Odenwaldglut - H. K. Anger - E-Book

Odenwaldglut E-Book

H. K. Anger

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  • Herausgeber: GMEINER
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2019
Beschreibung

So hat sich die Juristin Charlie Knapp den Neuanfang im Odenwald nicht vorgestellt: Zuerst entdeckt sie eine Leiche im Lärmfeuer und muss sich dann auch noch um den Dackel des Toten kümmern. Für Charlie Grund genug, um auf eigene Faust zu ermitteln. Als bald darauf ein zweites Opfer zu beklagen ist und der Apfelwein einer traditionsreichen Kelterei vergiftet wird, macht sich Angst breit. Beim Odenwälder Apfelherbst stößt Charlie zwischen Äppelwoi und Kochkäse auf eine brandheiße Spur - und gerät in tödliche Gefahr …

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Seitenzahl: 448

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H. K. Anger

Odenwaldglut

Kriminalroman

Zum Buch

Mit Humor und Apfelwein Die Juristin Charlie Knapp hat in Hamburg alles hinter sich gelassen. Mit dem, was in ihr kleines Wohnmobil passt, kehrt sie in ihre Heimat, den hessischen Odenwald zurück. Dort kommt sie bei ihrem Schulfreund Reiner Haase und dessen Patchworkfamilie auf dem Atzeldoalhof unter. Um Charlie aufzumuntern, schlägt Reiner den Besuch eines traditionellen Lärmfeuers vor. Im Feuer entdeckt sie prompt eine Leiche und muss sich im Anschluss um den Dackel des Toten kümmern. Für Charlie Grund genug, um auf eigene Faust Ermittlungen anzustellen. Dann überschlagen sich die Ereignisse: Ein zweites Opfer ist zu beklagen, bei einem Campingausflug wird ein Brandanschlag auf Charlies Wohnmobil verübt und der Apfelwein einer Odenwälder Kelterei wird vergiftet. Kriminalhauptkommissar Gunter Haase und sein Team vom K 11 in Heppenheim tun sich mit den Ermittlungen schwer. Beim Keltereifest zum Odenwälder Apfelherbst stößt Charlie auf eine brandheiße Spur. Ihre Impulsivität muss Charlie jedoch büßen. Im herbstlichen Odenwald lodern erneut die Flammen und Charlie gerät in tödliche Gefahr.

H. K. Anger wurde im Ruhrgebiet geboren und ist nach Lebensstationen in Bielefeld, Freiburg und Leipzig in einem Odenwälder Dorf heimisch geworden. Die studierte Pädagogin hat in der Erwachsenenbildung gearbeitet, bevor sie 2006 aus Liebe zum Kochen mit dem Kochbuchschreiben begann. In ihrer Freizeit erkundet H. K. Anger in Begleitung ihres Mannes und ihrer Hunde mit dem Wohnmobil Ziele in nah und fern. Ihre Liebe zum Odenwald bringt H. K. Anger in ihren Odenwaldkrimis zum Ausdruck, in denen sie die idyllische Mittelgebirgslandschaft und die Menschen mit dem Herz auf dem rechten Fleck spannend in Szene setzt.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Michael Tewes / stock.adobe.com

ISBN 978-3-8392-6054-8

Prolog – Sommer 1992

»Komm! Komm schon, Papa!«, riefen die beiden blonden Mädchen in den identischen rot-getupften Bikinis.

Ein in allen Regenbogenfarben schillernder, prall aufgeblasener Strandball landete auf der sich leicht in der Sommerbrise kräuselnden Wasseroberfläche. Wassertropfen spritzten auf, die das Sonnenlicht wie Diamanten funkeln ließen. Das ältere der Mädchen nahm Anlauf und sprang mit einem eleganten Kopfsprung in das durch die Wand- und Bodenfliesen azurblau schimmernde Wasser des Pools.

»Papa!«, wiederholte das jüngere Mädchen und zog einen Schmollmund.

Er stand vom Schreibtisch, den er sich in der Ecke des Wohnzimmers eingerichtet hatte, auf und schritt durch die Terrassentür nach draußen.

Das blonde Mädchen schoss auf ihn zu, sprang an ihm hoch und verschränkte Beine und Arme wie ein Äffchen hinter seinem Rücken. Er schloss seine Tochter fest in die Arme und vergrub seine Nase in ihrem seidigen Haar. Es roch nach kindlicher Unschuld, Apfelshampoo und Chlor. Dann löste er die Umarmung und das Mädchen rutschte auf die Füße.

»Du hast versprochen, mir das Tauchen beizubringen!«

»Papa muss noch arbeiten«, sagte er und strich seiner Tochter eine der von der Sonne weißblond gebleichten Strähnen hinter das Ohr. Seine Jasmin sah in diesem heißen, nicht enden wollenden Sommer wie eine kleine Schwedin aus. Er hatte sie nie so glücklich und ausgelassen wie in diesen Sommerferien gesehen. Die sie, vor allem wegen der Angst vor den Folgen der blutigen Auseinandersetzungen in Jugoslawien, ausnahmsweise nicht im Geburtsort seiner Frau, sondern zu Hause verbrachten.

All dies belastete seine beiden Mädchen nicht. Denn was für ein Zuhause hatte er ihnen mit dem Geld, von dessen Existenz lediglich er und zwei andere wussten, geschaffen! Der Blick seiner grauen, müden und in den letzten Wochen besorgt dreinblickenden Augen streifte über den Pool, der in eine makellos gepflegte und dank der Wassersprinkler sattgrüne Rasenfläche eingebettet war. Eine zwischen die beiden Kirschbäume gespannte Makramee-Hängematte lud zum Träumen ein. Im hinteren Teil des Gartens fiel die Rasenfläche zu einem sich durch die liebliche Odenwälder Landschaft windenden Bächlein hinab. Dahinter grasten braun-weiß gefleckte Kühe auf saftigen Wiesen, bis das Gelände zum Höhenzug der Tromm anstieg und Fichten, Kiefern, Buchen sowie Eichen die grünen Hügel bewaldeten.

