Kill Game - Cordelia Kingsbridge - E-Book
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Kill Game E-Book

Cordelia Kingsbridge

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Beschreibung

Das Leben von Mordermittler Levi Abrams ist aus den Fugen geraten – nach einer Schießerei ist er immer noch seelisch angeschlagen, und die Beziehung mit seinem Freund kriselt. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist ein Serienmörder, der auf den Straßen von Las Vegas sein Unwesen treibt. Und da ist auch noch der Kopfgeldjäger Dominic Russo, der ihm mit seinem Charme auf die Nerven geht und dem er ständig unfreiwillig über den Weg läuft. Dominic schätzt sein unkompliziertes Leben und das bedeutet: kein Umgang mit Cops – vor allem nicht mit kratzbürstigen, verklemmten Detectives. Dann stolpert er jedoch durch Zufall über das jüngste Opfer der grausamen Pik-Sieben. Der Mörder ist gnadenlos und den Ermittlern immer zwei Schritte voraus. Schlimmer noch, er hat ein gefährliches persönliches Interesse an den beiden entwickelt. Gezwungen, einander zu vertrauen, versuchen sie, ihn zu stellen. Doch im Gegensatz zu Levi und Dominic hält die Pik-Sieben alle Trumpfkarten in der Hand ... "Kill Game" ist der erste Band der fünfteiligen Thriller-Serie von Cordelia Kingsbridge. Die Bücher sollten in der richtigen Reihenfolge gelesen werden.

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Seitenzahl: 395

Veröffentlichungsjahr: 2023

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CORDELIA KINGSBRIDGE

KILL GAME

DIE PIK-SIEBEN-MORDE 1

Aus dem Amerikanischen von Peter Friedrich

Über das Buch

Das Leben von Mordermittler Levi Abrams ist aus den Fugen geraten – nach einer Schießerei ist er immer noch seelisch angeschlagen, und die Beziehung mit seinem Freund kriselt. Das Letzte, was er jetzt gebrauchen kann, ist ein Serienmörder, der auf den Straßen von Las Vegas sein Unwesen treibt. Und da ist auch noch der Kopfgeldjäger Dominic Russo, der ihm mit seinem Charme auf die Nerven geht und dem er ständig unfreiwillig über den Weg läuft.

Dominic schätzt sein unkompliziertes Leben, und das bedeutet: kein Umgang mit Cops – vor allem nicht mit kratzbürstigen, verklemmten Detectives. Dann stolpert er jedoch durch Zufall über das jüngste Opfer der grausamen Pik-Sieben.

Der Mörder ist gnadenlos und den Ermittlern immer zwei Schritte voraus. Schlimmer noch, er hat ein gefährliches persönliches Interesse an den beiden entwickelt. Gezwungen, einander zu vertrauen, versuchen sie, ihn zu stellen. Doch im Gegensatz zu Levi und Dominic hält die Pik-Sieben alle Trumpfkarten in der Hand …

Über die Autorin

Cordelia Kingsbridge hat einen Master in Sozialarbeit von der Universität Pittsburgh, doch bereits während ihres Studiums schrieb sie Romane. Schon bald entschied sie, ihr Hobby zum Beruf zu machen. Inzwischen erkundet sie ihre Faszination für das menschliche Verhalten und die Psychopathologie durch die Fiktion. Sie hat eine Schwäche für gegensätzliche Paare und bissige Sticheleien.

Als Ausgleich zum Schreiben macht sie Kraftsport, fährt Fahrrad und praktiziert Krav Maga. Sie lebt in Südflorida (und schreibt am liebsten drinnen bei laufender Klimaanlage).

Die amerikanische Ausgabe erschien 2017 unter dem Titel »Kill Game« bei Riptide Publishing.

 

Deutsche Erstausgabe Februar 2022

 

© der Originalausgabe 2017: Cordelia Kingsbridge

© Verlagsrechte für die deutschsprachige Ausgabe 2022:

Second Chances Verlag

Inh. Jeannette Bauroth, Steinbach-Hallenberg

 

Alle Rechte, einschließlich des Rechts zur vollständigen oder auszugsweisen Wiedergabe in jeglicher Form, sind vorbehalten.

Alle handelnden Personen sind frei erfunden, Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

 

Published by Arrangement with RIPTIDE PUBLISHING LLC

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, 30161 Hannover.

 

Umschlaggestaltung: Frauke Spanuth, Croco Designs

unter Verwendung von Motiven von blacksalmon, starlineart,

beide stock.adobe.com

 

Lektorat: Anne Sommerfeld

Korrektorat: Julia Funcke

Satz & Layout: Second Chances Verlag

 

 

ISBN 978-3-948457-13-6

 

 

www.second-chances-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Titel

Über die Autorin

Impressum

Widmung

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

In liebevollem Andenken an meine Großmutter SimaAleha haschalom

KAPITEL 1

»Sagst du es, oder soll ich?«, fragte Martine.

Levi seufzte und musterte die Leiche. Phillip Dreyer saß aufrecht in seinem eleganten ergonomischen Bürosessel, die Unterarme auf den breiten Mahagonischreibtisch gestützt, als würde er einen Klienten empfangen. Das Bild wurde allerdings dadurch beeinträchtigt, dass man ihm in einem klaffenden Bogen die Kehle von Ohr zu Ohr aufgeschlitzt hatte und sein Kopf schräg nach hinten geklappt war. Blut tränkte die Brust seines Designeranzugs und sammelte sich an der Tischkante.

Seine Augen standen offen.

»Möglicherweise haben wir es mit einem Serienkiller zu tun«, meinte Levi.

Martine übernahm sofort die Rolle des Advocatus Diaboli. »Zwei Leichen mit ähnlicher Vorgehensweise bedeuten nicht automatisch einen Serienmörder. Genau genommen können wir nicht einmal von einem Muster sprechen.« Ihr Akzent war Brooklyn durch und durch. Nichts war zu spüren von dem breiten Haitianisch ihrer Kindheit, das nur dann durchschimmerte, wenn sie aufgeregt war.

Levi trat näher an den Schreibtisch heran. Aus reiner Gewohnheit ließ er die Hände in den Taschen, obwohl er Einweghandschuhe trug.

In dem großen Büro wimmelte es wie in einem Bienenstock. Beamte in Uniform plauderten an der Tür miteinander, der Fotograf schoss Aufnahmen aus allen Blickwinkeln, und die Spurensicherung durchkämmte den Raum nach einem vorher festgelegten Raster. Levi ignorierte all das und konzentrierte sich auf ein spezielles Detail.

Aus der Brusttasche von Dreyers Jackett ragte, mit Blut bespritzt, aber noch erkennbar, eine einzelne Spielkarte – die Pik-Sieben.

Als Levi um den Schreibtisch herumging, sah er, dass das blutige Einstecktuch, das sich ursprünglich in Dreyers Brusttasche befunden hatte, achtlos neben ihm auf den Boden geworfen worden war. Ihm fiel die Position auf, dann wandte er sich wieder zu Martine. »Pik-Sieben. Genau wie bei Billy Campbell.«

»Das ist schon unheimlich«, sagte sie. »Aber wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen.«

»Die wenigsten Mörder hinterlassen eine Visitenkarte.«

»Möglicherweise schon, wenn sie ihre Motive verschleiern und die Cops auf eine falsche Fährte locken wollen.«

Er nickte. »Du meinst, dass der Täter einen persönlichen Grund gehabt haben könnte, beide Männer zu töten?« Auf den ersten Blick war keine Verbindung erkennbar. Abgesehen davon, dass sie weiße Männer mittleren Alters gewesen waren – und die Tatorte sich auf makabre Weise ähnelten –, hatten Dreyer und Campbell nichts gemeinsam. Dreyer hatte als sehr erfolgreicher Vermögensberater bei der prominenten Firma Skyline Financial Services gearbeitet, während Campbell ein verkommener Säufer gewesen war, der sich aus mehreren Anklagen wegen häuslicher Gewalt und Drogenbesitz herausgewunden hatte. Sie hatten in völlig verschiedenen Welten gelebt.

