Cathy Jefferson - Emelie Whitebrooks - E-Book

Cathy Jefferson E-Book

Emelie Whitebrooks

4,8

Beschreibung

Cathy ist siebzehn, jung, reich und gut aussehend. Auf den ersten Blick besitzt sie die besten Voraussetzungen, um glücklich zu sein. Doch aufgewachsen ohne Mutter und mit einem ständig beschäftigten, abwesenden Vater fehlt ihrem Leben die Zuwendung und Liebe. Mit ihrem Bruder Jonas, der für sie Vaterersatz und Beschützer ist, verbindet sie ein starkes Band. Doch Jonas hat ein dunkles Geheimnis ... Und da gibt es auch noch Sarah, Cathys beste Freundin. Ihre Seelenverwandte, ihre Ratgeberin. Dann stirbt Sarah, und Cathy erlebt den Tod ihrer besten Freundin hautnah mit. Cathys Leben entwickelt sich nun immer mehr zu einer Achterbahnfahrt und droht in einer völligen Katastrophe zu enden.

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Für Dad

Du brachtest soviel Liebe und Fantasie in mein Leben.

Ich werde dich nie vergessen.

Du wohnst tief in meinem Herzen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

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Kapitel

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Kapitel

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1. Kapitel

Die kleine Stadt Bad Soden, nicht weit entfernt vom Speckgürtel Frankfurts, war meine Heimatstadt. Idyllisch gelegen, weit ab vom Trubel der Großstadt. Hier in dieser beinahe ländlichen Gegend lag unser Haus. Umgeben von einem beeindruckenden, parkähnlichen Grundstück mit uraltem Baumbestand.

Nur einige Gehminuten davon entfernt lag unsere Klinik, die schon seit Generationen im Familienbesitz war.

Ich war jung, reich und sah gut aus. Auf den ersten Blick die besten Voraussetzungen, um glücklich zu sein. Doch wie so oft im Leben, trog der Schein. Früher, als Kind, war mein Leben einfacher. Ich vermisste meine Mom nicht. Wie auch. Ich lernte sie nie kennen. Sie starb als ich noch ein Baby war. Doch als ich in die Pubertät kam, änderte sich vieles. Mein Dad, der auch bis dahin nur sporadisch in mein Leben schneite, zog sich mehr und mehr von mir zurück. Er dachte wohl, ich wäre nun alt genug, um ohne seine Fürsorge zurechtzukommen. Wie sehr er da irrte.

Gerade in dieser Zeit, wo mein Leben, mein ganzes Fühlen auf den Kopf gestellt wurde, wäre er, oder eine Mom bitter von Nöten gewesen. Doch zum Glück gab es Sarah. Sarah war nicht nur meine beste Freundin, sie war auch meine Ratgeberin, meine Seelenverwandte.

Erst vor wenigen Tagen feierte ich meinen 17. Geburtstag. Besuchte nun gemeinsam mit Sarah die elfte Klasse des Privatgymnasiums in Bad Soden. Die Ferien endeten vor wenigen Tagen, und die Schule begann wieder. Es war Ende August. Die Sonne brannte heiß vom Himmel, ein herrlicher, nahezu wolkenloser Spätsommertag.

Gleich nachdem der Unterricht endete, stürmten wir in den nahe gelegenen Stadtpark. Chillten entspannt auf unserer Lieblingsbank unter der alten Eiche. Lümmelten herum und relaxten. Sarah war ganz aufgeregt. Erzählte freudestrahlend, dass sie sich anschließend mit Jonas in der kleinen Wohnung treffen würde. Jonas kehrte erst vor wenigen Tagen aus den Vereinigten Staaten zurück, und so bot sich den beiden noch wenig Gelegenheit zur Zweisamkeit. Doch das sollte sich heute wieder ändern. Ja, meine beste Freundin und mein Bruder waren ein Liebespaar. Anfangs haderte ich deswegen mit meinem Schicksal. Musste ich doch meine beste Freundin nun mit meinem Bruder teilen. Doch mittlerweile gewöhnte ich mich daran.

„Ich muss!“, sagte sie nach einem unruhigen Blick auf die Uhr. „Jonas wartet nicht gerne!“

„Okay! Ist gut!“, sagte ich unwillig. „Ich muss ohnehin los! Ich habe noch Musikunterricht!“

Leise fluchend verließ ich den angenehm schattigen Platz, wäre am liebsten sitzen geblieben. Aber wie so oft in meinem Leben rief die Pflicht. Sarah rekelte sich, streckte sich in alle Richtungen, winkte kurz und stobte davon. Hopste voller Vorfreude, wie ein Kleinkind, über den groben Kiesweg.

Ich versenkte gerade meine Geige im Koffer, als mein Handy läutete. Ein erstaunter Blick aufs Display verriet mir, dass es Sarah war.

„Es ist aus Cathy! Ich habe mit Jonas Schluss gemacht!“, schluchzte sie hysterisch, kaum dass ich abhob.

„Sarah, was ist denn passiert?“, erkundigte ich mich völlig überrumpelt.

„Verdammt“, dachte ich. „Nicht schon wieder!“

Ja, das war leider nicht ihr erster Streit. Schon ein Mal stand ihre Beziehung auf der Kippe, kurz vor dem Aus. Für mich die dümmste Situation, die man sich vorstellen kann. Für wen ergreift man in so einer Situation Partei?

Doch diese Thematik musste ohnehin hinten angereiht werden. Galt es doch nun in erster Linie, Sarah zu helfen und ihr als Freundin beizustehen.

„Wo bist du jetzt?“, fragte ich, bemüht beruhigend auf sie einzuwirken.

Doch Sarah schluchzte nur haltlos, schien völlig durch den Wind.

„Geh nach Hause!“, befahl ich streng, „Ich bin gleich bei dir!“

Hektisch verstaute ich meinen Geigenkoffer am Roller und brauste los. Keine zwanzig Minuten später saß ich in Sarahs Zimmer.

„Was ist passiert?“ bohrte ich vorsichtig nach.

Traurig senkte sie den Kopf, vergrub ihn tief im Kissen und ihre katzengrünen Augen wurden glasig

„Keine Sorge Sarah“, tröstete ich sie. „Das wird wieder!“

Ich schlang meine Arme um sie, trocknete ihre Tränen. Doch sie schüttelte nur unglücklich den Kopf.

„Nein Cathy, das wird nicht! Zumindest nicht solange Jonas kokst! Er ist nicht mehr der Mensch, in den ich mich damals Hals über Kopf verliebt habe! Ich habe es dir ja schon gesagt, er verändert sich. Ich glaube fast, er liebt mich nicht mehr!“

„Jetzt übertreibst du aber maßlos Sarah!“, rügte ich sie heftig.

„Jonas liebt dich! Das weiß ich genau! Ich kenne doch meinen Bruder!“

Ich bemühte mich meiner Stimme einen bestimmten, festen Ton zu verleihen. Trotzdem schwamm sie.

Wir waren nun schon seit einer Ewigkeit befreundet. Lösten gemeinsam so manches Problem, doch heute war ich ratlos. Musste selbst erst mit dieser verworrenen Situation klar kommen. So dachte ich, dass es wohl das Beste wäre, ihr vorerst Zeit zu geben, die ganze Sache zu überdenken.

„Ich muss jetzt kurz nach Hause!“ erklärte ich. „Maria wird mich ohnehin ermorden, weil ich schon wieder nicht zum Essen erschienen bin! Und du beruhigst dich bitte inzwischen! Wir treffen uns um 22:00 Uhr vorm Club!

Bis dahin siehst du klarer! Und dann bequatschen wir die Situation ausführlich! Okay?“

Ich hoffte auf ein zaghaftes Lächeln. Eine ihrer schrägen Grimassen, doch Sarah reagierte nicht. Starrte weiter stumpfsinnig aufs Bett. Ich zuckte hilflos mit der Schulter und machte mich auf den Weg.

„Also dann bis 22:00 Uhr vorm Club? Ja?“, fragte ich, nach einem letzten besorgten Blick.

Sie nickte, und vergrub gleich darauf ihr Gesicht unter der Decke.

„Das wird schon! Sie beruhigt sich wieder!“, dachte ich.

„Sie braucht einfach nur ein paar Minuten für sich!“

Und doch war da dieses komische Gefühl. Den ganzen Nachmittag über versuchte ich Jonas zu erreichen. Wollte erfahren, was zum Teufel passiert war. Doch er hob nicht ab. Meldete sich nicht, und das obwohl ich ihm die Mobilbox randvoll quatschte.

Kurz vor 22:00 Uhr bestieg ich den Roller, und machte mich auf den Weg. Der „InClub“ lag ein wenig außerhalb von Bad Soden. Mit vierzehn nahm mich Jonas das erste Mal in diesen Nobelclub mit. Ich staunte damals nicht schlecht, was die Investoren mit enormem Aufwand aus der ehemaligen Fabrik zauberten. Das alte Schindeldach wurde entfernt, und durch eine Glaskuppel ersetzt. Im Inneren erinnerten mächtige Säulen an das alte Rom. Hier wurde nicht gekleckert hier wurde geprotzt. Überall prangte Marmor und nur die edelsten Hölzer wurden hier verarbeitet.

