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"Cash Plays" ist der dritte Band der fünfteiligen Thriller-Serie von Cordelia Kingsbridge. Die Bücher sollten in der richtigen Reihenfolge gelesen werden. Die Pik-Sieben hat erneut zugeschlagen, grausiger als je zuvor, aber der blutrünstige Killer treibt in der Stadt der Sünde nicht als Einziger sein Unwesen. Ein verschlagener Saboteur stiftet in der kriminellen Unterwelt von Las Vegas Chaos, und ein Bandenkrieg scheint unausweichlich. Detective Levi Abrams wird immer weiter an seine Grenzen getrieben, wobei ihm die Kontrolle über seine gefährliche Wut mit jedem Tag ein wenig mehr entgleitet. Seine Beziehung mit Privatermittler Dominic Russo sollte ihm eigentlich Trost spenden, aber Dominic kämpft insgeheim gegen eigene Schatten und ist in einem Albtraum gefangen, den er mit niemandem teilen kann. Las Vegas erlebt seine dunkelsten Stunden. Levis und Dominics Beziehung bekommt erste Risse. Und die Pik-Sieben hält immer noch alle Trümpfe in der Hand. Für Levi und Dominic könnte es das letzte Spiel werden …
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Seitenzahl: 453
Veröffentlichungsjahr: 2023
CORDELIA KINGSBRIDGE
CASH PLAYS
DIE PIK-SIEBEN-MORDE 3
Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrich
Über das Buch
Ein Spiel auf Leben und Tod. Die Pik-Sieben hat erneut zugeschlagen, grausiger als je zuvor, aber der blutrünstige Killer treibt in der Stadt der Sünde nicht als Einziger sein Unwesen. Ein verschlagener Saboteur stiftet in der kriminellen Unterwelt von Las Vegas Chaos, und ein Bandenkrieg scheint unausweichlich.
Detective Levi Abrams wird immer weiter an seine Grenzen getrieben, wobei ihm die Kontrolle über seine gefährliche Wut mit jedem Tag ein wenig mehr entgleitet. Seine Beziehung mit Privatermittler Dominic Russo sollte ihm eigentlich Trost spenden, aber Dominic kämpft insgeheim gegen eigene Schatten und ist in einem Albtraum gefangen, den er mit niemandem teilen kann.
Las Vegas erlebt seine dunkelsten Stunden. Levis und Dominics Beziehung bekommt erste Risse. Und die Pik-Sieben hält immer noch alle Trümpfe in der Hand. Für Levi und Dominic könnte es das letzte Spiel werden …
Über die Autorin
Cordelia Kingsbridge hat einen Master in Sozialarbeit von der Universität Pittsburgh, doch bereits während ihres Studiums schrieb sie Romane. Schon bald entschied sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Inzwischen erkundet sie ihre Faszination für das menschliche Verhalten und die Psychopathologie durch die Fiktion. Sie hat eine Schwäche für gegensätzliche Paare und schlagfertige Dialoge.
Als Ausgleich zum Schreiben macht sie Kraftsport, fährt Fahrrad und praktiziert Krav Maga. Sie lebt in Südflorida (und schreibt am liebsten drinnen bei laufender Klimaanlage).
Die englische Ausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Cash Plays« bei Riptide Publishing.
Deutsche Erstausgabe April 2022
© der Originalausgabe 2018: Cordelia Kingsbridge
© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:
Second Chances Verlag
Inh. Jeannette Bauroth, 98587 Steinbach-Hallenberg
Published by Arrangement with RIPTIDE PUBLISHING LLC
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.
Alle Rechte, einschließlich das der vollständigen oder
auszugsweisen
Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.
Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten
mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs
unter Verwendung von Motiven von gemenacom, robert, kishivan, starlineart
alle stock.adobe.com
Lektorat: Anne Sommerfeld
Korrektorat: Julia Funcke
Satz & Layout: Second Chances Verlag
ISBN 978-3-948457-30-3
www.second-chances-verlag.de
Inhaltsverzeichnis
Titel
Über die Autorin
Impressum
Widmung
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
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Für Laurin Kelly
In Dankbarkeit für die Jahre der Freundschaft, des Rats und der Unterstützung
Levi erwachte und zitterte am ganzen Körper. Schwer atmend lag er reglos da und wehrte sich gegen die kriechenden Ausläufer eines Albtraums, die ihn noch aus dem Schlaf heraus zu verfolgen schienen.
Als er sich nicht mehr desorientiert fühlte, setzte er sich auf und fuhr sich mit der Hand durch die schweißnassen Locken. Im Hotelzimmer war es still und dunkel, aber es drang genügend Licht durch die Vorhänge, sodass er sehen konnte, dass alles in Ordnung war. Sein Freund Dominic neben ihm rührte sich nicht. Er hatte einen festen Schlaf, und es gab nicht viel, was ihn aufwecken konnte, bevor er dazu bereit war.
Es war nicht das erste Mal, dass Levi dafür dankbar war. Am Fußende des Betts lag jedoch Dominics Hündin Rebel, ein mehr als vierzig Kilo schwerer Schäferhund-Rottweiler-Mischling, deren Aufmerksamkeit nichts so leicht entging. Sie hob den Kopf von den Pfoten und klopfte mit dem langen Schwanz auf das Bett.
»Schon gut«, flüsterte Levi. »Schlaf weiter.«
Sein Herz raste immer noch, und der Schrecken des Traums verfolgte ihn, selbst als die Details verblassten. Er ließ Kopf und Schultern kreisen, um die Spannung loszuwerden, und fragte sich, ob er heute Nacht noch einmal Schlaf finden würde. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte halb vier.
Rebel stieß ein leises, besorgtes Winseln aus und schob sich auf dem Bauch zu ihm, bis sie den Kopf gegen seine Hand stoßen konnte. Er vergrub die Finger in ihrem Fell, kraulte ihr die Ohren, und sein Puls beruhigte sich ein wenig. Es gab nicht viele Dinge im Leben, die so tröstlich waren, wie einen Hund zu streicheln.
»Gutes Mädchen. Alles in Ordnung.«
Sie schnaufte, während er sie an der Stelle hinter dem rechten Ohr kratzte, wo sie es besonders liebte. Dann drehte sie den Kopf zu Dominic, der tief und fest schlief, bevor sie wieder Levi ansah.
Ihm wurde klar, was sie vorhatte, und er öffnete den Mund, um sie daran zu hindern, aber es war zu spät. Dreimal bellte sie unterdrückt auf. Rebel war eine ausgebildete Schutzhündin, und das war ihr antrainiertes Signal dafür, Dominic im Schlaf auf Schwierigkeiten aufmerksam zu machen.
Als Kriegsveteran war er auf einen Schlag hellwach, rollte sich herum und setzte sich auf. »Was ist los?«, fragte er in einem Ton, der keine Spur von Schläfrigkeit enthielt.
»Nichts«, antwortete Levi verärgert. »Rebel hat überreagiert.«
Dominic ließ den Blick über sie beide gleiten. Eine seiner besten und schlimmsten Eigenschaften – je nach Anlass – war seine unglaubliche Scharfsinnigkeit. Nach ein paar Sekunden fragte er: »Hattest du wieder den Albtraum?«
Levi zuckte die Achseln. »Es ist nicht immer derselbe. Nur … Variationen eines Themas.«
Dominic streichelte Levis nackten Rücken, beugte sich vor und küsste seine Schulter. »Du hättest mich nicht geweckt, richtig?«
»Warum sollte ich dich mitten in der Nacht wecken wollen, nur weil ich einen schlechten Traum hatte?«
»Damit ich mich um dich kümmern kann.«
Levi zuckte unwillkürlich zusammen. »Ich brauche keine …«
»Jeder hat es gelegentlich nötig, dass man sich um ihn kümmert«, sagte Dominic bestimmt. »Du tust es auch für mich, wenn … du weißt schon.«
Er wusste genau, was Dominic meinte. Es war erst vor ein paar Tagen passiert. Sie waren zum Mount Charleston raufgefahren, um mit einer Woche Wandern auf den schwierigen Pfaden des Humboldt-Toiyabe-Nationalparks Dominics Lizenz als offizieller Privatdetektiv zu feiern. Am ersten Abend hatten sie die Hotelbar aufgesucht, ohne zu wissen, dass dort ganze Reihen von Videopoker- und Blackjack-Automaten standen.
Da Dominic ein »trockener« Spielsüchtiger war, hatte ihn diese Konfrontation mit einem so intensiven Trigger ins Schleudern gebracht. Levi hatte den Rest der Nacht damit verbracht, auf ihn einzureden und ihn sehr energisch abzulenken.
»Das ist etwas anderes«, entgegnete er.