»Möglich wäre es. Statistisch betrachtet ist das wahrscheinlicher, als dass sie beide Opfer eines Serienmörders geworden sind.«

Die Polizei hatte die Information mit der Spielkarte bei Campbells Ermordung unter Verschluss gehalten. Wenn es also keine undichte Stelle im Dezernat und keinen eingeweihten Nachahmungstäter gab, waren beide Männer von derselben Person getötet worden. Levi hoffte, dass den Morden tatsächlich ein privates Motiv zugrunde lag. Das würde es verdammt viel leichter machen, den Killer zu fassen.

Er stand jetzt direkt hinter Dreyers Leiche und ließ den Blick über Stuhl und Schreibtisch gleiten. Der Rechtsmediziner war noch nicht eingetroffen, aber Levi hatte in seinen vier Jahren bei der Mordkommission genügend Tatorte gesehen, um einschätzen zu können, dass der Todeszeitpunkt etwa zwei oder drei Stunden zurücklag. Die Kehle von hinten durchgeschnitten, Tod durch massiven Blutverlust …

Martine runzelte die Stirn und beugte sich vor, um die Leiche von der anderen Seite zu untersuchen. Ihre kurzen, federnden Korkenzieherlocken fielen ihr ins Gesicht, und sie schüttelte sie ungeduldig zurück. »Keine Anzeichen eines Kampfes.«

Er hatte gerade dasselbe gedacht. Langsam drehte er sich um sich selbst, um sich einen Eindruck vom ganzen Raum zu verschaffen.

Das Büro war beeindruckend. Eine Seite bestand vollständig aus bodentiefen Fenstern mit fantastischem Blick auf den funkelnden Las Vegas Strip fünfundzwanzig Stockwerke weiter unten. Dreyer hatte seinen Schreibtisch in der Mitte davor positioniert, sodass er nur ein, zwei Meter entfernt mit dem Rücken zur Glasfront saß. Der einzige Eingang zum Büro war die Tür auf der gegenüberliegenden Seite, leicht diagonal zum Tisch versetzt, und dazwischen lag eine große Fläche mit poliertem Hartholzparkett.

Schlussfolgerung: Der Killer hatte nicht viel Platz gehabt, um hinter Dreyer zu treten, und keinerlei Möglichkeit, sich ihm unbemerkt zu nähern. Trotzdem schien das Opfer nicht einmal versucht zu haben, aufzustehen. Levi würde einen genaueren Blick darauf werfen, sobald die Leiche bewegt werden durfte, aber er konnte keine Abwehrverletzungen an Armen oder Händen des Mannes erkennen.

»Der Mörder hat ihn überrascht?«, fragte Levi zweifelnd.

»Wie vielen Menschen erlaubst du denn, hinter dir zu stehen, wenn du sitzt?«

So wenigen, dass ich sie an einer Hand abzählen kann und noch Finger übrig habe.

Der Schreibtisch war penibel aufgeräumt – Dreyer hatte nach nichts gegriffen, nicht zur Verteidigung und auch nicht in Panik, als er das Messer an der Kehle spürte. Natürlich konnte der Killer den Schauplatz nach Dreyers Tod beliebig verändert haben, aber in diesem Fall hätten die Blutspritzer etwas anderes erzählt.

Levis Interpretation lautete, dass Dreyer gehorsam still gehalten hatte, als ihm jemand die Kehle durchschnitt, und einfach sitzen geblieben war, während er verblutete. Warum?

Ein paar Zentimeter von Dreyers rechter Hand entfernt stand ein Kristallglas mit einer kleinen Menge von einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Levi kniff die Augen zusammen.

»Campbell war doch zum Zeitpunkt seines Todes high, nicht wahr?«, fragte er.

»Ja, er hatte alles Mögliche eingeworfen. Ich glaube allerdings, für ihn wäre es ungewöhnlich gewesen, nicht high zu sein.«

»Was genau hatte er genommen?«

Sie zog ein Notizbuch aus der Innentasche ihres Jacketts und blätterte darin. »Methamphetamine, Spuren von Oxycodon und Adderall, ein bisschen Marihuana obendrauf und …« Sie gab einen nachdenklichen Laut von sich. »Ketamin. Jede Menge davon.«

Ihre Blicke trafen sich, ehe die beiden das Glas auf dem Tisch betrachteten.

Ketamin war eine dissoziative Droge. Eine ausreichend hohe Dosis konnte den Konsumenten in Trance versetzen und sogar eine zeitweilige Paralyse auslösen. Ein Mensch, der genügend Ketamin intus hatte, war nicht mehr in der Lage, sich gegen einen Angreifer zu wehren. Das war einer der Gründe, warum es manchmal als Vergewaltigungsdroge eingesetzt wurde.

Campbell war als Drogenabhängiger bekannt gewesen, daher hatte der Toxikologiebericht keine Alarmglocken läuten lassen. Sollte allerdings auch Dreyer positiv auf Ketamin getestet werden, wäre das eine augenfällige Parallele und eine erste handfeste Spur.

Levi winkte einer Frau von der Spurensicherung. Sie ließ sofort alles stehen und liegen und kam zu ihm.

»Ja, Detective Abrams?«

»Wenn Sie den Schreibtisch untersuchen, kümmern Sie sich bitte besonders um das Glas. Ich brauche einen toxikologischen Bericht zu der verbliebenen Flüssigkeit und allen Rückständen am Glas. Natürlich auch Fingerabdrücke.«

»Selbstverständlich, Sir.« Die Technikerin machte sich rasch eine Notiz, bevor sie zu ihren Kollegen zurückkehrte.

»Also«, sagte Martine, während Levi hinter dem Tisch hervorkam und zu ihr trat, »wenn man einen Menschen ermorden will und sich die Mühe macht, ihn unter Drogen zu setzen, warum bringt man ihn dann nicht gleich mit einer Überdosis um?«

»Der Killer wollte ihm die Kehle aufschlitzen«, vermutete er zögernd. »Jemanden mit Drogen zu töten, ist nicht dasselbe wie mit dem Messer. Es vermittelt nicht dieselbe unmittelbare emotionale Befriedigung. Kein Blut – kein Nervenkitzel.«

»Mein Gott.« Sie schwieg einen Augenblick und kaute nachdenklich auf ihrer Unterlippe. »Na gut. Man möchte also jemandem die Kehle durchschneiden, aber man betäubt ihn zunächst, weil … weil alles hübsch unauffällig ablaufen soll, man will ja nicht riskieren, dass das Opfer um Hilfe ruft oder sich übermäßig wehrt. Vielleicht ging es dem Täter darum, einen Kampf zu vermeiden, weil die Gefahr bestand, ihn zu verlieren.«

»Er könnte kleiner als das Opfer sein. Beziehungsweise die Opfer.«

»Falls es sich um einen Serienkiller handelt …«

Levi schüttelte den Kopf. »Wir dürfen keine voreiligen Schlüsse ziehen. Du hast recht, zwei Leichen reichen nicht aus, um diese Theorie zu stützen. Wir müssen erst überprüfen, ob es eine persönliche Beziehung zwischen ihnen gab.«

Doch alle Logik konnte nicht verhindern, dass er ein ungutes Gefühl im Magen hatte, das er seiner Erfahrung und Intuition zu verdanken hatte. Nach Martines Gesichtsausdruck zu schließen, empfand sie ähnlich.

Obwohl er die Antwort bereits kannte, fragte er: »Willst du hierbleiben und die Tatortermittlung leiten oder die Frau vernehmen, die ihn gefunden hat?« Martine war eine geborene Anführerin und gab gern den Ton an, während Levi lieber allein arbeitete.