In diesem Club traf sich das „Who is Who“ von Frankfurt und Umgebung. Gelangweilte Teenager aus der obersten Gesellschaftsschicht, reiche Geschäftsleute, aber auch Newcomer. Nein, niemand der nicht zur High Society gehörte, oder zumindest jemanden von ihnen persönlich kannte, fand hier Einlass. Dafür sorgte die Security, die am Eingang jeden Einzelnen kontrollierte.

Nur selten ließen sie „Otto Normalbürger“ passieren. Meist junge äußerst attraktive Mädchen. Allerdings niemanden unter achtzehn. Außer natürlich man erfüllte sonst alle Kriterien. So wie ich. Meine American Express Centurion Card öffnete mir die Türe wie von selbst. Ja, ich musste mich nicht hinten in die Schlange einreihen. Mir öffnete man ohne Nachfrage.

Gleich als ich eintraf sah ich Sarah. Sie lehnte wartend am Eingang. Rein äußerlich wirkte sie wie jeden Tag. Ihr Make-up saß perfekt, und auch ihr Gesichtsausdruck ließ nicht den geringsten Rückschluss auf ihre Seelenlage zu.

Und doch. Unsere Freundschaft dauerte schon zu lange, als dass ich nicht bemerkt hätte, dass alles, auch ihr neonfärbiges Outfit, nur Fassade war. Trotzdem gab ich mich unbekümmert.

Übersah geflissentlich den gequälten Ausdruck, der über ihr Gesicht huschte, als sie mir entgegen ging. Ich packte sie an der Hand und zog sie hinter mir in den Club.

„Hier?“, fragte ich. Deutete auf eine der kleinen Nischen, in unmittelbarer Nähe der Tanzfläche. Sie zuckte nur teilnahmslos die Schulter, und ließ sich schwerfällig auf einen der Stühle fallen. Ich bestellte Whisky-Red Bull für uns. Hoffte, dass der Alkohol sie aus dem Loch, in dem sie offensichtlich feststeckte, holen würde. Doch mein Plan funktionierte nicht.

Die letzte Stunde redete ich wie ein Wasserfall auf sie ein. Beschwor sie, die Sache nicht so ernst zu nehmen. Bat sie inständig, das Ganze in Ruhe zu überdenken.

Erklärte ihr, dass nichts so heiß gegessen wird, wie man es kocht. Ja, ich bot sogar an, zu vermitteln. Gab ihr auch deutlich zu verstehen, dass ich ihre Reaktion „Schluss zu machen“ für völlig überzogen hielt.

Doch was auch immer ich vorbrachte, es verfehlte seine Wirkung. Schön langsam war ich mir nicht einmal mehr sicher, ob Sarah mir überhaupt zuhörte.

Denn sie saß nur da, starrte teilnahmslos auf ihr Glas, und sagte kaum ein Wort.

„Du liebst ihn doch?“, fragte ich ratlos.

„Ja!“, antwortete sie. „Und deshalb werde ich jetzt tun, was ich tun muss!“

Ehe ich auch nur ansatzweise in der Lage war, den Sinn ihrer Worte zu begreifen, stand sie auf und verschwand.

Eine tiefe Unruhe erfasste mich. Der Ausdruck der auf ihrem Gesicht lag, verhieß nichts Gutes. Irgendwie wirkte sie so wild entschlossen. Die Frage was sie nun vorhatte, geisterte durch meinen Kopf. Ich klebte schweißnass am Stuhl. Rutschte unruhig darauf herum. Stand immer wieder auf und blickte mich suchend um.

Doch Sarah blieb verschwunden. Ich hielt bereits ein weiteres Whisky- Red Bull in Händen, als sie auftauchte.

Ich starrte ihr entgeistert entgegen. Denn was ich sah, verschlug mir die Sprache. Dieses eigenartige Strahlen in ihren katzengrünen Augen, dieser euphorische Ausdruck der auf ihrem Gesicht lag. Ich kannte ihn. Kannte ihn nur zu gut, von Jonas.

„Bist du nun komplett verrückt geworden!“, fuhr ich sie heftig an. „Was Sarah, was zum Teufel hast du dir nur dabei gedacht?“

Sarah und ich ließen keine Dummheit aus. Tranken zuviel Alkohol, rauchten seit wir dreizehn waren. Doch von einer Sache ließen wir stets unsere Finger. Drogen! Ich begriff nicht, konnte nicht nachzuvollziehen, wie sie sich in so kurzer Zeit um 180 Grad nachdrehen konnte.

„Ich war bei Horst Degenhof“, berichtete sie gehetzt.

„Ich habe ihm mit der Polizei gedroht. Gesagt, dass ich ihn anzeige, wenn er Jonas noch ein Mal Kokain verkauft. Da hat er mir…“

Sie zögerte, brach mitten im Satz ab. Einen flüchtigen Moment lag kalte Angst, nackte Panik in ihren Augen. Dann verschwand dieser Ausdruck und sie zerrte mich hoch, hinunter auf die Tanzfläche. Wir tauchten in die Menge ein, und Sarah drehte sich wie verrückt im Kreis.

„Du bist so schön Cathy so wunderschön!“, lachte sie und packte mich an meinen Händen.

Nun drehten wir uns beide. Wie ein Kreisel, wie der Zeiger einer Uhr. Schneller, immer schneller.

„Verdammt Sarah, sag mir sofort was zum Kuckuck du genommen hast?“, brüllte ich sie an.

Einen Atemzug lang schien es als würde sie meine Frage gänzlich ignorieren, doch dann.

„Degenhof, Degenhof hat mir…“, erwiderte sie stockend.

Angst kroch hoch. Es war erschreckend zu sehen wie wirr, wie desorientiert sie war.

„Ich wollte es nicht aber Degenhof…“

Kurz lag Dunkelheit wie ein drohender Schatten auf ihrem Gesicht. Noch während wir uns drehten, ließ sie mich plötzlich los. Berührte flüchtig mein Gesicht. Küsste mich und ehe ich wusste wie mir geschah, verließ sie den Club.

Ich stand einfach nur da. Es dauerte, bis Bewegung in mich kam und ich hinter ihr her hetzte. Ich ließ alles liegen. Meine Tasche, ihre Jacke. Rannte durchs Lokal, hinaus auf die Straße. Sarah benahm sich wie eine Irre.

„Bleib stehen Sarah! Warte doch auf mich!“, brüllte ich hinter ihr her.

Doch sie rannte, hetzte weiter. Ich war in Topform. Eine ausgezeichnete Läuferin. Trotzdem holte ich sie erst ein, als wir den Kiesweg des Stadtparks erreichten. Ganz am Anfang, gleich auf der ersten der alten Bänke kauerte sie nun. Zusammengesunken, fast leblos.

„Sarah?“

Ausgepumpt, außer Atem ließ ich mich neben ihr auf die Bank fallen.

„Sarah verdammt! Was ist bloß los mit dir? Sag etwas!“

Sie atmete beängstigend flach und ihr Körper bebte. Der Glanz aus ihren Augen war verschwunden. Sie wirkten nun leer.

„Degenhof hat mir etwas gespritzt! Ich weiß nicht was. Er hat mich festgehalten! Er hat…“

Sie weinte, griff bebend nach meiner Hand.

„Ich wollte das nicht! Ehrlich Cathy, das musst du mir glauben! Ich würde niemals freiwillig Drogen…“

Der klare wache Ausdruck verschwand aus ihren Augen, trübte sich ein. Sie wirkte orientierungslos.

Ohne Vorwarnung wurde ihr Körper wie von einem Fieberkrampf geschüttelt. Ihre Muskeln zuckten und sie stieß bizarre Laute aus. Tobte von einer Sekunde auf die andere. Schrie, weinte, schlug um sich. Es dauerte, ehe mein Verstand in der Lage war, zu begreifen.

Die Wahrheit, das ganze Ausmaß.

Was immer Degenhof ihr auch verabreichte, es war dabei sie zu töten.

Ich spürte, wie Adrenalin meinen Körper flutete. Panisch durchwühlte ich jede einzelne Tasche meiner Jacke.

Suchte fieberhaft nach meinem Handy, um fluchend zu begreifen, dass es im Club lag.

„Verdammt! Was nun?“

Zum Glück erinnerte ich mich an die Telefonzelle am Ende des Parks. Dieses Ding, aus uralter Vorzeit, das sie noch nicht demontierten. Doch Sarah konnte unmöglich hier bleiben. Sie musste mit. Deshalb zog ich sie hoch. Sarah wog gerade mal 50kg, und doch war ihr zierlicher Körper schwer, wie von einem 100kg Mann. Aber es musste gehen, irgendwie. Ich fühlte, ihr Leben hing an einem dünnen Faden. Sarah wehrte sich. Weinte, schrie, trat nach mir. Doch unbeirrt schleppte ich sie weiter, immer weiter. Allmählich wurde sie ruhiger, geradezu apathisch. Es ließ mich begreifen, dass die Zeit knapp wurde.

