Herbst in der Bretagne - H. K. Anger - E-Book + Hörbuch

Herbst in der Bretagne E-Book und Hörbuch

H. K. Anger

5,0

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  • E-Book-Herausgeber: GMEINER
    Hörbuch-Herausgeber: SAGA Egmont
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2023
Beschreibung

In Sophies Bistroküche im bretonischen Erquy tut sich was: Sie entdeckt die Liebe zu essbaren Algen und zu einem Meeresbiologen, der zu dem Thema forscht. Doch die Idylle währt nicht lange, denn Sophie findet eine junge Fischerin tot auf deren Boot. Musste sie sterben, weil sie sich für Umweltbelange einsetzte? Oder war es eine Beziehungstat? Als ein gewaltiger Herbststurm auf die Côtes-d’Armor trifft, erkennt Sophie, dass Leidenschaft auch eine dunkle Seite haben kann. Wem kann sie noch trauen?

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Seitenzahl: 445

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Zeit:10 Std. 1 min

Sprecher:Jutta Seifert

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Tessa003

Man kann sich nicht von der Lektüre losreißen

Der zweite Roman um Sophie Vidal und ihr Bistro in der Bretagne. Dieses Mal geht es um Algen, nicht nur die Algenplage an den Stränden sondern auch in der Küche als Algengerichte. Sophie und ihre Freunde ermitteln im Fall einer toten Fiycherin. Mir gefallen die Charaktere sehr gut, es ist ein Buch für einen Nachmittag im Garten oder auf dem Sofa. Eine schöne Geschichte zum Abtauchen in die Bretagne
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H. K. Anger

Herbst in der Bretagne

Kriminalroman

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Christine Braun

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Thomas Bormans / unsplash

ISBN 978-3-8392-7574-0

1. Kapitel

»Du bist aber früh dran. Ich habe noch gar nicht mit dir gerechnet.« Sophie eilte auf Filip Rosec zu, ihre rechte Hand und stellvertretender Küchenchef des kleinen, gemütlichen Bistros, und nahm ihm eine der drei großen braunen Papiertüten ab. Darin befanden sich jeweils zehn perfekt gebräunte Baguettes. Sophie konnte nicht widerstehen und steckte die Nase kurz in eine der Tüten. »Mmh, wie das duftet. Herrlich! So knackig und aromatisch bekommen das nur die LeGalls hin. Sie sind wahre Künstler in der Backstube.«

»Sie backen das beste Brot in der Bretagne«, stimmte Filip zu.

»Was verschafft mir das Vergnügen, dich Stunden vor deinem offiziellen Schichtbeginn zu sehen? Mauserst du dich etwa zu einem frühen Vogel?«

»Mais non. Mich hat ein Bagger aus dem Bett geschmissen«, beklagte sich Filip. »An der Kreuzung vor meiner Wohnung haben sie die Straßendecke aufgerissen und ein großes Loch gebuddelt. Wahrscheinlich sind ein paar Leitungen marode, wir hatten in den letzten Wochen öfter Probleme mit dem Strom. Die Arbeiter haben gemeint, das kann länger dauern.«

»Prima! Dann kann ich also davon ausgehen, dass du in den kommenden Tagen immer so zeitig hier auftauchen wirst?«, fragte Sophie mit einem verschmitzten Lächeln.

»Nein, ich besorge mir heute nach Feierabend Ohrstöpsel.«

»Die helfen gegen Baggerlärm nicht.«

»Die LeGalls haben übrigens eine neue Angestellte im Verkaufsraum«, wechselte Filip abrupt das Thema und legte die Tüten auf der Arbeitsplatte ab.

»Ach?« Sophie schaute ihn interessiert an. »Und? Hat sie das Potenzial, Ronans Herzschmerz zu lindern? Seitdem Mikaela die Konditorausbildung in Douarnenez begonnen hat, läuft er ständig mit geknickten Ohren herum. Ist nur ein Schatten seiner selbst. Und sein legendärer Appetit ist auch nicht mehr das, was er mal war.« Sophie verspürte echtes Mitleid mit dem jungen Polizisten, der sich so sehr in die Bäckerstochter verliebt hatte, dass er sogar eine Beförderung und eine damit einhergehende Versetzung nach Saint-Brieuc abgelehnt hatte.

»Tja, la maladie d’amour kann heftiger als eine Grippe sein. Dagegen ist auch unser kluger Doktor Jean-Luc Bonnet machtlos.« Filip schlüpfte aus der Jacke und hängte sie an die Garderobe neben der Tür. »Wo steckt der eigentlich? Normalerweise steht er auf der Matte, sobald du die Küche aufschließt. Ich habe ihn gestern schon vermisst. Da hat er hier weder seinen Morgenkaffee getrunken noch etwas gegessen.«

»Hat er nicht gesagt, dass er Besuch bekommt? Aus Paris?«

»Damenbesuch?«

»Keine Ahnung.« Sophie klemmte die Hände in die Gesäßtaschen ihrer Jeans, um der Versuchung zu widerstehen, die Spitze eines der Baguettes abzubrechen und in den Mund zu stecken. »Aber sag schon: Wie ist sie denn so, diese neue Verkäuferin?«

»Eh bien, sie ist halt nicht Mikaela. Sie ist deutlich kleiner und nicht so üppig bestückt.«

»Bestückt?« Sophie zog fragend eine Augenbraue in die Höhe.

Filip führte die Hände mit gespreizten Fingern vor den Brustkorb und machte eine halbkreisförmige Bewegung. »Ich würde mal sagen, sie ist eher ein Schmaltier.«

»Ich glaube nicht, dass Ronan nur an Äußerlichkeiten interessiert ist«, wandte Sophie ein. »Bis auf die eine Situation, die ihr fast zum Verhängnis geworden ist, hat sich Mikaela immer als ein blitzgescheites Mädchen erwiesen. Ich vermisse sie hier im Bistro, und unseren Gästen fehlt sie auch.«

»Mir ebenso.« Filip nickte. »Doch ich kann ihre Entscheidung nachvollziehen.«

»Der Schrecken, nur knapp einer Vergewaltigung oder Schlimmerem entkommen zu sein, sitzt ihr bestimmt noch in den Knochen. Da ist es gut, dass sie für eine Weile alles hinter sich lässt und sich in einer fremden Umgebung mit neuen Herausforderungen ablenkt. Ich bin mir sicher, dass sie eine Spitzenkonditorin wird. Und wer weiß, vielleicht kommt sie nach der Ausbildung zurück nach Erquy, um die Bäckerei ihrer Eltern zu übernehmen.«

»Ich fürchte, bis dahin ist Ronan vor Liebeskummer verhungert.«

»Ach was, ich lass mir was einfallen, ich werde ihn schon aufpäppeln.« Sophie blieb zuversichtlich. »Er ist doch mein bester Testesser. Apropos.« Sie wies mit der Hand auf zwei Schüsselchen. »Möchtest du probieren? Meine beiden neuesten Kreationen.«

»Was ist das Grüne?« Filip wirkte misstrauisch. »Eine Art Kräuterbutter? Und das andere ist was mit Kürbis, oder?«

»Richtig. Das Orangefarbene ist Kürbishummus mit Dulseflocken. Und in der Butter steckt nicht nur Petersilie, sondern ganz viel Meeressalat.«

»Meeressalat?« Filip zog eine Grimasse. »Willst du etwa sagen, dass du an den Strand gegangen bist und das grüne Algenzeug aufgeklaubt hast? Mais non, damit kannst du mir gestohlen bleiben, das bekomme ich nicht runter. Jamais.« Er machte einen Schritt rückwärts.

Sophie lachte. »Feigling.«

»Ich bin doch nicht lebensmüde!«

»Bei uns in Deutschland gibt es ein Sprichwort: Was der Bauer nicht kennt, isst er nicht.«

»Kluger Bauer.«

»Nein, im Gegenteil, er ist ein Dummkopf«, widersprach Sophie. »Denn er weiß nicht, was ihm entgeht. Glaub mir, die beiden Tartinades sind total lecker. Und als Brotaufstriche zum Apéro oder als Vorspeise eine echte Geschmackssensation.« Sie holte ein Baguette aus der Tüte, schnitt ein paar Scheiben davon ab und verteilte üppig vom Belag darauf. »Vas-y, koste mal!«

Filip zögerte einen Augenblick, dann griff er mit spitzen Fingern nach einer der Brotscheiben, die mit Kürbishummus bestrichen war. Er biss ein winziges Stück ab, kaute und schluckte. Sein Gesichtsausdruck hellte sich auf. »Mais oui, du hast recht, das schmeckt vraiment très bien.«

»Sag ich doch.« Sophie stemmte triumphierend die Hände in die Hüften. »Den Kürbishummus werden wir als Vorspeise auf Blinis servieren. Oder besser als Dip zu hausgemachten Buchweizenchips?« Sie runzelte nachdenklich die Stirn.

