Marktplatz von Durlingen freigaben, saßen Gäste mit Getränken in den Händen und unterhielten sich. Calla seufzte. Eine Menge Arbeit kam auf sie zu.

Die Türklingel läutete und kündigte einen neuen Gast an. Calla reckte den Kopf und spähte an der ausladenden, blauen Mosaikvase vorbei, die Franco aus unerfindlichen Gründen mitten auf dem Tresen platziert hatte. Ein junger Mann betrat das Café. Er sah aus, als hätte man einen Eimer Wasser über ihm ausgekippt. In der einen Hand hielt er einen tropfenden Regenschirm, doch es schien, als hätte er wenig genützt. Die Jacke war pitschnass und die braunen Haare klebten ihm auf der Stirn. Callas Miene hellte sich schlagartig auf. Es war Matt.

Matt stopfte seinen Regenschirm mehr schlecht als recht in den Schirmständer neben der Tür und schälte sich aus seiner Jacke. Darunter kam ein dunkelroter Kapuzenpulli zum Vorschein. Er trug die Aufschrift: „Nur wer die Sprache beherrscht, ist in der Lage, seinem Gegner Ravioli zu bieten.“ Calla musste grinsen.

»Hey Calla!«, rief Matt, als er es endlich geschafft hatte, sich einen Weg durch das volle Café zu bahnen und sich auf einen der vielen Barhocker niederließ.

»Hey, Matti«, gab sie zurück, stellte zwei weitere Espressi auf das Tablett vor ihr und nahm es auf dem Arm. »Bin gleich bei dir«, sagte sie mit einem entschuldigenden Lächeln. »Ich bringe nur kurz die Bestellung rüber.«

»Also«, begann Matt, als Calla wieder hinter dem Tresen stand und den nächsten Kaffee zubereitete. »Wie geht’s dir?«

Calla hielt inne und sah auf. Matts rehbraune Augen musterten sie prüfend.

»Gut«, antwortete sie, doch es klang wie eine Frage in ihren Ohren.

Calla und Matt kannten sich seit ihrem ersten Tag im Kindergarten. Der kleine Matt wollte nicht mit den anderen Kindern spielen, die laut schreiend auf dem Spielplatz umherrannten, und war stattdessen Calla nachgelaufen, die sich alte Decken stibitzt hatte, um sich eine Höhle unter einem Baum zu bauen. Zuerst hatte sie ihn weggeschickt, doch Matt hatte sich nicht abwimmeln lassen. Und damit begann ihre Freundschaft. Seither waren die beiden unzertrennlich, selbst heute noch, viele Jahre später. Und so wusste Calla ganz genau, was Matt in diesem Moment dachte.

»Es ist alles okay, Matti«, sagte sie. »Das Ganze ist so lange her. Es ist fast so, als hätte es die beiden nie gegeben.«

Matts Augenbrauen schossen in die Höhe, doch er sagte nichts. Verlegen nahm er einen Schluck aus seiner Tasse.

Die beiden, das waren Callas Eltern. Sie waren an diesem Tag, am 15. November, vor zwölf Jahren ums Leben gekommen. Drei Tage vor Callas sechstem Geburtstag. Ein Autounfall, nachts, auf der Landstraße. Der Wagen kam von der Straße ab und überschlug sich. Callas Vater und ihre Mutter waren sofort tot. Einfach so. Calla hatte als Einzige überlebt.

»Calla?« Matts Stimme holte sie zurück aus ihren Gedanken.

»Ich frage mich manchmal, wie es gewesen wäre, wenn sie noch hier wären«, überlegte sie leise. Sie starrte auf das Tablett vor ihr. Ein dicker Kloß hatte sich in ihrem Hals gebildet. »Wer ich wäre. Wo ich wäre.«

Ihre Eltern kamen nicht aus Durlingen. Sie waren auf der Durchreise, und nur durch Zufall an dem kleinen Ort vorbeigekommen. Woher sie stammten, das wusste niemand. Auch nicht, wohin sie unterwegs gewesen waren. Man hatte keinerlei Papiere bei ihnen gefunden, geschweige denn Gepäck. Nicht einmal ein Suchaufruf der Polizei in der größeren Umgebung hatte Licht in die Sache bringen können.

Matt beugte sich über die Theke und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Du erinnerst dich wirklich an gar nichts, oder?«, fragte er leise und blickte sie aus großen Augen heraus an. »Nur an ihre Vornamen?«

»Ja«, sagte sie. »Das ist alles.«

Alles, was in der Nacht des Unfalls geschehen war, war aus ihrem Gedächtnis ausradiert. Und alles, was sich davor ereignet hatte. Nicht einmal an ihren wahren Nachnamen konnte sie sich erinnern. Ein Schutzmechanismus ihres Gehirns, wie die Polizeipsychologen ihr danach erklärt hatten.