»Ich bleibe hier«, sagte sie, bevor sie hinzufügte: »Ich habe keine Lust, mitten in der Nacht zum CCDC rüberzufahren.«

Er war überrascht – es gab keinen Grund, eine Zeugin ins Clark County Detention Center zu bringen, die Haftanstalt von Las Vegas, wo auch Untersuchungshäftlinge untergebracht waren. »Was macht sie denn dort?«

»Hast du es nicht mitbekommen? Sie hat einen der Streifenbeamten angegriffen, die auf den Notruf reagierten.«

Levi blinzelte. »Was? Warum?«

»Sie ist Osteuropäerin – aus der Ukraine oder so, soweit ich gehört habe – und scheint kein großes Vertrauen zu Polizisten zu haben. Eines von unseren Genies in Uniform hat gedroht, die Einwanderungsbehörde zu verständigen, wenn sie nicht kooperiert. Sie ist weggerannt, er hinterher, und sie hat ihm glatt einen Kinnhaken verpasst.«

Levi verdrehte die Augen. »Wer war der Beamte?«

Martine grinste. »Rate mal.«

»Gibbs«, sagte er angewidert. Jonah Gibbs war ein impulsiver Hitzkopf mit großer Schnauze und mehr Mumm als Verstand. »Eines Tages sorgt er noch einmal dafür, dass das Department verklagt wird.«

»Mal sehen, vielleicht gibt er mit einem schönen dicken Bluterguss eine Weile Ruhe.«

Levi warf einen Blick auf die Uhr. Er überlegte, wie lange es dauern würde, diesen Schlamassel beim CCDC zu regeln, bevor er überhaupt die Gelegenheit bekam, mit der Zeugin zu sprechen. Er seufzte schwer. Er hatte schon eine fast zehnstündige Schicht hinter sich gehabt, als man ihn zum Tatort gerufen hatte. Da er und Martine den Campbell-Mord bearbeiteten und einem der Uniformierten die Verbindung aufgefallen war, hatte man ihnen diesen Fall zusätzlich übertragen, obwohl sie nach dem Rotationsprinzip ihrer Einheit eigentlich nicht dran gewesen wären.

»Ich fasse es nicht, dass ich Stanton schon wieder versetzen muss. Er wird nicht begeistert sein.«

Martine winkte ab. »Er weiß, wie es ist, mit einem Cop zusammenzuleben. Das geht jetzt schon drei Jahre, oder? Er wird darüber hinwegkommen.«

Levi antwortete nicht. In letzter Zeit ließ Stanton immer öfter spitze Bemerkungen über Levis lange, unregelmäßige Arbeitszeiten fallen, über die Gefahr, der er sich aussetzte, und darüber, was das alles für ihre gemeinsame Zukunft bedeutete. Besonders empfindlich reagierte er, seit …

»Detective Valcourt, haben Sie einen Moment Zeit?«, fragte der Tatortfotograf Martine. Fred hatte schon oft mit ihnen beiden gearbeitet und musste daher nicht fragen, wer die Leitung hatte.

Levi nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden und zu gehen. Er trug sich bei den Beamten an der Tür aus dem Tatortprotokoll aus, streifte Handschuhe und Überschuhe ab und ging durch den luxuriös gestalteten Flur zu den Fahrstühlen im Zentrum der fünfundzwanzigsten Etage, wo er den Knopf für die Fahrt nach unten drückte.

Während er wartete, bemerkte er eine Überwachungskamera hoch oben in einer Ecke, die einen Panoramablick auf den Bereich vor den Aufzügen hatte und ein ganzes Stück des Korridors in beiden Richtungen erfasste. Er zog sein Mobiltelefon hervor, um Martine eine Textnachricht zu schicken.

Vielleicht hatten sie Glück.

* * *

Dominic klingelte an der Tür eines Hauses im Ranch-Stil in Henderson. Es war klein, grob verputzt, und die Dachziegel fügten sich nahtlos in die wüstenartige Umgebung ein. Es gehörte zu einem Dutzend von Häusern, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen, und lag in einem verschlafenen Viertel, in dem es still wurde, wenn die Nacht anbrach.

Er wartete, zupfte am Schirm seiner leuchtend roten Baseballkappe und rollte die Schultern unter der farblich dazu passenden Windjacke. Beide trugen das auffällige Logo von »Pete’s Premium Pizza«. Der Leiter der hiesigen Filiale war sehr hilfsbereit gewesen, begeistert von dem Gedanken, an der Verhaftung eines Kautionsflüchtlings mitzuwirken. Doch selbst seine größte Jacke reichte nicht, um einem Mann von Dominics Größe und muskulösem Körperbau bequem zu passen.

Die Jalousie am vorderen Fenster flatterte. Sekunden später öffnete Danny Ruiz die Tür, den Blick ausschließlich auf die Pizzaschachtel in Dominics linker Hand gerichtet.

Dominic drängte sein aufwallendes Triumphgefühl gewaltsam zurück. Er hatte auf die harte Tour gelernt, sich bei der Arbeit nie zu entspannen, bevor seine Beute in Polizeigewahrsam war – zu viel konnte schiefgehen.

»Wurde auch Zeit, Mann.« Ruiz griff mit einer Hand nach der Pizza und hielt Dominic mit der anderen eine Handvoll Geld hin. »Der Typ am Telefon sagte, eine halbe Stunde.«

Der Typ am Telefon hatte natürlich die Zeit nicht mit einrechnen können, die der Manager gebraucht hatte, um Dominic von Ruiz’ Bestellung zu unterrichten, und Dominic selbst, um sich vorzubereiten. Er überließ Ruiz die Pizza, nahm das Geld aber nicht an.

»Tut mir leid, Mr Ruiz«, sagte er.

Ruiz erstarrte, und sein Blick schnellte zu Dominics Gesicht. Er hatte die Pizza unter dem Namen des Cousins bestellt, bei dem er sich seit zwei Wochen versteckt hielt.

»Daniel Ruiz, ich bin von SinCityBailBonds ermächtigt, Sie festzunehmen und der Polizei …«

Ruiz ließ Pizza und Bargeld auf der Stelle fallen, wirbelte herum und stürmte zurück ins Haus. Dominic stöhnte und nahm die Verfolgung auf.

Das Haus war klein, aber gemütlich eingerichtet. Überall auf dem Boden lag Spielzeug herum, und an den Wänden hingen Fotos von zwei süßen Kindern. Dominic achtete nicht darauf – der Cousin war mit seiner Frau und den Kindern übers Wochenende bei der Großmutter. Dieser geplante Ausflug war der Grund dafür gewesen, dass Dominic bis heute damit gewartet hatte, Ruiz zu verhaften, den er schon zwei Tage zuvor aufgespürt hatte.

Ruiz umrundete die Couch im Wohnzimmer, doch Dominic sprang darüber hinweg, sodass er dem Mann direkt auf den Fersen war, als er in die Küche im rückwärtigen Teil des Hauses rannte. Ruiz riss die Hintertür auf, und dann kam er mit einem erschrockenen Aufschrei schlitternd zum Stehen.

Auf der Hintertreppe wartete eine fünfundvierzig Kilo schwere Mischlingshündin, halb Schäferhund, halb Rottweiler. Rebel saß wachsam da, die Ohren aufgestellt, die Aufmerksamkeit voll auf Ruiz und jede seiner Bewegungen gerichtet. Sie zeigte kein Zeichen von Aggressivität. Das würde sie nur auf Dominics Befehl tun, und das hob er sich als allerletztes Mittel auf.

Ruiz sah sich nach Dominic um, der in der Küchentür stehen geblieben war. Während Ruiz verzweifelt hin und her blickte, las Dominic den Zwiespalt in seiner Miene. Sollte er sich für den muskelbepackten Mann entscheiden, der doppelt so groß war wie er, oder für den Hund, der ihm in Sekundenschnelle an die Kehle gehen konnte?

