Camping-Inferno - H. K. Anger - E-Book
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Camping-Inferno E-Book

H. K. Anger

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Beschreibung

Ein brandgefährlicher Roadtrip entlang der Küste – inklusive Routeninfos zum Nachfahren. Statt in den wohlverdienten Urlaub zu fahren, muss sich Privatermittler Henrik Richtersen mit dem Nachlass seines Onkels herumschlagen. Da dessen Haus im Chaos versinkt, übernachtet Henrik auf dem örtlichen Campingplatz – wo plötzlich ein Wohnwagen in Flammen aufgeht. Als es wenig später auf weiteren Campingplätzen brennt und ein Mensch stirbt, weiß Henrik: Er muss handeln. Zusammen mit Freundin Kathrin Schäfer macht er das Oldtimer-Wohnmobil startklar, um dem Feuerteufel das Handwerk zu legen.

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Heike Kügler-Anger (oder H. K. Anger) verbrachte sämtliche Familienurlaube im elterlichen Wohnwagen und konnte während des Lehramtsstudiums auch ihren heutigen Ehemann für Campingreisen begeistern. Die reisefreie Zeit verbringt sie in ihrer Wahlheimat, dem hessischen Odenwald, wo sie Kochbücher und Krimis schreibt.

www.traumfaehrten.de

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2023 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, unter Verwendung der Motive von shutterstock.com/ivector, shutterstock.com/Andrii_Malysh

Lektorat: Dr. Marion Heister

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-072-3

Camping Krimi

Originalausgabe

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1

»Na, wie findest du ihn?« Henrik Richtersen strich über das Revers des nachtblauen Sakkos und drehte sich vor dem Spiegel, um einen Blick auf seinen Rücken zu werfen. »Der Anzug sitzt wie angegossen, nicht wahr?«

Der Beagle, der in seinem Korb im Schlafzimmer lag, ließ sich dazu herab, das rechte Auge halb zu öffnen, gab ein Grunzen von sich und setzte sein Nickerchen fort.

»Hey, ein bisschen mehr Begeisterung hätte ich von dir schon erwartet«, rügte Henrik den Hund. »Schließlich hast du mich, wenn ich mich recht erinnere, noch nie in so feinem Zwirn gesehen.« Henriks Berufs- und Freizeitbekleidung bestand aus verwaschenen Jeans, T-Shirts und Sneaker. In einen Anzug hatte er sich seit seiner Konfirmation nicht mehr gezwängt. Damals hatte er sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, eine Krawatte anzulegen. Heute zupfte er nachdenklich am Kragen des anthrazitfarbenen Hemdes. Wäre es an der Zeit, über den eigenen Schatten zu springen und sein neues Outfit stilecht zu komplementieren? Oder würde eine Fliege lässiger wirken? Zumal Henrik keine Ahnung hatte, wie man eine Krawatte band. Aber dafür würde er auf YouTube sicherlich eine Anleitung finden. Also gut, dachte er. Sobald er den Kastenwagen reisefertig gepackt hätte, würde er ins Hanseviertel fahren und das fehlende Accessoire kaufen. Wenn schon, denn schon. Für ihn stand viel auf dem Spiel. Es würde nicht nur darum gehen, in dem schicken Restaurant am Kaiserstuhl, wo er bereits für sich und seine Campingfreundin Kathrin Schäfer einen Tisch reserviert hatte, angemessen aufzutreten. Nein, es gab einen ganz besonderen Grund, warum er keine Kosten und Mühen gescheut hatte, sich in Schale zu werfen. Er hatte sich vorgenommen, Kathrin eine überaus wichtige Frage zu stellen, und wollte dabei nicht wie ein Dorftrampel rüberkommen. Schon jetzt fieberte er der Antwort entgegen, ihn plagten trotz seiner Vorbereitungen Zweifel.

»Kleider machen Leute«, murmelte er, um sich selbst Mut zuzusprechen, und straffte die in blaue Merinowolle gehüllten Schultern. In dem Augenblick klingelte sein Telefon. Nur widerwillig wandte er sich von seinem Spiegelbild ab und führte das Handy ans Ohr. Er hörte zuerst schweigend zu. Sein eben noch entspannter Gesichtsausdruck verdüsterte sich.

»Nein, das geht nicht«, sagte er schließlich mit Nachdruck in der Stimme. »Ich fahre übermorgen nach Süddeutschland, um mich dort mit einer Freundin zu treffen. Das haben wir schon vor Wochen vereinbart. Wir wollen es uns am Kaiserstuhl gut gehen lassen. Neuen Wein trinken und in vierzehn Tagen so viele Straußwirtschaften wie möglich abklappern. Mal zur Abwechslung die Füße hochlegen und nichts machen. Außer Urlaub, den habe ich mir verdient.«

Henriks Gesprächspartner schien mit seinen Plänen nicht einverstanden, redete unnachgiebig auf ihn ein. Nach ein paar Minuten gab er sich geschlagen.

»Wenn es unbedingt sein muss, Muttern, bin ich in einer halben Stunde bei euch.«

Mit Bedauern schlüpfte er aus dem Anzug und in eine an den Säumen ausgefranste Jeans. Das graue T-Shirt, das er im Anschluss über den Kopf zog, war verknittert, doch das kümmerte ihn nicht. Er wusste aus langjähriger Erfahrung, dass er seinen Eltern sowieso nichts recht machen konnte.

Eine halbe Stunde später parkte er seinen in die Jahre gekommenen Campervan im Schatten der am Straßenrand gepflanzten Ahornbäume und eilte die gepflasterte Einfahrt zu seinem Elternhaus hoch. Die 1905 erbaute Backsteinvilla mit den dunkelgrünen Fensterläden und einer imposanten Haustür in derselben Farbe lag nicht im begehrtesten und damit teuersten Viertel von Blankenese. Dennoch war sie, wie Henrik wusste, inzwischen ein Vermögen wert und eigentlich für seine Eltern im Alter zu groß. Aber weder er noch seine Schwester Maike, die vor Kurzem in Brisbane geheiratet hatte, verspürten den Wunsch, in den Schoß der Familie zurückzukehren. Henrik atmete einmal tief durch, um sich innerlich zu wappnen, und schickte sich an, den bronzenen Klingelknopf zu drücken. Seine Mutter hatte ihn schon bemerkt und öffnete die Tür. Ihr Gesicht war ernst.

»Lass uns in den Wintergarten gehen. Ich habe Tee aufgebrüht.«

»Wo ist Vattern?« Henrik folgte seiner Mutter durch den weitläufigen Flur hin zur Südseite des Hauses.

»Den habe ich mit einer guten Flasche Bordeauxwein zu Albert geschickt.«

»Zu seinem Schulfreund aus dem Treppenviertel?«

»Ja, genau der. Ich schätze, die beiden werden zusammen ein paar Runden Backgammon spielen und dabei die Zeit vergessen. Was mir recht wäre. Ich möchte nicht, dass dein Vater sich unnötig aufregt. Das würde seinem Bluthochdruck nicht guttun, in unserem Alter muss man vorsichtig sein.«

Henrik musterte seine Mutter verstohlen, während sie Tee in hauchdünne Porzellantassen goss und aus einem Kännchen einen Schuss Sahne hinzugab. Ihre Wangen waren rosig, die Augen klar, und die Frisur saß perfekt. Alle Handgriffe wirkten routiniert, er konnte kein Zittern oder Zaudern ausmachen. Nur um die Mundwinkel hatten sich Fältchen gebildet, die früher nicht dort gewesen waren.

»Was ist los? Warum sollte ich unbedingt kommen?« Henrik nahm seiner Mutter gegenüber Platz.

Sie nippte kurz an ihrem Tee und stellte die Tasse auf die Untertasse zurück. »Erinnerst du dich an Onkel Stefan?«

»Ja klar. Ich habe noch immer seine Karikatur, die er mir zum Abi geschenkt hat. Sie hängt bei mir im Schlafzimmer. Ich mag es, wie er mich als Winkeladvokat mit wehender Robe, Dollarzeichen in den Augen und dieser leicht verschlagenen Mimik porträtiert hat. Er wusste lange, bevor ich es mir selbst einzugestehen getraute, dass die Juristerei nichts für mich ist.«

»Du wärest ein sehr guter Jurist geworden«, erwiderte seine Mutter spitz.

Henrik verzichtete darauf, das leidige Familienstreitthema wieder aufzunehmen. »Was ist mit Onkel Stefan? Ich habe ihn bestimmt seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Nachdem er aufs Land gezogen ist, haben wir den Kontakt verloren.«

»Er ist tot«, sagte Enna Richtersen.

»Was?« Henrik war geschockt. »Aber er war doch gar nicht so alt, Mitte sechzig, oder?«

»Siebenundsechzig«, präzisierte seine Mutter. »Trotzdem kein Alter, um zu sterben.« Sie straffte die Schultern und reckte das Kinn, als wollte sie dem Schicksal signalisieren, dass es bloß nicht wagen sollte, bei ihr mit unlauteren Absichten anzuklopfen.

»War er krank? Er wirkte auf mich immer wie das blühende Leben, war voller Optimismus und stets gut gelaunt. Aber es ist lange her, dass wir uns das letzte Mal getroffen haben. Oder hatte er einen Unfall?«

»Das weiß ich nicht«, sagte Henriks Mutter. »Es ist ein bisschen seltsam: Gestern stand urplötzlich ein mir fremder Mann vor der Tür, behauptete, der Nachbar von Stefan zu sein. Er hat mir zwei Briefe in die Hand gedrückt, einen für mich und den zweiten für dich. Und dann war er auch schon wieder verschwunden.« Sie erhob sich, ging zur Anrichte, griff nach einem Briefumschlag aus Recyclingpapier und reichte ihn ihrem Sohn.

»Was hat er dir geschrieben?«, wollte Henrik wissen.