»Ich bin auf jeden Fall froh, dass du hier bist«, sagte Matt und zwinkerte. »Wie würde ich ansonsten Webers grässliche Mathestunden überleben?«

Er lächelte aufmunternd. Calla atmete ein paar Mal tief durch und spürte, wie der Kloß in ihrem Hals langsam kleiner wurde. Sie rang sich ein Lächeln ab.

»Könnte ich vielleicht endlich etwas bestellen?«, dröhnte auf einmal eine Stimme hinter Matt. »Oder muss ich warten, bis ihr zwei Täubchen da fertig geflirtet habt?«

Calla lugte an Matt und der blauen Mosaikvase vorbei. An einem Tisch in der Mitte des Raumes saß ein Mann mit streng nach hinten gegelten Haaren. Sein Mondgesicht, dessen Hals sogar an einem Samstagmorgen in einem Anzug steckte, der ihm mindestens zwei Nummern zu klein war, war rot angelaufen. Er funkelte sie wütend an.

Oh Mist, dachte Calla verlegen. Doch als sie hinter dem Tresen hervorsprang, war es schon zu spät.

»Entschuldigen Sie bitte vielmals, Signore«, sagte Franco mit seiner ruhigen, tiefen Stimme und dem italienischen Akzent. »Was darf ich Ihnen denn bringen?« Er sah auf und warf Calla einen mahnenden Blick zu. Röte stieg ihr ins Gesicht.

»Einen Espresso«, fauchte der Gast. »Ihr Kaffee ist exzellent, aber Sie müssen sich wirklich einmal Gedanken um ihr Personal machen.«

Idiot, dachte Calla.

Franco schien für den Bruchteil einer Sekunde dasselbe zu denken. Dann aber kam er zu ihr herüber, mit einem strengen Ausdruck im Gesicht.

»Was ist nur los mit dir?«, zischte er ihr zu. »Willst du hier arbeiten, oder willst du es nicht?« Seine Augen blitzten. »Auf so eine Hilfe kann ich nämlich gut verzichten.«

Bevor sie etwas erwidern konnte, schnitt er ihr das Wort ab. »Tisch Dreizehn. Einen Espresso. Pronto!«

Doch ein anderer Gast rief in dem Moment nach der Rechnung, und so eilte Calla an den Tisch, rechnete ab, wobei sie zwei Mal den Betrag falsch berechnete und der Gast genervt mit den Augen rollte. Auf dem Rückweg zum Tresen nahm sie noch zwei weitere Bestellungen auf und verzog sich dann hinter die Bar, um sie alle abzuarbeiten.

»Machst du heute keine Pause?«, fragte Matt, während er sie dabei beobachtete, wie sie sich an der großen, silbernen Siebträgermaschine zu schaffen machte. Sein Kaffee war mittlerweile ausgetrunken, und er blickte sie erwartungsvoll an. »Ich dachte, wir könnten ein bisschen reden.«

Normalerweise kam er samstags um die Mittagszeit in das Café, um sich mit ihr während ihrer Pause zu unterhalten. Heute aber schien es unmöglich, dass sie auch nur für fünf Minuten aufhörte zu arbeiten. Ein schlechtes Gewissen machte sich in ihr breit.

»Tut mir leid, Matti …«, sagte sie. »Du siehst doch, was hier los ist.«

»Schon gut. Ich will dir ja auch nicht im Weg rumstehen. Wir sehen uns später im Kino, ja?«

Calla nickte und wartete, bis er sich wieder in seine nasse Jacke gequält hatte. Dann winkte sie zum Abschied, doch Matt war bereits in den strömenden Regen des Samstagnachmittags getreten.

Sie seufzte. Dann widmete sie sich der Bestellung von dem Herrn im Anzug an Tisch Dreizehn. Er würdigte sie keines Blickes, als sie den Espresso vor ihm auf den Tisch stellte.

»Calla, das Teewasser!«, hörte sie auf einmal Francos Stimme. Calla hatte ganz vergessen, dass sie es aufgesetzt hatte. Wie von der Tarantel gestochen rannte sie in die Küche und schnappte die Kanne vom Herd. Franco sah sie vorwurfsvoll an.

»Und für wen sind die ganzen Cappuccini auf dem Tresen?«, fragte er mit unverhohlenem Ärger in der Stimme. »Calla, wie oft noch – Kaffee wird kalt.« Er sprach mit ihr wie mit einem Kind.