„Sarah, halt durch Sarah!“, keuchte ich.

„Cathy?“

Ihre Stimme klang fremd, wie aus einer andern Welt.

„Ja, Sarah?“

„Du bist mir doch nicht böse?“, stammelte sie. „Nein Sarah! Ich bin dir bestimmt nicht böse! Halt einfach nur durch!“

Jetzt weinte ich. Die Anstrengung, diese elende Angst trieben mich an meine Grenzen. Sarah würgte, übergab sich, kotzte uns voll.

Es dauerte endlos, bis die alte Telefonzelle in greifbarer Nähe war. Wir hatten es geschafft! Am Ende meiner Kräfte lehnte ich sie an einen dieser alten Bäume. Rannte zum Telefon und wählte zitternd den Notruf.

„Kommen sie bitte schnell! In die Friedrich Heinrichallee zur alten Telefonzelle im Park es geht...“

„Caaaaathy….“

Ich ließ den Hörer fallen, als ich sie schreien hörte.

Bewegungsunfähig sah ich zu, wie sie den Stamm entlang zu Boden rutschte, zur Seite kippte, und kraftlos in den Kiesel fiel. Wie ein Blatt im Wind, unfähig den Fall zu verhindern. Ihre rotgeweinten Augen sprangen förmlich aus ihrem todblassen Gesicht.

„Saaaaaaaaaaarah!“

Da war soviel Bitterkeit und Verzweiflung in mir. Ich konnte nicht verstehen, nicht begreifen, was hier gerade passierte. Mit wenigen Schritten war ich bei ihr, kniete neben ihr am Kiesel. Schloss meine Augen, presste mein Gesicht fest an ihres.

„Sarah, bitte, bitte stirb nicht!“

Ich flehte, bettelte, weinte haltlos.

„Sarah bitte lass mich nicht im Stich! Sarah….“

Ihre Augen starr, ohne Leben. Und da erkannte ich die Wahrheit. Sarah war tot, einfach tot! Aus! Es war vorbei!

Wie gelähmt kauerte ich neben ihr.

Meine Hände umschlossen krampfhaft ihren Körper. Ich hielt sie fest, wog sie in meinen Armen, wie ein Kind.

Erst die Sirene des Notarztwagens, holte mich aus dieser Lethargie. Ich küsste sie ein allerletztes Mal. Ließ sie unendlich sanft aus meinen Händen gleiten. Brauchte all meine Kraft um aufzustehen, wegzugehen, sie liegen zu lassen.

Mein Herz schrie und weinte, aber mein Verstand befahl mir: „Geh!“

Ja, ich musste gehen! Weg! Sarah, meine beste Freundin hier zurücklassen! Ich wusste, man würde mir Frage stellen. Fragen die ich nicht beantworten konnte, ohne Jonas und seine verdammte Kokainsucht zu verraten.

Einsamkeit, Gespenst in dunklen Ecken. Leere, die alles zerfrisst. Man füllt sie. Mit Alkohol und letztendlich wohl auch mit Drogen. Alles nur eine Frage der Zeit, bis es wie ein Kartenhaus zusammenstürzt. Vorprogrammiert dieses bittere sinnlose Ende.

Meine Füße begannen zu laufen. Ich flüchtete, vor dem was hier geschah, vor Sarahs Tod.

Und trotzdem kam mir in dieser elenden Situation dieser Satz in den Sinn: „Bis ans Ende der Zeit!“

Eine einzelne Zeile aus einem Lied. Sarah fand sie so großartig, dass wir uns Freundschaft schworen – bis ans Ende der Zeit.

Für Sarah ging die Zeit hier und heute zu Ende.

Noch immer war ich in Bewegung, rannte. Ziellos. Begann irgendwann zu schreien. Ich schrie, als könnte ich damit etwas ändern, ungeschehen machen.

Unheimlich hallte meine Stimme durch den verlassenen Park. Angst, ich fühlte Angst. Vor all dem, das jetzt aus mir heraus brach, wie aus einem Vulkan. Diese bodenlose Verzweiflung, diese Trauer, aber auch diese Wut. Ich ließ mich einfach fallen. Meine Hände schlugen wie verrückt auf den Kiesel.

Vergruben sich tief in die nassfeuchte Erde darunter. Da waren diese Bilder. Sie liefen durch meinen Kopf, wie ein Endlosband.

Noch immer sah ich Sarah fallen, im Zeitlupentempo rücklings in den weißen Kiesel. Ihre Augen aufgerissen, ihre Hand zur Faust geballt. Ihr gellender Schrei hallte wie ein Echo in mir fort. Und dann schlug sie auf. Kantig und scharf grub sich der Kiesel in die Haut. Riss sie auf, färbte sie blutrot.

Jede Linie der mir so vertrauten Züge, jede einzelne dieser letzten Minuten brannte sich in mein Gedächtnis. Auch dieser letzte, tiefe Seufzer, ehe da nichts mehr war und ihr Gesicht leer und ausdruckslos wurde.

Noch ein Mal fühlte ich diese Panik, dieses Unvermögen zu verstehen. Fühlte meine Lippen auf den ihren. Sah ihre langes, braunes Haar, das tief in ihr Gesicht fiel, wie ein Rahmen um ein Bild.

Wieder und wieder durchlebte ich diese furchtbaren Augenblicke, bis ich mit erschreckender Deutlichkeit ihren Tod begriff. Mein Gehirn schaltete sich ab, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen.

Game over!

Es wird wohl immer ein Rätsel bleiben, wie lange ich in diesem Zustand völliger Handlungsunfähigkeit am Boden kauerte, und auf den Kiesel einschlug. Immer wieder. So als wäre er Schuld an ihrem Tod.

2. Kapitel

Meine Füße bewegten sich, wie von selbst. Aus der Ferne sah ich die hell erleuchtete Fabrik. Dieses gleißende Licht, das den Parkplatz ausstrahlte. Es kam näher und näher und ich erreichte den Eingang. Ich befand mich in einer Art Trance. Im Park, am Boden neben der alten Eiche, verlor ich den Bezug zum Hier und Jetzt.

Vorbei an der wartenden Menge, drängte ich mich hinein in den Club. Kaum durch die Tür begann ich zu schreien. Laut, durchdringend. Stolperte, wie ferngesteuert, durch die entgeistert zurückweichende Menschenmenge.

„Deeeeegenhof!“

Unvermittelt stand ich auf der Tanzfläche. Inmitten vieler Körper die wortlos zurückwichen und ihre Augen auf mich richteten. Die Musik dröhnte noch ganz kurz, dann verstummte auch sie.

„Deeeeegenhof!“ brüllte ich wie von Sinnen.

Ja, ich traf eine Entscheidung, als ich durch die Nacht lief. Hier und heute, auf der Stelle, wollte ich Degenhof zur Rechenschaft ziehen. Hinaus schreien in die Welt, dass dieser elende Dealer meine beste Freundin tötete.

Mein Herz pochte bis zum Hals und das Adrenalin erreichte in der Zwischenzeit jede einzelne Faser meines Körpers.

Dann sah ich Jonas. Er lehnte an einer Säule am hinteren Ende der riesigen Halle. Ich sah sein erschrockenes Gesicht, das sich auf mich zu bewegte. Er drängte, schob sich rücksichtslos durch die gaffende Menge. Meine Beine fühlten sich an wie Gummi, verloren jeden Halt. Ehe ich am Boden aufschlug, fühlte ich Hände die nach mir griffen. Kurz bevor ich das Bewusstsein verlor, sah ich direkt in Horst Degenhofs Augen.

Irgendjemand schlug mir hart ins Gesicht. Ich spürte es, kehrte allmählich in die Realität zurück. Mein Blick wanderte unruhig durch den völlig heruntergekommenen

Raum. Das Gesehene ließ mich vermuten, dass ich mich im ungenutzten Teil des riesigen Fabrikgeländes befand.

Hier hinten tat sich eine fremde, düstere Welt auf. Kaum ein paar hundert Meter entfernt, von Anzugträgern und Feierwütigen, zeigte sich der Abgrund der menschlichen Seele. Hier gab es alles, was Geld zu kaufen vermag. Von Kokain bis Extasy, morphinhaltige Präparate, eben alles, was ein süchtiges Herz begehrt.

In den ehemaligen Aufenthaltsräumen der Arbeiter blieb alles unverändert. Hier gab es weder Marmor, noch eine gläserne Lichtkuppel. Nichts erinnerte hier an den Prunk im aufwendig sanierten vorderen Teil.