Natürlich hatte er im Grunde überhaupt keine Wahl, und deshalb blieb er wie erstarrt stehen. Dominic setzte die Baseballkappe ab, warf sie beiseite und fuhr sich mit der Hand durch die Haare, um sie wieder zu richten.

»Sie haben Ihren Verhandlungstermin verpasst, Mr Ruiz. Sie wissen, dass ich Sie festnehmen muss.«

»Ich konnte es ihnen nicht zurückzahlen«, flüsterte Ruiz. »Ich hatte einfach nicht das Geld.«

»Ich verstehe«, sagte Dominic. Das war die Wahrheit. Er brachte mehr Verständnis für Ruiz’ Lage auf, als die meisten seiner Kollegen gehabt hätten. »Aber Sie haben alle Möglichkeiten ignoriert, Ihre Schulden abzuarbeiten, bevor es zu einer Anklage kam. Und dann haben Sie die Flucht ergriffen, nachdem Ihre eigene Mutter für Sie Kaution gestellt hatte. Je länger Sie es hinauszögern, desto schlimmer wird es am Ende für Sie.«

In Nevada galt es als Äquivalent für einen ungedeckten Scheck, wenn man einen Casinokredit nicht bediente – versuchter Betrug, ein Kapitalverbrechen, sofern der Betrag hoch genug war. Indem Ruiz die Anstrengungen des Casinos ignoriert hatte, die Angelegenheit irgendwie zu regeln, bevor es bei der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattete, hatte er sich tief in die Klemme gebracht.

Dominic löste ein Paar Handschellen vom Gürtel und näherte sich Ruiz langsam mit ausgebreiteten Armen. »Ich will Ihnen nicht wehtun.«

Aber er würde es tun, wenn es sein musste. Er besaß einen Waffenschein, der es ihm erlaubte, eine verdeckte Pistole zu führen, und er ging nie ohne die Glock im Halfter unter dem linken Arm zur Arbeit. Bis heute hatte er sie noch nie gegen einen Kautionsflüchtling einsetzen müssen, aber sein Elektroschocker und das Pfefferspray kamen häufig zum Einsatz.

Ruiz wich einen Schritt zurück, zuckte dann jedoch zusammen und erstarrte, als Rebel warnend knurrte. Er zitterte am ganzen Körper.

Vorsichtig und auf jede plötzliche Bewegung achtend, verringerte Dominic die Distanz. Obwohl Ruiz eher zum Wegrennen als zum Kämpfen zu neigen schien, waren Menschen zu erstaunlichen Dingen fähig, wenn sie mit dem Rücken zur Wand standen. Und die Küche, randvoll mit potenziellen Waffen, war einer der ungeeignetsten Orte dafür, sich auf eine handgreifliche Auseinandersetzung einzulassen.

Ruiz wippte auf den Fußballen, atmete schnell und blickte um sich, als gäbe es irgendwo einen Fluchtweg, den er übersehen hatte.

»Ihre Mutter hat ihr Haus als Sicherheit für Ihre Kaution hinterlegt. Wenn Sie nicht mit mir kommen, wird sie es verlieren. Ist das die Art von Sohn, die Sie sein möchten?«, sagte Dominic mit sanfter Stimme.

Ruiz schloss die Augen, während er resigniert die Schultern hängen ließ. »Scheiße«, murmelte er und hielt Dominic die Handgelenke hin.

»Vielen Dank.« Die Handschellen klickten, und Dominic tastete Ruiz nach Waffen ab. Wie erwartet fand er keine. Er pfiff nach Rebel, schloss die Hintertür und sperrte sie ab.

Beim Verlassen des Hauses bückte er sich, um das verstreute Geld aufzusammeln, und legte es säuberlich auf eine Kommode. Die Pizza nahm er allerdings mit, denn er wollte nicht, dass die Familie eine Schachtel mit vergammeltem Käse vorfand, wenn sie am Sonntag nach Hause kam.

Außerdem, warum eine gute Pizza verderben lassen?

KAPITEL 2

Dominic lümmelte auf einer Wartebank im CCDC und blätterte träge in der Grindr-App auf seinem Smartphone, während er darauf wartete, dass die Beamten Ruiz’ Festnahme abwickelten und mit dem Kautionsbürgen Rücksprache hielten. Das Kopfgeld war in diesem Fall nicht groß, aber er würde damit einige Schulden begleichen können, und es würde zusätzlich den Verlust wegen der verpassten Nachtschicht als Barkeeper im Stingray ausgleichen.

»Die paar Wochen Selbstverteidigung, die Sie an der Akademie hatten, bringen nicht viel«, hörte er eine bekannte Stimme sagen. Er wandte den Kopf und sah Levi Abrams in Begleitung einer Polizeirekrutin den Korridor entlangkommen. »Es erfordert viele Jahre intensiven Trainings, echte Kenntnisse und das nötige Körpergedächtnis zu erwerben. Ich würde Ihnen empfehlen, sich eine Technik zu suchen, die Ihnen liegt, und in Ihrer Freizeit dranzubleiben.«

Seine Begleiterin, eine Weiße Anfang zwanzig, die blonden Haare zu einem wippenden Pferdeschwanz zusammengebunden, nickte nachdenklich, während sie und Levi, nicht weit von Dominic entfernt, an der Anmeldung stehen blieben. »Zum Beispiel Karate?«

Levi zuckte mit den Schultern. »Was immer Ihnen zusagt. Mir haben die fernöstlichen Kampftechniken nie gefallen, um ehrlich zu sein.«

»Und was machen Sie dann?«

»Krav Maga«, antwortete Levi abwesend. Er sah seufzend auf die Uhr und trommelte ungeduldig mit den Fingern auf den Schalter.

Es war eine der seltenen Gelegenheiten, Levi unbemerkt zu beobachten, und Dominic nutzte sie. Ein makelloser, maßgeschneiderter Anzug brachte seinen drahtigen, stets unter Spannung stehenden Körper bestens zur Geltung. Tatsächlich war das Kleidungsstück wesentlich eleganter, als Levi es sich vom Gehalt eines Detective eigentlich hätte leisten können – vermutlich bedeutete das, dass sein megareicher Freund es bezahlt hatte. Seine lockigen schwarzen Haare waren kurz geschnitten und seine Wangenknochen scharf wie Rasiermesser. Manche hielten sie vielleicht für zu ausgeprägt, doch Dominic fand die Wirkung umwerfend, vor allem im Profil.

Natürlich war Levi nicht wegen seines guten Aussehens Detective geworden. Es dauerte nur ein paar Sekunden, bis er sich stirnrunzelnd umsah, weil sein Cop-Instinkt ihm sagte, dass er beobachtet wurde. Dominic blieb, wo er war, und lächelte, als sich ihre Blicke begegneten. Levis ohnehin schmale Lippen verzogen sich zu einer dünnen Linie.

»Detective Abrams.« Dominic steckte sein Handy ein und erhob sich. Die junge Polizistin machte große Augen, als er sich zu seiner vollen Größe aufrichtete und zu ihnen an die Anmeldung trat. »Was machen Sie denn so spät noch hier?«

»Das geht Sie nichts an.« Levis Augen waren von einem klaren, auffallenden Grau und blickten im Moment kühl und geringschätzig. »Und Sie? Wieder mal einen zwielichtigen Kautionsflüchtling an den Haaren herbeigeschleift, vermute ich?«

»An den Haaren schleife ich nur die ganz Schlimmen.« Dominic zwinkerte der Rekrutin zu und sagte zu Levi: »Wollen Sie mich nicht vorstellen?«

Levi warf ihm einen finsteren Blick zu, bevor er sich der Polizistin zuwandte. »Officer Kelly Marin, Dominic Russo. Er ist Kopfgeldjäger.«

»Kautionsagent«, korrigierte Dominic, nicht weil er etwas gegen den Begriff »Kopfgeldjäger« gehabt hätte, sondern weil es ihm gefiel, wie sich Levis Nasenflügel bei der Berichtigung blähten.