Die Entscheidung, die laute, dreckige und giftige Chemiewolken ausdünstende Stadt hinter sich zu lassen, hatte er noch keinen Augenblick bereut. Er war dankbar, dass der unverhoffte Nebenerwerb, der sich für ihn und seinen Partner aufgetan hatte, seiner Familie ein Leben im Paradies ermöglichte. Dass er anderen damit ihr Leben in genau diesem Paradies zur Hölle machte, daran wollte er nicht denken. Er würde den Goldesel, den er durch Zufall aufgetan hatte und der durch das Nichtstun der verantwortlichen Stellen groß und stark geworden war, weiter hegen und pflegen. Damit dieser nicht aufhörte, vorne und hinten seine Golddukaten auszuspeien. Er konnte sich kein Mitgefühl leisten, musste zuerst an sich und seine Familie denken.

Lächelnd wandte er sich seiner jüngsten Tochter zu: »Ich komme, wenn ich die Rechnungen fertig geschrieben habe.«

»Meinetwegen«, erwiderte das Mädchen und hüpfte zu der tomatenroten Plastikliege am Poolrand, auf dem der brandneue Grundig Radiorekorder lag.

»Nothin’ lasts forever, even cold November rain«, trällerte Axl Rose vonGuns N’Roses, der in diesen Ferien erklärten Lieblingsband seiner Töchter, in die Hitze des Spätsommertages.

Nachdenklich, mit gebeugten Schultern kehrte er zu seinem Schreibtisch und dem darauf wartenden Papierkram zurück. Nothin’ lasts forever, nichts ist für die Ewigkeit. War das etwa ein Zeichen, eine Warnung?

Nein, dachte er und schüttelte energisch den Kopf. Sie hatten alles getan, damit niemand ihnen auf die Schliche kam. Es gab nichts, was ihnen Sorgen bereiten müsste. Die Ängste, die ihn manchmal heimsuchten, waren grundlos.

1. Kapitel

Im ersten Augenblick wusste Charlotte Knapp, die alle seit ihrer Kindheit Charlie nannten, nicht, wo sie sich befand. Die munter schallenden Trompetentöne gehörten nicht zu ihrem Alltag.

Charlie blies sich eine rotblonde Haarsträhne, die ihre Nasenspitze kitzelte, aus dem Gesicht und richtete sich im Bett auf. Sie hatte am Vorabend wieder ewig gebraucht, um einzuschlafen, weil die knapp zehn Zentimeter lange Narbe am linken Oberarm schmerzte. In der Reha hatte man sie gewarnt, dass sie die Narbe täglich dehnen und massieren müsste. Die letzten Tage waren zu hektisch gewesen, als dass Charlie den Ratschlag hätte beherzigen können.

Der Klang der Trompete erstarb und Charlie begriff endlich, woher die musikalische Untermalung stammte. Sie schlug die Bettdecke zur Seite und ging zum Fenster des Gästezimmers ihrer besten Freundin, von wo aus sie einen Blick auf den gut 130 Meter hohen Turm des Hamburger Michels hatte. Der Michel-Türmer hatte gerade vom Türmerboden auf dem siebten Boden des Turms seinen morgendlichen Choral, den er in alle vier Himmelsrichtungen blies, beendet. Charlies Blick fiel auf ihr Handy. Fünf nach zehn! Die Zimmertür knarzte klagend, als sie über die Schwelle trat und in die Küche eilte.

»Warum, um Himmels willen, hast du mich nicht geweckt?« Der Vorwurf in Charlies Stimme war nicht zu überhören.

Frieda Olsen drückte hastig ihre Zigarette auf der Untertasse ihrer Teetasse aus. »Ich habe dich gestern Nacht lange herumrumoren hören. Da habe ich mir gedacht, dass du gut noch eine Mütze Schlaf gebrauchen könntest.«

Charlie ließ sich auf den zweiten Küchenstuhl plumpsen. »Ich muss diese blöden Ängste langsam wirklich in den Griff bekommen.«

Frieda Olsen stand auf, holte eine Tasse aus dem Küchenoberschrank und goss von der dunkelgoldenen Flüssigkeit ein. Wortlos schob sie die Dose mit dem braunen Krustenkandis zur Freundin hinüber. Charlie bediente sich und rührte gedankenverloren in ihrer Tasse.

»Der Ortswechsel ist genau das, was ich jetzt brauche«, meinte sie.

»Warum muss es ausgerechnet der Odenwald sein?« Auf Friedas zarten Gesichtszügen spiegelte sich eine Mischung aus Kummer und Tadel.

»Weil es meine Heimat ist«, erwiderte Charlie und fügte mit einem Grinsen hinzu: »Im Herzen bin ich noch immer ein Ourewäller Mädsche.«

Frieda schüttelte den Kopf, sodass die weizenblonden Locken um ihr herzförmiges Gesicht tanzten. »›Mädsche‹ ist ein bisschen zu optimistisch ausgedrückt«, schnaubte sie.

»Ich habe die 40 noch vor mir«, erwiderte Charlie mit Würde.

»Meine paar Monate Vorsprung musst du mir nicht dauernd unter die Nase reiben«, gab Frieda spitz zurück. Dann eilte sie zur Freundin und schloss sie seufzend in die Arme.

»Ach, Charlie! Der Odenwald ist so weit weg von Hamburg.«

Charlie drückte die Freundin fest an sich. »Nur gut 550 Kilometer«, erwiderte sie mit belegter Stimme. »Die schaffst du mit deinem flotten Flitzer in gut sechs Stunden. Mit meinem alten Camper bin ich dagegen fast einen ganzen Tag unterwegs.«

Frieda löste sich aus der Umarmung und schaute Charlie fragend an. »Bleibt es dabei? Willst du wirklich noch losfahren?«

Charlie rieb sich mit der rechten Hand die unter dem Schlafanzug verborgene Narbe. »Es noch länger hinauszuschieben, macht die Sache nicht einfacher.«

»Bitte, bitte! Lass uns heute noch einen richtigen Mädchenabend machen«, bettelte Frieda. »So wie früher. Wir bestellen uns eine Pizza …«

»Mit Oliven, aber ohne Artischocken«, warf Charlie grinsend ein.

»Und dann schauen wir uns noch mal ›Schlaflos in Seattle‹ an.« Frieda strahlte.

Charlie war anzusehen, dass sie mit sich rang. Dann ließ sie die Hand sinken und straffte die Schultern. »Du kannst mich zu Pfingsten im Odenwald besuchen. Dann holen wir unseren Mädchenabend nach. Versprochen.«

Das Lachen wich aus Friedas Augen. Sie wusste, wann sie sich geschlagen geben musste. Charlie hatte so einen verdammten Dickkopf. Dem kaum eine Wand standhielt. Wenn Charlie sich etwas vornahm, dann setzte sie es in die Tat um. Koste es, was es wolle.