Seine Mutter setzte sich wieder. »Nicht viel. Nur, dass ihm unser Streit von vor ein paar Jahren leidtut und dass ich unbedingt dafür sorgen soll, dass du den an dich gerichteten Brief liest.«

Henrik schob den Daumen unter den Falz, öffnete den Umschlag und zog die Briefbögen hervor. Es waren, wie er schätzte, insgesamt zehn oder zwölf, zum Teil mit dem Computer, zum Teil von Hand geschrieben. Bevor er sich daranmachte, sie zu lesen, wandte er sich erneut an seine Mutter. »Ich wusste gar nicht, dass ihr Streit hattet.«

»Nun ja.« Seine Mutter war mit einem Mal sichtlich verlegen. »Wir haben es damals nicht an die große Glocke gehängt. Nachdem Stefan seinen Job als Versicherungskaufmann hingeschmissen hatte, um sich ganz seiner Kunst zu widmen, hatte er Geldsorgen. Wir haben ihm etwas geborgt, damit er über die Runden kommt. Er ist immerhin mein Cousin ersten Grades. War mein Cousin«, verbesserte sie sich.

»Hat er sich geweigert, euch das Geld zurückzuzahlen?«

»Nein, er hat von Anfang an beteuert, seine Schulden so schnell wie möglich begleichen zu wollen. Als er dann wieder flüssig war, gab es jedoch eine heftige Diskussion um die genaue Summe. Stefan meinte, wir hätten ihm deutlich weniger geliehen, als wir zurückforderten. Und dein Vater pochte darauf, dass er obendrein die Zinsen beglich. Du weißt ja, wie er ist.« Seine Mutter verzog die sorgfältig blassrosa geschminkten Lippen zu einer entschuldigenden Grimasse. »Zum Schluss ergab ein Wort das andere, bis wir an dem Punkt angelangt waren, an dem zwischen uns keine Kommunikation mehr möglich war. Dein Vater behauptet selbst heute noch, dass Stefan ein Schurke ist, dem man nicht trauen kann.«

»Nein, so war er nicht«, protestierte Henrik. »Aber habt ihr das Geld letztlich zurückbekommen?«

»Ja.« Seine Mutter nickte. »Samt der Zinsen. Stefan hatte es geschafft, sich in Kunstkreisen einen guten Ruf zu erarbeiten. Nach den ersten sehr mühsamen Jahren ging es stetig bergauf. Die Sommermonate verbrachte er meist auf Sylt, wo er sich vor Aufträgen kaum retten konnte. Das Finanzielle hatten wir also bald geregelt, doch unser freundschaftliches Verhältnis war für immer zerstört. Ich habe Stefan ebenfalls seit Jahren nicht mehr gesehen.«

»Und jetzt ist er tot. Ich kann es nicht fassen.« Henrik griff nach den Briefbögen und begann zu lesen. Seine Mutter ließ ihn schweigend gewähren. Ein paar Minuten später blickte er auf. »Hättest du wohl einen Schnaps für mich?«

»Einen Schnaps?« Henriks Mutter zog die grauen, schmalen Augenbrauen hoch. »Du trinkst doch kaum Hochprozentiges.«

»Das stimmt«, gab ihr Henrik recht. »Aber jetzt brauche ich was, um das alles hier zu verdauen.«

»Was hat er dir geschrieben? Was will er von dir?«

»Erst den Schnaps«, forderte Henrik.

Seine Mutter stand kopfschüttelnd auf und eilte in die Küche, aus der sie mit einer Flasche eisgekühltem Aquavit und zwei Schnapsgläschen zurückkam. Henrik kippte das erste Glas auf ex hinunter und schenkte nach.

»So schlimm?« Enna Richtersen klang alarmiert.

»Wie man’s nimmt«, antwortete Henrik. »Dem Brief ist eine notariell beglaubigte Kopie seines Testaments beigefügt. Darin hat mich Onkel Stefan zu seinem Erben bestimmt. Außerdem bittet er mich, im Falle seines Ablebens im Haus nach dem Rechten zu sehen. Was wohl bedeutet, dass ich seinen Hausstand auflösen soll. Und ich soll mich, wie er schreibt, ein bisschen bei ihm in der Gegend umschauen, mich für die Vergangenheit interessieren.«

»Für die Vergangenheit interessieren?« Henriks Mutter goss sich selbst vom Aquavit ein. »Was meint er damit?«

Henrik zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Dieser Teil des Briefes ist eher vage gehalten. Sein handschriftliches Geschreibsel ist an manchen Stellen nur schwer zu entziffern, klingt ein bisschen weinerlich, so als ob es ihm beim Schreiben nicht gut gegangen wäre. Ich kann mir, ehrlich gesagt, keinen rechten Reim darauf machen.«

»Und? Was gedenkst du jetzt zu tun?«

Henrik wandte seinen Blick zum Fenster und starrte stumm in den Garten, wo die Rosen seiner Mutter sogar Mitte September noch in voller Blüte standen. Er wurde von widersprüchlichen Gefühlen erfasst. Einerseits sehnte er sich nach dem wohlverdienten Urlaub, nach unbeschwerten Tagen mit Kathrin. Seit Monaten hatte er fast Tag und Nacht durchgearbeitet, fühlte sich ausgepowert und erschöpft. Sein Körper verlangte dringend nach einer Auszeit. Er dachte an seinen schicken neuen Anzug und an die Gelegenheit, bei der er ihn tragen wollte. Sollte er auf all das verzichten? Nur, weil ein entfernter Verwandter gestorben war, mit dem er seit Ewigkeiten nicht mehr gesprochen hatte? Nein, fahr hin zum Kaiserstuhl und iss so viel Flammkuchen und trink so viel Wein, wie du nur verdrücken kannst, sagte sein Herz. Stopp, protestierte sein Kopf. Du darfst dich nicht vor deinen Pflichten drücken, den letzten Willen deines Onkels nicht ignorieren. Das gehört sich nicht. Du musst dich kümmern, ob es dir nun passt oder nicht.

»Henrik?«, drängte seine Mutter.

Er schob das Schnapsglas zur Seite, um nicht der Versuchung zu erliegen, aus Frust und Enttäuschung einen weiteren Aquavit zu trinken. »Ich werde«, verkündete er und schaute nochmals auf den Brief, »in dieses Sandstedt an der Weser fahren und erledigen, was zu erledigen ist.«

»Bist du sicher?« Seine Mutter musterte ihn nachdenklich.

Henrik stand auf. »Ja. Ich muss vorab ein paar Kleinigkeiten abklären, aber ich werde mich spätestens morgen Nachmittag auf den Weg machen.«

»Die Angelegenheit bleibt fürs Erste unter uns?«, bat seine Mutter. »Ich möchte deinen Vater aus alldem heraushalten.«

»Von mir erfährt er nichts«, versprach Henrik, küsste seine Mutter zum Abschied auf die Wange und ging flotten Schrittes zurück zu seinem Kastenwagen. Dort hieb er mit der flachen Hand auf das Lenkrad ein. »So ein elender Schlamassel«, schimpfte er. Doch er wusste, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

2

»Fahr du mit deinem Wohnmobil schon mal voraus«, hatte er zu Kathrin Schäfer am Telefon gesagt. »Wir treffen uns spätestens nach dem Wochenende auf dem Kirschenhof am Kaiserstuhl. Ich werde das Notwendigste in die Wege leiten, und dann ziehen wir den Urlaub wie geplant durch. Die Organisation für die Beerdigung und das bisschen Bürokratie werde ich in drei, höchstens vier Tagen erledigt haben.«

Als Henrik das Ortseingangsschild von Sandstedt an der Unterweser passierte, war er guten Mutes, dass er sein Versprechen würde einhalten können. Langsam fuhr er die beinahe schnurgerade Hauptstraße entlang, schaute nach rechts und links und entdeckte norddeutsches Kleinstadtidyll: Häuserfassaden aus rotem Klinkerstein, das eine oder andere Reetdach, das sich optisch angenehm von den vorherrschenden Ziegeldächern abhob, eine Fahrschule, Dachdeckerei, Bäckerei und ein Metzger, ein paar Hinweisschilder auf Ferienwohnungen und eine Backsteinkirche mit einem seltsam verdrehten Turm. Hinter alldem erhob sich der mächtige Weserdeich. Er fragte sich, was auf der anderen Deichseite lag, doch sein Navigationssystem ließ ihn kurz vor dem Deichübergang rechts abbiegen. Weil ihm ein Pulk Radfahrer entgegenkam, verringerte er nochmals die Geschwindigkeit und tuckerte die Weserstraße im Schritttempo entlang. Jenseits des Deichfußes und vor dem Siel hatten sich schmucke Häuser angesiedelt, von denen einige, wie er vermutete, Ferienhäuser waren. Für einen Moment überfiel ihn Wehmut, weil er an seinen wohlverdienten Urlaub denken musste. Er riss sich zusammen und überlegte, wo sich das Haus seines Onkels befand, er hatte ihn ja nie dort besucht. Kurz nachdem er das rot-weiße, hoch über den Deich hinausragende Leuchtfeuer passiert hatte, dirigierte ihn sein Navi in eine schmale Schotterstraße, an deren Ende zwei Einfamilienhäuser standen. Der Garten des ersten erstrahlte sogar nach dem langen trockenen Sommer in sattem Grün, und der weiße Zaun, der das Grundstück einfasste, wirkte frisch gestrichen. Das Haus dahinter machte einen weniger gepflegten Eindruck: Brombeergestrüpp wucherte an den Grundstücksrändern, und die vereinzelt gepflanzten Sträucher und Stauden ließen ermattet die Blätter hängen, standen kurz vor dem Verdursten. In den Dachrinnen spross Moos, an den Fenstern blätterte die Farbe ab, und der Kamin wirkte auf Henrik ebenso schief und verdreht wie der örtliche Kirchturm. Mit dem Unterschied, dass sich der Turm in einem wesentlich besseren Allgemeinzustand befand. Henrik hoffte inständig, dass es sich beim ersten Haus um das seines Onkels handelte, doch die neben der Tür angebrachte Hausnummer nahm ihm die Illusion. Mit einem unguten Gefühl fuhr er ein paar Meter weiter, parkte seinen Kastenwagen am Straßenrand und stieg aus. Sein Beagle Leo war auf den Beifahrersitz gesprungen und blickte erwartungsvoll aus dem Fenster, das Henrik halb heruntergelassen hatte.