»Wieso?« Als Levi nicht antwortete – weil es eigentlich dasselbe war –, fügte Dominic hinzu: »Wenn du mir am Morgen erzählst, du hättest einen schrecklichen Albtraum gehabt, und mir klar wird, dass ich tief und fest geschlafen habe, während du stundenlang wach neben mir gelegen hast, fühle ich mich wie ein Arschloch.«
Natürlich war das so, denn Dominic war pathologisch altruistisch, und wenn er in irgendeiner Situation nicht helfen konnte, ging er die Wände hoch.
»Gut«, sagte Levi. »Nächstes Mal rüttele ich dich mitten in der Nacht wach, damit du dich genauso elend und unausgeschlafen fühlst wie ich.«
Dominic grinste, wie immer unbeeindruckt von Levis brüskem Sarkasmus. »Das ist alles, worum ich dich bitte.« Er drückte Levi einen Kuss auf die Schläfe und schlug die Decke zurück. »Ich hole dir ein Glas Wasser.«
Bevor er das Bett verlassen konnte, packte Levi ihn am Arm und gab ihm einen langen, sinnlichen Kuss. Mit seinem Körper versuchte er das auszudrücken, was auszusprechen ihm schwerfiel. Als sie sich voneinander gelöst hatten, rieb Dominic noch kurz die Nase an Levis Wange und stieg dann aus dem Bett.
Levi streichelte Rebels Kopf und sah Dominic zu, der sich nackt und unbefangen durchs Zimmer bewegte. Er war auf raue und ursprüngliche Art umwerfend attraktiv, eine faszinierende Studie in Kontrasten. Seiner einschüchternden Größe von eins sechsundneunzig stand ein liebenswürdiges Lächeln entgegen, das Levi den Atem raubte. Der erste Eindruck seines kantigen Unterkiefers und der schiefen, gebrochenen Nase wurde durch die Wärme in seinen Augen gemildert. Levi konnte den Blick nicht von ihm wenden.
Dominic kauerte sich vor den kleinen Kühlschrank und präsentierte Levi dabei das farbenprächtige Tattoo des Wappens der Rangers auf seinem wie gemeißelt aussehenden Schultergürtel. Dann drehte er sich mit einer Flasche Wasser in der Hand um, und die Vorderansicht war noch besser … Levis Gedanken hätten sich in eine schmutzigere Richtung bewegt, wenn die hartnäckigen Reste des Albtraums nicht immer noch in seinem Kopf festgehangen hätten.
»Mein Gesicht ist hier oben«, spöttelte Dominic, als er zum Bett zurückkehrte.
Levi schnaubte und nahm die Flasche. »Ja, ich sehe deutlich, wie beleidigt du bist.«
In sich hineinlachend legte Dominic Levi den Arm um die Schultern und schmiegte sich an ihn, während Levi ein paar Schluck Wasser trank. »Willst du über den Traum reden?«, fragte er nach einer Weile.
Levi schüttelte den Kopf. Seit seiner Kindheit quälte ihn eine starke Angst davor, in der Falle zu sitzen, in einer Situation von einem Feind gejagt zu werden, in der er nicht entkommen konnte, obwohl ihm nie etwas Vergleichbares zugestoßen war. Es war so schlimm, dass er keine Romane oder Horrorfilme über das Thema ertragen konnte: Geschichten, in denen die Hauptfigur zusammen mit einem Killer in einem Haus festsaß, sich im Wald verlaufen hatte oder Ähnliches.
Über zwei Jahrzehnte lang waren die Albträume in Wellen gekommen und wieder gegangen. Sie quälten ihn manchmal wochenlang und verschwanden dann für mehrere Monate. Besonders schlimm war es mit Anfang zwanzig geworden, als ihn eine Gruppe von Männern auf dem Parkplatz einer Schwulenbar halb zu Tode geprügelt hatte. Doch nie waren sie so grausig gewesen wie während der letzten drei Monate, seit der Serienkiller »Pik-Sieben« wieder seine blutige Spur durch das Valley zog.
»Danke für das Wasser.« Levi gab Dominic die Flasche zurück. Dieser trank ebenfalls einen Schluck, bevor er sie wegstellte und sich dann ins Bett legte und von hinten an Levi schmiegte.
Statt ans Fußende des Betts zurückzukehren, streckte Rebel sich auf Levis anderer Seite aus, sodass er sich um sie schlingen konnte. Dominics Arm ruhte auf seinem, und ihre Finger trafen sich auf Rebels weichem Bauchfell. Levis Muskeln entspannten sich, als die Wärme ihrer beiden Körper ihn beruhigte.
Er verfügte nicht über Dominics brutale Kraft, aber im Angesicht einer gewalttätigen Bedrohung war er genauso gut in der Lage, sich zu verteidigen, wie dieser – vielleicht sogar besser. Trotzdem gab es ihm ein Gefühl von Sicherheit, das er nicht erklären konnte, wenn er in Dominics Armen lag.
Dominic küsste Levi auf den Hinterkopf. Im Handumdrehen wurde sein Atem gleichmäßig, und er schlief wieder ein. Levi schloss die Augen und genoss die Umarmung. Es hätte alles wunderbar sein können, wäre da nicht das nagende Schuldgefühl gewesen, weil er Dominic nicht die ganze Wahrheit über seinen Albtraum erzählt hatte.
Der Traum selbst war zwar nie derselbe, aber die Emotionen, die er auslöste, glichen sich: die panische Flucht mit hämmerndem Herzen, verfolgt von einem unsichtbaren Feind, die verzweifelte Suche nach einem Versteck, das Gefühl, dass es kein Entrinnen gab. Er sprach eine von Levis tief sitzenden Ängsten an und beutete sie erbarmungslos aus.
Mit dem Unterschied, dass Levi heute Nacht nicht die Beute gewesen war. Sondern der Jäger.
* * *
»Dominic!«, rief Levi über den Fernsehlärm hinweg. »Warum brauchst du so lange?«
Dominic öffnete die Badezimmertür und beugte sich mit einem um die Hüften geschlungenen Handtuch heraus. »Und das von dem Mann, der neulich fünfundzwanzig Minuten lang geduscht hat?«
Nach einer längeren Pause, in der Levi Dominics nasse Brust betrachtete, sagte er: »Habe ich nicht.«
»Doch, hast du. Ich habe die Zeit gestoppt.«
Levi verdrehte die Augen. »Ich habe Adriana versprochen, rechtzeitig zurück zu sein, um heute Abend mit ihr zu trainieren. Ich will nicht zu spät kommen.«
»Baby, die Fahrt dauert höchstens fünfzig Minuten. Wir haben noch Stunden. Massenhaft Zeit.« Mit diesen Worten zog Dominic sich ins Badezimmer zurück und schloss die Tür.
Levi seufzte und wandte sich den säuberlich gepackten Koffern zu. Es war nicht so, dass er wegwollte. Der Urlaub war herrlich gewesen, sein erster zusammen mit Dominic. Abzureisen bedeutete die Rückkehr in einen Job, der ihm keinen Spaß mehr machte. Er musste sich der Tatsache stellen, dass seine Eltern am nächsten Wochenende zu Besuch kamen, und obwohl er sich darauf freute, sie zu sehen, war er nervös, was ihre erste Begegnung mit Dominic anging.
Wenn die Umstände es erlaubt hätten, wäre er gerne für immer in diesen Bergen geblieben. Aber da das nicht machbar war, drängte es ihn, die Rückkehr in die Realität so schnell wie möglich hinter sich zu bringen.
Er sah zu Rebel hin, die mit den Vorderpfoten aufs Fensterbrett gestützt dastand, sodass sie die Menschen drei Stockwerke weiter unten betrachten konnte. Ihre Augen verfolgten jede Bewegung mit laserscharfer Konzentration. Ihre ganze Welt schien auf diesen einen Augenblick konzentriert zu sein, ohne dass Bedauern über die Vergangenheit oder Sorge um die Zukunft sie belasteten.
»Du hast ja keine Ahnung, was für ein Glück du hast«, sagte er zu ihr.
Sie warf ihm lediglich einen kurzen Blick zu, bevor sie zu ihren überaus wichtigen Beobachtungen zurückkehrte.
Ein auffälliger Jingle ertönte aus dem Fernsehgerät, das Levi auf einen lokalen Nachrichtensender eingestellt hatte. »Und nun zu Janis Bevilacqua«, sagte der Sprecher, »mit einem speziellen Update zu dem geheimnisvollen Serienkiller von Las Vegas, der sich Pik-Sieben nennt.«
Levi versteifte sich und wirbelte herum. Der Ansager begrüßte eine konventionell attraktive Reporterin, die vor dem Hauptquartier des Las Vegas Metropolitan Police Department stand und den Blick mit einstudierter, professioneller Betroffenheit direkt in die Kamera richtete.