»Von mir aus beides«, murmelte Filip und langte nach einer weiteren Baguettescheibe, auf der Sophie Algenbutter verteilt hatte. Er führte sie kurz zur Nase. »Riecht kaum nach Meer. Ich habe gedacht, dieses Algengedöns würde stinken wie vergammelter Fisch.«

»Ich gebe doch keine ungenießbaren Zutaten in beste Biobutter«, empörte sich Sophie. »Der Algenmix, den ich verwendet habe, besteht aus Dulse-, Nori- und Meeressalatflocken. Die werden in etwas Weißwein aufgekocht und abgekühlt mit frischer Petersilie unter die Butter gerührt. Recht einfach in der Zubereitung, aber sehr schmackhaft.«

»Hast du die Algen selbst gesammelt und getrocknet?«

»Glaubst du allen Ernstes, dass ich dafür Zeit habe?«

»Nein«, musste Filip eingestehen.

»Ich habe dir doch vor ein paar Wochen von dieser Algenfischerin erzählt, die ich auf dem Wochenmarkt kennengelernt habe.«

»Kann sein.« Filip war anzusehen, dass er keinen blassen Schimmer hatte, wovon Sophie sprach.

»Sie fährt allein mit ihrem Boot raus, um Algen zu ernten, und hat jetzt auf ihrem Betriebsgelände im Hafen von Dahouët einen kleinen Shop eröffnet. Samstags teilt sie sich mit einer Frau, die Honig und Cidre verkauft, einen Stand auf dem Marché, hinten bei der Markthalle.«

»Und von der hast du die Algen für die Aufstriche gekauft?«

»Ja, aber das ist noch nicht alles.« In Sophies Augen hatte sich ein Funkeln breitgemacht. »Wir wollen eine Kooperation eingehen. Denn wir glauben beide, dass maritime Algen das Superfood der Zukunft sind. Sie sind bio, schnell nachwachsend, nachhaltig, gesund und in der Küche extrem vielseitig einsetzbar.«

Filip ließ die Brotscheibe sinken, bevor er hineinbiss. »Willst du im Bistro aufhören?«

»Mais non«, beruhigte ihn Sophie. »Das eine schließt das andere ja nicht aus. Aenor wird sich um die Ernte und die Verarbeitung der Algen kümmern, diesbezüglich fehlen mir die Kenntnisse. Ich werde die Rezepte für Algenaufstriche beisteuern. Die produzieren wir dann für den Verkauf in größeren Mengen und füllen sie in Gläser oder Dosen ab. Das ist für uns beide eine Win-win-Situation. Außerdem ist mir Aenor sympathisch. Ich bin übrigens«, Sophie schaute auf die im Herd integrierte digitale Zeitanzeige, »in zwei Stunden mit ihr verabredet. Wir wollen die Aufstriche gemeinsam verkosten und die Etiketten entwerfen.«

»Das heißt, du bist dann weg und kommst heute nicht mehr ins Bistro?«

»Heute ist Dienstag. Da habe ich seit Ende August immer ab elf frei«, rief ihm Sophie ins Gedächtnis. »Aber keine Sorge. Ich habe das meiste für das Mittagsmenü vorbereitet, es steht alles im Kühlschrank. Und Madame Rozar wird dich unterstützen, wir haben uns gestern Abend abgesprochen.«

»Ich arbeite lieber mit dir«, maulte Filip. »Mit dir und Mikaela.«

»Du wirst dich wie wir alle an die neuen Gegebenheiten gewöhnen müssen.«

Filip stöhnte theatralisch auf. »Auch wenn ich mich jetzt wie Ronan anhöre: Ich hasse Veränderungen.«

»Veränderungen sind das Salz des Lebens«, behauptete Sophie und griff nach einer Baguettescheibe. »Komm, du machst uns jetzt einen schönen Café au Lait«, sagte sie kauend, »und wir gehen alles durch, was anfallen könnte. Viel wird im Bistro heute eh nicht los sein, das schaffst du locker ohne mich.«

»Ich kann das Lachen von Madame Rozar nicht ausstehen, das hört sich für mich wie Ziegenmeckern an. Und diese komischen Gesundheitsschuhe, die sie an den Füßen trägt, quietschen beim Gehen.« Filip sah geknickt aus.

»Seit wann bist du so eine Mimose?« Sophie schüttelte verärgert den Kopf. »Madame Rozar ist freundlich, zuverlässig und kommt gut mit den Gästen klar. Außerdem kann sie sich auch am Herd und in der Küche nützlich machen. Was willst du denn mehr? Du weißt, wie schwer es heutzutage ist, Personal für die Gastronomie zu bekommen.«

Filip band sich eine Schürze um, nahm ein Stück Fleisch aus dem Kühlschrank, legte es auf ein Holzbrett und drosch mit dem Fleischklopfer darauf ein.

»Lass das arme Steak leben«, meinte Sophie spöttisch.

»Woher das Mitleid?« Filip hielt kurz inne. »Ich dachte, du magst kein Fleisch.«

»Stimmt. Aber ich mag auch nicht, wenn man ein hilfloses Lebensmittel zu Mus schlägt«, konterte Sophie und nahm ihm den Klopfer aus der Hand. »Los, nun mach uns endlich einen Kaffee!«

2. Kapitel

Meistens fuhr Sophie, wenn sie zum Hafen von Dahouët wollte, auf kleinen, sich an die Küste schmiegenden Straßen entlang und genoss dabei den spektakulären Ausblick auf die sichelförmigen Buchten der Strände von Caroual und Saint-Pabu. Heute hatte ihr die Tank-App jedoch angezeigt, dass der Diesel beim Supermarkt in Pléneuf-Val-André am günstigsten war, sodass sie den Weg über die Bundesstraße D 786 wählte. Sie schaltete das Radio ein und trällerte mit mehr Begeisterung als Können die Hits auf ihrem Lieblingssender Radio Nostalgie mit. Nach dem Tanken sah sie beim Blumengeschäft vor dem Supermarkt einen Strauß Gerbera, die dieselbe Farbe wie ihr Kürbishummus hatten. Aus einem Impuls heraus kaufte sie die Blumen für Aenor, die sich gewiss darüber freuen würde.

Gut gelaunt setzte Sophie ihren Weg fort. Nach wenigen Minuten erreichte sie den kleinen See, der vom aufgestauten Wasser des Flüsschens Flora gespeist wurde. Im Sommer konnte man hier am Miniaturhafen bunte Elektrobötchen mieten und über den See schippern, was ein Heidenspaß für Groß und Klein war. Heute lagen alle Boote vor Anker, nur ein paar Möwen dümpelten auf der Wasseroberfläche. Sophie überquerte die Brücke am Stauwehr und folgte der Rue des Salines, die am Jachthafen entlangführte. Hinter dem Jachtclub hielt sie sich links, bis sie den Kai erreichte, wo sich Aenors Geschäftsräume befanden.

Sophie stellte ihr Auto am Kaiende ab, griff nach den Gerbera und den Kunststoffdöschen mit den Aufstrichen und stieg aus. Zu ihrer Verwunderung fand sie die Tür des Ladengeschäfts mit Sicht auf die Flora und den gegenüberliegenden Quai des Terre Neuvas verschlossen vor. Da sie die Hände nicht frei hatte, pochte sie mit dem Ellenbogen gegen die Glastür, doch niemand öffnete ihr. Sie wandte sich vom Shopeingang ab und lief hinüber zur Lagerhalle im Hinterhof.

»Aenor?«, rief sie durch die offen stehende zweiflügelige Tür. Da sie keine Antwort erhielt, trat sie ein und betätigte den Lichtschalter. Als die an der Decke montierten LED-Röhren den Raum erhellten, sah sie, dass auf den lang gezogenen Tischen aus Edelstahl dunkelbraune Kunststoffkörbe standen. Die Algen darin waren schon leicht verwelkt und rochen streng. Komisch, dachte Sophie. Aenor war eigentlich stets darauf bedacht, ihre Ernte direkt nach dem Anlanden im Hafen zu verarbeiten. Die Wakame-Algen und die Meeresspaghetti in den Körben waren zum Verzehr sicherlich nicht mehr geeignet.

Sophie legte den Blumenstrauß und die Döschen mit den Aufstrichen auf einem der Tische ab und eilte zur Tür, die zu dem Raum führte, in dem die Tröge zum Waschen der Algen, die Abtropfsiebe, die Trockenöfen, die Zerkleinerungsmaschinen und weitere zur Verarbeitung benötigte Gerätschaften standen. Sie drückte die Türklinke hinunter, aber die Tür war ebenfalls verriegelt.

»Aenor? Wo bist du denn?«, rief sie noch mal. Ihre Stimme klang hohl und inzwischen auch besorgt. Das gibt es doch nicht, dachte sie. Hatte Aenor ihren Termin vergessen? Oder war ihr etwas Wichtigeres dazwischengekommen? Warum hatte sie dann nicht abgesagt? Sophie zog ihr Handy aus der Jackentasche und wählte Aenors Nummer. Das Freizeichen erklang ein paarmal, und eine Computerstimme verkündete, dass der Teilnehmer derzeit nicht erreichbar sei.

