Canone Vocale - Roswitha Wildgans - E-Book

Canone Vocale E-Book

Roswitha Wildgans

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Beschreibung

Weinwirtin und Chorsängerin Maja Kuckuck findet während ihrer Geburtstagsfeier einen Gast tot auf. Der erschossene Chorsänger Felix Kirschbaum hatte als Tierarzt einen umstrittenen Ruf. Fiel er der Rache eines geschädigten Tierhalters zum Opfer? Welche Rolle spielte die Pferdebesitzerin und Bestattungsunternehmerin Petra Nagel in seinem Leben? Als Petra plötzlich verschwindet und ihre dubiose Schwester Iris das Bestattungsunternehmen übernimmt, drängt sich Maja ein fürchterlicher Verdacht auf.

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Roswitha Wildgans, Jahrgang 1963, studierte an der Musikhochschule München Gesang. Sie trat als Solistin auf, war Mitglied in verschiedenen Profichören und arbeitete mehrere Jahre als Gesangspädagogin an einer Musikschule. Sie lebt mit Mann und Tochter in der Nähe von Freising. Im Emons Verlag erschienen »Finale Furioso«, »Solo Mortale«, »Concerto Fatale« und »Chorale Criminale«.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig.

© 2014 Hermann-Josef Emons Verlag Alle Rechte vorbehalten Umschlagzeichnung: Heribert Stragholz eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-86358-732-1 Oberbayern Krimi Originalausgabe

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Meinen Eltern gewidmet

1.

»Viel Glück und viel Segen«, trällerten meine Chorkollegen durch meine brechend volle Weinstube »Zum Kuckuck«. Die ebenfalls zahlreich erschienenen Stammgäste und Freunde ließen sich nicht lumpen und stimmten in einer Tonart ihrer Wahl lautstark mit ein. Unser Chorleiter Gabriel Thurgau verzog missbilligend das Gesicht, während er sich wild fuchtelnd bemühte, wenigstens den Rhythmus nicht aus der Hand zu geben. Nachdem er den Kanon zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt angehalten und einen Schlussakkord in schiss-Moll erzwungen hatte, stand unser Chorsprecher Ullrich auf und drehte sich feierlich in meine Richtung.

»Liebe Maja«, begann er, »anlässlich deines Geburtstages möchte ich mich auch heuer wieder im Namen des gesamten Chores für dein stetes Bemühen um unser körperliches und seelisches Wohl bedanken. In dieser Weinstube schlägt das Herz des Chores, hier laufen alle Fäden zusammen, hier entsteht die innere Bereitschaft…«

»Jetzt kommen Sie doch auf den Punkt«, nörgelte Herr Thurgau ungeduldig.

Ich erhob mich schon mal von meinem Platz, um den offiziellen Teil des Abends zu beschleunigen. Gleich würde mir Ullrich eine weitere Porzellanfigur für meine bereits stattliche Sammlung an Staubfängern dieser Art überreichen, und ich würde mich wie immer artig und natürlich völlig überrascht dafür bedanken.

»Liebe Maja, auf Anregung einiger Chormitglieder haben wir uns in diesem Jahr auf ein ganz besonderes Geschenk für dich geeinigt. Da du in letzter Zeit häufig über Kreuzschmerzen geklagt hast, dachten wir…«

»…an eine Heizdecke«, ergänzte ich trocken. Offenbar waren die Porzellanfiguren momentan vergriffen.

»Falsch«, antwortete Ullrich amüsiert, die Chormitglieder kicherten.

»Gesundheitslatschen«, mutmaßte meine beste Freundin Doris grinsend. Sie zog mich seit Jahren wegen meines Stöckelschuhticks auf.

»Noch falscher.« Ullrich fand anscheinend Gefallen an dem Ratespiel.

»Ich war dagegen, das sage ich Ihnen gleich«, vermeldete nun Herr Thurgau mit erhobenem Zeigefinger.

Nanu, was mochte das denn sein? Auf einmal war ich gespannt wie ein Kind an Heiligabend. Ullrich holte ein kleines flaches Päckchen aus seiner Jackentasche und reichte es mir quer über den Tisch. Es wurde ganz still, alle warteten auf meine Reaktion.

Ich packte das Geschenk vorsichtig aus und hielt schließlich eine Art Gutscheinheft in der Hand, auf dem in fetten Lettern »Gut Frieding« und »Zehnerkarte/Einzelunterricht« stand.

»Wofür ist das?«, wunderte ich mich laut.

»Du bekommst Reitstunden«, teilte mir Ullrich freudestrahlend mit.

»Wie, auf was?«, fragte ich etwas schwer von Begriff.