»Die meisten unserer Zuschauer werden sich noch daran erinnern, dass die Pik-Sieben im April erstmals im Blickpunkt der Öffentlichkeit stand«, begann sie. »Der mysteriöse Killer, der sich als selbst ernannter Hüter des Gesetzes darstellt und Verbrecher ins Visier nimmt, die sich der Justiz entzogen haben, tötete innerhalb von zwei Wochen fünf Opfer und kommunizierte vielfach direkt mit der Polizei. Damals wurden die Morde dem ehemaligen, in Ungnade gefallenen Polizisten Keith Chapman angelastet, der sich unglücklicherweise das Leben nahm.«
Das Bild wechselte zu einem Schwenk über die Eingangsstufen des Gerichtsgebäudes im Zentrum von Las Vegas.
Während das Bild eingeblendet wurde, fuhr die Reporterin fort. »Der Fall wurde am 1. August wieder aufgenommen, als Drew Barton während einer Pressekonferenz vor dem Gerichtsgebäude von einem Scharfschützen erschossen wurde. Unser Reporter Scott Griffith war mit einem Kamerateam vor Ort, doch jetzt tagsüber werden wir seine erschreckenden Bilder nicht zeigen.«
Levi ließ sich schwer auf das Fußende des Betts fallen. Er war ebenfalls vor Ort gewesen, nur eine Handbreit von Barton entfernt, nah genug, um mit Blut und Knochensplittern übersät zu werden, als dessen Kopf explodierte. Das Zeug war ihm ins Gesicht und in den Mund gespritzt und hatte sein Hemd durchtränkt. Er hatte es sich später sogar aus den Haaren waschen müssen.
»Drew Barton stand wegen Mordes an seiner Frau vor Gericht, und ihm wurde vorgeworfen, versucht zu haben, den Verdacht auf die Pik-Sieben zu lenken. Die Pik-Sieben wiederum übernahm sofort und in aller Öffentlichkeit die Verantwortung für seinen Tod.«
Das Bild wechselte zu einer Aufzeichnung der elektronischen Reklametafeln, die die Pik-Sieben gekapert hatte, um die Nachricht zu übermitteln – eine dreidimensionale Pik-Sieben-Spielkarte mit den Worten »Die Karten werden neu gemischt« –, bevor die Kamera wieder auf die Reporterin umschaltete.
»Seit diesem Zeitpunkt war der Serienkiller erneut im gesamten Las Vegas Valley aktiv, wenn auch in größeren Abständen als bei seiner ersten Mordserie. Inzwischen sind es elf Morde, für die die Pik-Sieben die Verantwortung übernommen hat. Laut Auskunft des LVMPD scheint es in diesem Fall keine neuen Spuren zu geben, und trotz monatelanger Ermittlung sind keinerlei Fortschritte bei der Jagd nach dem schwer zu fassenden Killer erkennbar.«
»Mist«, sagte Levi und legte das Gesicht in die Hände.
Das Bild sprang wieder zu dem Sprecher im Studio. »Stimmt es, dass die Verbrechensrate in Las Vegas in den letzten Monaten gesunken ist?«
Die Reporterin nickte. »Laut LVMPD sind Gewaltverbrechen seit dem 1. August um sieben Prozent zurückgegangen. Allerdings warnen Experten, dass dem ein vergleichbarer Rückgang beim Tourismus entspricht, über den Bürgermeister und Stadtrat sehr besorgt sind. Man hat uns heute mitgeteilt, dass das LVMPD nun endlich die Hilfe des FBI angefordert hat. Im Lauf der Woche wird ein Profiler erwartet, der die Polizei bei der Suche nach der Pik-Sieben unterstützen soll. Laut unserer internen Quelle hatte Sergeant James Wen von der Mordkommission größte Einwände gegen diesen Schritt und hat sich erst auf erheblichen politischen Druck durch seine Vorgesetzten hin damit einverstanden erklärt.«
Stirnrunzelnd starrte Levi den Bildschirm an. Er wusste nicht, wer diese »interne Quelle« war, aber die Fakten stimmten. Sergeant Wen, sein unmittelbarer Chef, hatte versucht, das FBI so lange wie möglich aus dem Fall herauszuhalten. Levi war auch nicht gerade begeistert von der Aussicht, dass irgendein Special Agent aus Quantico eingeflogen wurde, um ihnen allen klarzumachen, wie wenig sie von ihrem Job verstanden.
»Eines der Dinge, die den Fall der Pik-Sieben so faszinierend machen, ist die fortlaufende Kommunikation mit der Polizei«, fuhr die Reporterin fort. »Der Killer scheint eine spezielle Vorliebe für einen der Chefermittler des Falls entwickelt zu haben, Detective Levi Abrams, den er regelmäßig anruft und für den er an den Tatorten Nachrichten hinterlässt. Detective Abrams hat unsere Anfragen nach einem Interview wiederholt abgelehnt …«
Levi schnappte sich die Fernbedienung und warf sie nach dem TV-Gerät. Sie knallte heftig gegen den Bildschirm und fiel klappernd zu Boden.
»Hey«, sagte Dominic scharf. Levi hatte nicht einmal gehört, dass er aus dem Badezimmer gekommen war – was nicht gerade für seine Wachsamkeit sprach. »Entspann dich. Das ist nicht unser Fernseher, weißt du?«
Levi holte tief Luft, stützte die Ellbogen auf die Knie und legte die Stirn in die Hände. Er hörte Dominic herumlaufen, und dann verstummte der Fernseher. Dominic kniete sich vor ihn und zupfte an seinen Händen, bis er aufblickte.
»Du musst aufhören, dir ständig die Nachrichten anzusehen«, stellte Dominic fest.
Da Levi auf dem Bett saß und Dominic auf dem Boden kniete, waren ihre Augen ziemlich auf gleicher Höhe. »Es war keine Absicht«, erklärte Levi. »Ich wusste nicht, dass sie einen Bericht über die Pik-Sieben bringen. Aber sie haben die Geschichte mit dem Agenten vom FBI herausgefunden.«
Dominic drückte seine Hände. »Das könnte ja auch von Vorteil sein. Vielleicht schafft es ein Profiler, den Fall zu knacken.«
»Im Gegensatz zu mir, meinst du. Ich bin nämlich der inkompetente Provinzcop, der nicht einmal einen Killer fassen kann, mit dem er wiederholt telefoniert hat.«
Statt zu antworten, beugte Dominic sich vor und lehnte seine Stirn an die von Levi. So hatte er es nicht gemeint, und Levi wusste es – der Gedanke wäre ihm nie gekommen. Serienmörder wie die Pik-Sieben waren immer schwer zu fassen. Sie waren vorsichtig, gut organisiert, äußerst intelligent und hatten keine persönliche Verbindung zu ihren Opfern. Es war nicht Levis Schuld, dass der Killer noch frei herumlief.
Aber für ihn fühlte es sich so an.
Dominic hob Levis Kinn und küsste ihn sanft und sinnlich auf die Lippen. Levi stöhnte und schob seine Finger in Dominics Haare. Er zuckte zusammen, als er spürte, wie Dominic seinen Gürtel öffnete.
»Was machst du denn da?«, flüsterte er, doch er legte keinen Widerspruch ein.
»Ich entspanne dich.« Dominic rutschte ein Stück auf den Knien zurück. Levi warf einen Blick auf die Uhr. »Auschecken ist bis spätestens um …«
»Dann brechen wir eben ein paar Regeln«, sagte Dominic und senkte den Kopf.
Danach machte Levi sich über nichts anderes mehr Gedanken.
Dominic donnerte mit seinem Pick-up die SR 157 vom Mount Charleston hinunter auf die hektische Stadt zu. Die Fenster waren weit geöffnet, um die frische Luft des späten Oktobers hereinzulassen. Rebel saß auf der Sitzbank zwischen ihm und Levi, der die vorbeirauschende herbstliche Gebirgslandschaft betrachtete.
Levi erinnerte Dominic an eine Katze – kratzbürstig und unabhängig, aber extrem loyal und voller Zuneigung, wenn man sich ihr Vertrauen verdient hatte. Auch sein Körper war katzenhaft: schlank, geschmeidig und stark. Kein Zentimeter Muskel an seiner hageren Gestalt war überflüssig. Er strahlte eine kantige, männliche Schönheit aus, von den kühlen grauen Augen bis zu den Wangenknochen, die so scharf vorsprangen, dass man sich den Daumen daran hätte schneiden können. Er ließ sich die lockigen schwarzen Haare jetzt länger wachsen, und obwohl er es nie zugab, war der Grund dafür, dass Dominic einmal eine Bemerkung darüber hatte fallen lassen, wie gut sie ihm so gefielen.