»Du bleibst im Auto. Ich muss erst schauen, wie ich an den Schlüssel komme.« In seinem Brief hatte der Onkel verabsäumt zu erwähnen, wie Henrik ins Haus gelangen sollte. Und er selbst hatte bei seinem überhasteten Aufbruch vergessen, sich darum zu kümmern. Er nahm an, dass er gleich wieder umdrehen und zurück nach Hagen im Bremischen fahren müsste, wo der Notar, bei dem sein Onkel das Testament hatte aufsetzen lassen, seine Kanzlei hatte. In dem Augenblick erschien ein Mann, der etwa im Alter seines Onkels sein musste, am weiß getünchten Gartenzaun.

»Moin. Kann ich Ihnen helfen?«

Henrik ging auf ihn zu. »Mein Name ist Richtersen. Ich bin der Neffe von Stefan Krüger.«

»Ich habe Sie schon erwartet.« Der Mann, der einen Stroh-Gärtnerhut auf dem Kopf trug und eine Rosenschere in der Hand hielt, nickte. »Ich war derjenige, der Ihre Mutter benachrichtigt hat. Der Stefan hatte mich darum gebeten, für den Fall der Fälle. Dass der nun so plötzlich eintritt, damit hatten wir beide nicht gerechnet. Ich bin fest davon ausgegangen, dass der Stefan mich überlebt. Wissen Sie, ich hab’s mit dem Herzen. Meine Pumpe zickt öfter mal ordentlich rum.«

»Das tut mir leid«, fühlte sich Henrik bemüßigt zu sagen.

Der Mann zuckte lakonisch mit den Schultern. »Nun, wie heißt es so schön: Hier kommt keiner lebend heraus. Früher oder später müssen wir alle abtreten und die Reise nach oben antreten.« Er wies mit dem Daumen zum Himmel. »Ist trotzdem ein Jammer, dass den Stefan so ohne Vorwarnung der Schlag getroffen hat. Er wird auch in unserer Doppelkopfrunde fehlen.«

»Mein Onkel hatte einen Schlaganfall? Das habe ich nicht gewusst.«

»Ja, das hat der Notarzt festgestellt. Aber um das zu erkennen, musste man kein Arzt sein. Der Stefan hatte das Gesicht so komisch verzogen und wurde von Krämpfen geschüttelt. Über Kopfschmerzen hat er geklagt und sich erbrochen. Kein schöner Anblick, sage ich Ihnen.«

»Sie haben ihn gefunden?«

»Ja, wir waren zum Kartenspielen verabredet, wollten zusammen nach Rechtenfleth in unsere Stammkneipe fahren. Donnerstagabends ist dort traditionell Herrenrunde, schon seit über dreißig Jahren. Erst essen wir Spiegeleier mit Bratkartoffeln, und dann spielen wir Doppelkopf. Ich habe hier am Zaun auf ihn gewartet. Da er nicht aus dem Haus kam, bin ich reingegangen und habe ihn auf dem Küchenboden liegend gefunden.«

»Sie haben einen Schlüssel?«, fragte Henrik hoffnungsvoll.

»Ja, obwohl Stefans Haustür eigentlich nie verschlossen war. Da konnte jeder kommen und gehen, wie es ihm behagte. Stefan hat gemeint, er hätte nichts zu verbergen, seine Tür stände allen offen. Früher hatte er häufig Besuch, doch in den letzten zwei, drei Jahren nicht mehr. Er hatte sich enorm verändert, das kam bei den meisten nicht gut an. Aber man soll ja nicht schlecht über die Toten reden. Daran werde ich mich als sein Freund und Nachbar halten.«

»Als Sie ihn gefunden haben, war er da noch ansprechbar?«

»Zum Teil. Er jammerte wegen der Kopfschmerzen und machte auf mich einen verwirrten Eindruck. Kurz bevor der Arzt kam, blieb ihm die Luft weg, sein Atem klang plötzlich rasselnd, das hörte sich echt gruselig an. Dann hat er sich ein letztes Mal aufgebäumt, ist in sich zusammengesackt, und das war’s. Der Arzt konnte nichts mehr ausrichten, außer den Totenschein auszustellen.« Der Mann schluckte schwer, schwieg einen Moment, bevor er sich räusperte und fragte: »Können Sie schon sagen, wann die Beerdigung sein wird?«

Henrik hob abwehrend die Hände. »Nein, dafür ist es zu früh. Ich muss mir zuerst einen Überblick verschaffen, schauen, was alles anliegt. Mein Onkel war ja nicht so der Familienmensch, wir haben lang nicht mehr miteinander gesprochen. Ich weiß, ehrlich gesagt, überhaupt nicht, was mich da drinnen erwartet.« Er wies mit dem Kinn auf das Haus.

Der Mann wirkte auf einmal verlegen. »Tja, da kommt eine Menge Arbeit auf Sie zu. Wie ich schon sagte, beim Stefan lief es in den letzten Jahren nicht mehr wie früher, er ist ein bisschen tüdelig geworden. Mag sein, dass es am Grünkohlschnaps lag, von dem er gern ein paar Pinnchen runtergekippt hat. Und das nicht nur mit Kohlwurst und in der Grünkohlsaison. In letzter Zeit stand bei ihm immer eine angebrochene Flasche im Kühlschrank.«

»War er Alkoholiker?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte der Mann. »Doch durch den Schnaps ist bei ihm mit Sicherheit das eine oder andere liegen geblieben.«

Henriks flaues Gefühl im Magen verstärkte sich. »Hatte er vielleicht eine Freundin oder Lebenspartnerin? Ich meine jemanden, der besser als ich dazu geeignet wäre, sich um den Nachlass zu kümmern? Ich kenne mich hier nicht aus, und wir waren uns nicht wirklich nahe.«

»Früher gab es mal eine Frau, die ihm viel bedeutet hatte. Aber die Beziehung ist wohl recht schnell in die Brüche gegangen, danach war er eher ein Einzelgänger. Nur mit den Jungs von unserer Doppelkopfrunde hat er sich stets prima verstanden. Auf die ließ er nichts kommen, und umgekehrt verhielt es sich ebenso.«

»Vielleicht möchte ja einer von denen ihm einen letzten Freundschaftsdienst erweisen und die Abwicklung übernehmen? Gemeinsam mit Ihnen, Sie waren doch ebenfalls sein Freund«, schlug Henrik vor und hatte gleichzeitig wenig Hoffnung, dass der Mann auf seinen Vorschlag eingehen würde.

Tatsächlich wiegelte er sofort ab: »Meine Aufgabe als Stefans Freund war es, Sie und Ihre Mutter zu informieren. Das habe ich getan. Der Rest geht mich nichts an, das ist eine interne Familienangelegenheit.«

»Also gut«, musste Henrik sich geschlagen geben. »Wenn Sie mir den Hausschlüssel überlassen, werde ich mich an die Arbeit machen.«

»Bin gleich zurück«, versprach der Mann und eilte trotz seines Herzleidens zügigen Schrittes auf die eigene Haustür zu.

Henrik musterte nochmals die heruntergekommene Behausung seines Onkels. Wie würde es drinnen wohl aussehen? Und wie lange würde es dauern, bis er endlich den langersehnten Urlaub antreten konnte? Er schickte ein stilles Stoßgebet zum Himmel, dass er die unliebsame Verpflichtung möglichst bald erledigt hätte.

Eine knappe Stunde später saß er in seinem Kastenwagen, hatte die Ellbogen auf dem Lenkrad abgestützt und den Kopf in den Händen vergraben.

»Ich fasse es nicht«, murmelte er, während ihn der Beagle mit der kalten, feuchten Nase anstupste. »Was für eine Sauerei! Wie kann ein normaler Mensch nur so leben? Das ist absolut widerlich!«

Der Beagle winselte leise. In dem Augenblick signalisierte ihm das Handy, dass ein Anruf einging. Wenn es Muttern ist, kann sie mich mal kreuzweise, dachte er trotzig. Doch die auf dem Display angezeigte Nummer war die seiner Campingfreundin Kathrin Schäfer. Sie hatten sich auf einem Campingplatz in Rotenburg an der Fulda kennengelernt, als sie beide, ohne es zu ahnen, auf der Suche nach demselben Mann waren: Kathrins verschollenem Ehemann Peter. Und obwohl die Angelegenheit für Kathrin tragisch ausgegangen war, hatten sie es nach ein paar Irrungen und Wirrungen geschafft, Freunde zu werden und zu bleiben. Ihre Verbundenheit reichte inzwischen so weit, dass Kathrin ihn oft auf seinen Ermittlungstouren begleitete und ihm mit Rat und Tat zur Seite stand. Sie besaß einen ausgezeichneten Instinkt, konnte tüchtig mit anpacken und hatte ein feines Gespür für zwischenmenschliche Schwingungen. Auch jetzt schien sie seine wachsende Verzweiflung selbst über die Entfernung hinweg wahrgenommen zu haben, denn ihre Stimme klang besorgt.

»Du hast dich den ganzen Tag nicht gemeldet. Ich wollte mal hören, wie es bei dir läuft. Bist du gut an der Unterweser angekommen?«

»Ich stehe gerade vor dem Haus meines Onkels und überlege, ob ich eine Bombe reinschmeiße. Oder ein paar Molotowcocktails, damit alles innerhalb von Sekunden in Flammen aufgeht«, gestand Henrik.