»Auf einem Besen«, witzelte Thea zur allgemeinen Belustigung.

»Quatsch, auf einem Pferd natürlich«, korrigierte Ullrich lachend. Die Menge wartete nach wie vor auf einen Luftsprung meinerseits.

»Auf einem echten?«, hakte ich sicherheitshalber nach.

»Selbstverständlich!«

Ullrichs gute Stimmung bröckelte ein wenig, wohl weil mein Gesichtsausdruck nicht gerade auf Begeisterung schließen ließ.

»Es war die Idee von Felix«, verteidigte er sich plötzlich.

Schräg gegenüber japste Doris verzweifelt nach Luft. Der Versuch, ihren Lachkrampf unter Kontrolle zu halten, war soeben gescheitert. Sie prustete dermaßen laut los, dass einige Leute erschrocken zusammenfuhren. Zwei Sopranistinnen betonten aufgeregt, dass sie der Sache von jeher skeptisch gegenübergestanden hatten.

»Freust du dich denn nicht, Maja?«, fragte meine Freundin Lilli besorgt. Sie hatte diesem wirklich originellen Geschenk wohl ebenfalls zugestimmt. »Reiten ist ganz hervorragend gegen Kreuzschmerzen, das ist erwiesen.«

»Das Glück der Erde liegt auf dem Rücken der Pferde, Maja.« Diese bestimmt ehrlich gemeinte Aufmunterung kam von Petra, einer leidenschaftlichen Reiterin, die mich und die anderen Chormitglieder oft genug mit den Befindlichkeitsstörungen ihres ach so sensiblen Rosses nervte. Dabei war Petras Beruf weitaus aufregender als ihre Pferdegeschichten. Sie war nämlich Inhaberin eines kleinen Bestattungsunternehmens mitten in Freising.

Ullrich kam auf mich zu und quetschte sich neben mich auf die Bank. »Maja, ich bin untröstlich, wir wollten dir doch eine Freude machen!«, sagte er niedergeschlagen.

Der Übeltäter Felix stand ebenfalls von seinem Platz auf und drängte sich an meine andere Seite. »Maja, ich kann verstehen, dass du im ersten Moment vielleicht Angst hast, aber glaube mir, wenn du einmal dort oben gesessen bist, wirst du gar nicht mehr absteigen wollen.«

Noch hatte ich mich nicht zu dem ungewöhnlichen Geschenk geäußert; ich wusste nach wie vor nicht, was ich davon halten sollte.

»Die Schulpferde auf Gut Frieding sind lammfromm, du hast wirklich nichts zu befürchten«, redete Felix weiter auf mich ein. Er hatte wie Petra ein eigenes Pferd auf dem Reiterhof stehen, aber im Gegensatz zu ihr redete er kaum darüber. Als Tierarzt war er wohl froh, wenn sich die Gesprächsthemen hin und wieder nicht um Tiere drehten.

Mein langjähriger Angestellter Andreas flitzte grinsend an meinen Tisch und stellte unaufgefordert einen Grappa vor mir ab. »Ich würde es als Kompliment betrachten, wenn man mir im zarten Alter von neunundfünfzig ein paar Reitstunden schenken würde. Das heißt doch, dass du einen jugendlichen, sportlichen Eindruck machst!«, raunte er mir zu.

Mit zwei kräftigen Schlucken leerte ich das Glas und ließ mir Andreas’ Worte noch mal durch den Kopf gehen. Was war denn schon dabei, sich von einem wiehernden Vierbeiner ein paar Runden im Kreis herumschleppen zu lassen? Genauer betrachtet, war das sogar eine Sportart, die meinem Naturell sehr entgegenkam.

»Na schön«, willigte ich schließlich ein, »aber wehe, ich bekomme davon O-Beine!«

Die umsitzenden Chorsänger applaudierten heftig, Doris machte große Augen, die gute Stimmung war wiederhergestellt.

Es wurde ein lustiger und feuchtfröhlicher Abend; sogar unser stocknüchterner Chorleiter Gabriel Thurgau schien sich zu amüsieren. Gut gelaunt wanderte ich von Tisch zu Tisch und nahm Glückwünsche und kleine Geschenke entgegen. Andreas und die beiden Studenten, die gerade bei mir jobbten, hatten alle Hände voll zu tun, die Gläser meiner trinkfreudigen Gäste nachzufüllen. Die kalten Snacks, die ich am Nachmittag vorbereitet hatte, waren bereits gegen elf Uhr restlos verputzt, und ich überlegte kurz, ob ich die für Mitternacht gedachte Gulaschsuppe eher servieren sollte.