»Wirklich?« Kelly betrachtete ihn neugierig, wie die meisten Leute, wenn sie von seinem Beruf hörten. »Wie sind Sie dazu gekommen?«

»Ich war acht Jahre lang Army Ranger, und als ich aus dem Dienst ausgeschieden bin, hing ich ein wenig in der Luft.« Den unangenehmeren Teil von dem, was »in der Luft hängen« für ihn bedeutet hatte, verschwieg er. »Ein Freund schlug mir vor, für ein Kautionsbüro zu arbeiten, und voilà, hier bin ich.«

»Das ist ja der Wahnsinn. Und haben Sie auch schon …«

»Detective Abrams«, meldete sich ein Beamter hinter dem Schalter und unterbrach das Gespräch. »Ihre Zeugin ist jetzt bereit.«

»Vielen Dank«, sagte Levi erleichtert. »Wir sehen uns später, Kelly.« Er nickte Dominic knapp zu. »Mr Russo.«

Dominic erwiderte das Nicken und sah Levi nach, während dieser, begleitet von dem Beamten, um die Theke herumging. Ein gut geschnittener Anzug hatte viele Vorzüge, und Dominic kam gerade in den Genuss von einem davon. Der weiche Wollstoff schmiegte sich an Levis schlanke, kräftige Beine und seinen knackigen Hintern, für den das Wort »Spanking« erschaffen worden war.

Kellys Blick glitt zwischen Dominic und Levi hin und her, und sie stieß einen leisen Laut des Verstehens aus. »Sie wissen doch, dass er einen Freund hat, oder?«

»Er mag einen Freund haben, aber er trägt keinen Ring«, erwiderte Dominic anzüglich. Kelly lachte.

Doch Spaß beiseite: Dominic hatte nicht ernsthaft vor, sich an Levi heranzumachen, unabhängig von seinem Beziehungsstatus. Sicher, er sah umwerfend aus, aber er war stachelig wie ein Igel und so unnahbar wie eine viktorianische Schullehrerin. Dominic konnte sich nicht vorstellen, wie sein Freund damit zurechtkam.

* * *

Levi hatte Mühe, seinen Unmut über die Begegnung mit Dominic Russo abzuschütteln, als er davonging. Er verabscheute Kopfgeldjäger aus Prinzip – allesamt aggressive, großspurige Adrenalinjunkies, die sich nur für den Kick der Jagd interessierten. Dominic war auch nicht anders, selbst wenn er es mit selbstironischem Charme und einem freundlichen Lächeln aufhübschte.

Und was für ein Lächeln! Ein umwerfendes, offenes Grinsen in einem ohnehin gut aussehenden Gesicht mit warmen braunen Augen und kantigen Zügen. Seine Nase war einmal gebrochen worden, aber das machte ihn irgendwie noch attraktiver. Allein der Gedanke irritierte Levi, der normalerweise nicht viel für große Kerle übrighatte. Dominic war keineswegs sein Typ, denn er war ein Riese, ein Bär von einem Mann, einen halben Kopf größer als Levi – der auch kein Zwerg war – und gebaut wie ein Schrank.

Schluss damit. Levi unterbrach den Gedankengang entschlossen und betrat das Vernehmungszimmer. Es störte ihn, in dieser einschüchternden, sterilen Umgebung mit Anna Granovsky sprechen zu müssen. Eine Leiche zu entdecken, war immer eine traumatische Erfahrung, ganz zu schweigen von einem grauenvollen Tatort wie dem von Dreyers Ermordung. Er sprach mit Zeugen lieber an einem Ort, wo sie sich wohlfühlten. Die Atmosphäre hier würde bei Granovsky automatisch eine Abwehrhaltung auslösen und dafür sorgen, dass sie Levi nicht als Verbündeten, sondern als Gegner wahrnahm.

Sie saß, wie Levi es angeordnet hatte, ohne Fesseln am Tisch und trug immer noch die Uniform der Reinigungsfirma des Skyline-Gebäudes. Wie Martine erwähnt hatte, stammte die Frau aus der Ukraine, war aber schon länger als ein Jahrzehnt in den Staaten. Levi hatte den Status ihrer Staatsbürgerschaft nicht überprüft. Er war ihm auch egal.

Als er sich dem Tisch näherte, fiel sein Blick auf Granovskys schmale Halskette, an der das Symbol für das hebräische Wort Chai hing, Leben. Es war ein zentrales Konzept des Judaismus und der Grund dafür, dass wohltätige Spenden normalerweise in Höhe eines Mehrfachen von achtzehn erfolgten – dem numerischen Wert von Chai.

Vielleicht war es doch nicht unmöglich, ein wenig Sympathie aufzubauen.

»Mrs Granovsky, ich bin Detective Levi Abrams«, sagte er und nahm ihr gegenüber Platz. Er neigte den Kopf und fügte hinzu: »Ihre Halskette gefällt mir. Sh’kula tsdakâ ke’nêgedkol ha’mitzvot.« Wohltätigkeit ist das oberste aller Gebote.

Sie blinzelte überrascht, und ihr Gesichtsausdruck wurde etwas sanfter, während sie ihn prüfend musterte. Er begegnete ihrem Blick gelassen.

»So ist es«, sagte sie schließlich. »Ihre Eltern haben Sie gut erzogen.«

»Vielen Dank. Ich möchte mich für das entschuldigen, was Sie heute Nacht durchmachen mussten. Mit Officer Gibbs gehen manchmal die Pferde durch.«

»Ich hätte ihn nicht schlagen sollen. Das ist mir klar.« Sie breitete die Hände aus, als wollte sie fragen: Aber was soll man machen? »Obwohl er mich tatsächlich bedroht hat, und er hatte so etwas an sich – Sie haben hier einen bestimmten Ausdruck dafür, irgendetwas mit dem Gesicht?«

»Ein Backpfeifengesicht?«, fragte Levi. Seine Lippen zuckten.

Sie lachte leise. »Ja. Trotzdem war es nicht richtig von mir, ihn zu schlagen. Es tut mir leid.«

»Ich verstehe. Ich habe mit Officer Gibbs gesprochen, und es wird keine Anzeige gegen Sie geben. Es steht Ihnen frei, zu gehen … Allerdings wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir erst davon erzählen würden, wie Sie Phillip Dreyers Leiche gefunden haben.«

Mit einem langsamen Nicken ließ sich Granovsky in den Stuhl zurücksinken. »Selbstverständlich. Was möchten Sie wissen?«

Levi verbarg seine Erleichterung, während er Stift und Notizbuch herauszog. Die Sache lief glatter, als er befürchtet hatte. »Sie haben ihn gegen einundzwanzig Uhr entdeckt?«

»Ja. Ich fange immer um acht Uhr abends im fünfundzwanzigsten Stock mit dem Putzen an. Ich sah noch Licht in Mr Dreyers Büro, deshalb habe ich es mir für zuletzt aufgehoben.«

»Hat er oft so spät gearbeitet?«

»Oh ja. Sehr häufig. Manchmal ging er, bevor ich fertig war, aber wenn er noch da war, ließ er mich rein, damit ich den Müll mitnahm.«

Levi machte sich eine Notiz. »Dann kannten Sie ihn persönlich? Sie haben mit ihm gesprochen?«

»Ja …«

Ihr Tonfall klang seltsam, und als er aufblickte, sah er, wie sie die Stirn runzelte. »Was ist?«

»Ich habe ihn gemieden, so weit ich konnte.« Granovsky zögerte einen Moment. »Er war … kein guter Mensch.«

»Tatsächlich?«, fragte Levi verblüfft. Etwas in dieser Richtung hörte er zum ersten Mal. »Wie kommen Sie zu dieser Auffassung?«

Sie öffnete und schloss tonlos den Mund, bevor sie antwortete: »Seine Augen blieben immer gleich, auch wenn er lächelte. Einfach kalt und leer. Er war höflich. Sehr … nett, ja? Aber nett sein heißt nicht, ein guter Mensch zu sein. Sie verstehen?«

»Ja, das tue ich.« Levi klopfte mit dem Stift auf den Block, während er nachdachte. Die Intuition einer einzigen Person bezüglich des Opfers hatte ohne weitere erhärtende Beweise nicht viel zu sagen, aber hier ergab sich eine unerwartete Parallele zwischen den Fällen Dreyer und Campbell. Die Aussage war zumindest eine nähere Überprüfung wert.