»Oje, so schlimm?«

»Schlimmer«, stöhnte Henrik. »In meiner Zeit als Privatermittler habe ich bis jetzt ja einiges gesehen, doch das hier ist echt der Gipfel der Abscheulichkeit. Du glaubst nicht, wie es im Haus aussieht.«

»Liegt dein toter Onkel etwa noch da drin?«, fragte Kathrin alarmiert.

»Nein, der ist längst im Beerdigungsinstitut, wo ich spätestens am Montag vorbeischauen muss. Ich sage dir, er hat verdammtes Glück, denn er hat inzwischen alles hinter sich. Im Gegensatz zu mir. Ich muss nun schauen, wie ich den ganzen Müll, den er angehäuft hat, weggeräumt bekomme.« Henriks Stimme klang verbittert.

»Willst du damit sagen, dass er so eine Art Messie war?«

»Er war der Obermessie.« Henrik zog eine angewiderte Grimasse. »Du kannst dir nicht vorstellen, was er alles in die Räume reingestopft hat. Vom Fußboden bis zur Decke stapeln sich alte Zeitungen, Zeitschriften und Bücher, Klamotten, Kisten, die vor Zeug nur so überquellen, und Müll. Ein Durcheinander sondergleichen. In manchen Zimmern ist kaum Platz, zwischen dem ganzen Kram durchzugehen. Nur in der Küche und im Schlafzimmer sieht es ein wenig besser aus. Da kann man sich halbwegs bewegen.«

»Und von alldem hast du nichts gewusst?«

»Nein, als ich ihn das letzte Mal in Hamburg getroffen habe, wirkte er auf mich völlig normal. Aber ich war ja nie zuvor hier, habe ihn nie in seinem Haus besucht.«

»Ach, der Arme«, sagte Kathrin mitfühlend. »Er muss sehr unglücklich gewesen sein. Leute wie dein Onkel versuchen oft, ihre innere Leere mit zwanghaftem Sammeln auszufüllen.«

»Wieso innere Leere?«, protestierte Henrik. »Er hatte doch ein tolles Leben, war ein angesehener Künstler, der sich seinen Lebenstraum erfüllt hat. Es gibt keinen Grund für dieses Chaos.«

»Irgendetwas Negatives muss ihm trotzdem widerfahren sein«, beharrte Kathrin. »Sonst hätte er nicht unter diesen Umständen gelebt. So was macht man doch nicht freiwillig.«

»Wie dem auch sei«, brummte Henrik. »Ich besorge gleich morgen einen Tatortreiniger. Das sind Fachleute, sie sind für solche Aufgaben geschult, können damit besser umgehen als ich. Sie sollen sich ihre Schutzkleidung überziehen und Tabula rasa machen.«

»Hast du eine Ahnung, was das kosten wird? Wie groß ist denn das Haus deines Onkels?«

»Höchstwahrscheinlich zu groß, als dass ich mir ihre Dienste leisten kann«, musste Henrik einräumen. »Mein Kastenwagen hatte vor Kurzem einen Getriebeschaden, und seitdem herrscht bei mir auf dem Konto Ebbe.«

»Vielleicht hat dein Onkel dir ja Geld vermacht, von dem du das Entrümpeln und Säubern bezahlen kannst.«

»Da muss ich beim Notar nachfragen. Aber wenn ich sehe, wie er gehaust hat – nein, mein Onkel hatte sicherlich nicht viel auf der hohen Kante. Ich habe keine Ahnung, was er durch den Verkauf seiner Bilder verdient und vor allem, was er im Laufe der Jahre damit gemacht hat. Ins Haus hat er die Kohle jedenfalls nicht gesteckt. Himmelherrgott, warum musste er ausgerechnet mich dazu bestimmen, den Dreck wegzuräumen, den er produziert hat?«

»Ich nehme an, er hatte dafür einen guten Grund. Du wirst womöglich beim Aufräumen darauf stoßen.«

»Worauf ich gut verzichten kann.«

»Was willst du denn jetzt machen?«

»Wenn ich’s nur wüsste«, stöhnte Henrik. »Ich bin fest davon ausgegangen, in zwei bis drei Tagen mit allem durch zu sein, doch das ist inzwischen frommes Wunschdenken. Ich werde Wochen brauchen, bis die Müllberge verschwunden sind und ich das Haus ordnungsgemäß dem Vermieter übergeben kann.«

»Er hatte das Haus gemietet? Es war nicht seins?«

»Ich hatte auch gedacht, er hätte es gekauft. Aber ich habe auf dem Küchentisch einen Brief vom Hausbesitzer gefunden, in dem er eine Mieterhöhung bekanntgibt.«

»Oje, dann stehst du zu allem Unglück noch unter Zeitdruck, du willst den Mietvertrag sicherlich so schnell wie möglich kündigen.«

»Ja. Außerdem weiß ich nicht, wo ich schlafen soll. Mein Plan war, für die paar Tage im Gästezimmer meines Onkels zu nächtigen. Doch das kann ich getrost vergessen.«

»Warte mal, ich hab eine Idee«, sagte Kathrin. »Du bist mit dem Kastenwagen dort, nicht wahr?«

»Klar, ein anderes Auto habe ich ja nicht.«

Kathrin schwieg eine Weile, dann rief sie erfreut: »Ha, ich liebe Apps. Du glaubst nicht, was sich direkt hinter dem Deich befindet.«

»Ein Schnellboot, mit dem ich abhauen kann?«, antwortete Henrik zynisch. »Oder ein schnuckliges kleines Hotel, das in Not geratenen Privatermittlern, die am Rande des Wahnsinns stehen, einen Sonderrabatt gewährt?«

»Quatsch. Da ist ein Campingplatz. Und der sieht auf Google Maps richtig nett aus, er liegt direkt am Wasser und hat viel Grün.«

»Viel Bier wäre mir momentan lieber«, konnte sich Henrik nicht verkneifen.

Kathrin lachte. »Auch da werden Sie geholfen. Ich scrolle gerade durch die Fotos vom Platz. Am Platzeingang steht so ein Vierundzwanzig-Stunden-Kioskautomat, wo man Lebensmittel und Getränke kaufen kann. Da bekommst du dein Bier.«

»Okay, auf dem Campingplatz stehe ich über Nacht sicher besser als hier auf dem Gehweg vor dem Haus. Ich werde versuchen, dort für ein paar Tage unterzukommen. Zum Glück ist schon Nebensaison.«

»Sieh zu, dass du zwei nebeneinanderliegende Plätze buchst.«

»Zwei nebeneinanderliegende Plätze? Wieso das?« Etwas in Kathrins Stimme ließ Henrik aufhorchen.

»Ich werde mich mit Töfftöff in spätestens einer Stunde auf den Weg machen. Du weißt doch, ich bin flexibel: Statt in den Süden, geht es halt in den Norden. Dort war ich seit einer Ewigkeit nicht. Wird Zeit, dass ich mir den frischen Wind um die Nase wehen lasse und dich nicht nur moralisch am Telefon unterstütze.«

»Bei dem Muff im Haus meines Onkels wirst du mehr als eine steife Brise brauchen, um die Nase wieder freizubekommen«, warnte Henrik.

»Also dann bis morgen Abend«, verabschiedete sich Kathrin. »Vorher werde ich es nicht schaffen, mein Oldtimer-Wohnmobil ist schließlich kein Porsche. Und ich werde unterwegs noch ein paar Grillwürste und Salat besorgen. Damit du nicht vom Fleisch fällst.«

»Danke«, sagte Henrik leise und beendete das Gespräch. Mit einem Mal war ihm wesentlich leichter ums Herz. Nur schade, dass er seinen schicken neuen Anzug nicht eingepackt hatte.

3

Henrik fuhr auf der Weserstraße zurück in Richtung Ortsmitte und erreichte bald den breit geteerten Deichübergang. Von der Deichkrone aus bot sich ihm ein phantastischer Blick über die Weser und auf den Seehafen Brake mit dem Niedersachsenkai, wo Frachtschiffe vor Anker lagen. Die orange-weiß lackierte Schnellfähre legte gerade am Fähranleger Sandstedt an. Das Schiff war wegen des Feierabendverkehrs voll besetzt, Lkws und Pkws setzten sich in Bewegung, fuhren über die sanft ansteigende Rampe hoch zur Bundesstraße. Henrik ließ den Kastenwagen im Standgas den Deich hinunterrollen und erreichte den gelben Radarturm und den Naturhafen, wo Sportboote am Steg vertäut waren. Die Wellen der auflaufenden Flut plätscherten leise gegen das Ufer und den kleinen Sandstrand. Auf dem lang gezogenen asphaltierten Gelände hinter dem Sielfleth standen mehrere Imbissbuden, von denen ihm ein verführerischer Duft nach geröstetem Fleisch und Backfisch in die Nase stieg. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er musste sich zusammenreißen, um nicht auf der Stelle anzuhalten und sich ein Wurstbrötchen auf die Faust zu gönnen. Auch der Beagle hatte das Grillgut erschnuppert und winselte vorwurfsvoll.