»Soll ich dir eine Kanne frischen Tee für unterwegs aufbrühen?« Frieda bemühte sich, das Zittern ihrer Stimme auf ein Mindestmaß zu begrenzen.

»Das wäre lieb.« Charlie hauchte der Freundin einen Kuss auf die Wange. »Ich spring schnell unter die Dusche.«

20 Minuten später tastete sich der rote Ford Ranger Pick-up mit der weißen Aufsatzkabine aus der engen Parklücke. Charlie drückte zum Abschied dreimal kurz auf die Hupe, dann bog sie in die nächste Querstraße ein. Ihr Brustkorb krampfte sich schmerzhaft zusammen. Der Tränenschleier vor den Augen machte das Manövrieren in der beidseitig mit parkenden Autos vollgestopften Straße knifflig. Charlie fuhr sich mit dem rechten Unterarm über die Augen und schniefte. Dann hatte sie sich wieder im Griff. Auch wenn ihr Herz schmerzte und der Abschied von Hamburg ihr schwerer fiel, als sie nach außen zugeben wollte, war sie sich sicher, die richtige Entscheidung getroffen zu haben.

Vorsichtig manövrierte sie ihren Camper durch die Straßen der Großstadt und fädelte sich auf der A7 zwischen einen Lastwagen aus Polen und einen Reisebus aus Schleswig-Holstein ein. Dort positionierte sie den Tempomat auf 80 Stundenkilometer und achtete darauf, zu ihrem Vordermann genügend Abstand zu halten. In dem rot-weißen Camper befand sich alles, was sie noch besaß.

Reiner Haase gab der letzten braun-weiß gefleckten Kuh, die das Melkkarussell verließ, einen zärtlichen Klaps auf die Kruppe und schnappte sich den Schlauch des Hochdruckreinigers. In knapp 20 Minuten waren das von den Kühen eingekotete Karussell und der Innenraum mit den technischen Apparaten wieder blitzblank und hygienisch. Als Reiner Haase sich im angrenzenden Umkleideraum aus dem wasserdichten Overall und den Gummischuhen schälte, kam seine Mutter, Gertie Haase, durch die Tür.

»Frieschdick iss ferddisch«, verkündete sie und reichte ihrem Sohn, der sich die Arme bis zum Ellbogen eingeseift und abgespült hatte, ein Handtuch.

»Ist Emelie aus ihrem Zimmer aufgetaucht?«, wollte Reiner wissen und hängte das Handtuch an den Metallhaken.

»Noch nedd goanz«, musste seine Mutter zugeben. »Äwwer isch häbb geheerd, dess de Dosch owwe im Bad geloafe hodd.«

»Dann besteht zumindest Hoffnung.« Reiner Haase legte seinen Arm um die schmalen Schultern seiner Mutter. Trotz ihrer grauen Naturlocken, die sie knapp schulterlang trug und mit zwei Spangen aus dem Gesicht hielt, hatte sie etwas Mädchenhaftes an sich. Ihre kornblumenblauen, von feinen Fältchen wie Sonnenstrahlen eingerahmten Augen strahlten vor Energie und Optimismus. Dabei war sie früh Witwe geworden und hatte den Hof von einem Tag auf den anderen übernehmen müssen. Ihre Söhne, Gunter und Reiner, waren ihr eine große Stütze gewesen, doch sie steckten beide beim Tod ihres Vaters mitten in der Ausbildung. Gunter studierte an der Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung in Wiesbaden und Reiner wollte nach dem Studium der Agrarwissenschaften in Gießen seinem Vater zur Seite stehen. Jetzt lag die ganze Last der Verantwortung für den malerisch in ein kleines Seitental des Trommer Höhenzuges gebetteten Atzeldoalhof auf seinen Schultern. Reiner Haase wandte sich mit breitem Grinsen an seine Mutter:

»Bereit für den morgendlichen Wahnsinn?«

Gertie Haase nickte. »Alla guud! Isch bin do mol neigierisch, woas dess Buberdier heid fer uns barad hodd.«

In der großen Wohnküche goss sich Theo Sauer eine Tasse von dem Kaffee ein, den Gertie vor ihrem Gang in den Stall aufgesetzt hatte, und breitete die Odenwälder Zeitung auf dem Küchentisch aus. Er hatte gerade die Seite mit den aktuellen Todesanzeigen aufgeschlagen, als er ein Poltern auf der Treppe zum ersten Obergeschoss vernahm und die Tür aus geöltem Kiefernholz so heftig aufgerissen wurde, dass sie gegen die weiß verputzte Wand donnerte.

»Warum hat mich niemand geweckt?« Emelies haselnussbraune Augen funkelten wütend.

»Weil du uns mindestens hundertmal erklärt hast, dass du nicht mehr von uns geweckt werden willst«, antwortete Theo Sauer ungerührt. Mit Erleichterung stellte er fest, dass niemand, den er kannte, heute im Überwald zu Grabe getragen wurde. So konnte er sich in aller Ruhe dem Lokalteil widmen. Als er nach seiner Kaffeetasse griff, musste er feststellen, dass diese in Emelies Hand gelandet war. Emelie öffnete den Kühlschrank und zog den Tetrapak mit der Hafermilch aus dem Flaschenfach der Kühlschranktür. Theo Sauer seufzte, erhob sich mit steifen Beinen, holte eine frische Tasse aus dem Schrank und goss sich noch mal vom Kaffee nach. Dann schnitt er sich ein Stück von dem Odenwälder Frühstückskäse ab, der knapp 15 Kilometer nordöstlich in einer kleinen Käserei im Mossautal produziert worden war.

Emelie verdrehte genervt die Augen. »Mann, wie oft habe ich dir erklärt, …?«

»… dass ich wegen des bösen, bösen Cholesterins mit einem Bein im Grab stehe«, vervollständigte Theo Sauer kauend den Satz.