»Tisch Einundzwanzig und Tisch Drei«, antwortete Calla kleinlaut, während sie das heiße Wasser in eine Tasse füllte. »Entschuldige, ich war…«

»Abgelenkt?«, kam Franco ihr zuvor. »Los, beeil dich, die Gäste warten.« Er verließ die Küche.

Oh Mann, dachte Calla. Heute war einfach nicht ihr Tag.

Mit hochrotem Kopf nahm sie die Tasse Tee an sich und folgte Franco. Auf dem Rückweg zum Tresen kam sie an dem Mann im Anzug vorbei.

»Zahlen!«, bellte er, ohne sie anzusehen. Obwohl ihr sein Verhalten gänzlich gegen den Strich ging, nickte Calla nur. »Bin gleich bei Ihnen.«

Das Café war mittlerweile zum Bersten voll. Dennoch hörte die Türklingel nicht auf zu läuten und kündigte in regelmäßigen Abständen neue Gäste an. Nicht zum ersten Mal fragte Calla sich, wie so viele Menschen in den kleinen Raum passten. Franco musste dringend über eine Erweiterung nachdenken.

Als sich eine Gruppe junger Studenten an die Bar setzte und eine Großbestellung aufgab, hatte sie den Mann im Anzug schon wieder vergessen, bis er plötzlich durch den Raum donnerte: »Ich möchte endlich zahlen!«

Calla sackte das Herz in die Hose. Binnen Sekunden war sie bei ihm, entschuldigte sich und rechnete ab, Francos wütenden Blick in ihrem Rücken.

»Das ist meine wertvolle Zeit, mit der du hier spielst, Mädchen«, fauchte der Mann. »Wenn du deinen Job nicht auf die Reihe bekommst, solltest du darüber nachdenken, ob er nicht zu groß für dich ist.«

Calla verschlug es die Sprache. Und während sie in die dunklen Augen des Mannes blickte und ihr Puls zu rasen begann, geschah etwas mit seinen Augen. Sie veränderten sich. Aus dem dunklen Schwarz, das von Wut gezeichnet war, wurde langsam ein Grau.

Grau wie Stein.

Die Wut in ihnen war verflogen. Stattdessen stand in ihnen unverhohlene Sorge.

Dann geschahen auf einmal mehrere Dinge gleichzeitig. Ein Mann in einem der Ledersessel im Eck fragte ungehalten nach seiner Bestellung, und eine junge Frau mit einem kleinen Sohn auf dem Arm, der schon seit einer halben Stunde lauthals kreischte, rief nach der Rechnung.

Da verlor Calla die Beherrschung. »Ich bin ja gleich da!«, platzte sie wütend heraus.

Mit einem Mal war es still in dem Café. Alle Gäste starrten sie an. Auch Franco. Dann ertönte ein Knall.

Calla zuckte zusammen und schoss herum. Panische Schreie aus Richtung des Tresens. Dort hatten sich die Gäste verängstigt die Hände vors Gesicht gehalten.

Was war geschehen …?

Calla konnte die Ursache des Knalls nicht ausmachen. Dann aber sah sie, dass Wasser von dem Tresen auf den Boden tropfte. Und dort, zu Füßen der Gäste, lagen unzählige kleine, blaue Porzellanscherben.

Die Mosaikvase. Francos Lieblingsvase war in tausend Teile zersprungen.

2

WUT IM BAUCH

Durlingen war eine Kleinstadt wie aus dem Bilderbuch. Im Herzen lag der Marktplatz, ein kleiner Platz mit einem Brunnen in der Mitte, um den sich neben dem Franco’s eine Handvoll weiterer Restaurants und Geschäfte scharten. Zwei Straßen daneben stand das alte Rathaus, umgeben von einem kleinen Park, an den die örtliche Grundschule und das Gymnasium angrenzten. Entfernte man sich vom Zentrum, so kam man an einer Reihe gemütlicher Kneipen, einiger Einkaufsläden und dem Kino vorbei, bis man die Wohnsiedlung erreichte. Hier stand Reihenhaus an Reihenhaus, jedes mit einem kleinen Garten, einer Garage und einem bunten Blumenbeet vor der Haustür.

Wütend auf sich selbst stapfte Calla durch die gepflasterten Straßen. Je näher sie dem Rand von Durlingen kam, desto prächtiger wurden die Häuser. Als sie in die letzte Straße des Ortes einbog, konnte man sie nur noch als Villen bezeichnen. Ihres war das letzte in der Straße, doch zu übersehen war es kaum. Ein großer, zweistöckiger Bau, ganz in Weiß gehalten, mit viel Glas und einem flachen Dach, dazu ein perfekt gestutzter Rasen.