»So langsam finde ich das nicht mehr lustig«, murmelte Sophie. Mit einem Schulterzucken sammelte sie die Blumen und die Dosen wieder ein und stiefelte zurück zum Auto. Ihre gute Laune war verpufft. Da kam ihr eine Idee: Vielleicht hatte Aenor Probleme mit ihrem Boot und hatte sich deshalb verspätet. Die junge Algenfischerin hatte sich schon öfters darüber beklagt, dass der Motor zu Aussetzern neigte. Auch das Getriebe hake ab und an. War Aenor etwa noch draußen in der Bucht? Oder an der Anlegestelle, wo sie versuchte, ein defektes Ausrüstungsteil zu reparieren?

Sophie kniff die Augen zusammen, um besser zu sehen. Am gegenüberliegenden Kai lag die La Pauline vor Anker, eine historische Schaluppe mit roten Segeln, auf der Ausflugsfahrten für Touristen angeboten wurden. Aenors kleines, dunkelgrün gestrichenes Boot mit dem typischen flachen Boden war etwa 30 Meter davor festgemacht. Sophie konnte auf dem Deck niemanden erkennen, sie vermutete, dass sich Aenor in der Kajüte oder im Maschinenraum aufhielt.

Sie stieg in ihr Auto, ließ den Motor an und fuhr zurück in Richtung Wehr, hinter dem sie diesmal nach links abbog. Anders als im Sommer wirkten die Parkplätze jetzt, Ende September, entlang des Quai des Terre Neuvas so gut wie verwaist. Heute fand kein Markt statt, und nur wenige Touristen waren unterwegs. Außerdem hatte Nieselregen eingesetzt, der nicht zum Draußenflanieren einlud. Sophie bugsierte den Kombi ihrer Chefin Dafne Riwal, den sie während deren Aufenthalt in Kalifornien benutzen durfte, in eine Parklücke und eilte zu der Stelle, wo die Korrigan, Aenors Boot, vor Anker lag. Die Flut hatte Wasser ins Hafenbecken gespült, sodass die Decks der dort vertäuten Boote sich auf gleicher Höhe mit der Asphaltdecke des Kais befanden. Sophie suchte das Boot mit den Augen ab, doch von Aenor fehlte jede Spur.

»Mist«, fluchte sie leise. Der Tag verlief überhaupt nicht so, wie sie es sich vorgestellt hatte. Aenors Vorschlag, gemeinsam eine kleine Produktion von Algenspezialitäten ins Leben zu rufen, hatte ihr viel bedeutet. Sie liebte zwar das Bistro und die Bistroküche und war dankbar, dass Dafne ihr in einer Situation, in der für sie in Deutschland alles den Bach runtergegangen war, mit dem Angebot, das Bistro zu leiten, eine Zukunftsperspektive geboten hatte. Doch sie verspürte ebenso den Wunsch, nebenbei etwas Eigenes auf die Beine zu stellen. Auch wenn es nur ein paar Gläschen Tartinade aux algues, eingelegte Meeresbohnen oder Gewürzmischungen waren, die auf dem Etikett ihren Namen trugen. Im Geheimen spielte sie mit dem Gedanken, ein Kochbuch zu dem Thema zu schreiben. Aber ohne Aenor, die die Hauptzutaten und einen Produktionsraum für Sophies kulinarische Kreationen beitrug, wären ihre Pläne hinfällig.

»Aenor?«, versuchte sie es ein weiteres Mal. Wieder vergeblich.

»Ich habe sie heute auch noch nicht gesehen«, sagte eine männliche Stimme hinter ihr.

Sophie drehte sich um und erblickte einen alten Mann mit marineblauer Schiffermütze, einer Caban-Jacke in derselben Farbe und einer dunklen Baumwollhose, die um seine mageren Beine schlotterte.

»Wir waren verabredet«, sagte Sophie. »Bei ihr im Laden. Weil sie dort nicht war, bin ich zum Hafen gekommen.«

»Hier ist sie auch nicht«, stellte der Mann fest.

»Nein. Dann werde ich mich wohl wieder auf den Rückweg machen.« Sophie trat von der Kaikante zurück.

»Ist schon komisch«, sagte der Mann. »Die Ladung, die sie an Bord hat, sollte eigentlich gar nicht mehr hier sein.«

»Wie meinen Sie das?«

»Die Algen da«, er wies mit dem Finger auf das Deck, »das sind Grünalgen, Ulva armoricana.«

»Die sind aber an vielen Stellen nicht grün«, widersprach Sophie. »Eher bräunlich.«

»Sie haben die Farbe verändert, weil sie verrotten. Haben Sie den Geruch nicht bemerkt?«

Sophie schritt wieder näher an das Boot heran, beugte sich vor und schnupperte. »Uh, Sie haben recht. Es riecht nach faulen Eiern.«

»Das ist der Schwefelwasserstoff, der entweicht.«

»Sie kennen sich aus?« Sophie musterte den alten Mann. Sein Gesicht war gebräunt und ledrig, als ob es ständig Wind und Wetter ausgesetzt gewesen wäre. Mit der rechten Hand stützte er sich auf den Knauf eines Gehstocks. Die Hand war zwar von Altersflecken übersät, doch sie wirkte kräftig. Seine Schultern waren etwas gebeugt, die braunen Augen jedoch hellwach.

»Sehen Sie da hinten den Kutter mit der blauen Kajüte und der roten Relingumrandung?«

»Oui.«

»Das ist die Noz Deiz, mein ehemaliges Boot.«

»Nacht und Tag. Ein schöner Name.«

»Eh bien, es ist nicht nur ein Name, für mich war es die Realität. Ich habe über 40 Jahre lang oft mehr als 24 Stunden auf meinem Kutter verbracht. Wenn die Fangzonen weit draußen lagen, war ich manchmal drei, vier Tage am Stück unterwegs. Und dabei hatte ich es nicht nur mit Fischen, Muscheln und Hummern, sondern auch mit Algen zu tun. Den guten wie den schlechten. Vor allem die Grünalgen haben sich in letzter Zeit in den Buchten zu einer wahren Plage entwickelt.«

»Inwiefern?«

»Es werden ständig mehr. Inzwischen müssen sie an einigen Stränden fast täglich mit Traktoren zusammengeschoben und anschließend auf der Deponie in Lantic entsorgt werden.«

»Und was hat Aenor damit zu tun?«, wunderte sich Sophie. »Ihr Geschäft sind doch die essbaren Algen.«

»Sie hilft manchmal, die vermaledeiten Grünalgen abzutransportieren. Mit ihrem flachen Boot kommt sie direkt auf den Strand herauf. Das Abfahren der Algen spült Geld in die Kasse, auch wenn es keine sonderlich angenehme Arbeit ist.«

»Aber Aenor kann mit ihrem Boot doch nicht zur Deponie schippern, die liegt sicherlich landeinwärts.«

»Oui, oui, das wollte ich ja eben sagen.« Der Fischer nickte heftig mit dem Kopf, wodurch ihm die Mütze in die Stirn rutschte. Er schob sie mit einer geübten Handbewegung zurück. »Normalerweise läuft es so ab, dass einer von den LeDruff-Brüdern hier im Hafen mit Schlepper und Anhänger bereitsteht, um die Ladung abzuholen. Da die Landwirtschaft nicht mehr so viel wie früher abwirft, verdienen sich die Jungs auf diese Weise ein paar Euros dazu. Ich verstehe nicht, warum sie noch nicht hier waren.«

»Wann haben Sie Aenor denn das letzte Mal gesehen?«

Der alte Fischer musste nicht lange überlegen. »Gestern Morgen, kurz nach Sonnenaufgang. Da hatte sie sich zum Ausfahren bereit gemacht. Ich bin immer früh am Hafen, das steckt mir im Blut, ich kann nicht anders.«

»Ich habe gegen elf mit ihr telefoniert«, erinnerte sich Sophie. »Da haben wir für heute einen Termin ausgemacht. Wir wollten uns vor einer halben Stunde treffen.«

»Das passt nicht zu Aenor«, murmelte der Fischer.

»Glauben Sie, dass Ihr etwas zugestoßen ist?« In Sophies Magen machte sich plötzlich ein mulmiges Gefühl breit.

»Wenn sie einen Unfall auf See gehabt hätte, würde ihr Boot nicht hier vor Anker liegen«, erwiderte der Fischer.