Levi glich zwar nicht mehr einem Bündel schartiger Messer, wie noch vor einer Stunde, wirkte jedoch angespannter als gewöhnlich. Und das hieß eine Menge bei jemandem, dessen normales Niveau an nervöser Spannung weit über dem Durchschnitt lag. Dominic konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Es war schon schlimm genug gewesen, als die meisten Menschen noch geglaubt hatten, die Pik-Sieben wäre tot, und Levi solo an dem Fall weitergearbeitet hatte. In den letzten Monaten hatte er zusätzlich im Brennpunkt der Öffentlichkeit gestanden, während Frustration und Enttäuschung jedes Mal stärker wurden, wenn die Polizei wieder einmal nicht weiterkam.
Dominic dagegen freute sich auf die Stadt. Morgen war sein erster offizieller Arbeitstag als Privatdetektiv – die Lizenz als Kopfgeldjäger behielt er sicherheitshalber dennoch. Seine besten Freunde planten ihre Hochzeit, seine kleine Schwester würde sehr bald ihr Kind bekommen, und er würde die Eltern seines Freundes kennenlernen.
Das Leben könnte so schön sein, wäre da nicht Levis zunehmende Verzweiflung.
»Du solltest langsamer fahren«, riss Levi ihn aus seinen Gedanken. »Die Geschwindigkeitsbeschränkung auf dieser Straße ändert sich ständig, und am Wochenende stellen die State Trooper Radarfallen auf.«
Dominic fuhr tatsächlich schneller, als er beabsichtigt hatte – das passierte schon einmal, wenn es bergab ging und kaum Verkehr herrschte. »Ich glaube nicht, dass die Gefahr besteht«, erwiderte er, doch er nahm den Fuß vom Gas.
Levi sah wieder zum Fenster hinaus, und Dominics Gedanken wanderten zu seinem ersten Fall als Privatermittler.
Keine fünf Minuten später tauchten, begleitet von Sirenengeheul, rot und blau blinkende Lichter im Rückspiegel auf.
Levi sagte nichts, aber seine Miene sprach Bände. Dominic fuhr seufzend an den Straßenrand, während Levi in der Jackentasche nach seiner Marke suchte.
»Ruhig«, befahl Dominic Rebel, die in Alarmbereitschaft war. »Sitz.«
Der State Trooper, der an die Fahrertür kam, war ein Typ wie aus dem Bilderbuch, weiß, Bierbauch, ultrakurze Haare. Dominic schenkte ihm sein strahlendstes Lächeln.
»Guten Tag, Sir.«
»Wissen Sie, wie schnell man auf dieser Straße fahren darf, Junge?«, fragte der Trooper. Er konnte höchstens zehn Jahre älter sein als Dominic.
»Neunzig?«
»Siebzig auf dem Stück dahinten. Und Sie hatten gut hundertzehn drauf.«
Dominic zuckte zusammen. Levi beugte sich über Rebel, um dem Trooper das Lederetui mit seiner Marke und seinem Dienstausweis zu reichen.
»Es tut mir sehr leid, Ihnen Umstände zu machen, Officer«, erklärte er. »Er wird in Zukunft besser aufpassen.«
Die Haltung des Troopers veränderte sich, als er sah, dass er es mit einem Kollegen zu tun hatte. Er musterte Levis Ausweis, und Dominic spürte das Prickeln einer düsteren Vorahnung.
»Detective Levi Abrams von der Mordkommission. Soso«, sagte der Trooper langsam. »Warum kommt mir das nur so bekannt vor?«
Die Temperatur im Pick-up schien schlagartig um zwanzig Grad zu sinken, als Levis Stimmung eisig wurde. Dominic warf ihm einen raschen Blick zu und überlegte ernsthaft, ob er dem Officer nicht den Dienstausweis aus der Hand reißen, den Berg hinunterbrettern und auf die Konsequenzen pfeifen sollte.
»Aber das gibt’s doch nicht«, setzte der Trooper an, ohne Dominics warnenden Blick zu bemerken. »Sie sind dieser Cop …«
Sprich es nicht aus!
»Der, von dem die Pik-Sieben so besessen ist!«
Herrgott. Dominics Hände krampften sich um das Lenkrad. Es gab nichts, was er tun konnte, um Levi vor solchen Situationen zu bewahren, und er hasste sich dafür, dass er seinem Freund die Qual nicht ersparen konnte.
Der Trooper grinste sie stolz an, als würde er einen gottverdammten Orden erwarten.
»Jap«, sagte Levi mit bitterem Lächeln. »Das bin ich.«
Als das letzte Mal so etwas passiert war – eine Horde Reporter hatte Levis Haus belagert, um ihn beim Nachhausekommen abzupassen –, waren er und Dominic ins Krav-Maga-Studio gegangen, hatten volle Schutzausrüstung angelegt und bis zur Erschöpfung aufeinander eingeschlagen.
Dominic machte versuchsweise ein Angebot in dieser Richtung, als er Levi bei seiner Wohnung absetzte, aber der winkte ab, gab ihm einen zärtlichen Abschiedskuss und versprach, am nächsten Tag anzurufen. Er wirkte ganz okay.
Doch Dominic ließ sich nicht täuschen. »Okay« war für Levi ein Fremdwort. Er konnte mit emotionalem Stress nicht gut umgehen – wenn überhaupt –, und seine Bewältigungsmechanismen bestanden hauptsächlich aus Sex und Gewalt. Adriana zu trainieren, würde ihm nicht dieselbe Erleichterung verschaffen wie das Sparring mit einem gleichwertigen Partner, und Dominic befürchtete, dass es ihn irgendwann zerriss.
Aber Levi war ein erwachsener Mann, und er konnte ihn nicht zwingen, Hilfe anzunehmen. Er konnte ihm nur klarmachen, dass er, wenn nötig, zur Verfügung stand, und sich ansonsten zurückhalten.
Er hoffte, das würde die Erinnerung an ihren ersten gemeinsamen Urlaub nicht trüben. Es war toll gewesen – eine ganze Woche voll herrlicher Wanderungen in der Schönheit des Waldes, abgekoppelt von den Stressfaktoren der Außenwelt. Sie hatten noch nie ununterbrochen so viel Zeit miteinander verbracht, aber sie waren sich nicht auf die Nerven gegangen. Selbst wenn sie stritten, gab es niemanden auf dieser Welt, dessen Gesellschaft Dominic mehr genossen hätte.
Er hatte zwar schon verschiedene Freunde gehabt, aber das waren bedeutungslose Affären gewesen, die nie länger als ein paar Monate gedauert hatten. Er war schnell gelangweilt und ruhelos, sobald jemand ein offenes Buch für ihn war. Doch Levi Abrams blieb undurchschaubar. Er stellte für Dominic heute noch eine genauso aufregende Herausforderung dar wie zu der Zeit, als die Pik-Sieben ihrer beider Leben durcheinandergewirbelt hatte. Er konnte sich nicht vorstellen, von dieser Beziehung jemals genug zu haben.
Er fuhr auf einen Parkplatz außerhalb des u-förmigen Apartmenthauses, in dem seine Wohnung lag, und holte sein Gepäck von der Ladefläche. Sobald er und Rebel sich innerhalb der Maschendrahteinzäunung befanden, ließ er sie von der Leine, und sie gingen am zentralen Gemeinschaftspool vorbei und die Treppe hinauf.
Da sah er die Luftballons. Sie schwebten fröhlich an ihren Schnüren, die an seinen Türknauf gebunden waren, ein bunter Strauß, auf dem WILLKOMMEN DAHEIM stand.
»Verdammt noch mal«, murmelte er und näherte sich misstrauisch der Wohnungstür. Er glaubte keinen Moment daran, dass seine Freunde die für ihn hinterlassen hatten.
Vor drei Monaten hatte er mithilfe von elektronischen Spezialgeräten herausgefunden, dass die Pik-Sieben Levis und seine eigene Wohnung sowie die seiner Nachbarn verwanzt und an ihren Autos GPS-Tracker angebracht hatte. Nachdem Dominic die Dinger beseitigt und mit den Vermietern gesprochen hatte, hatte er zusätzliche Schlösser an Türen und Fenstern und kabellose Sicherheitssysteme installiert.
Seitdem war die Pik-Sieben dazu übergegangen, ihm und Levi vor ihren Wohnungstüren, auf den Motorhauben ihrer Autos und einmal sogar in dem Club, in dem Dominic nebenbei als Barkeeper arbeitete, bizarre kleine Geschenke zu hinterlassen. Ohne sich hundertprozentig sicher zu sein, vermutete er, dass der Killer ihnen damit klarmachen wollte, dass er sie so oder so im Auge behielt, auch wenn er sie nicht mehr direkt belauschen konnte.
Trotzdem überprüfte Dominic immer noch alle paar Wochen ihre Wohnungen.
Sein erster Impuls war, die Ballons mit seinem Schlüssel zu zerstechen, aber er wollte kein mögliches Beweismaterial zerstören, selbst wenn die Chance gering war, dass die Polizei etwas finden würde. Er löste die Bindfäden vom Türgriff, nahm die Ballons mit hinein und fixierte sie in einer Ecke des Wohnzimmers mithilfe eines Buchs am Boden. Levi konnte sie morgen ins Labor bringen, auch wenn es nichts bringen würde. Die Pik-Sieben war zu clever, um Spuren zu hinterlassen.