Calla schritt über den Kiesweg des kleinen Vorgartens, bis sie die Haustür erreichte. Ein wenig zu fest rammte sie den Schlüssel ins Schloss. Die Kamera, die neben der Klingel auf Wunsch Jennifers angebracht war und jeden Schritt eines Besuchers aufzeichnete, ignorierte sie geflissentlich. Was sollte in Durlingen schon geschehen?

»Bin zu Hause!«, rief Calla, trat in den breiten Flur und warf ihre Tasche unwirsch in die Ecke. Stille. Wahrscheinlich waren Karl und Jennifer noch am Arbeiten. Die beiden arbeiteten ununterbrochen, selbst am Wochenende bekam Calla sie kaum zu Gesicht.

Jennifer Peters war die Polizeichefin von Durlingen. Als Callas Eltern verunglückten, war sie höchstpersönlich gekommen, um sich des Vorfalls anzunehmen – denn in einer Kleinstadt wie Durlingen mit kaum 50.000 Einwohnern geschah nie etwas Gefährliches, und schon gar nicht starben Menschen. An diesem Abend war es anders gewesen.

Jennifer hatte geholfen, die kleine Calla aus dem zerstörten Wagen zu befreien. Sie hatte sie bei sich aufgenommen, sich um sie gekümmert, und sich dann der Suche nach Callas Vergangenheit angenommen. Als diese sich als leeres Blatt Papier erwies, hatte Jennifer zusammen mit ihrem Mann Karl, Staatsanwalt von Durlingen, das Sorgerecht für Calla beantragt. Seither hatten die beiden Calla jeden einzelnen Tag behandelt wie ihre eigene Tochter.

In der ausladenden Marmorküche, in der silberne Pfannen und Töpfe in der Mitte von der Decke hingen – alles Deko, Jennifer kochte nicht – schenkte sich Calla erst einmal ein Glas Wasser ein. Dumpfe Kopfschmerzen hatten sich bemerkbar gemacht. Kein Wunder, nach dem Tag. Kaum hatte sie ihr Glas geleert, hörte sie Geräusche aus dem Flur. Dann kam Karl durch die Tür. Ein großer Mann mit breitem Kreuz und grauem Haar – „George Clooney“-Look, wie er ihn nannte. Auch Karl war triefend nass, und seine Brille war so beschlagen, dass Calla sich fragte, ob er denn überhaupt noch etwas sah.

»Hi, Calla«, rief er aus, hob die Hand, und sie schlug ein. »Was ist los?«, fragte er sofort besorgt, als er ihre missmutige Miene sah.

»Franco hat mich gefeuert«, gab sie zähneknirschend zu.

Karl zuckte mit den Schultern. »Mach dir nichts draus. Früher oder später hättest du den Job ohnehin aufgeben müssen. Jetzt kannst du dich endlich ganz auf deine Matheprüfung konzentrieren.«

Callas Laune verbesserte sich nicht im Geringsten. Ganz im Gegenteil. In wenigen Monaten begann ihr Abitur, und wenn ihr etwas den Hals brechen würde, dann war es Mathematik. Und obwohl sie wusste, dass Karl recht hatte, sammelte sich Wut in ihrem Bauch.

Karl ging zum zweitürigen Kühlschrank, öffnete ihn und holte ein Päckchen mit der Beschriftung „Veganes Curry“ aus dem Gefrierfach. Neuerdings achtete er auf seine Ernährung, was sich darin zeigte, dass er sich nur noch von „gesunder“ Tiefkühlkost ernährte. Er öffnete eine der vielen Schranktüren, förderte eine echte Pfanne zutage, stellte sie auf den Herd und machte sich daran, den Inhalt des Päckchens hineinzugeben. Calla beobachtete ihn skeptisch.

»Mach doch nicht so ein Gesicht«, sagte Karl. »Ich weiß, du willst es nicht hören, aber das Abi ist deine Eintrittskarte zu den besten Unis. Und zum Abi gehört leider eben auch Wahrscheinlichkeitsrechnung.«

»Ich weiß, Karl«, gab sie gequält zurück. »Aber der Job hat mir Spaß gemacht. Es war eine schöne Abwechslung. Ich liebe das Café, und von Franco kann ich viel lernen.«

Karl zog die Augenbrauen hoch, während er mit einem Kochlöffel in der Pfanne rührte. Der Duft von Curry drang durch den Raum. »Ich will nicht, dass du wie Franco endest, Calla«, sagte er, und mit einem Mal lag Schärfe in seiner Stimme. »Franco mag ein cooler Typ sein, aber zu etwas im Leben gebracht hat er es nicht.«