»Benni«, rief ich den blonden, mageren Studenten, »hat schon jemand gefragt, ob es noch etwas zu essen gibt?«

»Bei mir nicht, Maja, aber einige Leute wollten wissen, ob sie nicht ausnahmsweise drinnen rauchen können, wo wir doch heute eine geschlossene Gesellschaft sind.«

»Nix da«, blieb ich knallhart. Vor einiger Zeit hatte ich in meinem Hinterhof ein riesiges leeres Weinfass mit zwei kleinen Bänken darin aufstellen lassen, in dem gleichzeitig vier Personen sitzen und rauchen konnten. Das regensichere Fass war gut angenommen worden, und die nicht rauchenden Gäste hatten meine Entscheidung sehr begrüßt, das Lokal rauchfrei zu halten, auch wenn unsere Regierung ihre Gesetze diesbezüglich permanent änderte.

Ich marschierte wieder zurück zum Chortisch und setzte mich neben meine zukünftige Reiterkollegin Petra.

»So eine Schnapsidee mit dem Reiten«, begann ich scherzhaft, »was habt ihr euch bloß dabei gedacht?«

»Aber Maja, es ist doch der Traum aller Mädchen, auf einem Pferd zu sitzen«, sagte Petra überzeugt.

»Ein Mädchen von neunundfünfzig Jahren hat andere Träume, das kann ich dir schon mal verraten.«

»Wetten, dass du so begeistert sein wirst, dass du nach den zehn Einzelstunden dabeibleiben willst?«

»Was macht dich da so sicher?«, wollte ich wissen.

»Ich kenne den Charme des Reitlehrers«, meinte Petra verschmitzt.

»Für den Charme von Männern mit Peitsche war ich noch nie empfänglich. Apropos, wirst du dabei sein, wenn man mich zum ersten Mal aufs Ross hebt?«

»Leider nicht, Maja, weißt du nicht, dass ich morgen Mittag fliege?«

»Wohin denn?«, fragte ich überrascht.

»Nach China. Ich mache eine zweiwöchige Kulturreise, ist das nicht toll? Ich habe lange darauf gespart, China hat mich schon immer fasziniert.«

»Das glaube ich gern, meine Tochter und ihre Familie planen auch seit einiger Zeit eine Chinareise. Und wer kümmert sich in der Zwischenzeit um dein Geschäft?«, erkundigte ich mich interessiert. »Oder machst du den Laden zu?«

»Das kann ich mir nicht leisten, ich werbe schließlich mit Rund-um-die-Uhr-Bereitschaft. Meine Schwester ist so nett und vertritt mich während meines Urlaubs. Sie ist mit der Arbeit vertraut, sie hat früher im Bestattungsunternehmen meiner Eltern im Saarland mitgeholfen.«

Petra strich sich eine Strähne ihres langen blonden Haares aus dem Gesicht. Sie war wirklich eine hübsche Frau. Ihre schlanke Figur betonte sie stets mit eng anliegender modischer Kleidung, und ihre Vorliebe für extravagante Brillen gab ihrer ganzen Erscheinung das gewisse Etwas. Meiner Meinung nach passte sie rein optisch besser in eine Modeboutique als in ein Bestattungsunternehmen.

»Machst du die Reise denn alleine?«, fragte ich neugierig. Ich wunderte mich schon lange, dass die unverheiratete Petra nie mit einem Mann an ihrer Seite auftauchte. Oder steckte etwa mehr hinter der Bemerkung über den charmanten Reitlehrer?

»Natürlich reise ich alleine, da muss ich mich wenigstens nach niemandem richten. Du verstehst mich doch, Maja, oder?«

Damit spielte sie auf mein langjähriges Singleleben aus Überzeugung an.

»Klar verstehe ich dich, aber China ist ein großes und für uns Europäer sehr fremdes Land. Wirst du dich nicht einmal einer Reisegruppe anschließen?«, hakte ich nach.

»Nee, ich habe keine Angst, und außerdem habe ich alles genauestens vorbereitet.«

Ich war beeindruckt von Petras Selbstsicherheit.

Plötzlich zupfte mich mein blonder Aushilfskellner Benni am Ärmel. »Kannst du bitte mal nach draußen kommen?«, forderte er mich auf. Offenbar gab es nun doch Probleme mit einigen Rauchern. Ich stand auf und ging hinter ihm her.

»Was ist denn los?«, erkundigte ich mich, als wir außer Hörweite waren.

Benni öffnete wortlos die Tür zum Hinterhof und trat hinaus, ich folgte ihm. Das Raucher-Weinfass war leer.

»Was willst du denn hier draußen?«, fragte ich irritiert.