Emelie war seit den letzten Sommerferien bekennende Veganerin und ließ keine Gelegenheit aus, ihr Umfeld mit gut gemeinten Ratschlägen zu traktieren. Theo sorgte sich jedoch mehr um seinen Rücken als um Cholesterin, Laktose, gesättigte Fettsäuren und was Emelie sonst noch verteufelte. Immer wenn ein Wetterwechsel nahte, zwickte ihn sein Ischias. Vielleicht, dachte Theo und rieb sich die schmerzende Rückenpartie, sollte ich es mir überlegen und zu Suzanne nach Florida ziehen. Seine Tochter hatte vor acht Jahren, von einem Tag auf den anderen, Weinheim und die Bergstraße verlassen, um einen gut dotierten Job als Hotelmanagerin in Miami anzunehmen. Diese für Suzanne untypische Knall-auf-Fall-Entscheidung hatte Theo gewaltig zugesetzt. Ihn dazu gezwungen, seine eigenen Zukunftspläne zu revidieren. Bis dahin war er fest davon ausgegangen, dass Gunter Haase sein Schwiegersohn werden und Suzanne das Familienrestaurant auf dem Weinheimer Marktplatz übernehmen würde. Doch Suzanne hatte sich für Florida entschieden. Schweren Herzens musste Theo das Restaurant, das bereits sein Großvater geführt hatte, verkaufen. Statt Pfälzer Saumagen, Odenwälder Kartoffelsuppe, Kochkäse-Schnitzel mit Bratkartoffeln sowie hausgemachtem Schobbekäs’ auf rustikalem Sauerteigbrot servierte man dort inzwischen Pizza und Pasta. Theo spürte, wie ein bitterer Geschmack sich auf seiner Zunge breitmachte. Er spülte die Erinnerung mit einem Schluck Kaffee hinunter. Es gab keinen Grund, sich zu beklagen. Schließlich war er nicht in einer dieser Menschenverwahranstalten, die man auf Neudeutsch Seniorenresidenzen nannte, sondern bei Gertie und Reiner auf dem Atzeldoalhof gelandet. Hätte schlimmer kommen können, Alter, wies er sich zurecht. Viel schlimmer.

»Sollte gestern nicht diese Dingsda, diese Bekannte von Paps kommen?«, unterbrach Emelie Theos Gedanken, während sie ihre Kaffeetasse bis zum Rand mit Hafermilch auffüllte. Weil die Flüssigkeit bei der kleinsten Bewegung überzuschwappen drohte, spitzte sie die Lippen und nahm schlürfend ein paar kleine Schlucke.

»Ist wohl was dazwischengekommen«, brummte Theo und widmete sich wieder der Zeitung.

»Wem is woas dozwischekumme?«, wollte Gertie wissen, die ihre dicke graue Strickjacke über die Stuhllehne hängte und ebenfalls nach der Kaffeekanne griff.

Emelie wischte sich den Kaffee-Hafermilch-Bart mit dem Unterarm ihrer lila Tunika, die sich wunderbar mit ihrem durch Henna karottenrot gefärbtem Haar biss, von der Oberlippe. »Na, diese Anwalts-Schickimicki aus Hamburg.«

Reiner Haase ließ sich müde auf einen der mit Korbgeflecht bezogenen Küchenstühle fallen. »Das ist keine Schickimicki, sondern meine Schulfreundin Charlie.«

Emelie zog die hellbraunen, zu zwei dünnen Strichen gezupften Augenbrauen in die Höhe. »Du und eine Freundin? In der Schule? Hätte ich dir gar nicht zugetraut. Krass!«

»Ist aber so«, erwiderte Reiner ungerührt, während er sich ein Brötchen aufschnitt und die untere Hälfte üppig mit Butter und hausgemachter Brombeermarmelade bestrich.

»Das ist mit Sicherheit so eine Superpeinliche. So mit dunkelgrauem Kostüm, Hochsteckfrisur und intellektueller Hornbrille. Die den ganzen Tag auf Pfennigabsätzen herumtackert und aus Prinzip alles besser weiß.« Emelie kam gerade richtig in Fahrt. Mürrisch schüttelte sie die ihr weit über die Schultern reichenden karottenroten Rastalocken, wodurch die vielen kleinen Dreadlockperlen und -ringe wie Kastagnetten klapperten.

»Du guggschd zu veel Fernseen«, erwiderte Gertie kopfschüttelnd.

»Hast du deine Matheaufgaben gemacht?«, versuchte Reiner das Thema zu wechseln.

»Nicht alle, aber ziemlich viele.« Emelie schnappte sich ein Mohnbrötchen und biss herzhaft hinein. »Den Rest mache ich mit Luka im Bus. Alles easy.«

Reiner seufzte. Theo verkniff sich ein Schmunzeln. Hinter Emelies heftig pubertierender Schale steckte ein patenter Kern. Sowie ein flinkes Hirn. Die Kleine würde ihren Weg im Leben machen, da war Theo sich ganz sicher.

Gertie Haase sprang auf, um nochmals Kaffee aufzusetzen. »Ehrlisch gsoad, koann isch misch gar nedd mehr sou rischdisch an de Scharlodde endsinne«, meinte sie nachdenklich.

»War sie mit dir auf deinem Zimmer? Ich meine, so ganz allein, wenn Oma im Stall oder mal weg war?« Emelie schaute ihren Vater interessiert an.

»Charlie war meine Freundin«, erwiderte Reiner mit Würde.

»Eben!«, konterte Emelie.

»Freundin im Sinne von bester Kumpel. So einer, mit dem man Pferde stehlen kann«, fühlte Reiner sich bemüßigt zu präzisieren.

»Äwe fällt’s mer wedder ein!« Gertie ließ den Löffel, mit dem sie Kaffeepulver in den Filter hatte geben wollen, sinken. »Hodd dir de Scharlodde nedd korz vor dem Abitur noch Nachhilfeschdunde gäwwe? In Maddematik unn Fysik?«

Reiners Ohrspitzen nahmen beinahe die gleiche Färbung wie die Rastalocken seiner Tochter an.

»Ich hab ihr dafür beigebracht, wie man bei ihrem Huddl die Zündkerzen wechselt und einen Ölwechsel macht«, versuchte er sich zu rechtfertigen.

»Olieweleid, woas fer enn Sauerei hoschde do gemoachd!« Bei der Erinnerung an die ölverschmierten T-Shirts und Hosen ihres jüngsten Sprösslings verzog Gertie Haase den Mund zu einer Grimasse.

»Hör auf zu knoddern, Modder!« Reiner legte seine rechte Hand kurz auf den Unterarm seiner Mutter.

»Du Simbel!«, neckte Gertie Haase ihren Sohn liebevoll. Sie wusste natürlich, dass er alles andere als ein Blödmann war. Das bewies er jeden Tag aufs Neue bei der Führung des Atzeldoalhofes.