Er schüttelte den Kopf und konzentrierte sich wieder auf Granovsky. Schritt für Schritt ging er die Geschichte mit ihr durch. Sie hatte sofort gewusst, dass Dreyer tot war, als sie das Büro betrat – sein Zustand hatte keinen Zweifel daran gelassen –, also hatte sie gar nicht erst versucht, Erste Hilfe zu leisten oder ihn zu berühren. Tatsächlich war sie nicht weiter als ein oder zwei Meter in den Raum hineingegangen. Sie hatte sofort den Sicherheitsdienst des Gebäudes alarmiert, der wiederum die Polizei gerufen und sie in einem leeren Büro abgesondert hatte, bis die Polizeistreife eintraf.

Während ihres Putzdienstes waren nur wenige andere Personen im fünfundzwanzigsten Stock gewesen, und auch wenn sie nicht von allen die Namen kannte, war sie sicher, dass sie sie alle schon einmal dort gesehen hatte. Sie hatte keine lauten Geräusche bemerkt, kein verdächtiges Verhalten, nichts, was irgendwie aus dem Rahmen fiel, bis sie Dreyers Leiche entdeckt hatte. Das brachte Levi nicht viel weiter.

Als er alles hatte, was er brauchte, bedankte er sich bei Granovsky für ihre Mühe, begleitete sie aus dem Vernehmungszimmer hinaus und vertraute sie einem wartenden Beamten an. Dann begab er sich auf den Rückweg ins Büro. Er musste sich noch um ein paar Dinge kümmern, bevor er den Fall für heute auf Eis legte und Feierabend machte.

Es war schon nach ein Uhr morgens, als sein Fahrdienst vom North Strip in die Privateinfahrt zu den »Residences at Barclay Las Vegas« abbog. Auf dem Strip war natürlich immer noch jede Menge los, mit den hell blinkenden Lichtern und der pulsierenden Energie, die ihn ursprünglich an dieser Stadt angezogen hatten. Aber heute war er zu ausgelaugt und zu erschöpft, um es genießen zu können. Er gab dem Fahrer ein Trinkgeld und betrat die Lobby des imposanten fünfzigstöckigen Hochhauses, in dem er seit zwei Jahren wohnte.

Bobby, der Nacht-Türsteher, hielt ihm die schwere Glastür auf. »Wieder mal Überstunden gemacht, Detective?«, fragte er mitfühlend.

»Leider ja.« Levi schenkte ihm ein müdes Lächeln und winkte der diensthabenden Concierge zu, während seine Schritte auf dem Weg zu den Aufzügen auf dem Marmorboden klackten. Der Lift kam in Sekundenschnelle, und sobald er eingestiegen war, zog er eine Schlüsselkarte durch das Lesegerät und drückte den Knopf für den fünfzigsten Stock.

Als Levi Stanton bei einer Benefizveranstaltung für das Las Vegas Metropolitan Police Department kennengelernt hatte, hatte er nicht gewusst, wer er war. Sicher, der Name Barclay sagte ihm etwas – er war unmöglich zu übersehen, wenn er in fließender, diamantheller Schrift am Himmel über dem Strip leuchtete. Aber Stanton hatte sich nur mit seinem Vornamen vorgestellt.

Erst als Levi sich auf das erste Date vorbereitet und mit Martine über seine Nervosität deswegen gesprochen hatte, hatte sie eins und eins zusammengezählt. Der freundliche, charmante Mann, der auf der Party mit Levi geflirtet und ihm die Befangenheit genommen hatte, war tatsächlich Stanton Barclay, Erbe eines Multimilliarden-Dollar-Hotelimperiums.

Levi hätte die Verabredung beinahe auf der Stelle abgesagt. Martine hatte ihn überredet, es nicht zu tun, und dafür würde er ihr ewig dankbar sein. Manchmal kam ihm Stanton zwar immer noch vor, als stammte er von einem fremden Planeten – was angesichts seiner privilegierten Erziehung wohl unvermeidlich war –, doch er war ein wirklich rücksichtsvoller, liebevoller Mann, außerordentlich nett und großzügig.

Auch wenn diese Nettigkeit und Großzügigkeit manchmal ein bisschen erstickend wirkten.

Die Tür des Aufzugs öffnete sich zur privaten Lobby des Penthouse. Levi schloss die Wohnungstür auf und schlüpfte leise hinein. Stanton hatte das gedämpfte Licht im Foyer für ihn brennen lassen, sodass seine Gestalt seltsame Schatten auf die khakifarbenen Wände und das helle Hartholzparkett warf.

Er schlängelte sich zwischen den vertrauten Formen der eleganten, modernen Möbel des Penthouse zur Mastersuite durch, wo die durchscheinenden Vorhänge vor den riesigen Fenstern zugezogen waren. Stanton lag schlafend im Bett.

Obwohl Levi zum Umfallen müde war, duschte er erst gründlich – es kam nicht infrage, dass er den Schmutz eines Tatorts mit ins Bett nahm. Sauber und mit einer abgetragenen Jogginghose schlüpfte er unter die Decke.

Auf die Kingsize-Matratze hätten drei Männer nebeneinander gepasst, ohne sich zu berühren, doch Levi schob sich hinüber, bis seine Brust an Stantons nacktem Rücken lag. Er schlang den Arm um ihn, drückte ihm einen Kuss auf die Schulter, schloss die Augen und fand Trost in Stantons schläfrigen Bewegungen, während er versuchte, die Bilder von einem blutbeschmierten Schreibtisch aus dem Kopf zu bekommen.

KAPITEL 3

Am nächsten Morgen schlief Levi länger als gewöhnlich und wälzte sich erst aus dem Bett, als ihm der verlockende Duft von frischem Kaffee in die Nase drang. Er zog sich ein T-Shirt über und schlurfte in Richtung Küche, während er sich mit den Handballen den Schlaf aus den Augen rieb.

Stanton saß in der sonnigen, verglasten Frühstücksecke mit Blick auf den Strip und las beim Essen das Las Vegas Review-Journal, wie es seine Gewohnheit war. Levi hielt auf der Schwelle inne, um ihn zu betrachten.

Martine hatte einmal im Scherz gesagt, dass Stanton aussehe wie ein Disney-Prinz, und das war nicht sehr übertrieben gewesen. Seine Haut war dank der Sonne von Las Vegas gebräunt, die dichten braunen Haare trug er im klassischen Stil aus der Stirn zurückgekämmt, und seine blauen Augen waren von überraschend langen Wimpern umrahmt. Er hatte sogar ein echtes Kinngrübchen, was Levi immer noch faszinierte. Er hatte einen ähnlich schlanken Körperbau wie Levi, auch wenn er weitaus weniger muskulös war.

»Guten Morgen«, sagte Levi und trat in die Küche.

Stanton blickte lächelnd von der Zeitung auf. »Morgen. Gut geschlafen?«

Levi wiegte den Kopf hin und her und beugte sich zu ihm, um ihn zu küssen. Stanton legte ihm die Hand auf die Hüfte, und Levi ließ die Finger durch sein Haar gleiten. Es fühlte sich wunderbar weich und üppig an.