»Kannst du bitte zur Biotonne gehen und den Deckel öffnen? Wenn du das Gleiche siehst wie ich, dann haben wir ein Problem.«

»Was soll denn da drin sein außer den Kartoffel- und Zwiebelschalen, die ich heute Mittag hineingeschmissen hab?«

»Bitte geh hin und sieh nach«, forderte er mich auf.

Entschlossen stapfte ich durch die Dunkelheit in die Ecke, in der sich die Mülltonnen befanden, und öffnete den Deckel der Biotonne. Merkwürdigerweise sah ich im spärlich einfallenden Licht etwas, das so aussah wie ein Paar schwarze Schuhsohlen. Nach einer Sekunde wurde mir schlagartig bewusst, dass diese Schuhsohlen nicht allein in der fast leeren Tonne schweben konnten. Sie steckten an Füßen. Sofort knallte ich den Deckel wieder nach unten und drehte mich zu Benni um.

»Ich sehe also keine Gespenster«, sagte er ahnungsvoll. Seine Stimme zitterte ein bisschen. »Ist er…? Oder meinst du, da schläft jemand seinen Rausch aus?«

»Wir brauchen eine Taschenlampe«, entschied ich schnell.

»Aber Maja«, rief Benni entsetzt, »findest du nicht, wir sollten auf dem schnellsten Weg die Polizei informieren?«

»Auf dem zweitschnellsten, zuerst muss ich wissen, wer in meiner Mülltonne liegt!«

Die Tür zum Hinterhof öffnete sich und zwei rauchende Stammgäste kamen lachend heraus.

»Nanu, Maja, wir haben euch doch nicht etwa bei einem lauschigen Tête-à-Tête gestört?«, witzelte der eine.

»Es war genau das Gegenteil«, antwortete ich schlagfertig.

»Auweia, da hat wohl einer was auf die Mütze gekriegt«, folgerte der andere.

»Wir müssen warten, bis sie wieder drinnen sind«, flüsterte ich Benni auf dem Flur zu. »Ich hole schnell eine Taschenlampe aus meiner Wohnung. Du bleibst hier und tust so, als ob nichts gewesen wäre.«

»Ich weiß nicht, Maja…«

Der junge Mann hatte offenbar Bedenken wegen meiner unkonventionellen Vorgehensweise, aber davon ließ ich mich nicht beeindrucken.

Nach einer Minute war ich wieder bei Benni im Flur und hoffte inständig, dass in den nächsten Minuten nicht noch weitere Raucher Lust bekamen, ihrem Laster zu frönen.

Endlich trotteten die beiden Stammgäste wieder ins Lokal zurück und machten bei unserem Anblick noch einmal eine Bemerkung, ob das Hühnchen denn nun immer noch nicht gerupft sei.

»Schnell«, flüsterte ich Benni zu und lief hinaus.

»Ich stehe Schmiere, ich will da nicht reinschauen«, rief er mir leise hinterher.

Draußen knipste ich mit zitternden Fingern die Taschenlampe an und öffnete den Deckel der Tonne, dann leuchtete ich kerzengerade nach unten. Es war ein Mann, der da kopfüber zusammengesunken in meiner Tonne lag, sein Kopf ruhte seitlich abgeknickt auf blutroten Kartoffelschalen. Das mir zugewandte Auge war weit aufgerissen, der Blick leer. Unter dem Kinn des Mannes lugte etwas Schwarzes, Längliches hervor. Ich legte den Deckel langsam wieder auf die Tonne zurück und blickte geschockt zu Benni.

»Ist er

2.

Eine Stunde später saß ich Kommissar Herrmanns in der Küche der Weinstube gegenüber. Seine Kollegen hatten die Personalien meiner Gäste und Mitarbeiter aufgenommen und sie nach Hause geschickt, die Männer der Spurensicherung hatten die Herrschaft über mein Lokal übernommen.

Schweigend griff ich nach meinem frisch gezapften Pils und spülte den Schock über den grausigen Fund hinunter. So hatte ich mir das Ende meiner Geburtstagsfeier nicht vorgestellt.

»Sind das jetzt alle?«, wollte der Kommissar mit Blick auf die Liste aller der im Laufe des Abends anwesenden Gäste wissen, die ich soeben vor seinen Augen erstellt hatte.

»Ich glaube schon«, gab ich zur Antwort.

Er beobachtete mich mit zusammengekniffenen Augen, als wolle er mich schärfer sehen.

»Wie viel haben Sie denn heute Abend schon getrunken, Frau Kuckuck?«, fragte er lauernd.

»Bier, Wein oder Schnaps?«, fragte ich nach.