Hier stank es. Nach altem Getriebeöl, Getränkeresten in offenen, halbvollen Flaschen. Selbst der Schweiß, der in der alten Fabrik ein halbes Jahrhundert lang in Strömen floss, zog seine Spur durch das Gemäuer.

Dieser abgelegene Teil des Gebäudes war einzig und allein Horst Degenhofs Reich. Hier hinten wickelte er seine zwielichtigen Geschäfte ab.

Und nun saß ich hier. Erkannte, in welch aussichtslose Lage mich der spontane Entschluss hinein manövrierte. An meiner Seite Degenhof. Seine Augen fixierten nun lauernd mein Gesicht. Am ganzen Körper zitternd, fuhr ich hoch.

Mit einer einzigen ruckartigen Bewegung griff er nach mir und stieß mich zurück aufs Sofa.

„Hier geblieben!“, herrschte er mich an.

Ängstlich, nein ängstlich war ich nicht. Und doch flösste mir seine drohende Haltung Angst ein. Es lag wohl auch daran, dass ich zu verstehen begann. Begriff, was Sarah wirklich sagte. Denn nun schaltete sich mein rationaler Verstand wieder ein. Ließ mich begreifen, was in den letzten Stunden passiert war.

Erkennen, dass Sarahs Tod kein unglücklicher Zufall war. Nein, er war vielmehr Horst Degenhofs Antwort auf ihre Drohung gewesen.

Er tötete Sarah. Und ich in meiner grenzenlosen Naivität kam hierher zurück und forderte ihn heraus. Saß jetzt auf diesem alten völlig heruntergekommen Sofa und suchte fieberhaft nach einem Ausweg.

„Hier bin ich!“, sagte er lauernd. „Was willst du von mir?

Aufmerksam musterte er mich. Die Hand umklammerte eisern meinen Oberarm. Doch ehe ich antworten konnte, stand plötzlich Jonas im Raum.

„Lassen sie sofort meine Schwester los, auf der Stelle!

Was bilden sie sich überhaupt ein! Wie kommen sie dazu, sie in dieses Drecksloch zu schleppen!“

Jonas strotzte geradezu vor Selbstsicherheit. Doch mir verriet der Ausdruck seiner Augen, dass er ziemlich high war. Degenhofs Haltung veränderte sich schlagartig. Von einer Sekunde auf die andere wirkte er unsicher.

„Ihre Schwester?“

Seine Reaktion eröffnete mir, dass er alles über Jonas wusste und seinen Hintergrund genauestens kannte. Unsere Familie, ihren Einfluss, und vor allem unser Geld. Mit diesem exklusiven, hochkarätigen Personenkreis machte man Geschäfte. Vermied es tunlichst anzuecken. Und selbst ein Spatzenhirn wie dieser Degenhof begriff, dass, wenn ich Jonas Schwester war, ich zu dieser Familie gehörte.

„Ja meine Schwester!“, brüllte Jonas aufgebracht. „Okay, okay, sie hat von meinem Koks genascht, und ist wohl ein wenig ausgetickt. Aber das gibt ihnen noch lange nicht das Recht, sie so zu behandeln! Ich nehme sie jetzt mit!“

Mit diesen Worten trat er ans Sofa, und zerrte mich hoch. Stieß mich hastig vor sich her, hinaus in diese schummrig beleuchtete Halle.

„Lass die Finger von meinem Koks! Und mach gefälligst keinen Ärger mehr! Verstanden?“, schrie er mich an, ehe die schwere Metalltüre dumpf hinter uns zuschlug.

„Lauf Cathy!“, flüsterte er leise, kaum dass wir draußen waren. „Hier hinten ist es gefährlich! Jedenfalls ist das kein Ort an dem ich dich je wieder sehen möchte!“

Der Korridor, stockdunkel. Aber meine Füße fanden den Weg. Flogen über die abgewetzten Bretter der alten Halle hinter Jonas her. Dann waren wir im Freien. Hastig beförderte mich Jonas hinter einen Berg aus Bierfässern.

„Das war wirklich haarscharf!“ flüsterte er, nachdem er sich sorgfältig umgeschaut hatte.

„Du hast Glück gehabt! Nicht auszudenken was passiert wäre, wenn ich dich nicht gefunden hätte. Das hier Cathy, ist eine andere Welt! Sie hat nichts zu tun mit dem Glanz an der Vorderseite! Hier her verirrt sich niemand der im Club verkehrt!“

Er grinste verschmitzt. „Was ist eigentlich wirklich los mit dir? Warum bist du so dermaßen ausgetickt?“, fragte er und wirkte augenblicklich besorgt.

Meine Tränen kamen zurück. Tropften über die Wangen, landeten auf seiner Hand.

„Nicht weinen Cathy! Es ist vorbei! Und zum Glück ist ja alles gut ausgegangen!“, beruhigte er mich.

In diesem Augenblick fühlte ich wie sehr ich Jonas brauchte. Und dass selbst sein Drogenkonsum nichts an seiner Fürsorge für mich änderte.

„Sarah ist tot!“, brach es aus mir heraus. „Verstehst du Jonas, Sarah ist tot!“

Er antwortete nicht. Schaute mich mit leeren Augen an. Sein völlig zugekokstes Gehirn schien nicht in der Lage, den Inhalt meiner Worte zu begreifen.

„Lass uns jetzt abhauen“, flüsterte er zusammenhanglos, „Jetzt oder nie!“

Er tastete nach meiner Hand und wir rannten los. Es schien einfach. So, als könnte man vor seinen Problemen davonlaufen.

3. Kapitel

Maria weckte mich, wie so oft ziemlich unsanft, rüttelte mich kräftig. „Cathy wach endlich auf! Aufstehen! Komm schon, du musst zur Schule!“

Maria führte unseren Haushalt. Doch für Jonas und mich war sie mehr als nur eine Haushälterin. Sie war unsere Ratgeberin. Ein sicherer Zufluchtsort an dunklen Tagen, die Seele dieses Hauses.

„Cathy?“ Als ich mich gähnend aufsetzte, stutzte sie und nahm mich näher in Augenschein.

„Cathy wie siehst du nur aus? Was hast du schon wieder angestellt?“ Flink tasteten ihre Finger über meine Arme. Besorgt betrachtete sie meine Kratzer.

„Ist nicht weiter schlimm Maria!“, beruhigte ich sie. „Ich bin nur mit diesem Mistding von Roller gestürzt!“

Ja, ich war eine Meisterin. Äußerst einfallsreich, wenn es darum ging Ausreden zu erfinden. Nein, eine Lüge war das in meinen Augen nicht. Sarah und ich bezeichneten es als kreatives Umformen der Wahrheit.

„Sarah!“

Sofort kehrten die Ereignisse von gestern in meinen Kopf zurück. Maria stand noch immer am Bett. Untersuchte meine verschrammten Arme eingehend.

„Du hast Recht!“, stellte sie abschließend erleichtert fest.

„Halb so schlimm!“

Geschäftig lief sie durch mein Zimmer. Sammelte die achtlos am Boden verstreute Kleidung auf. Blieb dann wie angewurzelt vor der Jean stehen. Drehte die schmutzige und obendrein vollgekotzte Hose verdutzt von einer Seite auf die andere.

Blut flutete meinen Kopf und ich wurde knallrot. Gerade wollte ich ihr eine abenteuerliche Geschichte auftischen, da verließ sie mein Zimmer.

„Beeil dich! Deine Hose entsorge ich. Die ist nur noch für den Müll!“, erklärte sie lapidar.

Lustlos betrat ich mein Badezimmer, betrachtete mich gleich darauf entsetzt im Spiegel.

„Verdammt! Shit!“

Maria hatte Recht. Ich war übel zugerichtet. Selbst Hals und Gesicht wiesen Kratzspuren auf, und meine Augen lagen tief. Während ich mich im Spiegel betrachtete, tauchten die Bilder von gestern auf. Von Sarah, wie sie am Kiesel lag. Zum Glück kehrte Maria zurück, und bewahrte mich so davor, meine Fassung zu verlieren.

Gequält seufzend, stellte sie ein Desinfektionsmittel auf das Schränkchen, und versorgte damit die Schürfwunden.

„Du solltest vorsichtiger sein Cathy!“, mahnte sie.

„Du bist doch nicht betrunken gefahren?“, fragte sie, und strich mir liebevoll durchs Haar.

Ihre mitfühlenden Augen ruhten nun forschend auf mir.

„Es ist nicht gut für dich, wenn du dich Abend für Abend herumtreibst!“ belehrte sie mich.

Sie drehte meine Hände und überzeugte sich, dass sie jeden meiner Kratzer desinfiziert hatte.

Kopfschüttelnd nahm sie das Fläschchen und verließ das Bad.

„Jetzt aber rasch unter die Dusche!“, munterte sie mich noch auf, ehe sie endgültig ging.

Ich duschte. Verbarg meine verquollenen Augen hinter einer dicken Schicht Make-up. Doch die Spuren der unzähligen Tränen von gestern Nacht verschwanden nur widerwillig.