»Abendessen gibt es, wenn wir angekommen sind«, verkündete Henrik mit fester Stimme und drückte beherzt aufs Gaspedal, um nicht doch der Versuchung zu erliegen. Hinter dem Sportplatz mit dem frisch gemähten Fußballfeld entdeckte er den dem Campingplatz vorgelagerten separaten Wohnmobilstellplatz. Hätte er beabsichtigt, nur ein, zwei Nächte hier zu verbringen, wäre der Platz für ihn optimal gewesen. Da er jedoch davon ausging, dass sein Aufenthalt an der Weser länger als eigentlich geplant dauern würde, fuhr er weiter geradeaus, bis er die Bundesstraße erreichte. Am Parkplatz vor dem Fähranleger hielt er sich links und gelangte zum Eingang des Campingplatzes. Vor der Einlassschranke blieb er stehen und blickte sich um. Neben einem kleinen Containergebäude war eine hellblaue Harley aufgebockt, die, wie er einem Schild entnahm, stundenweise zu mieten war. Cool, dachte er. Er hatte schon seit Jahren nicht mehr auf einem Motorradsattel gesessen. Vielleicht würde er trotz des Stresses ja die Zeit finden, eine kleine Spritztour zu unternehmen. Mit Kathrin als Sozius. Der Gedanke brachte ihn zum Schmunzeln. Ein Mann in Jeans, dunkelblauem T-Shirt und mit einer Schirmkappe in derselben Farbe auf dem Kopf eilte zur Schranke, tippte einen Code ein und gab Henrik durch Winken zu verstehen, dass er passieren konnte.

»Moin«, sagte er, nachdem Henrik erneut angehalten hatte.

»Moin«, erwiderte Henrik den Gruß. »Haben Sie noch freie Plätze? Ich habe mir gedacht, ich schaue mal spontan bei Ihnen vorbei.«

»Kein Problem«, versicherte der Mann. »Nach Ende der Sommerferien wird es bei uns deutlich ruhiger. Sie können sogar einen Platz mit direktem Blick auf die Weser haben. Die meisten davon sind zwar von Dauercampern angemietet, aber ein paar sind extra für Kurzreisende wie Sie vorgesehen.«

»Gibt’s von den Plätzen am Wasser vielleicht zwei nebeneinanderliegende?«, erkundigte sich Henrik. »Eine Freundin von mir wird morgen hier mit dem Wohnmobil ankommen.«

»Sie haben Glück«, sagte der Mann. »Heute früh sind zwei Gäste gefahren. Sie können deren Stellplätze übernehmen.«

»Was ist mit Hunden?« Henrik wies auf den Beagle, der aufgeregt hechelnd aus dem Fenster schaute.

»Sind bei uns gern gesehen. Unsere Chefin hat selbst drei. Alle aus dem Tierschutz adoptiert, die Chefin hat ein großes Herz für Tiere in Not.«

Wie auf Kommando heulte der Beagle herzzerreißend auf. »Lass das, dir ist es in deinem Leben bis jetzt nicht einen einzigen Tag schlecht ergangen.« Henrik zog Leo mahnend am linken Schlappohr. Das Heulen verstärkte sich.

Der Platzwart grinste. »Begnadeter Schauspieler, Ihr Hund, oder?«

»In der Kategorie ›Mitleid einheimsen‹ hätte er glatt einen Oscar verdient«, antwortete Henrik. »Aber sein Protest ist zum Teil berechtigt, er hat heute viele Stunden im Auto verbracht, so langsam wird er ungeduldig. Was muss ich machen, um einzuchecken?«

»Kommen Sie kurz in den Container, da regeln wir die Formalitäten, und dann können Sie sich mit Ihrem Hund voll aufs Relaxen konzentrieren.«

Schön wär’s, dachte Henrik und beneidete alle, die sich den Luxus leisten konnten, hier einfach nur Urlaub zu machen. Scheiß-Familie, fluchte er innerlich, riss sich aber dann zusammen. Es wäre unfair, seine miese Laune am Platzwart auszulassen.

Eine halbe Stunde später starrte Henrik missmutig auf eine Dose Erbseneintopf, die er aus dem Küchenschrank gefischt hatte. Zwar hatte er vor der Abfahrt daran gedacht, seinen Bordproviant aufzufrischen, und der Kühlschrank war proppenvoll, doch er war zu erschöpft, um sich etwas Ordentliches zu kochen. Also blieb ihm nur fade Dosenkost. Mit einem Seufzen legte er den Dosenöffner zur Seite. Nein! Nach den Strapazen des heutigen Tages benötigte er eine kleine Aufmunterung, sozusagen eine kulinarische Wiedergutmachung. Dazu ein kühles Bier. Er schnappte sich die Hundeleine und steckte das Portemonnaie in die Gesäßtasche der Jeans. Der Beagle, der damit beschäftigt war, sein Abendessen zu verdauen, schaute ihn verdutzt an.

»Schluss mit Faulenzen, wir machen einen Spaziergang«, verkündete Henrik und öffnete die Schiebetür des Kastenwagens. Der Beagle sprang heraus und zog ihn von der Parzelle weg hin zum Strand. Dort saß ein Pärchen im Seniorenalter auf einer Bank, das freundlich grüßte. Zwei junge Mütter hatten ihre Buggys am grasbewachsenen Rand des Strandabschnittes abgestellt und bauten in der Nähe des neuen Unterfeuers mit ihren drei quietschvergnügten Kindern Sandburgen. Henrik lief weiter in Richtung Hafen, der feine weiße Sand knirschte unter seinen Schuhen. Nachdem sie das Clubhaus des Wassersportvereins passiert hatten, zog Leo heftig an der Leine, vermutlich, weil er am Geruch erkannt hatte, wohin der Weg führte. Henriks Magen schien es ebenso eilig zu haben, er gab gurgelnde Geräusche von sich. Er befestigte die Hundeleine an einem der hüfthohen Poller, die den Fußgängerbereich abgrenzten, und eilte auf die Imbissstände zu. Nur wenige Minuten später ließ er sich auf eine der auf dem Gelände aufgestellten Sitzbänke fallen und nahm den ersten Bissen von der Bratwurst. Beim Kauen gab er ein wohliges Stöhnen von sich. Die Wurst war genau das, was er jetzt brauchte! Aus den Augenwinkeln sah er, wie ein älteres Ehepaar auf die Bank zusteuerte. Kurz darauf nahmen sie mit etwas Abstand neben ihm Platz.

»Moin«, sagte der Ehemann zum Gruß.

Henrik nickte stumm, weil er den Mund voll hatte.

»Die sind so lecker, dass man davon fast nicht genug bekommen kann, nicht wahr?« Die Frau mit den grauen, dauergewellten Löckchen wies auf die zwei Würste, die neben einem großen Klecks Senf noch auf dem Pappteller lagen.

Henrik schluckte und antwortete ein wenig schuldbewusst: »Ja, die sind klasse, und an der Hafenkombüse gab es ein Sonderangebot. Ich möchte nicht gierig wirken, aber ich bin in aller Frühe aus Hamburg losgefahren und den ganzen Tag nicht zum Essen gekommen.«

»Ihr Hund wohl auch nicht«, sagte der Mann mit einem Schmunzeln. Der Beagle hatte die rechte Vorderpfote auf Henriks Knie gelegt und ließ die Würste nicht aus den Augen.

»Nein, das stimmt nicht«, widersprach Henrik. »Leo hat seine zwei Mahlzeiten bereits intus. Aber er ist chronisch verfressen.«

»Wir hatten früher auch immer Hunde«, sagte die Frau mit einem wehmütigen Lächeln. »Den letzten, unseren Fritzi, mussten wir vor vier Jahren in den Hundehimmel ziehen lassen. Seitdem fühlt es sich zu Hause und im Wohnwagen seltsam leer an. Doch mein Mann hat es mit der Hüfte und ich mit den Knien. Wir können einem Hund nicht mehr das bieten, was er braucht.«

»Das tut mir leid«, sagte Henrik.

»So ist das Leben, alles hat mal ein Ende«, meinte die Frau philosophisch. »Dem Himmel sei Dank, dass wir es nach wie vor schaffen, hierherzukommen, den Wohnwagen und unsere Parzelle in Schuss zu halten. Das ist seit vielen Jahren unser größtes Glück.«

»Ach, Sie stehen mit Ihrem Wohnwagen auch auf dem Campingplatz?«

»Ja, wir sind Dauercamper, seit 1975«, sagte der Mann mit Stolz in der Stimme.

»Inzwischen sind wir beide in Rente. Da halten wir uns von Anfang April bis Mitte Oktober so gut wie nie in unserer Wohnung in Jade auf. Wir sind lieber draußen auf dem Platz und am Wasser«, erklärte die Frau.

Henrik hielt Leo den Wurstzipfel vor die Nase, den er gierig verschlang. Er putzte sich die Hände an einer Papierserviette ab und nahm einen Schluck vom Flaschenbier, das er ebenfalls gekauft hatte. »Da kennen Sie sich in der Region bestimmt gut aus«, vermutete er. »Es ist ja Ihr zweites Zuhause.«

»Unsere Kinder sind auf dem Platz groß geworden und danach die Enkelkinder. Als wir noch jung waren, haben wir hier an den Wochenenden viel Spaß gehabt«, sagte die Frau mit einem Augenzwinkern. »Der Platz war ja lange Jahre fast nur von Dauercampern belegt. Da kannte jeder jeden, wir waren eine verschworene Gemeinschaft.«

»Was haben wir an den Wochenenden gefeiert«, erinnerte sich der Mann. »Bis Sonnenaufgang haben wir oft zusammengesessen.«

»Und getanzt haben wir«, sagte die Frau und deutete mit dem Oberkörper eine Schunkelbewegung an. »Vor allem, nachdem dieser amerikanische Film bei uns in die Kinos gekommen war. Da haben wir den Mambo einstudiert, wollten wie Jennifer Grey und Patrick Swayze sein.«

Henrik überlegte kurz. »Sprechen Sie von ›Dirty Dancing‹?«

»Ja, so hieß der Film«, stimmte die Frau zu. »Wir hatten hier auf dem Platz sogar eine Camperin, die der Grey ein bisschen ähnlich sah. Sie hatte dieselbe Figur und eine wuschelige Lockenfrisur. Obwohl sie deutlich älter war. Doch mit den Hüften schwingen und einen kessen Mambo hinlegen, das konnte sie perfekt, da war sie beinahe filmreif.«