»Frau Kuckuck«, flüsterte er, während er sich langsam über den Küchentisch zu mir vorbeugte, »ich warne Sie: Für die Spielchen, die Sie mit meinem Vorgänger getrieben haben, fehlt mir der Humor.«

Daran zweifelte ich keine Sekunde.

Kommissar Herrmanns lehnte sich wieder zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine spitze Nase war weiter kerzengerade auf mich gerichtet.

Da mich das Schicksal schon mehrmals mit Mordfällen in meinem direkten Umfeld konfrontiert hatte, war mir der Umgang mit der Kriminalpolizei nicht fremd. Über viele Jahre hinweg hatte ich mich mit dem cholerischen und meist muffig gelaunten Kommissar Scheffel arrangieren müssen, und obwohl wir oft heftig aneinandergeraten waren, wusste ich doch, dass er mich im Grunde seines Herzens schätzte. Kommissar Scheffel polterte laut und ungestüm, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, und damit konnte ich umgehen. Mit der bedrohlich stillen und unterschwellig fiesen Art dieses Kommissar Herrmanns hingegen hatte ich meine Probleme. Ich mochte ihn nicht, und es war unschwer zu erkennen, dass diese Abneigung auf Gegenseitigkeit beruhte.

»Sie haben heute Abend also keinen Streit oder irgendwelche Außergewöhnlichkeiten beobachtet«, fuhr er mit seiner Befragung fort.

»Doch, ich habe einen Toten mitsamt der Kanone, mit der er wahrscheinlich erschossen wurde, in meiner Mülltonne gefunden. Das ist außergewöhnlich.«

Kommissar Herrmanns fixierte mich regungslos mit seinem Röntgenblick.

»Herr Kommissar«, fügte ich schließlich hinzu, »mein Hinterhof ist von der Straße aus frei zugänglich. So ziemlich jeder hätte sich beispielsweise per Handy mit Felix dort verabreden und ihn erschießen können. Meine Gäste sind allesamt nette Menschen, die nicht mit einer Pistole zu meiner Geburtstagsfeier kommen. Dieser Gedanke ist absurd.«

»Die Ermittlungen führe ich«, kam es streng und unmissverständlich von gegenüber. »Frau Kuckuck, Sie werden sich morgen früh um acht Uhr auf der Polizeiinspektion in der Haydstraße einfinden und mir eine zweite Liste Ihrer Gäste zukommen lassen, die Sie in nüchternem Zustand erstellen werden.«

Seit drei Monaten war Kommissar Scheffel nun im Ruhestand, und ich hatte ganz ehrlich inständig gehofft, zukünftig nicht mehr in die Nähe eines Verbrechens zu geraten, aber so schnell kann’s gehen. Es war nicht meine Schuld, und ich hatte nicht vor, mich von dem Neuen herumkommandieren zu lassen.

»Wenn Sie sich da mal nicht täuschen«, entgegnete ich unbeeindruckt. »Ich werde Ihnen die Liste bringen, sobald ich ausgeschlafen und gefrühstückt habe.«

Ohne die Reaktion des Kommissars abzuwarten, stand ich auf und ging grußlos nach oben in meine Wohnung. Was ich jetzt brauchte, war ein Absacker ohne Gesellschaft, um in Ruhe meine Gedanken ordnen zu können.

Das Telefon riss mich am nächsten Morgen aus einer Tiefschlafphase. Ich war erst gegen vier Uhr eingeschlafen, da mich der Tod von Felix noch lange beschäftigt hatte. Wer rief mich um Viertel nach acht an? Natürlich, dieser Unsympath Herrmanns wollte mir meinen wohlverdienten Schlaf nicht gönnen.

Ich hob ab und keifte böse: »Kuckuck!«

»Kirschbaum«, klang eine dünne, weibliche Stimme aus dem Hörer.

Sofort war ich hellwach. Das musste eine Verwandte von Felix sein!

»Mein Beileid, Frau Kirschbaum«, stammelte ich nervös in den Hörer, dann wartete ich ab, ob sich die Person als Felix’ Ehefrau oder vielleicht als eine andere Verwandte zu erkennen geben würde. Ich wusste, dass Felix’ Frau ebenfalls Tierärztin war, die beiden führten eine Gemeinschaftspraxis im Freisinger Stadtteil Vötting, ich hatte sie jedoch nie kennengelernt.

»Wie konnte das nur passieren?«, schluchzte die Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Ich bin auch tief betroffen«, entgegnete ich unsicher.

Das Gespräch stockte. Die Frau schniefte leise, sagte jedoch nichts mehr. Wahrscheinlich gab sie mir eine Mitschuld an Felix’ Tod, immerhin war er ja auf meiner Geburtstagsfeier gestorben.