»Da haben Sie recht.« Sophie nickte. »Vielleicht hat sie sich nach dem Anlegen mit jemandem getroffen und die Zeit vergessen.«

»Ich kenne sie seit anderthalb Jahren. Sie kommt regelmäßig zu mir, wenn sie einen Rat braucht. Die Algenfischerei ist nicht ihr ursprünglicher Beruf, sie musste viel Neues lernen. Ich kann nur sagen, dass ich Aenor stets als sehr zuverlässig erlebt habe. Und als überpünktlich«, betonte der Fischer. »Wenn sie, aus welchem Grund auch immer, einen unserer Termine nicht wahrnehmen konnte, hat sie frühzeitig abgesagt.«

»Ihr Handy scheint ausgeschaltet zu sein.«

»Das ist nicht gut.« Der Fischer klang jetzt ebenfalls besorgt.

Sophie fasste einen Entschluss. »Es bringt nichts, weiter im Regen rumzustehen und zu spekulieren. Ich schaue mich auf dem Boot um. Könnte doch sein, dass sie gestürzt ist und bewusstlos in der Kajüte oder im Laderaum liegt. Und dringend Hilfe benötigt.«

»Wenn meine Beine zehn Jahre jünger wären, wäre ich längst an Bord«, sagte der Fischer mit einem resignierten Seufzen.

»Ich komme allein klar.« Sophie ging an die Kaikante und schob das rechte Bein über die Reling. Für ein paar Sekunden überfiel sie die Angst, dass das Boot sich durch die Strömung genau in dem Moment ein Stückchen seitwärts vom Kai wegbewegen und sie in den Spalt zwischen der Kaimauer und dem Bootsrumpf fallen würde. Mit einer ruckartigen Bewegung zog sie das linke Bein nach und spürte wieder Boden unter den Füßen. Auch wenn der leicht schwankte.

»Ça va?«, rief der Fischer.

»Ja, alles okay. Doch es riecht wirklich nicht gut hier.«

»Beugen Sie den Kopf nicht zu weit zu den Algen runter.«

»Nein, ich sehe mir mal die Kajüte an.« Vorsichtig bahnte sich Sophie einen Weg zwischen dicken Tauen, gelben und blauen Kunststoffwannen, leuchtend roten Bojen und anderen maritimen Utensilien, die Aenor bei ihrer Arbeit täglich benötigte. Die Tür zur kleinen, weiß gestrichenen Kajüte war einen Spaltbreit geöffnet. Sophie zog sie auf, trat über die niedrige Schwelle und blickte um sich. Auf dem Armaturenbrett oberhalb des Steuerrades lagen Seekarten und ein paar ausgedruckte DIN-A4-Blätter, die zum Teil Wasserspuren aufwiesen. Neben dem Schalthebel stand eine Emailletasse. Der Kaffee darin war kalt. Eiskalt.

»Aenor?«, versuchte sie es erneut, der Form halber. In der winzigen Kajüte gab es keinen Platz, wo die Algenfischerin sich hätte verstecken können.

Sophie ging wieder nach draußen.

»Nichts?«, rief der Fischer.

»Non, rien. Ich checke kurz die andere Seite.« Mit gebührendem Respekt tastete sie sich um den mit einem Stahlhaken versehenen Kopf des mechanischen Gelenk-Greifarms herum, der ausgestreckt vom Heck bis fast zur Kajüte reichte. Der Geruch nach faulen Eiern wurde intensiver. Sophie zog ihren bunten Strickschal, den sie um den Hals geschlungen hatte, vor Mund und Nase. Wie hält Aenor das nur aus, wunderte sie sich. Das ist kein einfacher Job. Sie ließ ihren Blick über die Algen schweifen, von denen einige wie braun-grüne Girlanden an der Reling baumelten. Von Aenor fehlte weiterhin jede Spur.

Sophie wollte schon umkehren, da bemerkte sie die Spitze eines schwarzen Gummistiefels, der aus dem Algenberg herausragte. Sie stutzte. Hatte Aenor einen Schuh verloren? Das beklemmende Gefühl, das sie auf dem Kai schon verspürt hatte, steigerte sich zu echter Furcht. Was, wenn es sich nicht um einen abgestreiften und achtlos an Deck liegen gelassenen Stiefel handelte? Wenn der Stiefel noch an einem Fuß steckte? An Aenors Fuß? Sophie wusste, dass ihr nur eine Möglichkeit blieb, das herauszufinden.

Sie beugte sich hinunter und begann, mit den bloßen Händen die Algen wegzuschaufeln. Zuerst legte sie die Beine frei, dann den Oberkörper und zum Schluss das Gesicht. Aenors leblose Augen starrten in den wolkenverhangenen Himmel.

Sophie wurde von einem Würgereiz geschüttelt. In ihrem Kopf machte sich ein seltsames Brummen breit, das Boot schwankte zunehmend, als ob aus dem Nichts ein Sturm aufgekommen wäre.

Eine Hand packte sie hart an der Schulter. »Sie müssen hier weg!«

Wie in Zeitlupe drehte sich Sophie um und erblickte den alten Fischer, der ebenfalls an Bord gekommen war. »Aber Aenor … Ich kann sie nicht so liegen lassen.«

»Aenor kann niemand mehr helfen. Doch wir müssen runter vom Boot. Sofort!«

Er rüttelte so lang an ihrem Jackenärmel, bis Sophie sich widerwillig abwandte und zurück in Richtung Kajüte schlurfte. Ihre Knie fühlten sich wie Wackelpudding an, und ihre Augen tränten.

»Schaffen Sie es über die Reling?«, fragte der Fischer.

Sophie nickte stumm.

Als sie sicher auf dem Kai stand, hielt sie kurz inne, um sich zu sammeln. Dann reichte sie dem Fischer eine Hand und unterstützte ihn, bis er ebenfalls an Land geklettert war.

Der alte Mann blieb eine Weile mit gebeugtem Oberkörper stehen und schnappte keuchend nach Luft. Als er wieder zu Atem gekommen war, wandte er sich an Sophie. »Sie haben ein Handy dabei, oder? Rufen Sie die Polizei an.«

3. Kapitel

Eine Stunde später saß Sophie wie ein Häufchen Elend im zum mobilen Büro ausgebauten Einsatzwagen des Polizeireviers von Saint-Brieuc. Eine mitfühlende Beamtin hatte ihr eine wärmende Decke um die Schultern gelegt und reichte ihr einen Becher heißen Tee.

»Den habe ich aus dem La Voile für Sie kommen lassen. Das Bistro hat zum Glück schon auf. Trinken Sie, das wird Ihnen guttun.«

Sophies Hände zitterten, doch sie schaffte es, etwas von der heißen, süßen Flüssigkeit in den Mund zu bekommen und runterzuschlucken. Der Zucker zeigte innerhalb kürzester Zeit Wirkung. Sie fühlte sich in der Lage, wieder einen einigermaßen klaren Gedanken zu fassen.

»Was ist mit dem Fischer? Der alte Mann steht bestimmt unter Schock. Er sollte nicht im Regen warten müssen.«

»Ein Kollege hat ihn nach Hause gefahren und unterhält sich dort mit ihm.«

Sophie nippte am Tee und versuchte so, den sich anbahnenden Weinanfall zu unterdrücken. Sie konnte das grauenhafte Bild von Aenors zum Himmel aufgerissenen, leblosen Augen und ihres verzerrten Gesichtes nicht abschütteln. Einen derartigen Ausgang ihrer Suche hatte sie nicht erwartet. Sie räusperte sich, weil sich ihr Hals trotz des heißen Tees wie zugeschnürt anfühlte. Dann richtete sie das Wort an die Beamtin: »Hat jemand von Ihren Kollegen versucht, Aenor wiederzubeleben? Vielleicht hätte sie noch eine Chance gehabt. Ich konnte nichts tun, der alte Mann hat mich weggezogen. Ich weiß nicht, wie lange sie schon«, Sophie hielt zwei, drei Sekunden inne, weil es ihr schwerfiel, den Satz zu beenden, »so dalag.«

»Ich glaube nicht, dass Sie oder jemand anders Madame Le Tammiers noch hätten helfen können«, sagte die Beamtin leise.

»Was ist nur geschehen? Ist sie auf den nassen Planken ausgerutscht? Oder hat der Gelenkarm sie am Kopf erwischt und sie ist ohnmächtig geworden? Aber warum war sie dann mit diesen stinkenden Algen bedeckt?«

Die Schiebetür des Einsatzwagens wurde geöffnet und ein Mann trat ein. Er schüttelte sich kurz wie ein nasser Hund, fischte ein Papiertaschentuch aus der Jackentasche, nahm die runde Nickelbrille ab und rieb die Gläser trocken.

»Quel temps de chien, was für ein Sauwetter«, murmelte er.

Der Nieselregen hatte im Laufe der letzten halben Stunde an Intensität deutlich zugenommen, wahre Sturzbäche prasselten inzwischen vom Himmel. Harte Windböen rüttelten alle paar Minuten am Einsatzwagen.