Es war drei Wochen her, dass sie zuletzt miteinander geschlafen hatten, wenn auch nicht aus Mangel an Lust. Stantons Terminkalender war ebenso hektisch und unkalkulierbar wie der von Levi, und bei den wenigen Anlässen, zu denen sie ein bisschen Zeit gemeinsam hatten verbringen können, war immer einer zu müde oder zu gestresst gewesen. Angesichts der ungewöhnlich langen Abstinenz bedauerte Levi noch mehr, dass er ihre gestrige Verabredung hatte absagen müssen.

»Hast du Hunger?«, fragte Stanton. Er deutete mit einem Nicken auf seinen Teller mit Rührei und Toast – natürlich ohne Speck. Levi war zwar nicht orthodox erzogen worden und lebte nicht völlig koscher, doch er rührte Schweinefleisch und Schalentiere nicht an. Stanton hatte damit aufgehört, als Levi bei ihm einzog. Levi hätte ihn zwar nie darum gebeten, aber die Geste hatte ihn gerührt.

»Eigentlich nicht. Ich bin nur auf Kaffee-Entzug.«

Stanton drückte seine Hüfte, stand auf und schob Levi auf einen Stuhl. »Setz dich. Ich hole dir eine Tasse.«

Levi rollte den Kopf und ließ die verkrampften Wirbel im Nacken knacken. Kurz darauf stellte Stanton eine Tasse vor ihm ab und setzte sich wieder. Levi hob sie an die Lippen und trank dankbar einen Schluck – schwarzer Kaffee mit einem Schuss Espresso ohne Sahne und Zucker.

»Danke dir«, sagte er und inhalierte genussvoll den Duft.

»Gern geschehen.«

Eine Weile saßen sie schweigend da, während Levi langsam wach wurde und Stanton in seiner Zeitung blätterte und zu Ende frühstückte.

Schließlich fragte er: »Arbeitest du heute?«

»Ich muss.«

Levi machte sich auf eine Diskussion gefasst, doch Stanton sagte nichts und blätterte einfach weiter, ohne den Blick zu heben. Er hätte sich nie direkt nach dem Fall erkundigt, nicht nur, weil er wusste, dass Levi keine Details preisgeben durfte, sondern weil er es hasste, von seiner Arbeit zu hören. Er war einer der wenigen Menschen, die Levi kannte, die Polizeigeschichten nicht mochten.

»Ist wenigstens deine Therapiestunde gut gelaufen?«

Levi versteifte sich. Das war das einzige Gesprächsthema, das noch schlimmer war als die Arbeit.

Als er nicht antwortete, sah Stanton auf. Ein Blick in Levis Gesicht reichte, und er klappte die Zeitung mit einer schnellen, ärgerlichen Bewegung zu. »Levi.«

»Ich hatte nicht die Zeit …«

»Du hast wieder abgesagt?«

»Ich musste arbeiten.« Das war natürlich Quatsch. Levi hatte die Sitzung gestern Morgen ausfallen lassen, damit er vor seiner Schicht noch eine Extrastunde Krav Maga mit seinem Trainer hatte einlegen können. »Und ich habe sie nicht abgesagt, sondern verschoben.«

»Auf wann?«

Levi biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab.

Stanton ergriff seine Hand. »Levi«, begann er sanft. »Du hast einen Menschen getötet.«

Die Worte trafen Levi wie ein eiskalter Guss. Er schüttelte Stantons Hand ab und schnaubte: »Ich weiß, was passiert ist, verdammt noch mal.«

»Du musstest es tun. Du hast richtig gehandelt. Aber jeder, der dich kennt, sieht doch, dass es dich bei lebendigem Leib auffrisst. Du wirst nie darüber hinwegkommen, wenn du nicht daran arbeitest. Lass dir von Natasha helfen.«

Levi schüttelte den Kopf, nicht ablehnend, nur frustriert. Er hatte Natasha, eine der Therapeutinnen vom Unterstützungsprogramm für Polizei-Angestellte des LVMPD, immer gemocht. Doch selbst mit ihr über die Schießerei zu sprechen, war so qualvoll, dass er sich lieber die Fingernägel an der Wurzel ausgerissen hätte.

»Du hast eigentlich keine Wahl. Dein Lieutenant hat sechs Sitzungen angeordnet, und du bist erst bei drei.«

Levi verharrte in störrischem Schweigen. Er hasste emotionale Konfrontationen und tat alles, um sie zu vermeiden, doch Stanton neigte dazu, sein Unbehagen auszunutzen und immer tiefer zu graben.

»Hast du eine Ahnung, was es für mich bedeutet, dich jeden Tag zur Tür hinausgehen zu sehen und nicht zu wissen, ob du wiederkommst?«, fragte Stanton nach einer langen Pause.

Levi zuckte zusammen.

»Kannst du dir vorstellen, wie es ist, dich da draußen zu wissen, wo du den ganzen Tag dein Leben aufs Spiel setzt, und absolut nichts tun zu können, um dich zu beschützen?« Stanton streckte die Hand aus und ergriff Levis Kinn. Levi leistete keinen Widerstand und ließ zu, dass Stanton sein Gesicht zu sich drehte. »Muss ich mir wirklich zu allem Überfluss auch noch um deine geistige Gesundheit Sorgen machen?«

»Das will ich doch gar nicht.«

»Ich weiß.« Stanton strich mit dem Daumen über Levis Unterlippe. »Wenn du also schon nicht um deiner selbst willen zur Therapie gehst, würdest du es wenigstens für mich tun?«

Levi zog Stantons Hand von seinem Gesicht weg, hielt sie jedoch fest und verschränkte ihre Finger miteinander. »Ja.«

»Versprich es mir«, sagte Stanton. »Versprich mir, dass du Natasha heute anrufst und dir so bald wie möglich einen Termin geben lässt.«

»Versprochen«, antwortete Levi.

* * *

Dominics Laufschuhe schlugen rhythmisch auf das Pflaster, während er seine übliche Runde auf dem Campus der University of Nevada drehte. Rebel hielt problemlos Schritt und sprang mit grenzenlosem Enthusiasmus neben ihm her, ohne an der Leine zu zerren oder zu versuchen, ihn in eine andere Richtung zu ziehen.

Das Wetter war herrlich, blauer Himmel und Sonne, knapp fünfundzwanzig Grad, ein wunderbarer Apriltag. Dominic genoss die angenehme Temperatur – bald würde er seine Läufe auf die frühen Morgenstunden oder nach innen verlegen müssen. In Las Vegas im Sommer im Freien zu laufen, war eine gute Methode dafür, mit einem Hitzschlag tot umzukippen.

Nach ihrer Fünf-Meilen-Runde kehrten sie zu dem Parkplatz zurück, wo Dominic den Pick-up gelassen hatte. Er schnappte sich ein Handtuch aus der Fahrerkabine, um sich Gesicht und Nacken zu trocknen, bevor er eine Flasche Wasser aus einer Kühlbox nahm, einen zusammenlegbaren Hundenapf entfaltete und ihn füllte. Rebel sah ihm fröhlich hechelnd dabei zu, während ihr die Zunge aus dem Maul hing.

Er kraulte ihr den Kopf und stellte den Napf vor sie hin. »Da, meine Süße. Braves Mädchen.«

Er achtete sorgfältig darauf, dass sie nicht zu viel trank – er war paranoid, was gefährliche Blähungen betraf. Als er glaubte, dass sie genug hatte, zog er ihr den Napf wieder weg. Nachdem er selbst auch etwas getrunken hatte, streifte er sich direkt auf dem Parkplatz ein frisches Shirt über, und sie fuhren zu Roberto’s Taco Shop, einem mexikanischen Schnellimbiss am anderen Ende des Campus.