»Kann ich irgendetwas für Sie tun?«, fragte ich vorsichtig. Je länger die Frau schwieg, desto unwohler fühlte ich mich.

»Ich möchte Sie sehen«, überraschte sie mich plötzlich mit fester Stimme.

»In Ordnung«, antwortete ich automatisch, obwohl mir danach eigentlich nicht der Sinn stand. Die Frau würde mir gegenüber doch hoffentlich keine Rachegelüste hegen?

»Um neun Uhr in ›Sissi’s Kaffeehaus‹. Ich weiß, wie Sie aussehen.«

»Gut«, sagte ich kurz, dann hörte ich auch schon ein Klicken in der Leitung. Na wenigstens hatte sie einen belebten Ort für das Treffen vorgeschlagen, dachte ich beruhigt.

Ich ging unter die Dusche und wählte anschließend Hose, Bluse und Jacke in gedeckten Farben, um meine nigelnagelneuen, superschicken schwarz-silbernen Designerpumps angemessen zur Geltung zu bringen. Ich hatte mir diese Schuhe selbst zum Geburtstag geschenkt und wollte sie heute endlich tragen, nachdem sie mir gestern wegen der Bedienarbeit zu hoch gewesen waren. Zugegeben, zum Laufen waren die edlen Hacken nicht gerade geschaffen, aber ich würde bei dem Wetter ohnehin mit dem Auto fahren.

Dieser Freitag im Mai wartete mit dem reinsten Aprilwetter auf, Regenschauer und Sonnenschein wechselten sich mit Hilfe von teils heftigen Windböen im Viertelstundentakt ab. Ich hasste solch ein Wetter, aber im Moment war ich zu sehr abgelenkt, um mich darüber aufzuregen. Was diese Frau Kirschbaum wohl von mir wollte?

Gespannt bog ich am Altstadtparkhaus rechts ab und suchte einen Parkplatz möglichst nah an den Altstadtgalerien, in denen sich »Sissi’s Kaffeehaus« befand.

Wie auf Stelzen balancierte ich in meinen Mega-Pumps zum Kaffeehaus vor und trat ein. Da ich fünf Minuten zu früh dran war und sowieso nicht wusste, wie Frau Kirschbaum aussah, steuerte ich einen Tisch im Wintergarten des Cafés an. Ich setzte mich auf einen Stuhl, schlug ein Bein über das andere und wippte stolz mit meinem Designerpumps, dann bestellte ich ein opulentes Frühstück. Nach einem alkoholreichen Abend wie dem gestrigen hatte ich morgens immer einen Bärenhunger.

Gerade als ich meine Gabel in das leckere Rührei stach, trat eine schlanke, dunkelhaarige Frau neben mich. Sofort stand ich auf und gab ihr höflich die Hand. Frau Kirschbaum nickte nur und setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl. Ich schätzte sie auf Mitte dreißig, sie konnte also nicht Felix’ Mutter sein. Trotz ihrer deutlichen Augenringe war sie ein schöner Anblick. Frau Kirschbaum gehörte zu dem Typ Frau, der auch ungeschminkt äußerst attraktiv war. Die schulterlangen Haare trug sie streng nach hinten gebunden, sodass ihre ebenmäßigen Züge und ihre gleichmäßig gebräunte Haut gut zur Geltung kamen.

»Es stört Sie doch nicht, wenn ich nebenbei frühstücke?«, hielt ich es für angebracht zu fragen.

»Wenn Sie nach allem noch etwas essen können«, entgegnete sie kurz.

Ich kann, dachte ich im Stillen und verleibte mir das Rührei zusammen mit einem Butterbrot ein.

Frau Kirschbaum wollte offenbar nicht mit mir sprechen, solange ich aß. Sie bestellte einen Kaffee und blickte abwesend ins Leere, bis ich auch mein Müsli und mein Croissant vertilgt hatte. Frisch gestärkt zog ich schließlich meine Tasse Kaffee näher an mich heran und meinte: »Jetzt wäre ich so weit.«

Sie blickte mich mit ihren schönen braunen Augen an und sagte: »Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind. Ich möchte bitte in allen Einzelheiten wissen, was gestern Abend passiert ist.«

»Frau Kirschbaum, ich wünschte, ich könnte Ihnen etwas darüber sagen. Zuletzt haben Felix und ich über die Reitstunden gesprochen, die mir der Chor geschenkt hat, danach habe ich mich um andere Gäste gekümmert und ihn aus den Augen verloren.«

Sie nestelte nervös an einer Serviette, ihre Finger zitterten leicht.

»Mein Mann hatte keine Feinde«, sagte sie in vorwurfsvollem Ton.