Der Kommissar nahm schnell Platz, strich sich das nasse Haar aus der Stirn, setzte die Brille wieder auf und stutzte. »Bonjour Madame. Wir kennen uns, nicht wahr?«

Sophie hatte Commissaire Kerilis sofort erkannt. »Ja. Sie waren bei uns im Bistro. In Erquy, im ›Chez Leon‹, das jetzt ›Chez Sophie‹ heißt.«

»Mais oui! Die Sache mit den Jakobsmuscheln! Tragischer Fall. Ich hoffe, das hat Sie keine Kunden gekostet.«

»Ein paar schon. Wir konnten jedoch andere dazugewinnen. Das Bistro hat sich inzwischen ziemlich verändert, und unsere Speisekarte auch«, sagte Sophie mit Stolz in der Stimme. Der Gedanke an ihre geliebte Küche half ihr, den grässlichen Fund für kurze Zeit zwar nicht zu vergessen, aber besser zu ertragen.

»Mais oui, Sie haben sich zu einem Paradies für alle, die der fleischlosen Kost zugetan sind, entwickelt. Meine Nichte studiert in Rennes und war an den Wochenenden schon ein paarmal mit Freunden bei Ihnen. Sie schwärmt von Ihrer Küche. Obwohl mir, ehrlich gesagt, ein ordentliches Entrecôte lieber ist.«

»Auch das können Sie bei uns bekommen«, versicherte ihm Sophie.

»Ich werde es mir merken.« Commissaire Kerilis zog einen Notizblock und einen Kugelschreiber aus der Tasche und legte beides auf den kleinen Tisch, an dem sie sich gegenübersaßen.

»Soll ich draußen weiterhelfen?«, fragte die Beamtin den Commissaire.

Kerilis überlegte kurz. »Ja, Sie könnten mit einer Kollegin oder einem Kollegen von Haus zu Haus gehen und fragen, ob jemand etwas gesehen hat. Und gegebenenfalls die Adressen notieren, damit wir die Zeugen aufs Kommissariat bitten können.«

Die Beamtin zog die Kapuze ihrer Jacke über den Kopf. »Au revoir«, verabschiedete sie sich von Sophie.

Kerilis schlug den Block auf und zückte den Stift. »Nun zu Ihnen. Man hat mir bereits gesagt, dass Sie mit der Verstorbenen«, er konsultierte kurz seine Notizen, »mit Aenor Le Tammiers, verabredet waren.«

»Ja, wir haben gestern telefoniert und vereinbart, uns heute bei Aenor im Laden zu treffen.«

»Wirkte sie bei Ihrem letzten Gespräch nervös oder angespannt auf Sie? Hat Madame Le Tammiers sich in irgendeiner Weise besorgt geäußert?«

Sophie musste nicht lange nachdenken. »Mais non, pas du tout. Aber vielleicht täusche ich mich, wir kannten uns erst seit wenigen Wochen.«

»Sie waren also keine engen Freundinnen?«

»Wir wollten Geschäftspartnerinnen werden.«

»Aha, was wollten Sie denn gemeinsam auf die Beine stellen?«

»Ein kleines Feinschmeckersortiment an Algenprodukten. Tartinades, Confits, Pesto, Senf, Gewürzmischungen, Nudeln.«

Kerilis zog eine Grimasse, als ob er in eine Zitrone gebissen hätte. »Das schmeckt?«

»Bien sûr! Heute wollten wir besprechen, wie wir mit meinen Rezepten in die Produktion gehen könnten. Daraus wird jetzt wohl nichts mehr.« Sophie schniefte aus Enttäuschung und auch, weil sie plötzlich wieder Aenors totenbleiches Antlitz vor Augen hatte.

»Es tut mir leid«, sagte der Kommissar.

Sophie fuhr verstohlen mit dem Handrücken unter der Nase entlang. »Haben Sie schon eine Ahnung, woran sie gestorben ist?«

»Nein, dafür ist es zu früh. Außerdem dürfte ich es Ihnen zu diesem Zeitpunkt nicht sagen, wir haben die Ermittlungen ja erst aufgenommen.«

»Ich weiß, aber es beschäftigt mich. Ich habe sie schließlich gefunden.«

»Ich werde Sie benachrichtigen, sobald mir das möglich ist«, versprach Kerilis. »Ich denke, fürs Erste haben wir alles geklärt. Ich werde mich in den nächsten Tagen mit weiteren Fragen bei Ihnen melden.«

»Sie können mich entweder im Bistro oder auf dem Handy erreichen.«

Der Kommissar schrieb die Nummern, die Sophie ihm diktierte, auf den Block. »Bon. Ich werde nun bei den Kollegen von der Spurensicherung fragen, was sie bis jetzt herausgefunden haben. Ich befürchte allerdings, dass bei der Sintflut da draußen alle brauchbaren Spuren weggeflossen sind.«

Sophie konnte dem Kommissar ansehen, dass er keine große Lust hatte, den dank der Standheizung warmen und trockenen Wagen zu verlassen. Sie nahm die Decke ab, faltete sie zusammen und legte sie auf den Sitz neben sich.

»Ich fühle mich irgendwie verantwortlich«, gestand sie. »Vielleicht wäre das nicht passiert, wenn wir uns heute nicht verabredet hätten. Dann wäre Aenor womöglich länger mit ihrem Boot draußen geblieben und jetzt nicht tot.«

»Mais non, was sagen Sie denn da? Sie sind mit Sicherheit nicht schuld an Madame Le Tammiers’ Tod«, widersprach der Kommissar heftig. »Nach dem aktuellen Stand unserer Ermittlungen wissen wir nicht, was genau vorgefallen ist. Wir müssen abwarten, was die Pathologie feststellt. Aber Sie, Sie müssen sich weiß Gott keine Vorwürfe machen.«

»Das ist leichter gesagt als getan.« Sophie erhob sich. »Dann fahre ich jetzt wohl ins Bistro nach Erquy zurück.«

»Konzentrieren Sie sich auf Ihre Gäste und Ihre Rezepte, und wir kümmern uns um Madame Le Tammiers.«

Der Kommissar öffnete die Schiebetür, und sie traten beide in den Regen hinaus.

»Au revoir«, verabschiedete sich Sophie und rannte mit eingezogenem Kopf zu ihrem Auto.

Auf der Rückfahrt grübelte sie, warum der Vormittag, der so vielversprechend begonnen hatte, so tragisch hatte enden müssen. Aenor hatte im Sommer erst ihren 35. Geburtstag gefeiert, hatte ihre ganze Zukunft vor sich gehabt. Sie hätte sich verlieben, eine kleine Schar an Kindern bekommen, ihre Firma weiter ausbauen und ein erfülltes langes Leben führen können. Stattdessen lag sie kalt und starr inmitten eines Haufens stinkender Algen.

Mit der linken Hand hielt Sophie das Lenkrad umklammert, während sie sich mit der rechten die Tränen von den Wangen wischte.

*

Kurz vor Erquy hatte sie sich wieder einigermaßen gefangen und kam zu dem Entschluss, nicht gleich mit den schrecklichen Neuigkeiten herauszuplatzen. Sie betrat das Bistro, als der letzte Gast bei Madame Rozar seine Rechnung beglich, grüßte mit einem angedeuteten Kopfnicken und eilte in die Küche. Am Holztisch vor der Fensterbank saß ein inoffizieller, aber sehr geschätzter Gast: Doktor Bonnet. Sophie hängte ihre feuchte Jacke und den Schal an die Garderobe und musterte den Freund kritisch.

»Du siehst nicht gut aus, Jean-Luc. Und wir haben dich in den letzten Tagen vermisst. Bist du etwa krank?«

Doktor Bonnet seufzte. »Nein, nur müde, so fürchterlich müde.«

Sophie zog einen zweiten Stuhl unter dem Tisch hervor und ließ sich darauffallen. »Warum? Du bist doch in Rente, hast deine Praxis seit fast einem Jahr aufgegeben.«

»Ja, mein Alltag ist ohne die Sorge um meine Patienten und den lästigen Verwaltungskram deutlich entspannter geworden. Aber ich habe eine Verantwortung übernommen, der ich mich nicht gewachsen fühle.«

»Hast du Stress, weil du dieses bedeutende Fest Ende Oktober für die Goursez Breizh vorbereiten musst? Dieses Halloween auf Bretonisch?«

»Du meinst Samain, den Übergang zu den dunklen Monaten und das Gedenken an die Toten. Es stimmt, die Feierlichkeiten machen viel Arbeit, schließlich werden sie über eine Woche dauern«, erklärte Doktor Bonnet, der nicht nur Allgemeinmediziner im Ruhestand, sondern auch Druide und Vorsitzender der regionalen Bardenvereinigung war. »Aber das ist es nicht.«

»Was dann?«

»Mein Besuch aus Paris.«

Richtig, daran hatte Sophie vor lauter Aufregung nicht mehr gedacht.