Calla verschlug es für einen Moment die Sprache. »Wow«, fing sie an. »Findest du das nicht ein bisschen arrogant? Was, wenn ein eigenes Café das ist, wovon er immer geträumt hat? Was ihm wirklich Freude bereitet?«

»Dann freue ich mich für ihn. Dennoch, Calla.« Seine Stimme hatte mittlerweile einen Befehlston angenommen. In diesem Moment konnte sie ihn sich nur zu gut als grimmigen Staatsanwalt vorstellen. »Du kannst mehr aus dir machen.«

»Mehr aus mir machen? Was soll das überhaupt heißen?« Ihre Stimme wurde lauter. »Zählt denn nicht, was ich will? Was mir Spaß macht?«

»Natürlich tut es das.« Karl hob beschwichtigend die Hände. »Ich sage ja nur, dass du in den kommenden Wochen die richtigen Prioritäten für dein Leben setzen musst. Das Abi rückt näher, Calla. Nimm das nicht auf die leichte Schulter. Ich will doch nur das Beste für dich. Und glaube mir, du weißt noch nicht, was du wirklich willst – dafür bist du noch viel zu jung.«

Damit war das Gespräch für Karl beendet. Er schaufelte das vegane Curry auf einen Teller, schenkte sich ein Glas Wasser ein, nickte ihr noch einmal zu und begab sich dann durch den großen Türbogen in das angrenzende Wohnzimmer.

Calla lag mitsamt ihren Klamotten auf dem Bett und starrte missmutig an die Decke. Sie war müde und hatte definitiv genug für den Tag. Allerdings hatte sie Matt versprochen, mit ihm ins Kino zu gehen, in „Guardians of the Galaxy“.

Aus der Stereoanlage im Eck dröhnte Maroon 5, eine ihrer Lieblingsbands, und gedankenverloren summte Calla das Lied mit, das gerade lief. Die Lichterkette, die sie zusammen mit Jennifer vor einigen Monaten über dem weißen Kopfteil angebracht hatte, tauchte den großen Raum in ein gemütliches, schummriges Licht, und erhellte die vielen kleinen Polaroid-Fotos, die Calla auf die Wand neben dem Bett geklebt hatte. Die meisten davon zeigten sie und Matt: Fotos, die sie heimlich während des Matheunterrichts geschossen hatten, Fotos vom Schulhof in der Sonne, Fotos von Wochenenden im Franco’s.

Langsam erhob sie sich aus dem Meer an flauschigen Kissen und stieg in ihre Pantoffeln. Sie stöhnte. Ein Superheldenfilm war nicht unbedingt ihre erste Wahl gewesen.

Über die Ackerfelder, die sie durch die gegenüberliegende Fensterfront sehen konnte, legte sich bereits die Dämmerung. Calla öffnete den Kleiderschrank und warf dabei einen Blick in den Spiegel an der Tür, an dem noch immer Jennifers Worte „Love you“ in rotem Lippenstift prangten. Ihr eigenes Spiegelbild ließ sie innehalten.

Uff.

Sie sah aus wie ein Zombie. Ihre dunklen, schulterlangen Haare krausten sich in alle Richtungen. Eine Haarklammer hatte sich verirrt und hing ihr nun schief über der Stirn. Ihre Wimperntusche war verschmiert, und quer über ihr blasses Gesicht zeichnete sich die Naht des Kissens ab, auf dem sie gelegen hatte, wie eine Narbe.

Calla warf einen Blick auf die Uhr. Noch eine knappe halbe Stunde. Dann atmete sie einmal tief durch und begann, das Chaos in ihrem Gesicht in Ordnung zu bringen.

Der Weg von Callas Haus bis zum Kino dauerte gut zwanzig Minuten. Zwar fuhr ein Bus, doch sie hatte sich dazu entschieden, den Weg zu Fuß auf sich zu nehmen. Die Kapuze tief im Gesicht schlängelte sie sich durch die Seitengassen von Durlingen, darauf bedacht, so lange wie möglich überdacht zu laufen, um dem immerwährenden Regen zu entgehen.

Als die gelben Lichter des „Blue Lantern“ am Ende der Straße erschienen, wechselte sie die Straßenseite. Sie war vor nicht allzu langer Zeit mit einem Jungen ausgegangen, John, und in der Kneipe hatten ihre ersten Dates stattgefunden. Matt hatte ihn noch nie leiden können, und wie erwartet ging das Ganze nicht gut aus. Seither machte Calla einen großen Bogen um den Laden.