Emelie verdrehte erneut die Augen zur weiß verputzten Küchendecke. »Manno! Merkt ihr nicht, wie peinlich ihr seid?«

»Musst du nicht zum Bus?« Reiner Haase schaute demonstrativ auf die über der Anrichte hängende Uhr.

»Uff jedz, alla hopp!«, drängte Gertie ihre Enkelin.

Emelie schnappte sich ihren mit einem großen gelben V bemalten Rucksack und spurtete los.

Als sie ihren Rucksack vor der Haustür schulterte, bog ein roter Pick-up mit weißer Aufsatzkabine in die Hofeinfahrt ein.

»Paps!«, schrie Emelie. Der Schulbus war fürs Erste vergessen.

Als Charlie endlich die mit Titanzink eingedeckten Dächer der Stallungen von der schmalen Straße, die kaum Begegnungsverkehr zuließ, ausmachen konnte, atmete sie erleichtert auf.

Weil sie nach 15-jähriger Abwesenheit nicht mehr sicher gewesen war, den Atzeldoalhof ohne Hilfe auf Anhieb zu finden, hatte sie sich auf ihr Navi verlassen. Das hatte sie prompt auf den kürzesten, aber auch abenteuerlichsten Weg geleitet. Von der Autobahn hatte das Navi Charlie zuerst über die schmalen, sich an die grünen Hügel der Juhöhe schmiegenden Windungen geführt, ihr bei der Auffahrt auf die Kreidacher Höhe einen Blick auf die neu entstandene Sommerrodelbahn gegönnt, um sie dann kurz vor der Polizeistation in Wald-Michelbach links auf eine schmale Straße zu führen, wo sie wegen des morgendlichen Gegenverkehrs gleich zweimal die Ausweichbuchten hatte aufsuchen müssen. Nachdem Charlie ihren Camper durch eine kleine, landwirtschaftlich geprägte Ortschaft gelenkt hatte, landete sie auf einer noch schmaleren Straße, die sich zwischen Wiesen und Feldern durchschlängelte. Der durch die Regenfälle der vergangenen Tage angeschwollene Kocherbach plätscherte munter an der gleichnamigen Ortschaft entlang, wo Charlie aufgrund der eng stehenden Häuser Sorge hatte, mit der Aufsatzkabine ihres Campers an einer Dachrinne oder einem Mauervorsprung anzuecken. Als ihr dann noch ein froschgrünes Monster von Traktor entgegenkam, wurden Charlies Hände, die das Lenkrad umklammerten, feucht. Der Traktorfahrer hatte ein Einsehen mit ihr, bugsierte sein riesiges Gefährt mit einer Leichtigkeit, um die Charlie ihn beneidete, in eine Einfahrt und ließ sie passieren. An der nächsten Straßengabelung bog Charlie rechts ab und stellte mit Erleichterung fest, dass ihr Ziel nur wenige Meter vor ihr lag.

Während sie den Camper im Schritttempo die hufeisenförmige Hofeinfahrt hochlenkte, musste sie feststellen, dass sie kaum etwas wiedererkannte. Der alte, mit blassroten Ziegeln eingedeckte Stall war zwei hochmodernen Stallungen sowie mehreren Fahrsilos gewichen. Dort, wo früher die Hühner auf dem stattlichen Misthaufen gekratzt hatten, stand jetzt ein mit rauen Holzbohlen eingefasster Round-Pen für die Pensionspferde. Nur am Wohnhaus hatte sich, wie Charlie mit Erleichterung feststellte, nicht viel verändert. Auf den weiß verputzten Fensternischen standen Blumenkästen mit bunten Primeln. Unter dem weit vorgezogenen Vordach stand die alte gusseiserne Bank, auf der Reiner und sie unzählige Stunden gesessen und Zukunftspläne geschmiedet hatten. Nur eine Handvoll davon war in Erfüllung gegangen. Charlie seufzte.

Dann ging plötzlich alles ganz schnell. Durch die Haustür quoll eine kleine, dicht gedrängte Traube von Menschen. Ein Kopf mit karottenroten Rastalocken tauchte vor Charlies Seitenfenster auf und ließ eine Kaugummiblase platzen. Die Fahrertür wurde aufgerissen und Reiner, ihr Reiner und bester Kumpel, steckte den Kopf in den Fahrerraum.

»Liewer Himmel, wo hast du bloß gesteckt? Ich hab schon gedenkt, ich müsste loslaafe und dich suche!«

Charlie zuckte kurz zurück. »Hast du meine WhatsApp nicht gelesen? Die Autobahn war am Kasseler Kreuz total dicht. Als sie die Vollsperrung endlich aufgehoben hatten, war ich so fertig, dass ich mich auf einem Parkplatz im Camper hingelegt habe.«

Ein weiterer Kopf, und zwar der mit den erstaunlich roten Rastalocken, drängte sich ins Fahrzeuginnere. »Paps guckt nie auf sein Handy.«

»Jedz loss des Mädsche doch erschd emol aussteige!«, fuhr Gertie Haases energische Stimme dazwischen.

Charlie schälte sich aus dem Sicherheitsgurt und stieg mit steifen Beinen aus.

»Schön, dass du wieder hier bist!« Reiner schloss Charlie in seine Arme und drückte sie fest an sich. Für einen Moment ließ Charlie ihre Stirn auf den grauen, ein wenig kratzigen und dezent nach Kuh riechenden Wollpullover sinken. Dann löste sie sich aus der Umarmung und schaute den Schulfreund mit verräterisch glänzenden Augen an.

»Danke, dass ich fürs Erste bei euch unterkommen darf.«

»Ist doch selbstverständlich.« Reiner machte eine Handbewegung, so als wollte er Charlies Bedenken wegwischen.

»Nein«, erwiderte Charlie und wischte sich mit dem Unterarm über die feuchten Augen. »Das ist es nicht.«

In den vergangenen schweren Monaten hatte sie erfahren müssen, dass sich viele, die sie in Hamburg zu ihren Freunden gezählt hatte, von ihr abwandten. Hinter ihrem Rücken über sie tuschelten. Obwohl sie persönlich an den Geschehnissen nicht die geringste Schuld traf. Sie hatte sich nur selbst verteidigt.

»Cool! Kann man in dem Ding da echt pennen? So mit Bett und Klo und allem?« Emelie hatte für den Anflug von Rührseligkeit bei den Erwachsenen kein Verständnis. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte durch das Heckfenster des Campers zu schauen.