Filip war kurz zum Rauchen draußen gewesen und kam nun in die Küche zurück. Er hatte Doktor Bonnets letzte Worte wohl gehört und sagte: »Ich hoffe, sie ist hübsch.« Seine dunkelbraunen Locken waren feucht, obwohl er unter dem Dachvorsprung Unterschlupf gesucht hatte. »Kochen scheint sie jedenfalls gut zu können, du hast in den letzten Tagen unser Mittagsmenü verschmäht.«

»Schön wär’s«, erwiderte Doktor Bonnet wehmütig. »Mein Besuch ist männlich. Es handelt sich um den Sohn einer Freundin aus Paris.«

»Was will er um diese Jahreszeit in der Bretagne?«, wunderte sich Sophie.

Madame Rozar stellte ihr Tablett auf dem Tresen ab und schaute mit ihren kleinen blassgrauen Augen kampfeslustig in die Runde. »Was heißt denn ›um diese Jahreszeit‹? Hier bei uns in der Bretagne ist es zu jeder Jahreszeit wunderbar. Einfach fantastique!«

»Mais oui. Besonders heute.« Filip wies mit dem Kinn zum Fenster, das vom Regen beschlagen war.

»Das Jüngelchen wird sich ein bisschen die frische Luft um die Kiemen wehen lassen wollen«, sagte Madame Rozar und legte ihre Schürze ab.

»Das Jüngelchen ist 45«, erwiderte Doktor Bonnet trocken.

»Eh bien, dann ist er wenigstens aus dem Alter raus, in dem du ihm eine Gutenachtgeschichte vorlesen musst.« Filip grinste.

»Nein, es ist eher andersherum. Er liest mir zwar nichts vor, erzählt aber gerne Geschichten. Robert, so heißt mein Besuch, redet gern über sich selbst und neigt zu endlosen Diskussionen. Meistens sitzen wir die halbe Nacht am Kamin oder in der Küche.«

»Tja, er stammt aus Paris und ist damit eben redseliger als ein Bretone«, meinte Filip.

»Robert durchlebt gegenwärtig eine Sinnkrise und versucht, mit sich ins Reine zu kommen.«

»Mais oui, das ist die crise de la quarantaine«, meldete sich Madame Rozar mit lauter Stimme zu Wort. »Wenn man die 40 überschritten hat, spielen die Hormone auch bei den Männern verrückt. Das war bei meinem Brieg, Gott hab ihn selig, genauso. Mit 43 hatte er plötzlich den Spleen, partout in den Süden, in die Nähe von Uzès, zu ziehen. ›Nur über meine Leiche‹, habe ich dazu gesagt.« Madame Rozar streckte sich und schien für einen Moment weit über ihre 1,58 Meter hinauszuwachsen. Dann ließ sie die Schultern wieder sinken und schrumpfte auf ihr Normalmaß. »Keine acht Monate später haben wir ihn auf dem Friedhof von Fréhel zu Grabe getragen. Doch daran war nicht die Hormonumstellung, sondern ein Reifenplatzer auf der N 12 kurz vor Lamballe schuld. Eh bien, c’est la vie. Wir sind alle in Gottes Hand.«

»Was habe ich ein Glück, dass ich als Einziger hier im Raum noch etliche Jahre von der großen Krise entfernt bin.« Filip wirkte sichtlich erleichtert.

»Bei Nikotinabhängigen kommt das Hormonchaos früher«, konterte Madame Rozar.

»Uh, erinnert mich bloß nicht an Rauchen«, sagte Doktor Bonnet niedergeschlagen. »Robert stopft sich eine übel riechende Kräutermischung in seine Pfeife. Die soll angeblich gesund sein und die Hirnleistung steigern, doch ich bekomme Kopfschmerzen davon.«

»Mon Dieu, kein Wunder, dass du angeschlagen wirkst. Wie lange musst du denn noch durchhalten? Wann fährt dieses Pariser Weichei wieder nach Hause?«, wollte Filip wissen.

»Wenn es ihm besser geht«, murmelte Doktor Bonnet und seufzte.

Madame Rozar kam ein paar Schritte auf Sophie zu, die in Schweigen verfallen war und vor sich hin stierte. Sie musterte sie mit einem Stirnrunzeln. »Ma chère, Sie sehen heute auch nicht wie das blühende Leben aus, wenn ich das mal so feststellen darf.«

»Ja, du bist ziemlich blass um die Nase«, stimmte Filip der neuen Kollegin zu. »Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, du hast frei und willst den ganzen Tag bei deiner Bekannten bleiben.«

Sophie konnte nun die Tränen nicht mehr zurückhalten. »Ach, es ist etwas Schreckliches geschehen, ich kann es selbst kaum fassen!«

Doktor Bonnet wirkte auf einen Schlag wach. »Mon Dieu, hattest du einen Unfall? Oder warst an einem beteiligt?«

»Nein, mir geht es einigermaßen gut. Aber Aenor Le Tammiers, meine zukünftige Geschäftspartnerin, sie …« Sophie verstummte, und schlug die Hände vors Gesicht.

Doktor Bonnet rieb ihr mitfühlend über den Rücken. Eine Weile sagte niemand etwas. Alle warteten, bis Sophie sich etwas beruhigt hatte.

»Tut mir leid«, schniefte sie schließlich.

»Das muss es nicht«, versicherte ihr Doktor Bonnet und reichte ihr ein Taschentuch.

»Aenor … Ich kann es einfach nicht fassen«, sagte sie, nachdem sie sich die Nase geputzt hatte.

»Meinen Sie etwa die nette junge Algenfischerin vom Wochenmarkt?«, fragte Madame Rozar. »Sie hat mich erst vorletzten Samstag überredet, ein Beutelchen von ihrem Sel de Guérande aux algues mitzunehmen. Ich gebe zu, dass ich anfänglich skeptisch war, so neumodisches Zeug ist nicht unbedingt meins. Aber auf Baguette mit Butter oder auf Gurkenscheiben schmeckt es köstlich, très délicat.«

Sophie schluckte mehrmals, um den Kloß im Hals loszuwerden, und war dankbar für Madame Rozars Redefluss. So blieb ihr etwas Zeit, um sich zu sammeln, bevor sie das Schreckliche aussprach. »Aenor wird nie mehr etwas verkaufen oder nach Algen fischen«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich habe sie tot auf ihrem Boot gefunden.«

»Mais non! Der Herrgott sei ihrer Seele gnädig.« Madame Rozar bekreuzigte sich.

Betretenes Schweigen machte sich breit. Filip ging zu einem der Oberschränke und holte vier Gläser hervor. Die stellte er zusammen mit einer Flasche Lambig auf den Tisch. »Ich wollte eigentlich Kaffee kochen, aber ich glaube, der ist jetzt eher angebracht.« Er goss großzügig vom Apfelbranntwein ein.

»Merci, das kann ich jetzt gut gebrauchen. Mon Dieu, ich bekomme die grässlichen Bilder nicht aus dem Kopf.« Sie erzählte, wie sie Aenor zuerst vergeblich gesucht und dann unter dem Algenberg entdeckt hatte.

»Quelle horreur! Wir furchtbar! Die arme Madame Le Tammiers.« Madame Rozar leerte ihr Glas in einem Zug.

Doktor Bonnet ließ die amberfarbene Flüssigkeit in seinem Glas kreisen, trank aber entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nicht. »Hast du eine Ahnung, wie sie gestorben ist?«, wollte er von Sophie wissen.

»Ich weiß es nicht, ich hatte in dem Moment keine Zeit, sie genauer anzuschauen. Ein alter Fischer, der sich ebenfalls um Aenor sorgte, hat mich gezwungen, das Boot auf der Stelle zu verlassen. Er meinte, die Algen seien gefährlich.«

»Was waren das für Algen?«

»Keine von den Sorten, die Aenor für ihre Lebensmittelproduktion erntet. Das waren Grünalgen, die sie von einem der weiter entfernten Strände mit ihrem Boot abtransportiert hat.«

»Sie hat bei der Reinigung der Strände mitgeholfen?«

»Ja, das tat sie wohl öfter, wie mir der Fischer erzählte.«

»Wie war der Zustand dieser Algen? Waren sie frisch oder schon vermodert?« Doktor Bonnet schien seine Müdigkeit überwunden zu haben, war inzwischen ganz bei der Sache.

»Ein Teil der Ladung war quietschgrün, ein anderer eher bräunlich. Die haben auch sehr unangenehm gerochen. Wegen des Schwefelwasserstoffs, meinte der alte Fischer.«

»Mais oui. Erst vor Kurzem hat in der Zeitung gestanden, dass erneut ein paar Strände auf unbestimmte Zeit gesperrt sind«, rief Madame Rozar aufgeregt. »Einige sind es wohl schon seit Anfang Juli. Da hat es angefangen, dass die Algen wieder einmal überhandnehmen.«

»Wo kommen die plötzlich alle her?«, fragte Filip mit einem Stirnrunzeln.