Nach ein paar weiteren Blocks kam endlich das Kino in Sicht. Die leuchtenden Werbeschilder, die die neuesten Filme anpriesen, waren in der Nacht nicht zu übersehen.

Calla warf einen Blick auf die Uhr, und ihr Herz machte einen Satz. Fünf vor acht! In zwanzig Minuten begann die Vorstellung. Matt wartete bestimmt schon nervös mit Popcorn und Cola vor dem Kinosaal.

Sie legte einen Zahn zu. Neben ihr rauschten Autos über die nasse Straße, doch Calla wurde nicht langsamer. Nach dem, was heute im Café geschehen war, konnte sie Matt jetzt nicht auch noch warten lassen.

Das Dröhnen einer Hupe ließ sie zusammenfahren und einen Blick über die Schulter werfen. Keine Sekunde später raste ein neonfarbener Sportwagen an ihr vorbei, viel schneller als erlaubt. Selbst durch ihre Kopfhörer hörte sie den Motor aufheulen, als er beschleunigte. Da fegte schon ein zweiter Wagen an ihr vorbei, dem ersten dicht auf den Fersen.

Innerlich verdrehte sie die Augen. Hier, gerade auf dieser Straße, wurden oft kurze Rennen gefahren – Söhnchen von reichen Eltern, die sich Daddys Porsche ausgeliehen hatten, um damit anzugeben.

Endlich konnte sie den Eingang des Kinos erkennen. „Filmpalast“ stand in leuchtenden Lettern über der Tür. Noch ein paar Schritte. Sie hechtete an einer Laterne vorbei, sowie an einem Baum, der am Straßenrand stand, und konnte schon den süßen Duft frisch gemachten Popcorns in der Abendluft riechen. Doch dann geschah es.

Ein lautes Bremsgeräusch hallte durch die Nacht. Calla konnte gerade noch den Kopf drehen und sah, wie ein Wagen auf der Straße ins Schlittern kam. Der neonfarbene Sportwagen. Er driftete ab und kam direkt auf sie zugerast. Mit voller Geschwindigkeit krachten die Räder über den Bordstein und hielten auf sie zu.

Nein, schoss es ihr durch den Kopf, als der Wagen näherkam. Gleichzeitig packte sie eine noch nie dagewesene Angst, und sie hob die Arme vors Gesicht, in dem naiven Glauben, es könnte sie schützen.

Scheinwerfer blendeten ihre Sicht. Menschen schrien. Dann ertönte ein ohrenbetäubender Knall, und die Welt stand still.

Alles, was Calla hörte, war ihr rasendes Herz. Es erschütterte ihre Brust wie der Bass in einem der viel zu lauten Clubs, die sie so hasste. Einige Sekunden lang rührte sie sich nicht, hielt die Augen geschlossen. Dann ließ sie endlich die Arme sinken und wagte einen Blick.

Der Wagen war keine zwei Meter von ihr entfernt stehen geblieben. Er sah anders aus, die einst schöne Front war seltsam deformiert. Eine Straßenlaterne steckte in der Mitte des Wagens, sie hatte die Stoßstange fast entzweit. Die Windschutzscheibe und die Fenster waren zerbrochen, überall auf der Straße lagen Glasscherben verstreut, ein Meer aus glitzernden Teilen, die das Licht der Reklameschilder reflektierten. Callas Blick fiel auf den Mann hinter dem Steuer. Kein Mann – ein Junge.

Er sah aus, als wäre er noch keine achtzehn. Sein jungenhaftes Gesicht lag seltsam verdreht auf dem Lenkrad, dunkles Blut strömte aus einer Wunde an seinem Kopf. Seine Augen waren weit aufgerissen, voller Angst. Leer starrten sie nach vorn, direkt in Callas Richtung.

Ohne Vorwarnung jagte ein Schmerz durch ihren Kopf. Ein unerträglicher, pulsierender Schmerz, der alles überdeckte, was sie in diesem Moment wahrnahm. Es fühlte sich an, als würde ein Schlagbohrer ihre Schädeldecke traktieren. Sie spürte, wie ihre Beine nachgaben, und sie hart mit den Knien auf dem Asphalt aufschlug.

»Calathea?«

Jemand rüttelte an ihrer Schulter, rief ihren Namen. Sie reagierte nicht. In ihrem Geist hatte sich das Bild des toten Jungen eingebrannt.

Sie hatte ein solches Bild schon einmal gesehen.

»Calathea!«

Eine energische Stimme ließ sie auffahren. Sie hob den Kopf, und blickte mitten in zwei steingraue Augen, die sie entsetzt anstarrten. Ein Mann.