Im Esszimmer war alles wie jeden Tag. Der riesige Tisch mit Köstlichkeiten überladen. Es fehlte an nichts. Vom herrlich duftenden Gebäck bis hin zu frischem Obst.

Dad befand sich, wie jeden Tag um diese Zeit, bereits in der Klinik. Jonas lümmelte lustlos am Tisch, beschmierte einen Toast. Durch seinen beschissenen Kokainkonsum verlor er in den letzten Monaten einiges an Gewicht. Die neue Hose, die er erst vor kurzem kaufte, schlotterte schon wieder.

Sein fahles Gesicht wirkte durch den kräftigen Farbton seines Shirts noch um einige Nuancen grauer. Wie jeden Morgen hauchte ich einen flüchtigen Kuss auf seine Wange, ehe ich meinen Lieblingsplatz einnahm. Konnte nicht verhindern, dass ich dabei Sarahs Lippen vor mir sah.

„Heute wird ihr Stuhl in der Schule neben mir frei bleiben. Ab heute werde ich lernen müssen ohne Sarah zu leben!“, dachte ich beklommen.

„Jonas?“

Erst jetzt bemerkte ich, dass er zitterte. Gerade noch flatterte sein buntes Shirt. Nun klebte es schweißnass auf seinem Rücken. Das Juiceglas entglitt seiner Hand, und zerbarst mit lautem Knall. Glassplitter und Orangensaft verteilten sich am blütenweißen Tischtuch. Er ignorierte es. Sprang die Zeitung in der Hand auf und streckte sie mir unter die Nase.

„Sarah ist tot! Stell dir vor Sarah ist tot!“, murmelte er wie weggetreten.

Sein Gesicht aschfahl. Heftig atmend, schmiss er sich auf den Stuhl. Ich verstand die Welt nicht mehr. Jonas hatte es vergessen.

„Ich habe sie geliebt“, flüsterte er. Vergrub das Gesicht in seinen Händen, schluchzte trocken.

Ich war fassungslos, wie vor den Kopf geschlagen. Jonas erinnerte sich also weder an die gestrige Nacht noch an ihren Streit.

„Ich war bei ihr! Ich meine als sie gestorben ist!“, sagte ich und meine Stimme schwankte bedrohlich.

Ich bemühte mich diese Wut zu unterdrücken, die mit Gewalt hoch kroch. Jonas starrte mich verständnislos an.

„Ihr hattet gestern einen furchtbaren Streit. Sarah hat mit dir Schluss gemacht! Und du hast sie gehen lassen! Hast du wirklich alles vergessen?“, fragte ich und die Stimme flüsterte nur noch kraftlos.

Halt, ich suchte Halt. Meine Finger umklammerten die Tasse. Hilflos schüttelte er den Kopf.

„Ich kann mich nicht daran erinnern! Was habe ich nur getan?“, stammelte er hilflos.

In diesem Moment hakte irgendetwas tief in mir aus. Ließ mich vergessen, wie sehr ich meinen großen Bruder liebte.

„Dein Drogenkonsum hat Sarah in den Tod getrieben!“, brüllte ich anklagend.

Es klirrte. Die Kaffeetasse zersplitterte in tausend kleine Scherben. Meine Hand warf sie wie von selbst nach ihm. Keiner von uns beiden hörte Dad kommen. Registrierte, dass er das Esszimmer betrat. Erst als er sich irritiert räusperte, bemerkten wir ihn.

Kopfschüttelnd musterte er die kaputte Tasse.

„Catharina, was soll das? Kannst du mir bitte erklären, was hier vor sich geht?“

„Catharina!“

Es bedeutete nie etwas Gutes wenn Dad, „Catharina“ statt „Cathy“ sagte.

Doch das war mein geringstes Problem. Der Gedanke, wie lange Dad schon in der Tür stand, beschäftigte mich. Ich hoffte, betete, dass er nicht den ganzen Streit verfolgen konnte.

„Du antwortest also nicht?“, erkundigte er sich gewohnt beherrscht.

„Nun gut!“, lenkte er unerwartet ein. „Ich bin auch nicht gekommen um mich mit dir zu streiten!“

„Aber diesen Ton wünsche ich nicht!“, setzte er tadelnd hinzu. „Und ich werde ihn auch nicht tolerieren!“

Dann zögerte er, überlegte. Ganz wie es Dads Naturell entsprach, setzte er dann in gewohnt ruhigem Ton fort.

„Eigentlich bin ich wegen des tragischen Vorfalls mit Sarah gekommen!“

Er deutete auf die Morgenzeitung am Tisch.

„Aber wie ich sehe, wisst ihr ohnehin bereits Bescheid!“

Verlegen strich er durch sein kurz geschnittenes, leicht gelocktes Haar. Er drehte sich zu mir. Seine graublauen Augen hefteten sich unruhig auf mein Gesicht.

„Da Sarah deine Freundin war muss ich dich fragen…“

Meine Augen füllten sich mit Tränen. Einen Augenblick lang fühlte ich mich verstanden. Dachte wirklich Dad wäre gekommen, um mich zu trösten. Seine nächsten Worte erwischten mich kalt.

„Catharina nimmst du Drogen?“

Das also war der wahre Grund, warum er früh morgens die Klinik verließ. Ihn trieb nicht die Sorge, wie ich den Verlust meiner besten Freundin verkraftete. Er wollte mir keinen Trost spenden. Nur klären, ob ich Drogen nahm.

Das tat weh, verletzte.

Auch wenn Dad nur selten zu wissen schien, was in mir vorging. So reichte seine Sensibilität doch meistens aus um zu erkennen, wann ich dringend Trost und Hilfe brauchte. Doch heute, gerade heute, war nichts davon zu bemerken.

„Ich brauche dich Dad!“, schrie alles in mir. Aber er, er stand nur unbewegt da. Und mir war einfach nur zum Heulen. Ich fühlte mich hilflos.

„Ich will eine Antwort Cathy! Und ich werde nicht gehen, bevor ich sie erhalten habe!“, sagte er, und seine Stimme war kalt wie Eis.

Ich schluckte, unfähig zu antworten. Sprachlos über sein Verhalten.

Seine Augen funkelten, als er auf mich zu kam und nach mir griff. Er zog mich an sich, hart und fordernd.

„Antworte mir bitte!“, herrschte er mich an.

Eine Woche! Es verging gerade einmal eine Woche, ehe mich Dad wieder enttäuscht. An meinem Geburtstag, als er so unvermutet auftauchte, mich so liebevoll in den Arm nahm, da dachte ich wirklich, wir würden endlich einen Weg zueinander finden. Und nun?

Mit einer einzigen hastigen Bewegung riss ich mir eine Strähne Haare aus. So wie ich die Tasse warf, ohne mir dessen bewusst zu werden. Verächtlich drückte ich ihm die Haarlocke in die Hand. Mein Oberkörper bebte vor Wut.

„Da!“, brüllte ich. „Da hast du deine Antwort, Dad! Du kannst damit jeden nur erdenklichen Drogentest machen.

Ich bin nicht süchtig! Ich nehme keine Drogen!“

Ich schrie. Schrie schon wieder.

„Da ist nichts, rein gar nichts, das dich oder deinen guten Ruf gefährdet!“

Dads Stimme wurde leiser, drohender.

„Reiß dich zusammen Cathy! Brüll bitte nicht herum! Es ist auch deine Schuld, wenn ich dir solche Frage stellen muss. Ich frage das bestimmt nicht gerne, das kannst du mir glauben! Aber ich will wissen, wie du und Sarah in solchen Kreisen landen konntet. Obwohl es kein Wunder ist. Du hast je geradezu eine Vorliebe dafür, dich immer in Schwierigkeiten zu bringen, und dich mit zweifelhaften Menschen abzugeben! Ich hoffe du begreifst nun endlich wohin das führt!“

Dad fand kein Wort des Mitgefühls. Zeigte keinen Funken Verständnis, und das obwohl er wusste, wissen musste, wie nahe Sarah und ich uns standen.

Ich kämpfte, bemühte mich, nicht noch den letzten Rest meiner Beherrschung zu verlieren.

„Du weißt nichts Dad! Gar nichts! Sarah nahm keine Drogen! Nie! Sie war die beste Freundin die man sich nur vorstellen kann! Meine Seelentrösterin! Sie war…“ Meine Stimme schwoll an, wurde lauter und lauter.

Raum und Zeit schienen sich im Nirgendwo zu treffen.

Und dann war er da. Dieser Schrei aus dem Park. Dieser unheimliche, gequälte Laut. Dieses nicht menschliche Irgendwas. Er stieg meine Kehle hoch, brach aus mir heraus. Kam tief aus meinem Innersten. Gewaltig wie eine Explosion. Entzündet von einem kleinen Funken, entwickelte er sich zu einer gewaltigen Feuerwalze, und überrollte mich. Hielt mich gefangen wie ein Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gab.