Madame Rozar gab ihm einen Klaps auf den Oberarm. »Na, aus dem Wasser. Was denken Sie denn? Dass die Marsmännchen sie vom Himmel haben fallen lassen?«

»Haha.« Filip war anzusehen, dass seine Sympathiewerte für die neue Servicekraft endgültig in den Keller gerauscht waren.

»Das Problem sind nicht die Algen an sich, sondern dass sie sich in den letzten Jahren explosionsartig vermehren«, stellte Doktor Bonnet richtig.

Madame Rozar griff zur Flasche und schenkte allen außer Doktor Bonnet nach. »Also ich sage Ihnen: Diese Algen, das können ganz gemeine Killer sein.«

»Sie lesen zu viele Klatsch- und Tratschblätter.« Filip verdrehte die Augen zur Decke.

»Ich lese jeden Morgen die Ouest-France«, empörte sich Madame Rozar.

Sophie warf ihr einen versöhnlichen Blick zu. »Jetzt, wo Sie es sagen … Ich meine auch gelesen zu haben, dass Tiere an einem der Strände zu Schaden gekommen sind.«

»Oui, oui.« Madame Rozar nickte so heftig mit dem Kopf, dass ihre Kurzhaarfrisur in Unordnung geriet. »Eine Rotte Wildschweine. Und später noch drei oder vier Hunde. Pauvres bêtes.«

»Ist das wahr?«, wandte sich Filip an Doktor Bonnet.

»Leider ja«, antwortete er. »Aber nicht nur das. Auch einen Jogger, der seinem Hund zu Hilfe eilen wollte, hat es erwischt. Sehr tragisch war das. Der Tod des Joggers hat wochenlang in der Lokalpresse Schlagzeilen gemacht.«

»Davon habe ich nichts mitgekriegt. Ihr wollt mich auf den Arm nehmen, oder?« Filip schaute unsicher in die Runde.

»Nein«, beteuerte Doktor Bonnet. »Ab einem gewissen Stadium strömen die Grünalgen beim Verrotten giftigen Schwefelwasserstoff aus. Man merkt es am Geruch.«

»Eh bien, an manchen Stellen roch es auf dem Boot wirklich ekelhaft«, erinnerte sich Sophie. »Und nachdem ich die Algen mit den Händen weggeschaufelt hatte, war mir schon ein bisschen komisch: Mir brannten die Augen, mir war schwindelig und ich musste husten. Doch ich dachte, das käme von der Anstrengung oder dem Schrecken.«

»Das sind die ersten typischen Anzeichen einer Schwefelwasserstoffvergiftung«, konstatierte Doktor Bonnet.

»Mag ja sein. Aber davon stirbt man doch nicht so schnell«, sagte Filip, der nach wie vor nicht überzeugt klang.

»Auch hier muss ich dir widersprechen. Ab einer gewissen Konzentration ist Schwefelwasserstoff innerhalb von wenigen Sekunden tödlich«, klärte Doktor Bonnet ihn auf. »Deshalb trifft es bei Unfällen mit diesem Toxin oft den in Not Geratenen und den Helfer. Zwei bis drei Atemzüge reichen mitunter aus, dass man bewusstlos zusammenbricht.«

Sophie wurde noch blasser. »Dann hat der alte Fischer mir das Leben gerettet?«

»Das kann ich nicht beurteilen«, sagte Doktor Bonnet. »Doch es war auf jeden Fall nicht verkehrt, dass er dich sofort von den Algen weggelotst hat.«

»Ich habe mich schon gewundert, warum die von der Spurensicherung Masken trugen.«

»Atemschutzmasken«, präzisierte Doktor Bonnet. »Sie sind auf Nummer sicher gegangen.«

Sophie sah den Arzt über den Rand ihres Glases fragend an. »Wenn dieser Schwefelwasserstoff so gefährlich ist – könnte es dann sein, dass Aenor dadurch zu Tode gekommen ist?«

»Das wird die toxikologische Untersuchung klären«, antwortete Doktor Bonnet. »Je nachdem, wie viel Gift die Algen ausgeströmt haben und wie viel sie davon eingeatmet hat.«

»Mon Dieu, was für eine schreckliche Art zu sterben!« Madame Rozar streckte die Hand nochmals in Richtung der Lambig-Flasche aus.

Filip schob sein Glas demonstrativ zur Seite und sagte: »Also war es ein Unfall? Ein tragischer Arbeitsunfall?«

»Könnte sein, aber ich glaube es nicht.« Sophie blieb skeptisch.

»Vielleicht wusste sie nicht, dass diese Grünalgen tödlich sein können. Oder sie hat die Gefahr unterschätzt«, meinte Filip.

»Das kann ich mir nicht vorstellen«, widersprach Sophie. »Der Fischer hat mir erzählt, dass Aenor öfter beim Abtransport half. Sie hätte sich also auskennen müssen, hätte wissen müssen, ab wann es mit den vermodernden Grünalgen brenzlig wird. Außerdem waren maritime Algen ihr Metier.«

»Weißt du, was mit der Algenladung, die sie an Bord hatte, geschehen sollte?«, fragte Doktor Bonnet.

»Es sollte jemand mit einem Traktor kommen und sie abholen. Die an den Stränden zusammengeschobenen Algen werden in der Deponie in Lantic vernichtet.«

»Und dieser Jemand kam nicht? Warum?«

»Das weiß ich nicht«, musste Sophie eingestehen. »Eigentlich weiß ich gar nichts – außer, dass Aenor nicht mehr am Leben ist. Und ich frage mich, wieso«, fügte sie nach einer kurzen Pause hinzu.

»Es kann nur ein Unglücksfall gewesen sein«, beharrte Filip. »Oder hast du Blut gesehen? War sie verletzt?«

»Mir ist nichts aufgefallen.«

»Also nichts, was darauf hinweist, dass ihr jemand Gewalt angetan hat. Ich glaube, es ist so abgelaufen: Sie hat, aus welchen Gründen auch immer, zu viel Dämpfe von diesem giftigen Grünzeug eingeatmet und ist, wie Jean-Luc eben erklärt hat, auf der Stelle bewusstlos geworden. Dadurch war sie nicht mehr in der Lage, wegzulaufen oder um Hilfe zu rufen. Ich hoffe nur, dass es schnell gegangen ist, dass sie nicht leiden musste.«

»Die arme Kleine.« Madame Rozar schniefte.

»Eh bien, wenn ich jetzt so darüber nachdenke …« Sophie zögerte kurz, bevor sie weiterredete. »Für mich spricht viel dafür, dass Aenor an einer Schwefelwasserstoffvergiftung gestorben ist. Sie lag ja mitten in dem Teil der Algen, bei denen der Verrottungsprozess weit fortgeschritten war.«

»Oui.« Doktor Bonnet nickte zustimmend.

»Was ich jedoch nicht verstehe – warum lag sie nicht auf den Algen, sondern fast vollständig unter ihnen begraben? Bei aller Fantasie, sie hat sich doch bestimmt nicht selbst darin eingegraben.«

»Nein«, gab ihr Doktor Bonnet recht. »Das weist eindeutig darauf hin, dass eine zweite Person im Spiel war.«

»Verstehe ich das richtig? Ihr geht allen Ernstes davon aus, dass sie ermordet wurde?« Filip wirkte geschockt.

»Ich halte es zumindest nicht für ausgeschlossen«, sagte Doktor Bonnet düster.

Sophie schlug mit der flachen Hand auf den Tisch. »Ich hatte gleich das Gefühl, dass an der Sache etwas faul war. Im wahrsten Sinn des Wortes. Und ich habe Kommissar Kerilis angemerkt, dass er ebenfalls nicht an einen Unfall glaubte. Sonst wäre er da nicht mit dem ganz großen Besteck aufgeschlagen. Als ich gefahren bin, waren seine Leute dabei, jeden Millimeter auf dem Boot zu untersuchen, jede Nische, jeden Winkel. Sogar die Algen wurden von oben nach unten gekehrt. Ich möchte fast mein bestes und sündhaft teures Küchenmesser darauf verwetten: Aenor wurde Opfer einer Gewalttat.«

»Aber wer tut so etwas?« Madame Rozar stand die Empörung ins runde, vom Lambig gerötete Gesicht geschrieben.

Sophie leerte ihr Glas in einem Zug. »Genau das werde ich herausfinden.«

4. Kapitel

»Sag mal, hast du Lust auf Crêpes?«, fragte Sophie ihre Freundin Yuna Kerloc am Telefon.

»Bist du dabei, ein neues Rezept auszuprobieren? Dann biete ich mich gern als selbstlose Vorkosterin an«, antwortete Yuna. »Deinen Far breton reißen uns die Gäste beinahe aus den Händen. Der Pflaumenkuchen ist schon morgens der Renner. Die Leute kommen zu uns in die ›La Chaloupe‹, statt in die Bäckerei zu gehen. Eh bien, ich beklage mich nicht darüber.« Yuna lachte. Sie betrieb mit ihrem Vater Thierry eine Bar Tabac nahe der Chapelle Notre-Dame des Marins.