»Du kranker Mistkerl«, murmelte Dominic unterdrückt.
Nachdem er ausgepackt und sich wieder zu Hause eingerichtet hatte, ging er seine besten Freunde Carlos und Jasmine in der Wohnung nebenan besuchen. Carlos öffnete mit einem gequälten Lächeln.
»Hey, Dom«, sagte er und strich sich die schlaffen braunen Haare aus der Stirn. »Willkommen daheim. Wie war der Ausflug?«
»Toll, vielen Dank.« Dominic verengte die Augen, als er die Anspannung in Carlos’ schlaksigem Körper bemerkte. »Stimmt was nicht?«
Carlos ließ die Tür weiter aufschwingen und lud ihn mit einer Kopfbewegung ein, hereinzukommen. Dominic zog die Augenbrauen hoch.
Auf allen freien Flächen war Bastelmaterial verstreut. Schachteln, die von Papier, Geschenkbändern und Leimbehältern überquollen, Dutzende von Farbtuben zwischen Styroporbechern mit Stiften und gebrauchten Pinseln. Jasmine saß auf dem Boden, umgeben von zusammengeknüllten Papierbällen, und beugte sich über etwas auf dem Couchtisch.
»Jasmine«, sagte Dominic.
Ruckartig hob sie den Kopf und starrte ihn überrascht an. Ihre Hände und Unterarme waren voller Farbe, und ein langer blauer Streifen unter ihrem Schlüsselbein zog sich über ihre komplizierten Tattoos.
»Dom!«, rief sie und sprang auf. »Ich wusste nicht, dass du schon wieder da bist.« Sie wischte sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und rannte auf ihn zu. Er bückte sich, damit sie ihm einen Kuss auf die Wange drücken konnte. »Wie geht’s Levi?«
»Alles okay. Er fährt heute Abend nach Henderson, um Adriana zu besuchen.«
»Ach, klasse«, sagte Jasmine. »Als ich meine Eltern das letzte Mal besucht habe, schien es ihr besser zu gehen. Ich glaube, Levi und Natasha tun ihr wirklich gut.«
»Und was geht hier vor?«, fragte Dominic und lenkte ihre Aufmerksamkeit sanft auf das Chaos im Wohnzimmer.
»Jasmine hat beschlossen, die Hochzeitseinladungen selbst zu entwerfen«, erklärte Carlos.
Seinem Ton entnahm Dominic, dass das eine schlechte Idee war, auch wenn er nicht verstand, warum. Jasmine war Künstlerin – sie lebte vom Tätowieren, hatte sich aber bereits auf jedem bekannten und unbekannten Gebiet der schönen Künste versucht und war unglaublich talentiert.
»Na ja, ich versuche es.« Jasmine kehrte zum Couchtisch zurück und warf sich die regenbogenfarbenen Zöpfe über die Schulter. »Bis jetzt kommt nicht viel dabei heraus. Aber ich kriege es hin.«
Carlos rieb sich das unrasierte Kinn und schaute Dominic an. »So sitzt sie praktisch schon da, seit du weggefahren bist.«
Okay, das war weniger gut. Dominic beobachtete sie ein paar Sekunden lang, während sie sich in ihr Projekt vertiefte und in dem Krempel auf dem Tisch kramte. Es sah ihr gar nicht ähnlich, eine solche Unordnung anzurichten, und sie kaute auf ihrem Lippenring, wie immer, wenn sie gestresst war.
Mit dem Kopf deutete er in Richtung Küche und forderte Carlos stumm auf, ihm zu folgen. Es gab keine Trennwand zwischen den beiden Räumen, nur eine Frühstückstheke, daher sprach er leise. »Bitte sag mir, dass du nicht die Hetero-Masche abziehst, dich aus den Hochzeitsvorbereitungen heraushältst und die Braut alle Arbeit machen lässt, bis sie durchdreht.«
»Tue ich nicht!«, fauchte Carlos. Dann atmete er tief durch und fügte ruhiger hinzu: »Ich versuche es jedenfalls. Es ist nur … Jasmines Eltern bezahlen fast die ganze Hochzeit, und die Gästeliste besteht zu neunundneunzig Prozent aus ihrer Familie. Ich habe das Gefühl, dass ich da nicht viel beitragen kann, weißt du?«
Dominic nickte. Carlos war trans, und seine eigenen Angehörigen konnten damit nicht umgehen. Er hatte seit Jahren keinen Kontakt mehr zu ihnen. Und obwohl Jasmines große Familie freundlich und aufgeschlossen war, verstand Dominic, warum Carlos sich ein wenig außen vor fühlte.
»Hat sie die Wohnung in der letzten Woche außer für die Arbeit einmal verlassen?«, fragte er.
»Nein.«
»Dann müssen wir einschreiten. Wir gehen heute Abend mit ihr aus.«
»Nimm’s mir nicht übel, Dom, aber du bist kein Künstler und hast nie mit einem zusammengelebt. Du weißt nicht, wie es ist, wenn man versucht, sie aus dieser Art von kreativem schwarzen Loch herauszuholen.«
Er schlug Carlos auf die Schulter. »Überlass das deinem Trauzeugen«, sagte er und kehrte ins Wohnzimmer zurück. »Hey, Jasmine.«
»Hmm?«, brummte sie, ohne aufzusehen.
Er trat näher und setzte sich schließlich neben sie. Sie waren schon lange befreundet, und er wusste, dass seine Größe sie nicht einschüchterte, aber er ragte ungern so hoch über anderen Menschen auf, es sei denn, er wollte sie einschüchtern – oder gelegentlich anmachen.
»Carlos und ich haben gerade darüber gesprochen, in das vegane Restaurant zu gehen, das du so magst«, behauptete er und berührte sie am Arm. »VegeNation? Und vielleicht hinterher auf ein paar Drinks. Was meinst du?«
Immer noch in ihre Arbeit vertieft, schüttelte sie den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich bin hier ziemlich beschäftigt.«
»Okay. Dann willst du bestimmt auch nicht hören, wie mein erster Urlaub mit meinem ersten festen Freund war?«
Sie stutzte und hob den Kopf. Er sah, dass sie in Versuchung geriet.
»Kindheitserinnerungen wurden ausgetauscht. Peinliche Erlebnisse enthüllt. Zukunftsträume geteilt.« Er neigte sich zu ihr. »Nähe. Vertiefte Intimität. Heißer Hotelsex …«
Sie versetzte ihm lachend einen Schubs gegen die Schulter. »Na schön, überredet. Ich komme mit. Aber von der letzten Sache muss ich nichts hören.«
»Bist du sicher? Es war wirklich fantastischer Sex. Die ganze frische Bergluft, weißt du?«
Sie schnaubte, und er nahm ihre Hände, um sie mit sich hochzuziehen.
»Ich wasche mich nur schnell und ziehe mich um«, sagte sie und verschwand im hinteren Teil der Wohnung.
Dominic drehte sich um und sah, dass Carlos ihn kopfschüttelnd anstarrte. »Was denn?«
»Man sollte meinen, dass ich mittlerweile deine Fähigkeit kenne, Menschen zu manipulieren.« Ein verschmitztes Blitzen stand in seinen Augen. »Wenigstens setzt du deine Macht für das Gute ein.«
»Aus großer Kraft folgt große Verantwortung«, erwiderte Dominic feierlich und duckte sich unter der Rolle Küchenpapier weg, die Carlos nach ihm warf.
»Wir werden also nicht darüber sprechen, was heute Abend passiert?«, fragte Martine mit ihrem unüberhörbaren New Yorker Akzent. Sie stellte ihren Wagen in der Lücke zwischen zwei großen Vans ab und legte den Schalthebel in Parkstellung.
Levi sah zu ihr hin, während er den Gurt öffnete. »Was?«
»Ich warte ständig, dass du endlich darauf zu sprechen kommst, aber das ist offensichtlich ein Fehler.« Sie zog den Zündschlüssel ab.
»Hältst du das wirklich für den geeigneten Ort für dieses Gespräch?« Er nickte zu dem Gebäude vor ihnen hin: die Gerichtsmedizin von Clark County.
Sie hob eine perfekt gepflegte Augenbraue. »Deine Eltern kommen her, um Dominic kennenzulernen. Das ist eine große Sache.«
Sie stiegen aus, und das Geräusch der zuschlagenden Türen hallte über den Parkplatz. Martine war Levis engste Freundin, eine Frau, der er mehr Vertrauen schenkte als seiner eigenen Schwester. Aber er wollte sich im Augenblick nicht auf dieses Thema einlassen. »Meine Eltern besuchen mich. Die Tatsache, dass sie Dominic begegnen werden, ist zweitrangig.«
Eine steife Herbstbrise blies ihnen entgegen, während sie auf das Gebäude zugingen. Sie zerzauste Levi die Haare und ließ Martines kurze Naturlocken wippen. Obwohl sie ihm kaum bis zur Schulter reichte, wirkte sie dank ihrer Persönlichkeit größer.