»Wir müssen dich hier wegbringen, hörst du mich?«, sagte er. Calla spürte, wie sich eine Hand fest um ihren Oberarm schloss und sie auf die Füße zog. Sie ließ es geschehen, wobei sie den Unbekannten musterte, darauf bedacht, nicht zu dem Wagen mit dem toten Jungen zu sehen.

Der Mann war in einen dunklen Anorak gehüllt, einen Hut auf dem Kopf. Trotz der Kälte trug er keine Handschuhe, und Calla fiel auf, dass er unglaublich grazile Hände hatte, wie ein Klavierspieler. Eine davon umschloss einen Gehstock, an dessen Ende der Kopf eines Tieres prangte.

Da bemerkte sie, dass der Geruch nach Popcorn verschwunden war. An dessen Stelle war etwas getreten, dass Calla zuerst nicht einordnen konnte. Es roch frisch, doch anders. Es roch nach Gras. Nein, nach Moos. Nach nasser Erde und der Rinde von Baumstämmen. Es roch nach Wald. Calla sah auf, und ihr blieb die Luft weg.

Die Hauptstraße war verschwunden, und mit ihr das Kino und die anderen Gebäude. Auch der Sportwagen war wie vom Erdboden verschluckt. Stattdessen befand sich Calla auf einer Lichtung in einem Wald. Es war finster.

»Verstehst du? Er ist hinter dir her«, drängte der Mann, und der Griff um ihren Oberarm wurde fester. »Wir müssen dich in Sicherheit bringen.«

Calla verstand nichts mehr. Wie war sie in einen Wald gekommen? Sie war doch gerade noch vor dem Kino gewesen?

Nervös trat sie von einem Fuß auf den anderen und spürte, wie das Moos unter ihr nachgab. Durch die Stämme konnte sie in einiger Entfernung Lichter sehen, wohl eine Straße. Was war passiert?

»Calathea!«, versuchte es der Mann erneut, doch sie hörte nicht zu. Etwas anderes zog nun ihre Aufmerksamkeit auf sich.

Nicht weit von ihr befand sich ein Wagen. Kein Sportwagen, sondern ein kleiner Van. Die schwach leuchtenden Scheinwerfer waren in der Dunkelheit kaum zu übersehen. Wie in Trance bewegte sich Calla auf das Auto zu. Die Vorderseite war bis zur Hälfte eingedrückt. Alle Fenster waren zersplittert. Ein Rad fehlte, Calla sah es in einigem Abstand an einem kleinen Strauch hängen. Und der Wagen lag auf dem Dach.

»Sieh nicht hin«, knurrte der Mann.

In der Fahrerkabine konnte sie zwei Gestalten erkennen. Ein Mann und eine Frau. Die Frau lag mit dem Kopf auf der Schulter des Mannes, und es sah aus, als würden sie schlafen – wäre da nicht das Blut, das ihnen über die blassen Gesichter lief. Und obwohl Calla sich nicht erinnern konnte, wusste sie, wer die beiden waren.

Sie stieß einen Schrei aus und wich zurück. Von der plötzlichen Bewegung verlor sie das Gleichgewicht und stürzte. Da setzte erneut der allumfassende Schmerz in ihrem Kopf ein, und ihr wurde schwarz vor Augen.

»Calla?«

Plötzlich lag der Geruch von Popcorn wieder in der Luft, und sie blickte auf. Matts Rehaugen musterten sie besorgt.

»Calla, ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte er und hielt ihr die Hand hin. Völlig perplex ließ sie sich von ihm aufhelfen. Hinter ihm leuchteten die Werbeplakate der neuen Filme. Sie standen vor dem Kino.

»Was ist passiert?«, stammelte sie und sah sich um. Der Wald mitsamt dem Van war verschwunden. Und so war es auch der Mann.

»Der Wagen da.« Matts Stimme zitterte, während er sprach. »Er hätte dich fast erwischt. Doch dann hat er abrupt einen Schlenker nach rechts gemacht, und ist in die Laterne gerast. Ich hab’s gesehen, es sah echt wild aus. Dieser verdammte Regen«, fluchte er.

Matt legte Calla einen Arm um die Schultern und drückte sie fest. »Das war pures Glück, Calla«, murmelte er.

Calla wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie spähte über seine Schulter und warf einen Blick auf den demolierten Sportwagen, um den sich mittlerweile Polizei und Krankenwagen versammelt hatten. Blaulicht zuckte durch die Nacht, Helfer rasten umher, und hinter dem gelben Absperrband, das sie aufgezogen hatten, standen Schaulustige, die Fotos schossen.