Da war nur mehr ein einziger Gedanke in meinem Kopf.

Flucht!

„Komm zurück Cathy, ich wollte dir noch sagen, dass mir die Sache mit Sarah leid …“ Doch ich wollte nichts mehr hören, stürzte die Treppe hoch. Rannte in mein Zimmer, und knallte die Türe zu.

Beruhigte mich erst, als die noch warme Decke meine Haut berührte.

Eine kühle Hand streichelte meinen Kopf, fuhr tröstend über mein Gesicht. Ich hielt die Augen geschlossen. Gab mich der Illusion hin, es wäre Dad. Natürlich war es nicht so. Ich fühlte, nein ich wusste, dass es Jonas war.

„Cathy?“

Seine Stimme klang unendlich sanft. Ungeschickt hob er meinen Kopf, drehte ihn zu sich.

„Er meint es nicht so!“

Jonas senkte verlegen seine Augen. Er konnte mir noch nie ins Gesicht lügen.

„Wir wissen beide, dass Dad es genau so meinte, wie er es sagt!“, flüsterte ich traurig.

Sein Blick huschte über meine blassrosa Bettdecke, dann zuckte er hilflos mit der Schulter.

„Sarah ist tot, nun haben wir nur mehr uns!“

Er stierte auf die kalkweiße Decke, unfähig zu weinen.

4. Kapitel

Müde betrachtete Hauptkommissar Nellmann die gestern entstandenen Bilder. Der nächtliche Einsatz dauerte bis in die frühen Morgenstunden. Nach dem der Notarzt den Tod des jungen Mädchens feststellte, wurde umgehend seine Dienststelle alarmiert. Er traf als einer der Ersten am Auffindeort ein. Da lief bereits die gewohnte Routine ab. Absperren, Spuren sichern und fotografieren. Rasch verschaffte er sich einen ersten, groben Überblick. Denn erst wenn er seine Zustimmung gab, konnte der Körper des jungen Mädchens abtransportiert werden.

Nach kaum drei Stunden Schlaf, kehrte er ins Präsidium zurück. Betrachtete nun eine Aufnahme nach der anderen am Computer.

„Was für ein ausnehmend hübsches Mädchen diese Sarah Wegener doch war!“, schoss es ihm durch den Kopf.

„Blutjung! Noch viel zu jung um zu sterben!“

Schon gestern jagte ihm ein kalter Schauer über den Rücken, als er sie dort liegen sah. Er fühlte tiefes Mitleid.

Konnte nicht verstehen, was einen so jungen Menschen dazu trieb, sein Leben mit einer Überdosis zu beenden.

Nachdenklich betrachtete er ein Foto nach dem anderen.

Spürte diese Wut in sich. Ja er hasste diese Dealer, diese organisierte Drogenmafia, für die ein Menschenleben nicht das Geringste zählte. Der neue Fall weckte auch unliebsame Erinnerungen. Ließ ihn an Dinge denken, die er gerne vergessen würde. Denn die Leute die gewissenlos mit Drogen dealten, verschuldeten nicht nur den Tod von Sarah Wegener, sie veränderten auch sein Leben. Waren verantwortlich für das Schicksal seines Sohnes. Und die Ereignisse von damals holten ihn unvermittelt ein.

Zuerst erinnerte er sich an die schönen Dinge. An den kleinen George, ein liebenswertes, fröhliches Kind. Oft nannte er ihn voller Stolz seinen kleinen Sonnenschein.

Erinnerungen an herzerfrischende Stunden. Gefüllt mit Kinderlachen und Zukunftsträumen, die abrupt endeten.

Denn nur wenige Wochen vor Weihnachten, kam dieser unheilvolle Tag. Kurz zuvor telefonierte er noch mit ihm.

Ein neuer Fall nahm ihn damals in Anspruch. Und so bat er George mit der S-Bahn nach Hause zu fahren.

Eigentlich wollte er ihn gleich nach der Arbeit abholen.

George und seine Kollegen vom Musikkonservatorium an dem er studierte, probten in Frankfurt für die anstehende Weihnachtsaufführung.

Zwei Stunde später fuhr er gut gelaunt nach Hause.

Erfreute sich noch an der herrlichen Winterlandschaft.

Der frisch gefallene Schnee verwandelte das verschlafene Bad Soden in ein Wintermärchen.

Martha wartete bereits mit dem Essen, musterte ihn überrascht, als er ohne George ankam.

Sie warteten. Dachten, dass er jeden Moment zur Türe hereinkommen würde. Doch er kam nicht, und langsam machte sich Sorge breit. Auch am Handy konnten sie George nicht erreichen. Das war mehr als ungewöhnlich für ihren überaus zuverlässigen Sohn. Er war gerade im Begriff sich wieder anziehen um die Strecke abzufahren, als es klingelte. Nie, sein ganzes Leben lang nicht, würde er diesen Moment vergessen, als sein Kollege von der Bereitschaftspolizei vor der Türe stand. Die Nachricht von Georges Unfall traf sie wie ein Keulenschlag. Wie in Trance rasten sie in die Klinik. Stundenlang warteten sie vor dem OP. Hofften und bangten. Die ersten Tage stand Georges Leben auf Messers Schneide. Doch wie durch ein Wunder, stabilisierte sich dann sein Zustand. Und doch.

Von einer Sekunde auf die andere, verändert sich ihr Leben. Er musste an dieses Gespräch einen Tag vor dem Heiligabend denken. An das Gefühl der Hilflosigkeit, als ihm der Arzt mitteilte, dass sich George in einer Art Wachkoma befände. Dass man nicht wisse, ob sich sein Gehirn jemals wieder erholen würde. Ja, George lebte, aber nur mehr als geistlose Hülle. Lebte, weil sein junger Körper nicht sterben wollte. Wochen später verlegten sie ihn in diese Spezialklinik. Wie durch ein Wunder wachte er Monate später auf. Kämpfte sich zurück ins Leben. Sie waren überglücklich, geradezu euphorisch. Bis zu dem Moment in dem sie begriffen, begreifen mussten, dass George niemals mehr ein normales Leben führen würde.

Die Folgen der Kopfverletzung schlossen eine Rückkehr in sein altes Leben aus.

Der junge Fahrer des Unfallautos war erst sechzehn und besaß keinen Führerschein. Er wuchs unter schwierigen sozialen Verhältnissen auf, geprägt durch Alkohol und Drogen. Als er den folgenschweren Unfall verursachte, war er randvoll mit Alkohol und Drogen. Unfähig sein Handeln zu überblicken.

Die ersten Monate war er voller Zorn und keine Strafe erschien ihm zu hoch. Doch irgendwann während der Gerichtsverhandlung erkannte er, dass er ihm sogar in gewisser Weise dankbar sein musste. Dafür, dass er trotz allem Hilfe holte und George nicht am Straßenrand seinem Schicksal überlies. Denn dann hätte sein Sohn diesen Unfall zweifelsohne nicht überlebt. Er schloss in gewisser Weise Frieden mit ihm. Doch keinesfalls mit diesen skrupellosen Menschen. Die ohne Gewissen, aus reiner Profitgier, Drogen an junge Menschen verkauften.

Er versuchte alles, opferte seine gesamte Freizeit. Verbiss sich geradezu in diese Jagd nach den wahren Schuldigen.

Fing ein paar kleine unbedeutende Dealer. Doch trotz intensiver Recherche, konnte er die Hintermänner nicht ermitteln. Ein Umstand, den er nicht akzeptieren konnte, der ihm schwer zu schaffen machte. Nellmann suchte Gerechtigkeit für sich und George.

George – beinahe ein halbes Jahre war es nun schon her, dass er ihn zum letzten Mal besuchte. Er ertrug seinen Anblick nicht. Er wusste, dass seine Frau darunter litt.

Doch Martha begriff nicht. Konnte nicht verstehen, was in ihm vorging. Er wollte, nein konnte sich nur schwer damit abfinden, dass alles was von seinem Sohn übrig blieb, dieses sabbernde, geistlose Häufchen Elend war.

Nein, das war nicht George. Sein Sonnenschein war ein sensibler, hochbegabter junger Mann. Jemand der eine glänzende Zukunft vor sich hatte.

Verstohlen fuhr seine Hand über die Augenwinkel. Seine Mitarbeiter hielten ihn für gefühlskalt, geradezu herzlos.

Die Fassade, hinter der er seine wahren Gefühle verbarg, funktionierte nahezu perfekt.

Doch durch den Tod von Sarah Wegener, tat sich nun für ihn die Möglichkeit auf, im Zuge der Ermittlungen, tiefer in dieses Milieu einzutauchen. Und er hoffte, endlich die Hintermänner für diese beiden Tragödien ausforschen zu können.