»Ja, klar«, sagte sie. »Deine Eltern fliegen über dreitausend Kilometer, nur um ein beliebiges Oktoberwochenende hier zu verbringen, dich zu sehen und ein bisschen Blackjack zu spielen? Komm schon!«
Er hielt ihr die Tür auf und folgte ihr dann. Sie zeigten am Empfang ihre Marken und wurden von einem Sicherheitsposten um die Metalldetektoren herumgeschleust. Erst als sie in dem vertrauten Labyrinth aus Gängen wieder allein waren, antwortete er: »Wenn ich zu genau darüber nachdenke, drehe ich durch. Meine Mutter hat Stanton drei Jahre lang kein einziges Mal beim Namen genannt, und dabei mochte sie ihn.«
Levis Beziehung mit Stanton Barclay war ernst gewesen. Sie hatten jahrelang zusammengelebt, und er hatte Levis Eltern sogar um Erlaubnis dafür gebeten, um seine Hand anzuhalten. Levis Mutter hatte Stanton natürlich mit seinem Namen angesprochen, aber im Gespräch mit Levi hatte sie ihn unvermeidlich »dein junger Mann« genannt. Und genauso machte sie es jetzt mit Dominic.
»Ich glaube, du machst dir zu viele Gedanken«, erklärte Martine, als sie vor der Tür zu Untersuchungsraum C standen. »Jeder, der Dominic kennt, liebt ihn. Ich habe schon Leute, für die er Kopfgeld kassiert hat, sagen hören, was für ein netter Kerl er sei.«
Levi breitete die Hände aus. »Ich habe eine jüdische Mutter. Ich bin ihr einziger Sohn. Selbst wenn König David persönlich wieder auf Erden wandelte, würde sie nicht glauben, dass er gut genug für mich ist.«
Kichernd klopfte Martine an die Tür und ließ sie aufschwingen. Levi verdrängte seine persönlichen Probleme und konzentrierte sich auf die Arbeit.
Dr. Maldonado, die zu den fünf hauptamtlichen Gerichtsmedizinern von Clark County gehörte, empfing sie. Sie war eine ältere Frau, trug die ergrauenden schwarzen Haare in einem Knoten und hatte eine Katzenaugenbrille, die an einer altmodischen, juwelenbesetzten Kette hing.
Da sie sie erwartet hatte, lag der Leichnam bereits auf dem Tisch in der Mitte des Raums.
»Paul Yu«, begann sie und zog das Tuch bis zu den Hüften des Mannes herunter. »Tot eingeliefert in die Notaufnahme der Universitätsklinik um zwei Uhr dreißig heute Morgen. Das Krankenhauspersonal hat das vorgeschriebene Protokoll befolgt, soweit ich das beurteilen kann. Ich habe die Wiederbelebungsausrüstung persönlich entfernt.«
»Uff«, sagte Martine, während sie den Mann betrachtete, und Levi stimmte ihr insgeheim zu. Sie hatten die Berichte der Rettungssanitäter und der Beamten vor Ort gelesen. Man hatte Yu mit Schussverletzungen in der Tiefgarage seines Wohnhauses aufgefunden. Es gab keine Verdächtigen und keine unmittelbaren Zeugen, und er war im Rettungswagen auf der Fahrt zur Universitätsklinik verstorben.
Die Berichte waren allerdings nicht darauf eingegangen, wie schlimm er zugerichtet war. Sein Gesicht war blutig und voller blauer Flecken, die Hälfte der Gesichtsknochen war gebrochen, und seine Rippen machten den Eindruck, als hätten auch sie eine Menge abbekommen. Jemand hatte erbarmungslos und in sinnloser Wut auf ihn eingeprügelt.
»Todesursache waren zwei Schusswunden im Unterleib.« Maldonado deutete auf die Verletzungen – die Haut war geschwärzt und in einem sternförmigen Muster aufgerissen, was darauf hindeutete, dass die Waffe direkt auf Yus Bauch aufgesetzt worden war. »Aber wie Sie erkennen können, wurde er schwer misshandelt, bevor man ihn erschossen hat.«
»Wie es scheint, hat er dabei mit gleicher Münze ausgeteilt.« Levi streifte sich ein Paar Einweghandschuhe über und hob Yus rechte Hand sanft an. Die Knöchel waren auf eine Art aufgerissen, die er sehr gut kannte, und unter den Fingernägeln klebten Blut und Körpergewebe.
»Sieht nach einer ausgesprochen brauchbaren DNA-Probe aus«, stellte Martine fest.
Maldonado nickte. »Ich habe die äußerliche Untersuchung beendet und werde in Kürze mit der Autopsie beginnen. Es gibt keine Austrittswunden, also hoffe ich, die Kugeln mehr oder weniger intakt bergen zu können.«
Sie besprachen den Fall für eine Weile, bevor sie sich bei Maldonado bedankten und gingen. Als sie wieder vor dem Gebäude angekommen waren, fragte Martine: »Willst du dir den Tatort ansehen, während ich mit der Familie des Opfers rede?«
»Klingt gut. Außerdem könnte es sein, dass sich der Mörder, wenn Yu derartig Gegenwehr geleistet hat, selbst bei irgendeinem Quacksalber verarzten lassen musste. Ich setze unsere Informanten darauf an.«
»Vielleicht sollten wir uns auch mit der Abteilung für Organisierte Kriminalität kurzschließen«, schlug sie vor.
Er blieb abrupt stehen. »Was? Warum?«
»Na ja, es ist schwer zu sagen, wenn ein Typ so aussieht, als hätte ihm ein Pferd ins Gesicht getreten. Aber ich glaube, Paul Yu gehörte zur Park-Familie.«
»Mist«, knurrte Levi. Die Parks waren eine koreanisch-amerikanische Mafia-Familie, die in der Stadt eine auffallend respektable Fassade aufrechterhielt. Die meisten Angehörigen der Kernfamilie waren Anwälte der angesehensten Strafverteidigerkanzlei von Las Vegas, Hatfield, Park und McKenzie. Hin und wieder musste eine Handvoll ihrer Lakaien den Kopf für eine ihrer vielen wirtschaftskriminellen Operationen hinhalten. Aber die Strafverfolgungsbehörden waren bisher nicht in der Lage gewesen, auch nur einem einzigen der Parks eine Straftat nachzuweisen.
Besonders unangenehm an der Aussicht, mit der Abteilung für Organisierte Kriminalität zusammenarbeiten zu müssen, war, dass die dortigen Kollegen allesamt arrogante Arschlöcher waren. Sie schienen in der Zeit stecken geblieben zu sein, als die italienische Mafia noch Las Vegas regiert hatte, und entsprechend benahmen sie sich auch. Die einzigen noch schlimmeren Cops waren die von der Internen Abteilung.
Martine entriegelte den Wagen. »Dir ist schon klar: Wenn ich sage, dass wir uns mit denen kurzschließen müssen, dann meine ich, dass ich das tue, und du hältst dich schön raus, klar? Das Letzte, was wir brauchen, ist ein neuer Streit zwischen den Abteilungen, der mit einer lautstarken Auseinandersetzung und einem zerbrochenen Fenster endet.«
»Das war nur ein Mal, Martine«, gab er mit finsterer Miene über das Wagendach hinweg zurück.
* * *
Paul Yu hatte in einem Apartmenthaus in Downtown gewohnt, ein paar Kilometer weit weg von Levis Zuhause in Rancho Oakey. Es war anspruchsvoll genug, um über eine eigene Tiefgarage zu verfügen, und Yu war nur wenige Schritte vom Parkplatz seines Nissan entfernt erschossen worden.
Levi stand allein am Tatort, der mit gelbem Absperrband abgeriegelt war. Ein großer, rotbrauner Fleck befand sich an der Stelle, wo Yu verblutet war. Kleinere Spritzer darum herum mochten von Yu oder seinem Angreifer stammen, vielleicht auch von beiden. Streifenpolizisten hatten die Patronenhülsen gefunden und sichergestellt, bevor das Verbrechen offiziell als Mord deklariert und Levis Abteilung übertragen worden war. Sonst gab es hier nichts von großem Interesse.
Er ging langsam im Kreis. Das hier war eine relativ einsame Stelle, die weit vom Eingang zu den Wohnungen entfernt lag. Yu war mitten in der Nacht nach Hause gekommen, ausgestiegen und sofort angegriffen worden – höchstwahrscheinlich von jemandem, den er kannte, wenn man das außergewöhnliche Maß an Wut bei der Attacke und die Tatsache bedachte, dass nichts gestohlen worden war. Der Mörder und er hatten sich eine brutale Prügelei geliefert, bevor der Kerl eine Waffe gezogen und Yu in den Bauch geschossen hatte.