»Wenn du Lust hast, zeig ich dir nachher alles«, bot Charlie an.

»Aber vorher verschwindest du flugs in die Schule!«, mischte sich ihr Vater ein. »Wenn du dich beeilst, schaffst du den Bus gerade noch.«

Emelie warf einen Blick auf ihr Handy. »Nee, zu spät«, stellte sie lakonisch fest.

Theo zog sie sanft am Oberarm vorwärts. »Komm, ich fahr dich!«

»Unn isch, isch mach in de Kisch frische Kaffee.« Gertie vermutete, dass ihr Sohn und seine Jugendfreundin einen Moment für sich allein haben wollten.

Reiner sah seiner Mutter hinterher, wie sie leichten Fußes die vier Stufen zum Haus erklomm und hinter der schokobraun lackierten Flügeltür verschwand.

»Wie geht es dir wirklich?«, wollte er leise von Charlie wissen. »Ich hab mir Sorgen gemacht. Nach der Trennung hättest du schon viel eher in Hamburg einen Schlussstrich ziehen sollen.«

Charlie strich sich eine rotblonde Strähne, die ihr die leichte Frühlingsbrise in die Stirn geweht hatte, zurück hinter das Ohr.

»Ich wollte mir selbst beweisen, dass ich es trotz allem schaffe«, sagte sie und seufzte. »Aber weißt du, eines Morgens lag ich im Bett und dachte: So kann es nicht weitergehen. Dieses ständige Hinundhergerissen-Sein macht mich fertig. Je länger ich zögerte und zauderte, desto weniger brachte ich auf die Reihe. Irgendwann hatte ich das Gefühl, dass mir mein ganzes Leben aus den Händen gleitet.« Charlie schaute ihren Schulfreund mit tränennassen Augen an. »Ich kam mir vor wie ein Zombie. War überhaupt nicht mehr ich. Himmel! Ich komme mir wie ein verdammter Versager vor«, flüsterte sie.

»Komm!« Reiner zog sie zurück in seine Arme. »Du bist kein Versager! Du hast eine schwierige Lebensphase hinter dir. Musstest in letzter Zeit viel durchmachen. Das zu verarbeiten braucht Zeit. Und Geduld. Am meisten von dir selbst.«

»Wo gerade Geduld eine meiner Kernkompetenzen ist«, versuchte sich Charlie mit einem wässrigen Lächeln in Selbstironie.

»Wir packen das! Der Atzeldoalhof und der Ourewoald werden dir guttun.« Reiner gab Charlie einen aufmunternden Klaps auf das Schulterblatt. »Aber zuerst trinken wir Modders Kaffee.«

Charlie schluckte, um den dicken Kloß im Hals loszuwerden. »Kaffee mit Milch frisch von der Kuh? So wie früher?«

»Ganz so wie früher!«, versicherte ihr Reiner. »Nur dass unsere Milch inzwischen viel cremiger ist.«

»Cremiger als die im Norden?«, zog Charlie ihn auf.

»Die Schnellschwätzer von der Küste haben nicht den blassesten Schimmer, wie enn guude Milisch überhaupt buchstabiert wird.«

»Immer noch so bescheiden wie früher«, frotzelte Charlie, die spürte, wie die schwere Last auf ihren Schultern ein Stück leichter wurde. Sie streckte die Arme über dem Kopf aus. Sog begierig die frische, klare Waldluft, die mit einem Hauch von Kuh, Pferd, Heu, und was sonst noch zum Landleben dazugehörte, erfüllt war, ein.

»Dehoam«, murmelte sie und folgte Reiner ins Haus.

3. Kapitel

»Ich mache mir Sorgen um dich!« Reiner Haase schaute vom Bildschirm seines Computers auf, wo er die Daten der vergangenen Tage für die Molkerei eingab. Ein Becher mit Kaffee, der kalt und bitter geworden war, stand neben seinem rechten Ellbogen.

Charlie Knapp blickte ebenfalls vom Bildschirm ihres Laptops auf und runzelte die Stirn. »Weil ich noch immer keine eigene Wohnung gefunden habe? Aber es ist im Moment wie verhext. Wenn überhaupt etwas angeboten wird, ist es entweder zu groß oder zu teuer. Meistens beides zusammen. Und mit der Kanzlei bin ich auch noch kein Stück weitergekommen.« Charlie seufzte und fuhr sich mit der Hand über die Augen, die sich trocken anfühlten und brannten.

Reiner stand auf und reckte sich, wobei seine Schulterknochen knackten. Er hasste den ganzen Papierkram, der mit der Führung eines modernen landwirtschaftlichen Betriebes einherging und, wie es aussah, von Monat zu Monat mehr wurde. Mit Wehmut dachte er an die Zeiten zurück, in denen sein Vater die Verwaltung für Hof und Milchwirtschaft mit einem simplen Taschenrechner und drei DIN-A4-Ordnern bewältigt hatte. Heute musste man nicht nur Landwirt, sondern zusätzlich Unternehmer, Steuerfachmann, Tierarzt und Computerfreak sein. Kein Wunder, dass nicht nur Lehrer und Beschäftigte in Heilberufen, sondern auch einige von Reiners Kollegen unter Burn-out litten. Erst vor Kurzem hatte ein weiterer Hof im Mossautal den gesamten Viehbestand verkauft. Seine Besitzer hofften, sich mit der Vermietung von Ferienwohnungen und dem Ausrichten von Hochzeiten und Firmenfeierlichkeiten in der ehemaligen Scheune über Wasser halten zu können. Nur über meine Leiche, dachte Reiner und ertappte sich dabei, wie er die Hände zu Fäusten ballte. Trotz aller Schwierigkeiten mit dem Finanzamt und der Bank würde er bis zum letzten Atemzug kämpfen, um den Atzeldoalhof als echten Bauernhof zu erhalten.

Wie zur Bestätigung krähte Cäsar, der stolze Hofhahn und Hüter über die Schar von gut 20 Hennen, auf der Obstbaumwiese. Reiner rieb sich über die Stirn, um die trüben Gedanken zu vertreiben. Dann ging er zu Charlie, die mit angewinkeltem rechtem Bein auf dem alten Ledersofa gegenüber dem großen, aus hellem Kiefernholz angefertigten Schreibtisch saß.