»Es tut mir entsetzlich leid, dass Felix ausgerechnet auf meiner Geburtstagsfeier zu Tode gekommen ist, aber ich kann doch nichts dafür. Bitte glauben Sie mir, dass ich ihn sehr gemocht habe. Im Chor war er ebenfalls sehr beliebt. Es besteht für mich kein Zweifel daran, dass der Mörder kein Gast meiner Feier war, mehr kann ich Ihnen leider auch nicht sagen.«

Sie atmete laut aus, tiefe Verzweiflung spiegelte sich auf ihrem Gesicht. Plötzlich empfand ich großes Mitleid mit der Frau, sie wirkte hilflos und allein.

»Frau Kirschbaum, wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, scheuen Sie sich bitte nicht, es mir zu sagen.«

Ihre Finger zitterten so stark, dass sie die Tasse Kaffee wieder absetzte, kaum dass sie sie angehoben hatte.

»Sie würden mir helfen, wenn sie mich jetzt gleich begleiten würden«, sagte sie leise.

»Natürlich begleite ich Sie«, versicherte ich ihr. »Wohin gehen wir?«

»Zum Bestattungsunternehmen.«

»Zu welchem?«, fragte ich erschrocken. Wenn man dort nicht mit dem Auto vorfahren konnte, würde ich mir entweder die Absätze oder die Füße brechen!

»Zu Petra Nagel, sie ist eine Bekannte vom Reiten«, meinte Frau Kirschbaum mit schwacher Stimme.

Gott sei Dank! Petras Geschäft lag in der Bahnhofstraße und hatte zwei eigene Stellplätze, da würde hoffentlich gerade kein Hochbetrieb herrschen.

»Aber Petra ist gar nicht da, sie fliegt heute nach China!«, fiel mir plötzlich ein.

»Ich weiß, sie hat mich gebeten, mich während ihrer Abwesenheit um ihr Pferd zu kümmern. Ihre Schwester vertritt sie.« Frau Kirschbaum erschien mir auf einmal sehr blass. Plötzlich japste sie fast atemlos: »Ich muss hier raus!«

Schnell zahlte ich die gesamte Rechnung und verließ mit ihr das Kaffeehaus, nicht dass sie noch umkippte. Kaum waren wir an der frischen Luft, zündete sie sich hektisch eine Zigarette an und sog in tiefen Zügen den Rauch ein. Ihre Hände hörten auf zu zittern, und sie wirkte wieder gefasster.

»Wir fahren mit meinem Auto«, teilte ich ihr mit. Da ich wusste, dass Felix in der Lankesbergstraße gewohnt hatte, ging ich davon aus, dass seine Witwe zu Fuß ins Café gekommen war.

»Haben Sie denn gar keine Verwandten hier in Freising?«, fragte ich während der Fahrt, weil ich mich wunderte, dass sie ausgerechnet mich gebeten hatte, sie zum Bestattungsunternehmen zu begleiten.

»Felix und ich sind vor fünfzehn Jahren aus Hamburg zum Studium nach München gekommen und hier in der Gegend hängen geblieben. Alle unsere Verwandten wohnen in Norddeutschland«, klärte sie mich auf.

»Und Kinder haben Sie auch keine, wenn ich richtig informiert bin?«, fragte ich weiter.

»Sie sind richtig informiert. Wir haben zwei Pferde und einen Hund, das sind unsere Kinder.«

Ich kannte einige Leute, für die die eigenen Haustiere das Wichtigste im Leben waren, deshalb wunderte ich mich nicht besonders über diese Aussage, zumal sie von einer Tierärztin kam.

»Haben Sie denn schon Bekanntschaft mit Kommissar Herrmanns gemacht?«, gab ich meiner Neugierde nach.

»Ein Kommissar Herrmanns hat mich heute früh angerufen und sich für fünfzehn Uhr angemeldet. Er sagte, ich solle mich erst einmal um die Formalitäten kümmern. Heute Nacht waren zwei andere Polizeibeamte bei mir, sie waren sehr nett und haben sich rührend um mich gekümmert.«

3.

Mit forschen Schritten stöckelte ich voraus und öffnete die gläserne Geschäftstür. Mein Blick fiel sofort auf einen überdimensional großen dunklen Schreibtisch, hinter dem eine dunkelhaarige Frau saß und Zeitung las. Erschrocken legte sie das Freisinger Tagblatt auf den Tisch und faltete es hektisch zusammen, dann stand sie auf und kam uns entgegen.