»Aber sie ist nur einen Sommer bei uns geblieben«, warf ihr Mann ein. »Noch vor Saisonende hat sie ihren Wohnwagen plötzlich vom Platz gezogen und ist nicht wiedergekehrt. Warum, weiß niemand.«

»Ja, sie kommen und sie gehen«, sagte seine Frau mit einem Schulterzucken. »Das trifft auch auf die Platzbetreiber zu, da gab es öfter einen Wechsel. Beim letzten ging zum Schluss manches drunter und drüber. Aber der neue ist zum Glück anders, er hängt sich rein und hat große Pläne, wie man hört.«

»Er weiß, wovon er redet, er ist ja selbst Camper, kommt oft mit dem eigenen Wohnmobil hierher«, fügte ihr Mann hinzu. »Und er mag Rotwein, wir haben mal bis spät in die Nacht zusammengesessen, ein Fläschchen geleert und über Gott und die Welt philosophiert.«

Henrik nippte grüblerisch am Bier. Wenn alles wie geplant gelaufen wäre, würde er jetzt auf einem Stellplatz am Kaiserstuhl vor seinem Kastenwagen sitzen und sich ebenfalls ein Glas Wein genehmigen. Die Ruhe und das süße Nichtstun genießen. Doch das blieb ein Wunschtraum, stattdessen musste er sich morgen wieder in das Chaos stürzen, das sein Onkel hinterlassen hatte. Wie hatte er nur so leben können? Es war für Henrik unverständlich. Ob das ältere Ehepaar eine Antwort wusste? Sie waren schon so lang vor Ort, vielleicht war ihnen ja etwas zu Ohren gekommen.

Mit einem einnehmenden Lächeln wandte er sich an die Frau: »Sie haben eben erzählt, dass Sie seit Jahrzehnten die Sommermonate hier an der Weser verbringen. Da könnte ich mir vorstellen, dass Sie meinen Onkel gekannt haben. Meinen kürzlich verstorbenen Onkel«, präzisierte er nach einer kurzen Pause.

»Kann sein«, sagte die Frau. »Wie heißt denn Ihr Onkel?«

»Stefan Krüger.«

»Nein! Der Steff? Der Steff ist tot?«, rief der Mann aus. »Das tut mir aber leid. Das hatte ich noch nicht gehört.« Er war sichtlich erschüttert.

»Sie kannten ihn tatsächlich?«

»Klar kennen wir den Steff«, beeilte sich der Mann zu versichern. »Er hatte ja im Laufe der Jahre mehrere Ausstellungen in der Burg zu Hagen. Gleich nach der ersten war ich ein Fan von ihm. Ich mag seinen Humor und dass er über sich selbst lachen kann. Seine Karikaturen sind intelligent und fröhlich zugleich.«

»Die letzten aber nicht mehr«, widersprach seine Frau. »Die wirkten auf mich eher düster.«

»War der Steff krank? Wie ist es denn passiert?«, fragte der Mann.

»Das weiß ich leider nicht so genau«, bedauerte Henrik. »Wir hatten uns aus den Augen verloren. Sein Nachbar, der ihn gefunden hat, hat mir berichtet, dass er an einem Schlaganfall gestorben ist.«

»Wie schrecklich. Für den Steff und für Sie«, sagte die Frau mitfühlend.

»In letzter Zeit war es um den Steff ruhig geworden«, erinnerte sich der Mann. »Man munkelt, er hätte ein paar Scherereien.«

»Haben Sie eine Ahnung, um was für Schwierigkeiten es sich handelte?«, hakte Henrik sofort nach.

»Nein, so präzise funktioniert der Buschfunk hier leider nicht«, antwortete der Mann. »Vielleicht hatte er Stress mit jemandem. Oder er ist mit dem Alter nicht klargekommen. Der Steff war ja mal ein gut aussehender Kerl und hier in der Region ziemlich beliebt, besonders bei den Frauen. Er hatte so eine charmante Art, und seine Karikaturen waren wahnsinnig ausdrucksstark, er war ein Meister seines Faches. Doch wir werden alle nicht jünger, müssen mit den Veränderungen und den Gebrechen zurechtkommen, die das Alter mit sich bringt.« Der Mann zog die Mundwinkel nach unten, wirkte verbittert.

Die Frau kraulte dem Beagle nachdenklich das rechte Schlappohr. »Ich hatte immer den Eindruck, dass Ihr Onkel nicht wirklich glücklich war. Oder anders gesagt, dass das Leben ihm das Glück, nach dem er sich sehnte, beharrlich verweigerte. Er hatte so eine tragische Aura. Trotz seines Erfolges.«

Der Mann verdrehte die Augen zum Himmel. »Du und dein esoterisches Gedöns.«

»Ich spüre halt, was ich spüre«, konterte die Frau unbeirrt.

»Haben Sie mit meinem Onkel darüber gesprochen?«, fragte Henrik.

Die Frau hob abwehrend die Hände. »Oh nein, dafür standen wir einander nicht nahe genug. Ich kannte den Steff von den Ausstellungen, habe ihn beim Metzger oder Bäcker oder auch mal in unserer Lieblingskneipe in Rechtenfleth getroffen. Er mochte wie wir gebratene Stinte mit Kartoffelsalat so gern, beides bereiten sie dort frisch zu. Wir haben ab und an ein paar Worte miteinander gewechselt, dabei ist mir diese seltsame Traurigkeit aufgefallen. Es kam mir so vor, als ob ein schwarzer Schatten über ihm lag. Aber ich habe mich nie getraut, ihn danach zu fragen. Das war seine Privatsache.«

»Haben Sie eine Ahnung, was diesen schwarzen Schatten verursacht haben könnte?«, drängte Henrik.

»Nun ja, ich glaube …«, begann die Frau.

Der Mann, dem Henrik ansehen konnte, dass das Gespräch eine Wendung genommen hatte, die ihm nicht behagte, berührte kurz den Arm seiner Frau. »Es ist schon Viertel vor sieben, Heidrun. Wir sollten schauen, dass wir schleunigst zurück zum Wohnwagen kommen. Du möchtest sicherlich nicht die TV-Nachrichten im Zweiten verpassen, die sind dir doch immer wichtig.« Er kam ein wenig umständlich auf die Beine.

Seine Frau warf ihm einen irritierten Blick zu, widersprach aber nicht und stand ebenfalls auf. »Es war nett, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Werden Sie und Leo noch ein paar Tage bleiben?«

»Mindestens bis Montag«, antwortete Henrik. Wahrscheinlich sogar deutlich länger, fügte er im Stillen hinzu.

»Kommen Sie doch mal auf einen Kaffee oder ein Glas Wein bei uns auf der Parzelle vorbei«, sagte die Frau. »Für Leo habe ich sicherlich auch ein Stück Wurst im Kühlschrank.«

»Danke für das Angebot.« Henrik lächelte und schaute den beiden hinterher, wie sie mit trippelnden Schritten das Hafengelände verließen. Nachdenklich genehmigte er sich den letzten Schluck aus der Bierflasche. Er glaubte nicht an Auren oder an geheimnisvolle Ausstrahlungen, die nur bestimmte, vermeintlich in der Hinsicht besonders begabte Menschen deuten konnten. Sein Metier war es, präzise zu beobachten, Fakten zu sammeln und durch geschicktes Kombinieren und das Ziehen der richtigen Schlussfolgerungen die Wahrheit zu ermitteln. Was seinen Onkel betraf, da wusste er nichts über dessen Gefühlsleben, hatte keinen blassen Schimmer, was ihn geängstigt oder beglückt hatte. Es war ihm im Prinzip auch egal. Doch dem Zustand des Hauses nach zu urteilen, war es sonnenklar, dass irgendetwas im Leben seines Onkels nicht rundgelaufen war. Er fragte sich, ob er sich die Mühe machen sollte, herauszufinden, was es gewesen war.

»Vergiss es«, murmelte er. Er hatte schon genug damit zu tun, die Beerdigung zu organisieren und das Haus zu entrümpeln. Aber durfte er die Vergangenheit seines Onkels wirklich komplett ignorieren? Hatte sein Onkel nicht extra in seinem Brief darauf hingewiesen, dass er sich diesbezüglich kümmern sollte? Ein Gefühl, das Henrik liebend gern ignoriert hätte, machte sich neben den Bratwürsten und dem Bier in seinem Magen breit. Er stand abrupt auf und zog den überraschten Beagle hinter sich her.

»Zeit für einen flotten Deichspaziergang«, verkündete er. Die Bewegung würde ihn auf andere Gedanken bringen.

4

»Puh, ich kann nicht mehr«, stöhnte Kathrin Schäfer und fuhr sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. Ihre Hände steckten in Einmalhandschuhen. Sie war wie versprochen am Vorabend an der Weser angekommen und hatte es sich nicht nehmen lassen, gleich am nächsten Morgen mit anzupacken.