Er mahnte sich selbst zur Ordnung. Schob seine dunklen Gedanken gewaltsam zur Seite und konzentrierte sich auf den neuen Fall. Eine Aufnahme nach der anderen ratterte nun aus dem Drucker. Er legte sie in der Reihenfolge, in der sie entstanden, vor sich auf den Tisch. Kontrollierte akribisch, ob er gestern Abend in der Dunkelheit etwas übersehen hatte.

Seine Gedanken schweiften ab, huschten davon. Ja, wenn er an George und sein jetziges Leben dachte, dann blieb dieser Sarah Wegener vermutlich einiges erspart. Nein, diesen Drogenunfall hätte sie wohl kaum ohne schwere Schäden überstanden.

Die düstere Erinnerung hinterließ eine steile Falte auf seiner Stirn. Ließ ihn seine Lippen zusammenpressen bis sie dünn wie ein Strich wurden. Ein prüfender Blick in den Spiegel zeigte neue Tränen. Ärgerlich wischte er über seine nassen Augen, und stand nachdenklich auf.

Nahm schwungvoll seinen Mantel vom Bügel, und strich den Kragen glatt. In dieser Beziehung war er peinlich genau. Er hasste Unordnung. Tief im Gedanken verließ er Den Raum. Klopfte ungeduldig an die Bürotür seines Mitarbeiters, und trat ohne Aufforderung ein.

„Kommen sie mit Krüger, ich brauche sie!“, fordert er ihn barsch auf.

„Wir fahren zur Schule! Mit etwas Glück erfahren wir dort mehr! Oder nein“, korrigierte er sich. „Ich fahre zur Schule! Sie befragen die Nachbarn! Wenn sie damit fertig sind, fahren sie hinüber in die Gerichtsmedizin. Bis 12.00

Uhr mittags, sollten dort bereits die ersten Ergebnisse vorliegen.“

Ohne sich weiter um Krüger zu kümmern, strebte er dem Lift zu. Als Vorgesetzter war er es gewohnt Anordnungen zu geben. Erwartete ganz selbstverständlich die korrekte Ausführung.

„Freundlich wie immer!“, dachte Krüger, ehe er aufstand und eilig hinter ihm hertrottete. Als er ging, knallte die Tür.

5. Kapitel

„Komm Cathy wir müssen gehen!“ Jonas streckte mir seine Hand hin. Als ich nicht reagierte, zog er mich vom Bett hoch.

Nahm ein Kosmetiktuch aus der Box und wischte mir damit übers Gesicht. Ärgerlich stieß ich seine Hand weg.

„Lass das bitte Jonas!“, fuhr ich ihn an. „Ich kann meine Tränen selber trocken! Ich bin alt genug!“

Wie ein Häufchen Elend stand er nun vor mir.

„Entschuldige Cathy!“, meinte er sichtlich verlegen, „Ist eine alte Angewohnheit!“

Ja, in Kindertagen, auch als er selbst noch ein Knirps war, trocknete er unzählige Tränen. Putzte mir die Nase, tröstete mich wenn ich traurig war. Einen Ozean aus Tränen legte er so im Laufe meiner Kindheit trocken.

„Wir müssen jetzt zusammenhalten! Dann schaffen wir es! Können ihren Tod gemeinsam überwinden!“, sagte er leise.

Seine Augen huschten unruhig über mein Gesicht. Seine Hände schwitzten.

„Es geht dir doch gut?“, erkundigte sich Jonas, und fügte zaghaft hinzu. „Du wirst Dad doch nichts verraten?“

Fast körperlich spürte ich seine Angst, dass ich nicht die Kraft aufbringen würde, sein Geheimnis zu bewahren. Ich ahnte, wie sehr er sich vor Dads Reaktion fürchtete, sollte der von seinem Drogenkonsum erfahren.

„Keine Sorge Jonas, ich verrate dich nicht! Aber versprich mir, dass du endlich mit dem Koksen aufhörst, damit Sarahs Tod nicht so sinnlos war!“, erwiderte ich leise und meine Stimme klang ungewohnt dunkel.

Schweigen.

„Du musst es schaffen, hörst du, denn eines Tages gehst du sonst …“.

Ich brach ab. Es war unmöglich diesen Satz zu beenden.

Allein der Gedanke, dass Jonas wie Sarah enden könnte, war unerträglich. Jonas drückte mir die Schulmappe in die Hand.

„Wir müssen los!“, sagte er verlegen, so als hätten wir uns gerade über eine Belanglosigkeit unterhalten.

Es wirkte gefühlskalt, aber ich kannte Jonas besser.

Wusste, dass es nur Ausdruck seiner Hilflosigkeit war.

6. Kapitel

Im Klassenzimmer herrschte geradezu gespenstische Stille. Stumme Trauer war dem sonst so hektischen und lebhaften Betrieb vor der Stunde gewichen. Jemand legte eine gelbe Rose auf Sarahs Pult. Leise setzte ich mich.

Starrte auf Sarahs leeren Platz.

„Nein!“, stöhnte ich, sprang auf, wollte nur noch weg.

Ruhig aber bestimmt beförderte mich Melanie auf den Stuhl zurück.

„Verlier bloß nicht die Nerven Cathy! Da musst du jetzt durch!“

Daran dachte ich noch gar nicht. Mein Auftritt gestern Abend in der Fabrik kurz nach Sarahs Tod. Ganz sicher waren einige Mitschüler anwesend, und zogen daraus ihre ganz eigenen Schlüsse.

„Wir wollen dir alle helfen! Du weißt, unsere Klasse hält zusammen!“, sagte Melanie. „Allerdings möchten wir im Gegenzug dafür auch ein paar Dinge wissen. Vor allem, von wem Sarah die Drogen gekauft hat. Und natürlich, was du aussagen wirst?“

Die Augen aller Mitschüler richteten sich nun auf mich.

„Die Drogen waren von Degenhof“, antwortete ich leise, aber doch für jedermann verständlich.

Melanie schüttelte ungläubig den Kopf.

„Von Degenhof? Bist du dir sicher? Wie du weißt nehmen auch einige aus unserer Klasse ab und an mal etwas. Und jeder von ihnen kauft das Zeug in der Fabrik, auch gestern! Und wie du siehst, sind alle noch am Leben! Es kann unmöglich am Koks gelegen haben!“

„Es war..“

Mitten im Satz brach ich ab. Ich war mir nicht sicher, ob nicht doch einer meiner Mitschüler alles was ich sagen würde, für einige Gratisrationen verraten würde. Horst Degenhof hier und jetzt zu beschuldigen, ihr absichtlich eine Überdosis verabreicht zu haben, könnte gefährlich werden. Degenhof, das wurde mir gestern klar, würde kaum zögern und mich aus dem Weg räumen. So zuckte ich hilflos mit den Schultern.

„Keine Ahnung, was da schief gelaufen ist!“, antwortete ich vorsichtig, „Es war ihr erstes Mal. Und ich glaube es war kein Koks. Vielleicht lag es auch an ihrem Herzfehler.

Keine Ahnung, ich bin kein Arzt!“

Melanie gab sich mit meiner Antwort zufrieden.

„Und zur zweiten Frage. Ich werde, sollte es wirklich zu einer Befragung kommen, angeben den ganzen Abend im Club gewesen zu sein. Aussagen, dass Sarah früher nach Hause gegangen ist, und ich sie später nicht mehr gesehen habe!“

Melanie nickte zustimmend, warf einen raschen Blick durch die schweigende Runde.

„Alle alles gehört?“, fragte sie hastig nach.

Zustimmendes Gemurmel.

„Okay Cathy!“, sagte sie, „Viel Glück! Übrigens, keiner von uns wird auch nur mit einem Wort deinen Auftritt gestern im Club erwähnen!“

Ehe ich antworten konnte, betrat unser Lateinprofessor die Klasse. Mit ihm betrat ein Mann den Raum, den man sofort für einen Polizeibeamten hielt. Nicht viele könnten ein Klischee besser bedienen als dieser Mann. Korrekt gekleidet, wache, forschende Augen und ein auffallend durchtrainierter Körper. Selbst unser so kühler Professor rang um Fassung, als er nun vor die Klasse trat. Aufgeregt räusperte er sich. „Bitte nehmen sie ihre Plätze ein und setzen sie sich!“

Er machte eine Pause, blickte zögernd in die Runde.

„Ihr wisst ja sicher alle aus der Zeitung vom tragischen Tod eurer Mitschülerin Sarah Wegener.“, begann er.

„Ich möchte ihnen Hauptkommissar Werner Nellmann vorstellen! Er führt die Ermittlungen. Und ich ersuche sie, ihn tatkräftig dabei zu unterstützen. Er versucht die Umstände aufzuklären, die zum Tod ihrer Mitschülerin geführt haben. Er wird ihnen jetzt einige Fragen stellen!“

Ja, so war Professor Rainher. Unangenehmes ignorierte er stets konsequent. Passierte trotzdem etwas außer der Reihe, so war er davon überzeugt, dass man alles geregelt abwickeln könnte. Genauso, wie man seine Hausaufgaben erledigte.