Kein schöner Tod.
Mehrere Anwohner hatten die Schüsse gehört und den Notruf gewählt, obwohl sich keiner in die Garage gewagt hatte. Als die Cops und Rettungssanitäter eintrafen, war der Schütze längst verschwunden gewesen. Levi musste die Garage auf Reifenabrieb oder andere Spuren überprüfen lassen, die bewiesen, dass ein Auto in aller Eile davongerast war.
Er vermutete, dass der Schütze ursprünglich nicht vorgehabt hatte, Yu zu töten. Sonst hätte er ihn gleich erschossen, ohne ein Handgemenge zu riskieren. Aber die Sache war aus dem Ruder gelaufen, und jetzt befand er sich auf der Flucht. Vielleicht stieß Martine bei ihrer Vernehmung von Yus Familie und seinen Freunden auf einen Hinweis. Wenn eine persönliche Verbindung bestand, erleichterte das die Suche nach dem Mörder.
Bis dahin würde Levi die Garage von oben bis unten durchsuchen und die Überwachungsvideos von der Ausfahrt besorgen, ebenso die von jeder Verkehrskamera im Umkreis von zehn Blocks. Mörder, die mitten in der Nacht vom Schauplatz ihres Verbrechens flohen, neigten dazu, rote Ampeln zu missachten.
Sein Handy summte. Er zog es aus der Tasche und las eine Nachricht von seiner Mutter, die sie in einem Gruppenchat geschickt hatte, zu dem auch sein Vater gehörte.
Sind unterwegs zum Flughafen! Dein Vater und ich freuen uns schon darauf, deinen neuen jungen Mann kennenzulernen. Bis bald! xoxo Mom.
Guten Flug, hab euch lieb,schrieb Levi zurück.Er wollte das Handy wieder einstecken, als es erneut summte.
Dein Vater und ich können ein Taxi zum Hotel nehmen, wenn es dir zu viel Mühe macht, uns abzuholen.
Levi verdrehte die Augen, aber bevor er antworten konnte, dass das natürlich kein Problem sei, erschien eine Nachricht von seinem Vater auf dem Display.
Sie meint einen Uber. Niemand fährt heute noch Taxi!
Levi rieb sich über den Nasenrücken und verfolgte voll Staunen, wie seine Eltern, die zweifellos direkt nebeneinander im Auto irgendeines Freundes saßen, der sie zum Flughafen fuhr, via Gruppenchat in einen schnellen und heftigen Streit über das Thema »Taxi vs. Uber« gerieten.
»Oh mein Gott«, sagte er zu dem leeren Parkhaus.
* * *
Am frühen Nachmittag kehrte er zum Revier südlich des Strip zurück, einen Becher schwarzen Kaffee mit zwei Espresso darin in der Hand. Er war in Gedanken versunken und lief auf Autopilot, als er das Großraumbüro betrat. Dann blickte er auf und knallte hart gegen die Kante seines Schreibtisches. Vor ihm stand der umwerfendste, schönste Mann, den er je zu Gesicht bekommen hatte.
Er sah aus wie der Prinz in einem Historiendrama, schlank und athletisch, mit strahlender Bronzehaut. Ungebändigte, seidig dunkle Locken fielen wie ein Heiligenschein um seinen Kopf. Sein Gesicht hätte Michelangelo zum Weinen gebracht, eine große, kräftige Nase und ein kantiges Kinn. Seine Wimpern waren so dicht, dass Levi sie aus fast fünf Metern Entfernung erkennen konnte.
Levi konnte den Blick nicht von ihm abwenden. Er stand bei James Wen, Levis Sergeant, und Jonah Gibbs, einem untersetzten, rotgesichtigen Cop, Levis Intimfeind auf dem Revier. Levi wusste, dass er dem Mann noch nie zuvor begegnet war – dieses Gesicht hätte er nicht vergessen.
Wen bemerkte seine Ankunft als Erster und bedeutete ihm mit einem lauten »Abrams!«, näher zu kommen.
Nach einem kurzen Augenblick der Verwirrung erinnerte sich Levi, dass er einen Kaffee in der Hand hielt, und stellte ihn ab, bevor er sich zu der kleinen Gruppe gesellte. Der schöne Mann musterte ihn mit unverhohlenem Interesse.
»Abrams, das hier ist Special Agent …« Wen verstummte. »Verzeihen Sie, könnten Sie Ihren Namen für mich noch einmal aussprechen?«
»Rohan Chaudhary.« Der Mann hatte eine sanfte, aber gebieterische Stimme, die einen zwang, sich näher zu ihm zu beugen, um ihn besser zu verstehen. »Bitte nennen Sie mich doch beim Vornamen.« Er streckte die Hand aus. »Ich bin nicht so für Formalitäten.«
Levi blinzelte, ganz vertieft in den Schwung von Rohans verheißungsvollem Mund, bis ein leises Lachen von Gibbs ihn aus seiner Betrachtung riss. »Levi Abrams«, stellte er sich vor und schüttelte Rohan die Hand fester, als nötig gewesen wäre. Erst da verstand er, was Wens Aussage zu bedeuten hatte. »Warten Sie, Sie sind der …«
»Der FBI-Agent vom ›National Center for the Analysis of Violent Crime‹, der Analyseeinheit für Gewaltverbrechen«, erklärte Wen und blickte Levi bedeutungsvoll an. »Genau.«
»Detective Abrams«, sagte Rohan mit breitem, charmantem Lächeln. »Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen. Ich habe in den letzten Wochen so viel über Sie gelesen, dass es mir fast vorkommt, als würde ich Sie kennen.«
»Ich dachte, Sie stoßen erst morgen dazu«, antwortete Levi, der noch nie für sein Taktgefühl bekannt gewesen war – und schon gar nicht, wenn man ihn auf dem falschen Fuß erwischte.
Rohan schien nicht beleidigt zu sein. »Ich habe beschlossen, einen früheren Flug zu nehmen. Vor Montag bin ich nicht offiziell anwesend, aber ich würde gerne ein paar Tage mit eigener Feldarbeit verbringen, um ein konkreteres Gefühl für den Fall zu entwickeln, den ich studiert habe.« Er legte den Kopf schief und fügte hinzu: »Wo wir gerade davon sprechen, meinen Sie, wir könnten uns unter vier Augen zusammensetzen? Schriftlichen Berichten kann man nicht alles entnehmen, und ich würde mir gerne von Ihnen Ideen holen. Noch besser wäre es, wenn Ihr Partner Mr Russo uns dabei Gesellschaft leisten könnte. Ich habe eine Menge Fragen an ihn.«
»Äh … Tatsächlich bekomme ich dieses Wochenende Besuch von meiner Familie. Ich fürchte, das wird nicht klappen. Vielleicht nächste Woche?«
Rohan nickte liebenswürdig, aber Wen und Gibbs starrten Levi mit offenem Mund an. Keiner von ihnen hatte je erlebt, dass er die Arbeit wegen der Familie hintanstellte – oder für irgendetwas anderes.
Pech für sie. Levi war nicht in der Stimmung, sich von einem Profiler darüber aushorchen zu lassen, wie er bei der Jagd nach der Pik-Sieben gescheitert war, vor allem wenn besagter Profiler so überirdisch attraktiv war, dass es eine echte Ablenkung darstellte.
»Agent … äh, Rohan, am besten zeige ich Ihnen erst einmal Ihren vorläufigen Arbeitsplatz, damit Sie sich ausbreiten können«, warf Wen ein.
Die beiden Männer gingen davon. Levi kehrte zu seinem Schreibtisch zurück, ließ sich in den Stuhl fallen und trank einen langen, brühend heißen Schluck Kaffee.
»Sie werden doch nicht zulassen, dass Russo sich mit diesem Typen trifft, oder?«, fragte Gibbs neben ihm.
»Warum nicht?«
»Hey, ich bin vielleicht nicht schwul, aber ich erkenne einen gut aussehenden Typen, wenn ich ihn vor mir habe.« Gibbs musterte ihn von Kopf bis Fuß. »Und wenn Sie mich fragen, hat Ihr Freund eine Vorliebe für hagere Kerle mit lockigen Haaren. Seien Sie bloß vorsichtig.«
Gibbs ging vor sich hin pfeifend davon. Levi warf ihm einen wütenden Blick hinterher und ermahnte sich zum zehntausendsten Mal, dass es nicht akzeptabel war, einen Kollegen zu schlagen, nur weil er ein absolutes Arschloch war.
Nach vier Tagen in seinem neuen Job hatte sich Dominic immer noch nicht daran gewöhnt, ein eigenes Büro zu haben. Zugegeben, es war kaum größer als ein Schrank, aber es war seines – sein Name an der Tür, seine Fotos auf dem Schreibtisch.