»Für Mitte September ist es außergewöhnlich warm«, stimmte Henrik zu. »Ich bin auch fix und foxi. Komm, wir machen für heute Schluss.«

»Ist das dein Ernst?« Kathrin schaute sich zweifelnd in der Küche um. »Viel haben wir bis jetzt nicht geschafft.« Wenn sie ehrlich zu sich war, konnte sie in dem Durcheinander, das sie umgab, kaum einen Unterschied zum Vormittag feststellen. Es gab noch so viel zu tun. Sie hatten Stunden damit verbracht, den gröbsten Müll in stabile Plastiksäcke zu stopfen und den Kühlschrank und die Tiefkühltruhe auszuräumen, in denen die Vorräte Schimmel angesetzt hatten. »Weißt du, ob es hier in der Nähe eine Mülldeponie gibt? Wir müssen das Zeug schleunigst entsorgen.«

»Keine Ahnung.« Henrik zuckte mit den Schultern. »Ich werde morgen den zuständigen Abfallverwerter anrufen und eine Mulde oder einen Bauschuttcontainer anfordern. Wahrscheinlich wird der Container ein paarmal geleert werden müssen, bis wir mit allem durch sind.«

»Wir sollten versuchen, private Abnehmer für die Möbel zu finden«, schlug Kathrin vor. »Die meisten sehen recht teuer aus und sind noch in gutem Zustand. Aber zuerst müssen wir den ganzen Kram ausräumen und gründlich durchputzen. Sonst traut sich hier niemand rein.«

Henrik stopfte einen leeren Pizzakarton, ein verflecktes T-Shirt und einen zusammengeknüllten Socken, der unangenehm nach Schweißfuß müffelte, in einen Abfallsack. »So, das war’s, mir reicht’s für heute. Ich halte das keine Minute länger aus.«

»Meinst du, wir könnten die Fenster über Nacht offen lassen? Dann verflüchtigt sich vielleicht etwas von dem üblen Geruch.«

»Von mir aus können wir die Haustür ausbauen«, antwortete Henrik sarkastisch. »Wer sollte hier schon einbrechen wollen?«

»Freiwillig bestimmt niemand«, musste Kathrin ihm recht geben. »Aber es könnte jemand auf dumme Gedanken kommen und Spaß daran finden, zu zündeln oder Randale zu machen.«

»Ach was, wir sind hier auf dem platten Land. Das sind alles friedliche Leute. Hat zumindest der Platzwart behauptet«, konterte Henrik.

»Und ausgerechnet du glaubst ihm das?« Kathrin zog spöttisch eine Augenbraue in die Höhe.

»Ich habe mir gestern die Kriminalstatistik der Region angesehen. Ist so eine Gewohnheit von mir«, gestand Henrik. »Das Straftatenaufkommen im Cuxland ist seit ein paar Jahren rückläufig.«

»Na denn.« Kathrin streifte die Handschuhe ab und warf sie mit Schwung in einen Müllsack. »Ich freue mich schon jetzt auf eine entspannende Dusche.«

»Ich auf ein kühles Bier.«

»Wollen wir zum Abendessen grillen?«

»Hast du einen Grill dabei? Ich habe so etwas nicht an Bord.«

»Ach herrje, so ein Mist«, fluchte Kathrin. »Jetzt weiß ich, was ich vergessen habe. An die Würste und die Steaks habe ich gedacht, aber der Grill steht noch bei mir im Keller.«

»Eine Pfanne wird es auch tun.«

»Sicher. Doch mir ist gestern Abend, als ich über den Platz geschlendert bin, diese hübsch angelegte Feuerstelle mitten auf der Zeltwiese aufgefallen. Sogar Brennholz liegt dort bereit. Da können wir unsere Würste grillen. Und vielleicht kommen wir dabei ja mit ein paar netten Leuten ins Gespräch. Ich kann ein bisschen Abwechslung von dem hier«, sie beschrieb mit der ausgestreckten Hand einen Halbkreis, »gut gebrauchen.«

»Also dann: Abmarsch!« Henrik setzte sich in Bewegung. Kathrin holte Leo, der den Tag in einem schattigen Teil des Gartens verschlafen hatte, zum Auto. Der Beagle schnüffelte kurz an Henriks Jeans und bekam einen Niesanfall. Kathrin lachte.

»Ich würde mal sagen, du bist ebenfalls reif für die Dusche.«

»Erst ein Bier und dann das Großreinemachen meiner Person. Heute Abend setze ich Prioritäten.«

»Prima, so habe ich mehr Zeit für mich«, meinte Kathrin pragmatisch und ließ sich mit einem Seufzen auf den Sitz des Kastenwagens fallen. Sie glaubte, jeden einzelnen Muskel zu spüren.

In ihrem Oldtimer-Wohnmobil, das sie liebevoll Töfftöff getauft hatte, schlüpfte sie in Shorts und T-Shirt, schnappte sich ein Badetuch und ihren Kulturbeutel und machte sich in Flipflops auf den Weg zu den Sanitäranlagen. Dort traf sie auf eine Mutter mit ihren beiden noch nicht schulpflichtigen Kindern, die soeben aus der Dusche gekommen waren. Die Mutter räumte hastig ein paar Kleidungsstücke und die nassen Duschtücher zur Seite, die sie auf dem lang gestreckten Waschtisch ausgebreitet hatte.

»Entschuldigung, dass wir uns hier so häuslich eingerichtet haben«, sagte sie mit einem schiefen Lächeln.

»Ist schon in Ordnung«, versicherte Kathrin. »Ich bin gleich in der Dusche verschwunden, da können Sie sich in Ruhe anziehen.« Sie hängte ihre Handtücher an einen der Haken in der Duschkabine und legte ihren Kulturbeutel auf die Ablage. »Ich muss eh noch kurz auf die Toilette.« Sie trat über die Schwelle des Duschgebäudes und stutzte. Obwohl vom Fluss her eine leichte Brise wehte, lag Brandgeruch in der Luft. Sie drehte sich zu der anderen Camperin um. »Riechen Sie das auch?«

Die Frau kam an ihre Seite und schnupperte. »Da lässt jemand seine Würstchen auf dem Grill verkohlen.«

»Ich glaube eher, da verschmort irgendetwas aus Kunststoff«, widersprach Kathrin mit einem Stirnrunzeln.

Die beiden nur mit Slips und T-Shirts bekleideten Kinder liefen auf die gegenüberliegende Seite des zum Schutz vor Hochwasser auf einem künstlich aufgeschütteten Hügel errichteten Sanitärkomplexes. »Schau mal, Mama, da ist Rauch«, rief das ältere Mädchen aufgeregt.

Die Mutter und Kathrin eilten zu ihr und blickten in die Richtung, in die das Mädchen zeigte.

»Oh mein Gott, da hinter der Hecke ist ein Feuer.« Kathrin merkte, wie ihr das Herz in die Hose rutschte. »Wenn da ein Wohnwagen oder ein Vorzelt brennt, kann das wegen der Gasflaschen übel ausgehen.«

»Ich hab mein Handy dabei, ich ruf die Feuerwehr«, sagte die Frau und spurtete zurück in den Duschbereich.

Kathrin rannte, so schnell es die Flipflops zuließen, auf den zum Himmel aufsteigenden Rauch zu und schrie: »Feuer! Feuer!«

Ein älterer Camper steckte neugierig den Kopf aus der Wohnwagentür. »Wo?«

»Da vorn hinter der Hecke, wo die hohe Kiefer steht.«

»Scheibenkleister.« Der Mann trat aus dem Wohnwagen, besann sich dann aber eines Besseren und kehrte um. »Ich hab einen Feuerlöscher.«

»Machen Sie schnell!«, drängte Kathrin. »Wenn sich das Feuer ausbreitet und die Gasflaschen explodieren, steht hier in Kürze alles in Flammen. Der Rasen ist knochentrocken, und der Wind treibt die Funken vor sich her.«

Der Mann mühte sich im Laufen ab, den Feuerlöscher zu entsichern. Inzwischen waren mehr Leute auf den Brand aufmerksam geworden und hatten sich um die Brandstelle versammelt. Zwei junge Männer hatten einen Gartenschlauch an der nächstgelegenen Wasserzapfstelle eingestöpselt und bespritzten mit dem Wasserstrahl die Flammen, die aus einem Vorzelt loderten. Andere Camper eilten mit Eimern heran, in denen Wasser schwappte. Der Mann aus dem Wohnwagen näherte sich dem Brandherd, drückte den Auslöseknopf des Feuerlöschers und richtete den Schlauch mit dem Pistolengriff auf das Feuer. Unter dem Löschstrahl erstarb ein Teil der Flammen, doch der Brand hatte bereits die linke Vorzeltwand und die Decke erreicht.

»Hat noch jemand einen Feuerlöscher?«, rief der Mann verzweifelt. »Meiner allein reicht nicht aus.«

In dem Moment sprang der Platzwart aus seinem Golfcart und richtete ebenfalls die Düse eines Feuerlöschers auf das brennende Vorzelt.

»Wo bleibt die Feuerwehr? Warum dauert das so lang?«, klagte eine Frau.

Kathrin spürte, wie sich eine Hand auf ihre Schulter legte und sie nach hinten zog.

»Geh zurück«, schrie Henrik und rannte selbst auf die Flammen zu. »Wem gehört der Wohnwagen? Wo sind die Gasflaschen untergebracht?«, rief er.

Niemand antwortete, der Besitzer war anscheinend nicht vor Ort. Henrik stürmte auf den Bug des alten Comtesse-Wohnwagens zu, wo sich der Flaschenkasten befand. Der Deckel war zum Glück nicht verschlossen, ließ sich mühelos öffnen. Kathrin sah, wie Henrik die erste der beiden grauen Elf-Kilogramm-Gasflaschen zudrehte, den Druckregler löste und die Flasche aus dem Kasten zog. Ein anderer Camper nahm sie ihm ab und brachte sie in Sicherheit. Henrik schaffte es, auch die zweite Flasche aus dem Gefahrenbereich zu entfernen.

Er blickte schwer atmend in die Runde. »Weiß jemand, ob sich im Vorzelt noch eine Gasflasche befindet?«

Eine grau gelockte Frau war an seine Seite getreten. In ihren Augen schimmerten Tränen, und ihre Hände zitterten so heftig, dass sie die Einkaufstasche aus Stoff, die sie umklammert hielt, fallen ließ. Nur mit sichtlicher Mühe brachte sie es fertig, zu antworten: »Nein, ich koche immer im Wohnwagen. Im Zelt sind nur ein Tisch und Stühle und unsere Campingliegen. Aber die sind wie das Zelt wohl nicht mehr zu retten.« Ihre Stimme erstarb.