»Babbel keinen Blödsinn!« Reiner legte seine Hand kurz auf Charlies Schulter. »Von mir aus kannst du für immer auf dem Hof bleiben. Und die Modder sieht das ebenso.«

Charlie räusperte sich, um den Kloß, der sich in ihrem Hals festgesetzt hatte, zu lösen. »Ach, Reiner!«, erwiderte sie und schaute den Freund mit einem wässrigen Lächeln an. »Ich weiß eure Gastfreundschaft wirklich zu schätzen. Wenn ihr mich nicht aufgenommen hättet, wäre ich mit dem Camper auf einem Campingplatz gelandet. Oder hätte von Parkplatz zu Parkplatz ziehen müssen.«

»Emelie ließe sich für diese Lebensart bestimmt begeistern«, meinte Reiner grinsend. »Solange genügend Hafermilch für ihr Chia-Müsli im Kühlschrank stehen würde und ihr Handy ausreichend Empfang hätte, wäre für sie alles megageil.«

»Wenn das mit der Wohnung erledigt ist, löse ich mein Versprechen ein und mache einen Wochenendausflug mit Emelie.« Charlie klappte ihren Laptop zu und streckte das verkrampfte rechte Bein aus. Heute hatte sie bei der Suche nach einer neuen Bleibe wieder mal kein Glück. Sie würde sich in Warten üben müssen. Eine Tugend, die nicht gerade zu Charlies Hauptstärken zählte.

»Emelie wird es dir danken!«, prophezeite Reiner. »Seit Sandras Tod kam so etwas wie Urlaub für uns nicht mehr infrage.«

»Ich kann dir den Camper in den Sommerferien gern leihen!«, schlug Charlie vor. »Damit könnt ihr für ein paar Tage von hier raus. Könnt mal was anderes unternehmen, als immer nur die eigene Landluft schnuppern!«

Reiner fuhr sich durch das hellbraune Haar, das an den Schläfen und den kurz gehaltenen Koteletten von Grau durchsetzt war. »Danke für das Angebot! Aber in der jetzigen Lage traue ich mich nicht vom Hof. Bis Jahresende müssen wir die Kurve gekriegt haben.«

Charlie sprang auf. Ihr rechter Fuß war eingeschlafen und sie humpelte durch das Büro, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen. »Sag mir einfach, was ich dir noch abnehmen kann!«, rief sie aus. »Ich bin zu mehr zu gebrauchen, als Kartoffeln zu schälen und Eier im Hühnerstall einzusammeln. Ihr behandelt mich wie eine Porzellanprinzessin, die bei der geringsten Berührung zerbricht.«

»Du wolltest es doch langsam angehen lassen. Dich nicht gleich wieder überfordern«, wandte Reiner ein.

»Mir geht es gut«, behauptete Charlie, obwohl ihr blasses Gesicht das Gegenteil offenbarte.

»Statt dich hinter deinem Laptop zu verkriechen, solltest du besser schauen, dass du an die frische Luft kommst!«, schlug Reiner vor.

»Ich hab heute Morgen mit Gertie die Pferde auf die Weide gebracht. Und die Streu im Hühnerstall erneuert.«

»Trotzdem! Du musst mal was anderes sehen als den Hof und die Viecher.« Reiner fiel auf Charlies Ablenkungsmanöver nicht herein. »Schnapp dir deine Wanderschuhe und geh eine Runde in den Wald! Heute ist so herrliches Wetter!«

Charlie verzog den Mund zu einer Grimasse. »Nee, nicht wirklich. Laufen um des Laufens willen war noch nie so mein Ding. Deswegen hatte ich damals ja auch mein Moped.«

»Du und dein dabbisches Huddl.« Reiner grinste.

»Mein doofes Moped hat mich, wie du dich vielleicht erinnerst, überall dorthin gebracht, wohin du damals laufen musstest«, erwiderte Charlie mit Würde.

»Die guude oalde Zeit!«, frotzelte Reiner.

»Die seit mehr als 15 Jahren ein für alle Mal vorbei ist.« In Charlies Stimme schwang verhaltenes Lachen, aber auch eine Spur von Sehnsucht mit.

Reiner blickte aus dem Fenster, wo nach den langen Regentagen endlich die Sonne von einem blitzblauen Himmel strahlte. Heute Nacht würden die Sterne über den Höhen des Odenwaldes funkeln. Was Reiner auf eine Idee brachte.

»Hast du heute Abend was vor?«, wollte er von Charlie wissen.

»Theo will mir meine erste Lehrstunde im Schachspielen geben«, erwiderte Charlie, wobei sie alles andere als begeistert aussah. »Ich weiß bloß nicht, ob ich das nötige Sitzfleisch dafür aufbringe.«

»Theo kann es auch nicht schaden, sich mal ein bisschen Landluft um die Nase wehen zu lassen«, beschloss Reiner. »Ich nehme an, du hast deine Winterjacke mitgebracht?«

»Klar doch! Meinst du, ich hätte vergessen, wie es in Hessisch Sibirien ist?« Charlie grinste den Schulfreund frech an.

Der grinste zurück. »Dann zieh dich um kurz nach halb sieben warm an. Ich verspreche dir, dass dir heute Abend ein außergewöhnliches Spektakel geboten wird.«

»Bei mir auf der Stub wär’s gemütlicher gewesen«, maulte Theo Sauer, als er sich auf die Rückbank des alten Subaru Geländewagen plumpsen ließ.

»Sou enn Theader wäije de Oalde Römer.« Auch bei Gertie Haase war der Vorschlag ihres Sohnes, sich das Anzünden des Lärmfeuers auf der Gaderner Höhe anzuschauen, auf wenig Begeisterung gestoßen. »Enn dabbisches Feier häddeme äwweraach bei uns im Kaminouwfe oanzünde kenne.«

»Jetzt sei kein Spielverderber, Modder!« Reiner Haase lenkte den Subaru die hufeisenförmige Hofeinfahrt hinunter und hielt sich rechts in Richtung Kocherbach. Im schmalen Tal zwischen dem Steckelsberg und der »Im Rod« genannten Höhe hatten sich die Schatten der Abenddämmerung breitgemacht, doch auf der Anhöhe würde sich ihnen an diesem klaren Abend ein fantastischer Weitblick über die Rheinebene bis hin zu den Ausläufern des Pfälzer Waldes bieten. Das Wetter war in diesem Jahr ausnahmsweise wie geschaffen, die Jahrtausende alte Tradition aufleben und auf den Odenwälder Höhen die Lärmfeuer aufleuchten zu lassen.