»Tut mir leid, ich muss dich enttäuschen. Ich möchte dich ins P’Tit Breizh einladen«, sagte Sophie.

»Die Crêperie von Treveur Le Tammiers in der Rue du Port?«

»Genau die.«

»Was willst du ausgerechnet da?« Yuna klang verwundert. »Das ist eine üble Touristenfalle. Die kann mit dem ›Chez Sophie‹ nicht mithalten. Ich weiß von einer Serviererin, die auch mal bei uns ausgeholfen hat, dass Treveur die Crêpes und Galettes im Großmarkt kauft und als hausgemacht ausgibt. Das Eis ist Billigware aus dem Discounter in Saint-Alban, das er mit Sahne und ein paar Zuckerstreuseln aufhübscht und teuer an seine nichts ahnenden Gäste verscherbelt. Deshalb hat er besonders gern Kundschaft aus dem Ausland: Holländer, Deutsche, Briten, Belgier und so. Die beschweren sich seltener, wenn sie über den Tisch gezogen werden.«

»Die Crêpes sind eher ein Vorwand«, gestand Sophie. »Es geht mir nicht ums Essen.«

»Worum dann? Und warum willst du dein gutes Geld in einem grottenschlechten Restaurant ausgeben?«

»Sitzt du gerade?«

»Ja, ich bin im Büro«, antwortete Yuna zögerlich. »Was ist los? Du hörst dich so geheimnisvoll an.«

»Kennst du Treveurs Frau?«

»Aenor? Ja, ich habe sie mal auf einer Veranstaltung zum Schutz maritimer Ökosysteme in Saint-Suliac kennengelernt. Aber soviel ich weiß, ist sie von Treveur geschieden.«

»Ich war vorgestern mit Aenor verabredet.« Sophie spürte, wie sich erneut ein Kloß in ihrem Hals breitmachte. Sie räusperte sich, um ihn loszuwerden. »Weil sie weder im Laden noch in ihren Produktionsräumen war, bin ich zum Ankerplatz ihres Bootes gefahren. Dort habe ich sie entdeckt. Sie muss schon ein paar Stunden tot gewesen sein.«

Am anderen Ende der Leitung blieb es eine ganze Weile still. »Aenor ist die Tote aus dem Port de Dahouët?« Yuna war geschockt. »Ich habe heute den Artikel in der La Gazette des Caps gesehen. Der war von Nicolaz Hénaff, dessen Stil ich nicht ausstehen kann. Deshalb habe ich nicht mehr als die Überschrift gelesen.«

»Leider besteht kein Zweifel.«

»War es ein Unfall?«

»Das halte ich eher für ausgeschlossen.«

Sophie hörte, wie Yuna scharf die Luft einzog.

»Willst du damit sagen, dass sie ermordet wurde?«

»Ich habe keine Beweise. Und die Polizei hat zur Todesursache bis jetzt nichts rausgelassen. Aber ja, ich bin mir sicher, dass Aenor keines natürlichen Todes gestorben ist. Doktor Bonnet ist übrigens auch der Meinung.«

»Mais non! Sag bloß nicht, ihr habt euer Wer-ist-der-Mörder-Ratespiel wieder aufgenommen. Du erinnerst dich, was im Frühjahr geschehen ist? Da hat dich deine Jagd nach dem Mörder von Arthur Tangi fast das Leben gekostet.«

»Wie könnte ich das vergessen? Ich habe seitdem sogar bei einem simplen Strandspaziergang ein mulmiges Gefühl.«

»Dann lass es.«

»Was? Das Spazierengehen?«

»Nein, das ist gut für die Seele und die Figur«, konterte Yuna. »Ich meinte: Lass es, deine vorwitzige Nase in Dinge zu stecken, die dich nichts angehen.«

»Aenors Tod geht mich was an«, protestierte Sophie. »Sie war meine zukünftige Geschäftspartnerin, und ich habe sie gefunden. Da muss ich mich doch kümmern.«

»Nein, das ist Angelegenheit der Polizei.«

Sophie schwieg, was auch eine Antwort war.

»Eh bien.« Yuna gab einen lang gezogenen Seufzer von sich. »Gehe ich recht in der Annahme, dass ich dich nicht daran hindern kann, das zu tun, was du nicht tun solltest? Dass dein sturer Dickkopf sich wieder durchsetzen wird?«

»Gib dir keine Mühe, ich kann nicht anders. Es wäre mir allerdings eine große Hilfe, wenn ich dich für mein ›Rateteam‹, wie du es nennst, gewinnen könnte.«

»Bon Dieu de bon Dieu«, brummte Yuna. »In was für eine saublöde Situation bringst du mich da wieder?«

»Komm, gib dir einen Ruck. Du hast mir doch auch beim Fall Tangi geholfen. Doktor Bonnet, Dafne, Filip, Ronan und du, wir waren eine tolle Équipe. Du musst fürs Erste ja nichts anderes tun, als mich ins P’Tit Breizh zu begleiten.«

»Bon, d’accord«, willigte Yuna ein. »Weil du meine Freundin bist. Und weil ich sonst viel zu viel Schiss hätte, dass dir was passiert«, fügte sie in einem Nachgedanken hinzu.

»Mille mercis.« Sophie fiel ein Stein vom Herzen. »Du hast ein Essen bei mir gut. Vorspeise, Hauptspeise, Dessert mit allem Pipapo. Ich lade dich zu mir ein, wenn der neue Herd geliefert wurde. Der von deiner Oma war ja höchstens noch als Abstellfläche zu gebrauchen.« Sophie war vor ein paar Wochen in das Häuschen von Yunas verstorbener Großmutter gezogen.

»Sei vorgewarnt. Ich werde dir alle Haare vom Kopf fressen und deinen gesamten Alkoholvorrat plündern.«

»Ich glaube nicht, dass du Ronans Nimmersatt-Appetit toppen kannst.«

»Ich werde mir Mühe geben. Und vorher drei Tage lang nur von Mineralwasser leben.«

»Ich nehme die Herausforderung an«, versprach Sophie grinsend. Dann wurde sie wieder ernst. »Wollen wir uns um vier vor dem P’Tit Breizh treffen? Oder soll ich dich von zu Hause abholen?«

»Nein, ich werde vorher bei unserem neuen Boot vorbeischauen. Ich komme direkt von dort zu Treveurs Crêperie.«

»Wie du meinst. Sag mal: Kennst du ihn eigentlich näher?«

»Wen? Treveur?«

»Ja. Du scheinst einiges über sein Lokal zu wissen.«

»›Näher kennen‹ wäre zu viel gesagt. Wir waren auf derselben Schule, aber Treveur ist drei Jahre älter als ich.«

»Wie war er damals?«

Yuna überlegte ein paar Sekunden. »Eh bien, ich glaube, er war kein guter Schüler, hat sich eher durchgemogelt. Doch in einem war er perfekt: Wenn es knapp auf knirsch stand, konnte er mit einer Charmeoffensive die Lehrer um den kleinen Finger wickeln.«

»Insbesondere die Lehrerinnen?«

»Ja klar. Und auch sonst lagen ihm die Mädels zu Füßen. Treveur sah verdammt gut aus, tut es immer noch. Du wirst nachher kapieren, was ich meine.«

»Und da hat er sich ausgerechnet für Aenor entschieden?«, wunderte sich Sophie. »Versteh mich nicht falsch, ich habe sie wirklich gern gemocht, ich fand sie vom ersten Augenblick an sympathisch. Sie war hilfsbereit, hatte Humor und gehörte zu den wenigen Menschen, die herzhaft über sich selbst lachen können. Und sie war bereit, hart zu arbeiten, alles zu geben. Aber eine Schönheit im klassischen Sinn war sie nicht.«

»Mais non, dafür war sie zu klein und ein bisschen zu kompakt gebaut. Doch sie hatte ein großes Herz und hat sich für Treveurs Restaurant anfangs echt krummgelegt.«

»Warum hat sie damit aufgehört? Und warum sind die beiden inzwischen geschieden?«

»Keine Ahnung. So vertraut war ich mit Aenor nicht.«

»Ich leider auch nicht. Wir haben hauptsächlich über unsere Arbeit, über Algen und Rezepte geredet. Schade eigentlich, sie war eine interessante Frau. Und wer weiß? Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn ich mehr über sie gewusst hätte.«

»Du konntest ja nicht ahnen, was geschehen würde.«

»Da hast du wohl recht.« Sophie versuchte, das Gefühl von Beklemmung abzuschütteln. Wenn sie herausfinden wollte, was sich vorgestern am Hafen abgespielt hatte, musste sie einen klaren Kopf bewahren, ihre zum Überschäumen neigenden Emotionen in Schach halten. Sie konzentrierte sich erneut auf das Gespräch mit Yuna. »Gab es wegen der Scheidung keine Gerüchte hier im Ort? Du bist in deiner Bar doch nah dran am hiesigen Buschfunk.«