Eine junge Frau drückte Henrik einen Feuerlöscher in die Hand. »Hier, machen Sie! Ich habe ihn noch nie benutzt, ich weiß nicht, wie er funktioniert.«

Henrik tat wie ihm geheißen. Mittlerweile hatten auch andere Camper Feuerlöscher aus ihren Fahrzeugen geholt und bekämpften damit die Flammen. Aus drei Schläuchen prasselte Wasser auf die Brandstelle. Nach fünf oder sechs Minuten, die Kathrin wie eine Ewigkeit vorkamen, war das Feuer gelöscht. Von hinter dem Deich konnte sie die Sirene eines sich nähernden Einsatzfahrzeuges vernehmen.

»Endlich, de Saanster Löschdüvels rücken an«, sagte eine Camperin, die neben Kathrin stand.

»Viel zu löschen gibt es ja nicht mehr«, bemerkte eine andere spitz.

Ein rotes Tanklöschfahrzeug näherte sich ihnen trotz der engen Zufahrt in hohem Tempo und stoppte dann abrupt. Zwei Männer und eine Frau in Einsatzkleidung sprangen heraus.

»Wir waren bis eben bei einem Grasbrand am Deich«, entschuldigte sich der Ortsbrandmeister.

»Unsere Camper haben großartige Arbeit geleistet«, sagte der Platzwart mit gerötetem, schweißnassem Gesicht. »Wir konnten das Feuer selbst löschen.«

»Wir schauen trotzdem besser nach, ob noch Glutnester vorhanden sind«, sagte der Brandmeister, und die Löschtruppe setzte sich in Bewegung.

Kathrin drehte sich um und sah, dass Henrik die Besitzerin des Wohnwagens in die Arme geschlossen hatte und ihr beruhigend über den Rücken streichelte. Die Schultern der alten Dame bebten. Kathrin ging auf die beiden zu.

Henrik hob den Kopf und fragte in die Menge: »Könnte jemand bitte einen Stuhl für Frau Söller bringen?«

Die Nachbarcamper schleppten in kürzester Zeit gleich mehrere Campingstühle an, auf denen Henrik und die alte Dame Platz nahmen. Eine Frau beugte sich zu Frau Söller hinunter und reichte ihr ein Glas Wasser. Henrik nickte.

»Trinken Sie, das wird Ihnen guttun.«

Das Wasser schwappte über den Rand, doch Frau Söller schaffte es, ein paar kleine Schlucke zu nehmen, und stellte das Glas auf dem Boden ab. Henrik griff nach ihrer Hand, die trotz der Wärme eiskalt war, und rieb sie zwischen seinen Fingern.

»Ich muss Sie das jetzt fragen, Frau Söller, weil ich mir Sorgen mache. Ihr Mann war nicht mehr im Wohnwagen, oder?« Er sah, wie die Feuerwehr das verkohlte Zelt und das rußgeschwärzte Gestänge vom Wohnwagen wegzog und zum asphaltierten Weg schleppte.

Frau Söller brauchte eine ganze Weile, bis sie antworten konnte. »Der Hermann«, sagte sie schließlich mit belegter Stimme, »der Hermann ist mit seinem neuen E-Bike zum Indiekkanal gefahren. Er wollte angeln, weil er meinte, dass die Fische heute gut beißen. Wir haben uns auf leckeren Bratfisch zum Abendessen gefreut. Und jetzt«, sie wandte das Gesicht zum Wohnwagen, »ist alles kaputt.« Sie schluchzte auf.

»Der Wohnwagen ist ja größtenteils unversehrt«, versuchte Henrik, sie zu trösten. »Die paar Brandspuren lassen sich sicherlich mit einem Reinigungsmittel und einem Schwamm entfernen. Im schlimmsten Fall muss die Vorderseite neu lackiert werden.«

»Wir haben den Wohnwagen seit so vielen Jahren. Und nun das.« Frau Söller war untröstlich.

»Wir helfen dir, alles wiederherzurichten, Heidrun.« Eine Camperin, die etwas jünger als Frau Söller war, zog einen Stuhl für sich heran. »Wir schmeißen das verkohlte Zelt auf den Müll und besorgen euch neue Sitzmöbel und einen Tisch. Damit ihr bei schönem Wetter draußen sitzen könnt.«

»Haben Sie eine Hausratsversicherung?«, erkundigte sich Henrik.

»Ich glaube, ja.« Frau Söller nickte. »Um so etwas kümmert sich der Hermann.«

»Das Zelt lässt sich leicht ersetzen«, unternahm die jüngere Camperin einen weiteren Anlauf, Frau Söller aufzuheitern. »Jetzt im September, zum Ende der Hochsaison, gibt es immer günstige Sonderangebote, weil die Ware vor dem Winter aus den Lagern muss. Du wirst sehen, ihr habt ruck, zuck ein neues Vorzelt.«

»Wäre ich bloß nicht zum Kiosk gegangen«, jammerte Frau Söller mit gesenktem Kopf. »Wir hatten keine Eier mehr. Und die Butter war mir auch ausgegangen. Und die brauche ich doch zum Braten – ich meine, falls der Hermann Fische mitbringt. Und dann habe ich auf dem Rückweg die Dörte getroffen, und wir haben ein bisschen geredet. Ihr Mann, der Karl-Heinz, hatte vor Kurzem eine Herz-OP, bei der sie ihm ein paar Stents eingesetzt haben. Ich wollte wissen, wie er es überstanden hat, wie es ihm jetzt geht. Wir sind ins Plaudern gekommen, und da habe ich die Zeit vergessen. Aber wie hätte ich auch ahnen sollen, dass es ausgerechnet bei uns zu brennen anfängt?«

Henrik rang mit sich, ob er die Frage, die ihm auf der Zunge lag, stellen sollte oder nicht. Er wollte die nette alte Dame, die er vorgestern am Hafen kennengelernt hatte, nicht unnötig aufregen oder gar demütigen. Aber er konnte nicht anders, er musste die Wahrheit erfahren.

»Frau Söller«, sagte er ernst. »Als Sie zum Kioskautomaten aufgebrochen sind: Hatten Sie da im Vorzelt irgendetwas in Betrieb, das das Feuer verursacht haben könnte? Eine elektrische Herdplatte oder einen Wasserkocher? Oder hatten Sie eine Kerze angezündet?«

Frau Söllers Kopf ruckte hoch, und auf ihren blassen Wangen erschienen zwei rote Flecken. »Natürlich nicht. Für wie dumm halten Sie mich?«, empörte sie sich.

»Ich halte Sie überhaupt nicht für dumm«, versicherte Henrik. »Es ist uns allen doch schon mal passiert, dass wir in Eile waren und wir dadurch etwas vergessen oder übersehen haben.«

Frau Söller straffte die Schultern. »Wie ich eben schon sagte, koche ich ausschließlich im Wohnwagen. Da ist ja auch der Wasserhahn mit direktem Wasseranschluss.«

»Okay.« Henrik nickte.

»So einen neumodischen elektrischen Wasserkocher besitze ich nicht. Ich habe einen Flötenkessel, den ich auf den Gasherd stelle. Und«, sie blickte Henrik nun direkt an, »warum sollte ich am helllichten Tage eine Kerze anzünden?«

»Ich dachte an eine Duftkerze, die die Mücken vertreibt«, erwiderte Henrik lahm.

»Gegen Mücken hilft ein ordentliches Mückenspray. Nicht so ein Kokolores wie Kerzen oder diese Dinger, die man in die Steckdose stöpselt«, entrüstete sich Frau Söller.

»Dann gab es bei Ihnen im Vorzelt also nichts, das sich hätte selbst entzünden können?«

»Nein, nichts.«

»Haben Sie einen Kühlschrank dort stehen?«

»Der ist im Wohnwagen.«

»Wie steht es mit einem Heizlüfter? Wenn es draußen mal frisch ist?«

»Brauchen wir nicht, da nutzen wir die Heizung im Wohnwagen.«

»Aber Sie haben doch sicherlich einen Fernseher und ein Radio.«

»Nicht im Vorzelt. Der Fernseher steht auf der Anrichte neben der Eingangstür und das Radio vorne auf der Ablage vom Bett.«

»Benutzen Sie eine Mikrowelle?«

»Kommt mir nicht ins Haus«, sagte Frau Söller mit Nachdruck.

»Wo befindet sich denn die Kaffeemaschine?«

Frau Söller wirkte zunehmend verärgert. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus, junger Mann?«

»Ich will herausfinden, was das Feuer ausgelöst hat.«

»Also meine Unachtsamkeit war es mit Sicherheit nicht. Ich lasse mir nichts in die Schuhe schieben.«

»Die Heidrun und der Hermann sind immer supervorsichtig«, mischte sich die jüngere Camperin in das Gespräch ein. »Die haben nicht nur einen, sondern gleich zwei gefüllte Wassereimer neben dem Holzkohlegrill oder der Feuerschale stehen, wenn sie sie benutzen.«

»Wir haben jahrzehntelange Campingerfahrung«, betonte Frau Söller. »Wir wissen um die verschiedenen Gefahren und verhalten uns dementsprechend. Wir sind nicht wie diese Grünschnäbel, die seit der Corona-Pandemie unterwegs sind. Ich meine solche, die ihre Fünfzig-Meter-Kabeltrommel unter dem Fahrzeug liegen lassen, ohne das Elektrokabel komplett abzurollen. Oder solche, die draußen normale Mehrfachstecker wie in der Wohnung verwenden.«

»Ich glaube Ihnen, Frau Söller«, beeilte sich Henrik zu versichern. »Es spricht vieles dafür, dass es irgendwo im Zelt zu einem Kurzschluss gekommen ist. Der zu einem Schmorbrand geführt hat, durch den sich die Zeltplanen entzündet haben. So etwas passiert leider immer wieder, da ist man im Prinzip machtlos.«