Die Ähnlichkeit der Nagel-Schwestern war nicht zu übersehen, obwohl Petras Schwester ein ganz anderer Typ war. Sie trug keine Brille und war stark geschminkt, außerdem machte sie einen sehr strengen Eindruck. Wahrscheinlich lag es an dem schnurgeraden Pony, der einen peniblen Charakter erahnen ließ. Von Petras Natürlichkeit und Herzlichkeit hatte sie wenig, sie begrüßte uns nüchtern und geschäftsmäßig mit einem schlaffen Händedruck, stellte sich kurz als Iris Nagel vor und bot uns die beiden Plätze an der gegenüberliegenden Seite des großen Schreibtisches an.

Das Beratungszimmer war klein und äußerst spärlich nur noch mit einer Kommode möbliert. Links hinter dem Schreibtisch ging es wohl zum Ausstellungsraum, da hinter der geöffneten Tür eine Sargecke hervorlugte.

»Ich nehme an, Sie haben einen Trauerfall zu beklagen«, eröffnete Iris Nagel das Gespräch, wobei sie sich mehr an mich wandte.

»Das ist Frau Kirschbaum, ihr Mann ist heute Nacht unglücklich zu Tode gekommen, ich begleite sie nur«, teilte ich Frau Nagel mit.

»Ach, Sie sind das!«, rief Iris Nagel aus, dann sprach sie zu Frau Kirschbaum in erheblich wärmerem Ton. »Meine Schwester hat mich heute Nacht noch kurz informiert, dass Sie eventuell kommen würden. Eine schreckliche Geschichte, es tut mir sehr leid.«

Frau Kirschbaum nickte stumm, war jedoch spürbar erleichtert, dass Petras Schwester bereits über die Umstände von Felix’ Tod Bescheid wusste.

»Und Sie sind…?«, wandte sich Frau Nagel an mich.

»Maja Kuckuck, ich bin Mitglied im gleichen Kirchenchor wie Ihre Schwester und wie der Verstorbene. Leider ist Felix ausgerechnet während meiner Geburtstagsfeier erschossen worden.«

»Ach, er wurde erschossen? Das hat mir meine Schwester nicht erzählt«, sagte Iris Nagel erschrocken.

»Weil sie es nicht wusste. Das wussten heute Nacht nur ich und die Polizei.«

Frau Nagel musterte mich verwundert. »Und der Mörder«, ergänzte sie schließlich.

»Natürlich«, pflichtete ich ihr bei.

Sie wandte sich wieder an Frau Kirschbaum und redete beruhigend auf sie ein: »Dieses Thema überlassen wir der Polizei. Meine Schwester hat mir gesagt, dass Sie gut mit Saba umgehen können.«

»Wer ist Saba?«, fragte ich nach.

»Saba ist das Pferd meiner Schwester«, erklärte Frau Nagel unwillig.

»Ach so, Petra spricht immer nur von ihrem Pferd, ich wusste nicht, dass es Saba heißt. Reiten Sie auch?«

»Frau Kuckuck, ich glaube nicht, dass das jetzt hierher gehört«, wies sie mich mit einem kurzen Seitenblick auf Frau Kirschbaum genervt zurecht.

»Das stimmt natürlich, entschuldigen Sie bitte, es hat mich einfach aus aktuellem Anlass interessiert.«

Plötzlich hatte ich das Gefühl, dass mich Iris Nagel loswerden wollte.

»Sie sind also nicht verwandt mit der Familie Kirschbaum?«, untermauerte sie meinen Verdacht.

»Nein«, gab ich zu, »aber Frau Kirschbaum hat mich gebeten…«

»Ich denke, wir sollten Ihre Zeit nicht länger in Anspruch nehmen«, schnitt mir Iris Nagel das Wort ab und tätschelte gleichzeitig tröstend Frau Kirschbaums Hand. »Ab hier kommen Frau Kirschbaum und ich sicher allein zurecht.«

Frau Kirschbaum sagte nichts und starrte abwesend auf den Tisch.

»Na gut, dann werde ich Sie eben alleine lassen. Wenn Sie irgendetwas brauchen, Frau Kirschbaum, dann melden Sie sich«, bot ich der jungen Witwe an, bevor ich aufstand und das Geschäft verließ.

Diese Iris Nagel war eine durchsetzungsstarke Persönlichkeit, aber sympathisch wie ihre Schwester fand ich sie nicht.

Ich kaufte noch einige Lebensmittel im Supermarkt und fuhr wieder nach Hause. Als ich die Wohnungstür aufsperrte, hörte ich gerade noch eine mir höchst unangenehme Männerstimme auf meinen Anrufbeantworter sprechen: »…und ich warne Sie, Frau Kuckuck, ich kann auch anders.«

Oje, den Herrmanns mit seiner Namensliste hatte ich komplett vergessen! Widerwillig setzte ich mich an den PC