»Sou enn Bleedsinn!« Gertie blieb stur bei ihrer Meinung. Reiner seufzte. Er war davon ausgegangen, seiner Familie mit dem Ausflug eine Freude zu machen. Aber weit gefehlt: Selbst Emelie, die normalerweise für alles, was nicht zum normalen Alltag gehörte, zu haben war, hatte rigoros abgelehnt. Sogar richtig wütend war sie geworden, als Reiner sie hatte überreden wollen. Lediglich bei Charlie konnte Reiner einen Hauch von Begeisterung erahnen. Aber vielleicht war sie nur höflich, dachte er betrübt. Seit Sandras Tod schien er es niemandem mehr recht machen zu können.

»Danke für die nette Idee.« Charlie, die auf dem Beifahrersitz saß, berührte kurz Reiners Oberarm.

»Ich dachte, ein bisschen Heimatkunde könnte nicht schaden«, erwiderte Reiner mit einem schiefen Grinsen.

»Ich kann mich gar nicht an diese Lärmfeuer erinnern«, meinte Charlie nachdenklich. »Obwohl ich hier aufgewachsen bin.«

»Die Tradition geht wohl schon auf die Zeit zurück, als die Römer hier noch das Sagen hatten«, erwiderte Reiner und lenkte den Subaru den steilen Anstieg zum Hilsberg hoch.

»Als die Römer frech geworden, sim serim, sim sim sim sim«, trällerte Theo von der Rückbank.

»Obwohl sie in ihrem Expansionsstreben ziemlich frech waren«, nahm Reiner den gedanklichen Faden auf, »mussten die Römer dennoch schauen, dass ihnen die Feinde nicht die Bude beziehungsweise den von ihnen erbauten Odenwaldlimes einrannten.«

»Limes?« Charlie runzelte die Stirn. »Haben wir dorthin nicht einen Schulausflug gemacht?«

»Genau! Wir waren in diesem Kastell in Osterburken! Mit dem ollen Schollmeier!«

»Dr. Artur Schollmeier. Auf die Nennung seines Titels hat er ganz besonderen Wert gelegt«, erinnerte sich Charlie.

»Ich habe den immer nur Schollie genannt. Was mir bestimmt die Vier in Geschichte eingebracht hat«, musste Reiner eingestehen.

»Na, nedd deswäije, sonnern weil du sou woas vunn faul gewäse bischd«, mischte sich Gertie ein.

Reiner warf seiner Mutter über den Rückspiegel einen gereizten Blick zu. »Danke, Modder.«

»Aber was hat der Limes mit dem Feuer zu tun?«, bemühte sich Charlie, das Gespräch auf das Ursprungsthema zurückzuführen.

»Sobald die Römer mitbekamen, dass sich Feinde dem Limes näherten«, nahm Reiner den Themenwechsel dankbar auf, »haben sie auf den Anhöhen große Feuer entzündet, um Alarm zu schlagen. Mit dieser Nachrichtenkette konnten sie angeblich innerhalb von zwölf Stunden Rom erreichen.«

»Alle Achtung!«, warf Theo anerkennend von der Rückbank ein. »Später wurde von den Lärmfeuern während des Dreißigjährigen Krieges oder anderer kriegerischer Auseinandersetzungen Gebrauch gemacht«, fuhr Reiner in seinen Erklärungen fort. »Auf den Anhöhen wurden dazu Tag und Nacht bewachte Alarmstellen eingerichtet. Beim Heranrücken von Feinden steckten die an den Alarmstellen abgestellten Wachmannschaften ruck, zuck die fertig aufgestapelten Holzstöße in Brand. So waren die Leute unten in den Dörfern vorgewarnt und konnten sich gegen die Eindringlinge wappnen.«

»Ich gehe mal davon aus, dass die Feuer heutzutage in friedlicher Absicht entzündet werden«, warf Charlie grinsend ein.

Reiner nickte. »Heute geht es eher darum, an die alten Traditionen zu erinnern.«

»Unn Äbblwoi iwwer de Dorschd zu drinke. Unn am negschde Moije iss des Gepiense doann grouß.« Gertie gab ihrem Sohn einen Klaps auf die Schulter.

»Nee, ich muss fahren«, brummte Reiner.

»Seit wann werden diese Lärmfeuer denn wieder angezündet?«, wollte Charlie wissen.

»Seit 2004, wenn ich richtig informiert bin«, erwiderte Reiner.

»Da war ich schon in Hamburg …«, murmelte Charlie.

»Inzwischen sind, glaube ich, jedes Jahr etwa 30 Ortschaften mit dabei«, sagte Reiner, als er den Subaru auf dem großen geschotterten Parkplatz in der Ortsmitte zum Stehen brachte.

»Klappern wir die jetzt alle hintereinander ab?«, wollte Theo besorgt wissen.

»Nedd midd mer!«, verkündete Gertie und verschränkte die Arme vor der Brust.

Reiner unterdrückte ein lautes Aufstöhnen. So viel zum Thema »gelungener Familienabend«, dachte er. Dann zog er den Schlüssel aus dem Zündschloss und befahl: »Alle Mann aussteigen!«

Als Reiner und Charlie den gut einen Kilometer langen Weg zur Anhöhe zurückgelegt hatten, glühten Charlies Wangen wie Nikolausäpfelchen und ihr Atem kam stoßweise. Als Folge der langen Jahre im flachen Norddeutschland und in der Großstadt ließ ihre Kondition definitiv zu wünschen übrig. Charlie öffnete den Reißverschluss ihrer dick gefütterten Jacke und warf ihrem Schulfreund einen anerkennenden Blick zu. Reiner war fit wie ein Turnschuh, sodass er die auf der Gaderner Höhe versammelten Bekannten, ohne zu schnaufen, begrüßen und seine Begleitung vorstellen konnte.

Charlie schüttelte die Hände von Menschen, die behaupteten, sie aus dem Kindergarten oder der Grundschule zu kennen. Sie dagegen vermochte nicht einem Gesicht einen Namen zuzuordnen und fühlte sich inmitten des lachenden und feixenden Grüppchens seltsam fremd.

»Wieso ist hier eigentlich alles mit Sägespänen abgestreut?«, wollte Reiner von Jürgen, der im Bauamt von Wald-Michelbach arbeitete, wissen.

Jürgens Gesicht nahm einen grimmigen Ausdruck an. »Ach, das war heute eine riesige Sauerei hier oben.«