Er parkte den Pick-up mit dem Heck zum Schaufenster und ließ Rebel auf der Ladefläche zurück, damit er sie im Auge behalten konnte, während er hineinging. Als er bestellt hatte, fiel sein Blick auf einen Ständer mit Werbebroschüren und Anzeigen für Attraktionen auf dem Strip und im Zentrum.

Fast gegen seinen Willen griff er nach einem Flugblatt, das eine Aktion des Hard Rockmit Punktemultiplikatoren beim Videopoker ankündigte. Er hatte soeben den Scheck mit dem Kopfgeld von gestern Abend eingereicht. Vielleicht konnte er einen Teil des Geldes nehmen, nur einen ganz kleinen, und damit spielen. Nur für kurze Zeit. Er würde aufhören, wenn er es verloren hatte. Er würde …

Allein bei dieser Vorstellung beschleunigte sich sein Atem, und sein Puls raste. Er konnte es spüren – den Adrenalinstoß bei einem großen Einsatz, den Reiz einer Gewinnsträhne, die Jagd nach dem Hauptgewinn. Den Rausch des Siegs, sogar den schmerzhaften Stich eines drohenden Verlusts … Es gab auf der ganzen Welt keine vergleichbare Euphorie.

Er schloss die Augen und zerknüllte das glänzende Papier in der Faust. So etwas wie sicheres Spielen gibt es nicht, dachte er und kehrte zu dem vertrauten Mantra zurück. Kontrolle ist eine Illusion, so etwas wie sicheres Spielen gibt es nicht.

Er öffnete die Augen wieder und blickte über die Schulter zu Rebel, die ihn von der Ladefläche aus durch die Scheibe beobachtete. Sie wartete darauf, dass er sie endlich nach Hause brachte. Sie verließ sich darauf, dass er auf sie aufpasste, genau wie sie ihn beschützte, und dazu musste er sich zusammenreißen.

Er warf das Flugblatt in den Mülleimer und ging zur Theke, als sein Name ausgerufen wurde.

Mit mehreren Essenstüten beladen, fuhr er nur ein paar Minuten später auf den Parkplatz seines nahe gelegenen Apartments. Es befand sich in einem schlichten, u-förmigen Betonklotz um einen Innenhof mit Pool, insgesamt ein bisschen heruntergekommen. Doch was in ästhetischer Hinsicht fehlte, machte die freundliche Nachbarschaft wett.

Er ließ Rebel von der Leine, sobald sie durchs Tor waren. Sie vertrug sich gut mit allen Bewohnern. Er winkte Mrs Muñoz und Mrs Kim, die beim Pool saßen, während ihre Kinder planschten, stieg die Außentreppe zur zweiten Etage hoch und klopfte an die Tür zu 2G.

»Es ist offen!«, rief Carlos von innen.

Dominic runzelte die Stirn und betrat die Wohnung. »Seit wann lässt du deine Tür unverschlossen?«

»Jasmine muss ständig mit der Wäsche rein und raus.« Carlos saß auf der Couch, den Brustkorb in einem Kompressionsverband von der Operation zwei Tage zuvor. Auf jeder Seite ragten Drainagen heraus. Er streckte die Hand aus, als Rebel auf ihn zugetrottet kam, um ihn zu begrüßen. »Es ist einfach leichter, wenn sie nicht dauernd daran denken muss, den Schlüssel einzustecken.«

Dominic stellte die Tüten auf dem Kaffeetisch ab und musterte Carlos prüfend. Er sah gut aus – gesunde Farbe in seinem goldbraunen Gesicht, keine Ringe unter den Augen. Unrasiert, aber er wollte sich ohnehin einen Bart wachsen lassen. »Wie fühlst du dich?«

Carlos setzte sich bequemer zurecht und zupfte an der hellen Strickdecke über seinen langen Beinen. »Ziemlich gut. Es tut nicht so weh, wie ich befürchtet hatte. Was ist das alles?«

»Ich bin nach meiner Runde bei Roberto’s vorbeigefahren und dachte, da kann ich auch gleich genug für drei mitbringen.«

»Dom«, sagte Carlos, »du musst doch nicht …«

Die Tür ging auf, und Jasmine kam mit einem riesigen Korb voller zusammengefalteter Wäsche herein. Dominic eilte zu ihr, um ihr den Korb abzunehmen.

»Danke, Dom.« Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihm einen Kuss auf die Wange zu drücken. Das Piercing in ihrer Lippe fühlte sich auf seiner Haut kühl an.

Dominic hatte Jasmine kennengelernt, als er am Tag seines Einzugs in der Eingangshalle buchstäblich in sie hineingerannt war. Kurz darauf hatte er Carlos einen Job in dem Club besorgen können, in dem er an der Bar stand, und seitdem waren sie gute Freunde.

»Ich wusste nicht, dass du vorbeischauen wolltest«, bemerkte sie.

»Er hat Mittagessen mitgebracht«, erklärte Carlos.

Sie maß ihn mit strengem Blick. »Dominic …«

»Ins Schlafzimmer damit?«, fragte er und beeilte sich, mit dem Wäschekorb wegzukommen, bevor sie noch mehr sagen konnte.

Jasmine verdiente gutes Geld als Tattookünstlerin. Sie profitierte von dem steten Strom der Touristen, die von dem Gedanken fasziniert waren, sich in Las Vegas tätowieren zu lassen. Aber die beiden hatten gerade Tausende für Carlos’ Operation hingeblättert, und er würde wochenlang nicht arbeiten können, während er sich erholte. Sie reagierten empfindlich, wenn es darum ging, Hilfe anzunehmen, doch sie waren sicher ziemlich knapp bei Kasse.

Als Dominic ins Wohnzimmer zurückkehrte, wurde das Thema nicht mehr erwähnt, selbst als sich herausstellte, dass er wesentlich mehr mitgebracht hatte, als drei Leute bei einer einzigen Mahlzeit bewältigen konnten. Jasmine kramte ein paar von den hippen Öko-Hundekeksen hervor, die sie für Rebel vorrätig hatte, und sie tauschten während des Essens gut gelaunt allen möglichen Nachbarschaftsklatsch aus. Danach konnte sich Dominic schnell aus dem Staub machen, bevor sie darauf bestanden, dass er etwas von den Resten mitnahm.

Seine eigene Wohnung lag direkt nebenan. Rebel war fix und fertig und ließ sich in ihren Hundekorb in einer Ecke des Wohnzimmers fallen, aber Dominic konnte sich nicht den Luxus eines Nickerchens erlauben. Er duschte rasch, setzte sich an den Schreibtisch und fuhr den Computer hoch.

Normalerweise bearbeitete er mehrere Fälle gleichzeitig, daher gab es neben Ruiz noch ein paar andere, die er während der letzten Woche digital verfolgt hatte. Bei den meisten davon war es simpel. Wenn er ehrlich war, spürte er die Kautionsflüchtlinge in ungefähr achtzig Prozent der Fälle innerhalb von ein oder zwei Tagen auf – häufig an Orten, an denen jeder mit einem Funken Verstand nach ihnen gesucht hätte, etwa im Haus eines Freundes oder am Arbeitsplatz. Doch hin und wieder stieß er auf Fälle, die größere Kreativität und Anstrengung erforderten.

Der von Matthew Goodwin gehörte dazu. Er war Student an der UNLV, der University of Nevada, Las Vegas, eines von mehreren Mitgliedern einer Verbindung, die vor ein paar Monaten wegen Vergewaltigung angeklagt worden waren. Anders als seine Kumpane war er vor der Verhandlung aus der Stadt geflüchtet und schien völlig vom Angesicht der Erde verschwunden zu sein. Dominic hatte mit allen möglichen und unmöglichen Verfahren nach ihm gesucht und mit jeder Person gesprochen, bei der eine Chance bestand, dass Goodwin sich ihr anvertraut haben könnte. Doch seit über einer Woche war es ihm nicht gelungen, auch nur die geringste Spur von dem Widerling zu entdecken.