»Ja«, flüsterte sie leise, und ein seltsames Gefühl machte sich in ihrem Magen breit. »Ich hatte wirklich pures Glück.«

3

AM SEE

Die Zufallsgröße X ist binomialverteilt mit den Parametern n und p=0,5. Sie hat den Erwartungswert μ=18. Bestimmen Sie den Wert von n und die Standardabweichung von X.”

Schon seit Stunden starrte Calla auf die Matheaufgabe in dem Buch vor ihrer Nase. Der Collegeblock mit den karierten Seiten war weiß wie Schnee, den Kuli hatte sie nur dazu verwendet, um auf ihm herumzukauen.

Ich hasse Mathe, dachte sie frustriert. Nicht nur Mathe, Statistik ganz besonders. Was war nochmal die Standardabweichung? Sie warf einen Blick auf ihren Spickzettel, auf den sie so viele Formeln geschrieben hatte, wie das Mathebuch wohl Wörter beinhaltete. Dann klopfte es an der Tür.

Jennifer steckte den Kopf herein. Ihre blonden Haare, die sie bis zum Kinn trug, waren ungekämmt, und unter ihren Augen lagen tiefe Ringe. Dennoch huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, als sie in Morgenmantel und Socken in Callas Zimmer schlüpfte, eine dampfende Tasse frischen Kaffee neben Calla stellte und sich dann auf das mit Kissen überfüllte Bett niederließ.

»Na, wie kommst du voran?«, fragte sie sanft. Als Matt Calla am Abend zuvor nach Hause gebracht hatte, war Jennifer nicht da gewesen. Natürlich nicht. Der Autounfall vor dem Durlinger Filmpalast hatte das Polizeipräsidium in helle Aufregung versetzt, weshalb Jennifer dringend gebraucht wurde. Calla hatte lediglich Karl vorgefunden, der mit einem Glas Scotch in dem alten Ledersessel im Eck des Wohnzimmers auf sie gewartet hatte, nachdem er vierundzwanzig Nachrichten auf ihrem Handy hinterlassen hatte. Als sie endlich, nach stundenlangen Gesprächen mit der Polizei, zu Hause erschienen war, war er aufgesprungen und hatte sie fest in die Arme geschlossen. Dann hatte er ihr etwas zu Essen gekocht und sie mit den Worten »Wen interessiert schon Mathe« ins Bett geschickt.

Am nächsten Morgen jedoch holte Calla die Realität wieder ein: in wenigen Monaten begann das Abitur. Und Mathe würde ihr, wenn sich nicht bald etwas änderte, das Genick brechen.

»Geht so«, schnaubte Calla, ließ den Stift fallen und streckte sich. »Ich komm bei der einen Aufgabe nicht weiter. Ich versteh einfach nicht, was die hier von mir wollen.«

»Der Ansatz ist immer das Schwierigste, das ist der Knackpunkt.« Jennifer griff sich eines der Flauschkissen. »So ist es mit allem im Leben. Aller Anfang ist schwer. Wenn du aber den ersten Schritt getan hast …«

»… dann ist alles andere nur noch ein Kinderspiel«, brachte Calla ihren Satz zu Ende und seufzte. »Ich weiß.«

Jennifer nickte. Anschließend trat ein weicher Ausdruck auf ihr Gesicht, den Calla selten zu Gesicht bekam. »Wenn du über gestern Abend reden möchtest, bin ich für dich da«, sagte sie leise. »Der Fahrer des Wagens hieß Arno Reus. Er war der Neffe des Bürgermeisters. Er hatte eins Komma acht Promille im Blut, war 32 Kilometer pro Stunde zu schnell und hat im Regen die Kontrolle über den Wagen verloren. Er ist noch am Unfallort gestorben.«

»Was du nicht sagst«, entgegnete Calla eine Spur zu scharf. Vor ihrem inneren Auge tauchte das Bild des toten Jungen auf.

»Menschen machen Fehler, Calla«, sagte Jennifer und erhob sich. »Manche davon sind die letzten, die sie tun.« Sie wollte schon das Zimmer verlassen, doch Calla hielt sie auf.

»Jenn?«

»Hm?«

»Gestern Abend … war da ein Mann mit Hut und Gehstock am Unfallort?«

Jennifer überlegte einen Moment. »Ich erinnere mich nicht, etwas in dem Unfallbericht gelesen zu haben«, sagte sie dann. »Soll ich noch einmal nachschauen?«

»Ja, bitte«, sagte Calla. »Er hat mir aufgeholfen und ich würde mich gerne bedanken.«