Die ganze Sache war für ihn eine fremdartige Erfahrung. Nach der Highschool hatte er ein ruheloses Semester auf dem hiesigen College verbracht, bevor er sich für acht Jahre zur Army verpflichtete. Nach seiner Entlassung hatte er als Barkeeper gearbeitet – eine geeignete Methode, um in Vegas gutes Geld zu verdienen, und gelegentlich machte er das immer noch, um seine Spielschulden besser zurückzahlen zu können. Irgendwann hatte dann er auf den Rat eines anderen Veteranen hin mit der Kopfgeldjagd angefangen. Das hier war sein erster echter Bürojob, und noch dazu ein ziemlich toller.
Allerdings hätte er durchaus damit leben können, nicht jeden Tag einen Anzug tragen zu müssen.
Er zerrte am Knoten seiner Krawatte, während er sich durch die Datenbank der Kfz-Zulassungsstelle klickte. Die Fälle dieser Woche erforderten nur Nachforschungen, die leicht per Computer und Telefon durchgeführt werden konnten. Natürlich war es ganz nett, Zeit zu haben, sich an die neue Stelle zu gewöhnen, andererseits fing er an, sich zu langweilen. Sosehr ihm ein eigenes Büro gefiel, hatte er noch nie lange still sitzen können.
Als deshalb eine E-Mail von seiner Chefin auf dem Bildschirm aufleuchtete, freute er sich über die Abwechslung.
Neuer Fall für Sie. In mein Büro.
Knapp und schnell zur Sache: Das war typischer Kate-McBride-Stil. Dominic grinste, speicherte seine Arbeit ab und schlüpfte auf dem Weg zur Tür hinaus in sein Jackett.
McBride leitete schon in dritter Generation McBride Investigations, eine diskrete und exklusive Firma gleich neben dem Strip. Dominic war nicht überrascht, als er sie beim Eintreten mit einer E-Zigarette in der Hand vorfand. Mit der Anzahl von Kartuschen, die sie täglich rauchte, hielt sie vermutlich im Alleingang die halbe Vaping-Industrie von Las Vegas in Gang.
Er schnupperte, während er in dem Stuhl vor ihrem Schreibtisch Platz nahm, und versuchte, den Duft des Dampfs zu identifizieren, den sie gerade ausgeatmet hatte. »Ist das … Piña Colada?«
»Es heißt Malibu«, antwortete sie und betrachtete stirnrunzelnd die Zigarette. Ihre Stimme war infolge jahrzehntelangen Kettenrauchens, bevor sie zu E-Zigaretten gewechselt war, dauerhaft heiser und rau. »Moira hat ihn mir geschenkt – sie kann den Bourbon-Duft nicht ausstehen, den ich lieber mag. Ich habe ihr gesagt, dass sie der Hauptgrund ist, warum ich überhaupt mit echtem Tabak aufgehört habe, also soll sie sich gefälligst mit dem Geschmack abfinden, den ich aussuche.«
Er erwähnte nicht, dass sie den Bourbon-Duft tatsächlich abgeschafft hatte. Wenn McBride einen schwachen Punkt hatte, dann war es ihre schöne und viel jüngere Frau. Aber er hatte Moira kennengelernt und wusste, dass die Hingabe auf Gegenseitigkeit beruhte.
»Wie dem auch sei, wir haben hier einen Fall, der genau Ihr Ding sein müsste.« McBride zerrte eine Aktenmappe unter einem hohen Stapel hervor und warf sie vor ihm auf den Schreibtisch. »Sie haben ein Talent dafür, Leute aufzuspüren. Also spüren Sie sie auf.«
Er öffnete die Mappe und betrachtete das Foto einer jungen schwarzen Frau mit langen, glatten Haaren und strahlendem Lächeln. Sie trug Hut und Umhang von einer Abschlussfeier, hielt ein Zeugnis in die Höhe und verströmte Stolz. Um ihren Hals hing ein silbernes Kreuz.
»Was ist mit ihr?«, fragte er.
»Jessica Miller. Sie hat vor sieben Monaten das Studium geschmissen und ist verschwunden. Die Cops wollten nichts von dem Fall wissen, weil sie volljährig ist und aus eigenem freien Willen gehandelt hat.«
Er musste nicht weiterlesen, um den Grund hinter Jessicas Verschwinden zu ahnen. »Wer ist der Typ?«
McBride lachte leise. »Jessicas Eltern kannten ihn als John Williams, aber das ist nicht sein richtiger Name. Der Fall wurde uns von einem Privatdetektiv in Bakersfield übergeben, den sie im Sommer engagiert hatten. Er blieb Jessica und ihrem Freund monatelang durch ganz Südkalifornien auf den Fersen, bis die Spur in Vegas kalt wurde. Er verfügt nicht über die Leute und Ressourcen dafür, einen Fall über die Staatsgrenze hinweg zu verfolgen, deshalb ist heute Ihr Glückstag.«
Dominic nickte und nahm die Akte an sich. »Ich mache mich gleich an die Arbeit. Sonst noch etwas?«
Sie warf sich in ihren Stuhl zurück. »Ihre Krawatte ist schief.«
Wieder in seinem Büro, rief Dominic zunächst Gary Hopkins an, den Detektiv, der den Fall an sie weitergereicht hatte. Er blätterte in der Akte, während er darauf wartete, zu ihm durchgestellt zu werden.
»Hopkins«, meldete sich eine forsche Stimme.
»Mr Hopkins, hier ist Dominic Russo von McBride Investigations. Ich bearbeite den Jessica-Miller-Fall, den Sie uns übertragen haben.«
»Oh, hallo. Traurige Geschichte, nicht wahr?«
»Ja, ich lese gerade die Akte. Könnten Sie mir vielleicht einen kurzen Abriss geben?«
»Sicher.« Hopkins räusperte sich, und man hörte Papiere rascheln. »So ziemlich der klassische Fall einer goldenen Zukunft, die von einem zwielichtigen Burschen ruiniert wird. Jessica war ein intelligentes Mädchen, eine gute Studentin an der UC Santa Barbara. Dann tauchte dieser John-Williams-Typ auf, und alles ging den Bach runter. Ihre Noten wurden schlechter, ihr Verhalten änderte sich, das ganze Drum und Dran. Sie hat mitten im Semester nach einem Riesenstreit mit ihren Eltern das Studium geschmissen und ist mit ihm abgehauen.«
»Und das war definitiv freiwillig?« Dominic nahm das Telefon in die linke Hand und griff nach einem Stift.
»So sah es aus. Jessica hat gelegentlich zu Hause angerufen oder ihren Eltern geschrieben, aber mit der Zeit immer seltener, bis die Verbindung im Juni ganz abriss. Ihre Nummer wurde abgeschaltet, und ihre Eltern wussten nicht, wo sie war. Also haben sie mich angeheuert. Sie haben befürchtet, Williams würde sie irgendwie emotional manipulieren und nicht gehen lassen, falls sie gehen wollte. Ehrlich gesagt glaube ich, dass das ziemlich nahe an der Wahrheit dran ist.«
»Wie kommen Sie darauf?«
»Ich war den beiden monatelang auf der Spur, und sie blieben mir immer einen Schritt voraus. Ich meine, sie hatten einen beachtlichen Vorsprung, doch es hätte trotzdem ein Kinderspiel sein müssen.« Hopkins seufzte. »Williams ist nicht das, was er zu sein scheint. Soweit ich das sagen kann, hat er keinen Job, aber immer jede Menge Geld in der Tasche – und zwar ausschließlich Bargeld. Er wechselt zwischen verschiedenen Identitäten, er versteht es, seine Spuren zu verwischen, und ist insgesamt einfach ein bisschen zu aalglatt. Ein normaler Drogenabhängiger wäre nicht so geschickt darin, einen Verfolger abzuschütteln.«
Dominic lehnte sich zurück. »Was glauben Sie, halten Sie ihn für eine Art Trickbetrüger?«
»Gut möglich. Die Millers sind reich. Sie haben die Finger in der Agrarindustrie von Bakersfield. Williams schien es nie auf Jessicas Geld abgesehen zu haben. Aber wer weiß? Vor ein paar Wochen sind sie in Las Vegas gelandet und von der Bildfläche verschwunden. Sie hatten mich bemerkt, und deshalb haben sie sich wohl einen Platz gesucht, wo sie so lange wie nötig untergetaucht bleiben können. Ich bin eine Ein-Mann-Firma. Das ist zu viel für mich.«
»Na schön.« Dominic ließ geistesabwesend den Stift zwischen den Fingern wirbeln und starrte die leere Wand gegenüber seinem Schreibtisch an. »Dann bedanke ich mich für Ihre Mühe.«
»Kein Problem. Wenn ich noch irgendetwas tun kann, rufen Sie mich gern an.«