Bereits während Professor Rainher sprach, musterte mich dieser Hauptkommissar unablässig. Etwas lenkte seine ganze Aufmerksamkeit auf mich. Vielleicht lag es an meinen verheulten Augen. Möglicherweise trieb ihn auch nur eine unbestimmte Vermutung, da ich neben Sarah saß. Auch als er nach vorne trat und das Wort ergriff, ließ er mich keine Sekunde aus den Augen.

„Guten Morgen! Wie ihr Professor bereits sagte, mein Name ist Werner Nellmann und ich leite in diesem Fall die Ermittlungen. Ich möchte mich auch nicht mit langen Vorreden aufhalten, sondern werde gleich zur Sache kommen. Ich denke meine erste Frage werden sie sicher erwartet haben. Wer von ihnen war mit Sarah Wegener befreundet?“

Mehrere meiner Schulkollegen und ich hoben die Hand.

„Gut, und wer hat Sarah Wegener gestern noch gesehen?“

Wieder hob mehrere der Mitschüler, und auch ich, die Hand. Doch das irritierte diesen Hauptkommissar keinen Moment.

„Sie“, sagte er, und sein Finger zeigte kerzengerade auf mich. „Sie haben sie also gestern auch noch gesehen?“

Betont langsam erhob ich mich.

„Ja sicher! Ich habe Sarah gesehen, gesprochen, aber mehr, also etwas Näheres über gestern Abend weiß ich auch nicht!“

Ich zuckte scheinbar gelassen mit den Schultern.

„Nein, was sie später noch gemacht hat, davon habe ich leider keine Ahnung!“

Er zog seine Augenbrauen hoch. Sein Blick durchbohrte mich förmlich. „Nein? Nichts? Sie haben also Sarah nicht mehr gesehen, und auch nichts von ihr gehört?“

Seine Stimme bekam einen ironischen Unterton. Ich spürte wie Blut in meine Wangen schoss, und wusste, er glaubte mir kein Wort.

„Gut“, erklärte er auffallend freundlich. „Ich möchte mich trotzdem mit ihnen unter vier Augen unterhalten. Die Direktion hat mir für diese Gespräche freundlicherweise einen Raum zur Verfügung gestellt!“

Er ging zur Klassenzimmertüre, und forderte mich auf ihm zu folgen. Zögernd trottete ich hinter ihm her.

„Kommen sie, hier sind wir ungestört!“, sagte er, öffnete die Türe zum alten Chemielabor.

Er ließ mich eintreten, und zeigte auf einen Stuhl.

„Setzen sie sich doch bitte!“

Schwungvoll hob er einen weiteren Stuhl vom Stapel.

Trug ihn hinüber, stellte ihn auf die gegenüberliegende Seite des Tisches und ließ sich dort nieder. Schweigend betrachtete er mich eine ganze Weile. Er kramte in seiner Tasche, förderte eine halbvolle, ramponierte Packung Zigaretten zu Tage.

„Zigarette?“ fragte er und hielt sie mir auffordernd unter die Nase.

Irgendwie erinnerte mich sein Verhalten an einen fiktiven Krimi. So unwirklich wirkte diese Situation auf mich.

„In der Schule ist Rauchen nicht erlaubt“, belehrte ich ihn, griff aber trotzdem ungeniert zu.

Bemerkte erst jetzt, dass meine Hände zitterten. Er hielt sie fest, als er mir Feuer gab. Hastig inhalierte ich. Es qualmte und der Rauch brannte in meinen Augen. Doch der herbe Geschmack der Zigarette beruhigte mich.

Er versenkte die Schachtel in der Innentasche seiner Jacke, und betrachtete mich eingehend.

„Furchtbar!“, erklärte er nach einer halben Ewigkeit.

„Ja echt furchtbar“, stimmte ich zu.

Meine Stimme klang komisch, piepste irgendwie. Er zog die Augenbrauen hoch.

„Furchtbar? Was genau ist für dich so furchtbar? Dass wir hier sitzen? Oder der Tod von Sarah Wegener?“

Unvermittelt ging er vom „sie“ zum lockeren „du“ über.

Versuchte mich so aus der Reserve zu locken. Fast wie ein Jagdhund der eine Fährte aufnahm und seine Beute aufgespürt hatte.

Meine tiefe Betroffenheit über Sarahs Tod schien für ihn zu offensichtlich. Weckte in ihm wohl die Vermutung, dass ich mehr darüber wusste. Ich bemühte mich, jede Gefühlsregung aus meinem Gesicht zu verbannen. Und tatsächlich. Nach einiger Zeit gelang es mir, das Zittern meiner Hände unter Kontrolle zu bringen. Einigermaßen ruhig inhalierte ich die Zigarette zu Ende.

„Ich finde Sarahs Tod furchtbar!“

Meine Stimme klang jetzt geradezu teilnahmslos.

„Ihr seid euch wohl sehr nahe gestanden?“, fragt er.

Ich nickte. „Tja, ich denke schon! Sarah war meine beste Freundin!“, sagte ich, und musste heftig schlucken.

„Gut“, meinte er, „Dann wirst du bestimmt mehr über den gestrigen Abend wissen?“

Beinahe beleidigend unfreundlich füge er hinzu: „Wenn ihr euch so nahe gestanden seid!“

Am liebsten wäre ich ihm wegen dieser Äußerung über den Mund gefahren. Doch unter keinen Umständen wollte ich ihm eine Angriffsfläche bieten.

„Nun, wie gesagt, da gibt es nicht viel zu erzählen. Für mich war Sarah wie jeden Tag. Es gab gestern keinen besonderen Vorfall. Wir waren gemeinsam unterwegs!

Tanzen, reden! Alles wie sonst auch immer!“

Ich machte eine kleine Kunstpause, überlegte fieberhaft.

Wie nebenbei setzte ich dann fort.

„Sarah ist gestern allerdings früher gegangen. Und den Rest habe ich, wie alle anderen auch, aus der Zeitung erfahren!“

Er stand auf. Schlenderte ziellos durch den kahlen Raum.

Das alte Labor wurde schon lange nicht mehr benutzt, war beinahe leer. Nur einige ausgemusterte Schulbänke standen aufgetürmt in einer Ecke. Obwohl er mir nun den Rücken zuwandte, fühlte ich seine Augen auf meinem Gesicht.

„Und du hast sie nicht begleitete? Bist nicht mit ihr nach Hause gegangen?“, fragte er lauernd. Stoppte mitten im Schritt, und drehte sich zu mir.

Den Zigarettenstummel in der herabhängenden Hand, stand ich gemächlich auf. Dämpfte ihn teilnahmslos in einem vergammelten Pappbecher aus.

„Nein warum auch?“, erwiderte ich beiläufig.

„Ich wollte noch bleiben, Sarah wollte gehen. Das kam öfters vor, das war nun wirklich nichts Besonderes!“

Unerwartet schroff fuhr er mich an.

„Du lügst doch! Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass du das Mädchen warst, das den Notruf abgesetzt hat! Du warst mit ihr im Park, und weißt genau, was dort passiert ist. Ich kann nicht verstehen warum du lügst. Aber das kannst du ohnehin nur am Anfang unserer Ermittlungen.

Auf die Dauer werden deine Lügen nicht halten. Man findet immer jemanden, der das Gegenteil aussagt. Und ich bin mir sicher, dass wir bald jemanden finden, der bezeugen wird gesehen zu haben, wie Sarah und du gemeinsam den Club verlassen habt!“

Er kehrte zum Fenster zurück. Blickte lange hinunter in den verwaisten Pausenhof.

„Und selbst wenn sie dann weiter leugnen, ich werde es beweisen!“, fuhr er fort. „Also sagen sie besser gleich die Wahrheit! Erzählen sie mir, was im Park vorgefallen ist!

Oder nehmen sie auch Drogen?“

Er tauschte das nun schon vertraute „du“ wieder gegen das unpersönliche „sie“, und musterte mich abfällig.

„Nein, ich bin nicht süchtig. Ich verachte Süchtige!“, sagte ich heiser.

Seine Frage ließ unvermittelt das Gespräch mit Dad von heute Morgen aufleben.

„Man hat mir diese Frage heute schon ein Mal gestellt.“, erklärte ich deshalb. „Und auch sie bekommen dieselbe Antwort wie mein Dad. Nein, ich nehme keine Drogen!

Wenn sie es wünschen, bin ich auch jederzeit bereit einen Drogentest durchzuführen.“

Die Befragung wühlte die traumatischen Erlebnisse auf.

Und doch schlenderte ich scheinbar gelassen zu ihm ans Fenster.

Doch im Inneren kämpfte ich. Fühlte, dass ich knapp davor stand, aus meiner Rolle zu fallen.

„Ein Drogentest wäre möglich!“ sagte er unbeeindruckt.

„Aber eher unwahrscheinlich. Ich glaube nicht, dass wir darauf zurückgreifen!“